Jessica, Dokument V von Timotheus Burkhard
Was hat eine Frau wie Jessica bewogen, einen Mann wie Alexander zu heiraten?
Genau diese Frage hat mich bereits einmal in einem anderen Zusammenhang beschäftigt: Was hat eine Frau wie Elena bewogen, einen Mann wie Alexander zu heiraten?
Jessica und Elena sind äußerlich völlig verschieden, aber in ihrem Wesen finden sich eine Menge frappierender Übereinstimmungen. Beide sind unabhängig, eigenständig, willensstark und souverän. Frauen, die gern in einer Partnerschaft leben, die aber die Partnerschaft nicht brauchen, um leben zu können. Das unterscheidet sie deutlich von Patricia und Evelin. Für Patricia ist die Ehe ein Statussymbol, an dem sie selbst dann eisern festhält, wenn innerhalb dieser Ehe nichts mehr dem nach außen getragenen Bild entspricht. Und Evelin kann allein nicht existieren. Sie wäre ein Blatt im Wind ohne den Mann an ihrer Seite, der ihr sagt, was sie zu tun oder zu lassen hat.
Jessica. Ich lernte sie kennen, als sie gerade unseren Schäferhund eingeschläfert hatte. Es war mitten in der Nacht, und Evelin hatte keinen anderen Arzt erreichen können. Der Zustand des Hundes war dramatisch, es schien fraglich, ob man die Tierklinik noch würde erreichen können. Zudem hätte dies den Hund verängstigt und zusätzlich gestreßt. Evelin hatte sich der jungen Tierärztin entsonnen, die ein paar Häuser weiter wohnte, und die Liebe zu ihrem Hund hatte sie über ihren Schatten springen und dort zu nachtschlafender Zeit anrufen lassen, was für Evelins Verhältnisse außergewöhnlich skrupellos war, zumal sie noch nie Jessicas Praxis aufgesucht hatte.
Jedenfalls kam Jessica, schläferte das Tier ein und spielte anschließend noch Seelentröster bei Evelin, die mal wieder mit dem Schicksal haderte. Ich kam irgendwann so gegen drei Uhr morgens ins Wohnzimmer und traf die beiden Frauen bei einer Flasche Sekt an. Evelin erzählte Geschichten aus dem Leben des Hundes, der tot neben dem Sofa auf einer Decke lag. Ich hatte Jessica zuvor schon ein paarmal im Vorbeifahren in ihrem Vorgarten gesehen, aber ich hatte noch nie mit ihr gesprochen. Sie war mir aufgefallen, und nun, da sie unmittelbar vor mir saß, versuchte ich zu ergründen, womit sie meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Sie ist attraktiv, aber nicht in der Weise, daß man automatisch den Kopf nach ihr drehen würde, wenn sie über die Straße geht. Sie hat braune, mittellange Haare, ein blasses, schmales Gesicht, schöne grüne Augen mit ein paar braunen Sprenkeln darin. Ihre Figur ist auffallend hübsch, sie hat lange, sehr gut geformte Beine und ist außerordentlich schlank. Meist trägt sie Jeans, Turnschuhe, ein Sweatshirt. Sie ist weder mondän noch besonders gestylt, noch fängt sie unwillkürlich zu kichern, zu kokettieren oder zu flirten an, wenn ein Mann in ihre Nähe kommt, so wie manche Frauen das tun. Sie vermittelt eher das Gefühl, es mit einer praktischen, bodenständigen Person zu tun zu haben. Man kann sich gut vorstellen, wie sie beherzt in das Maul eines Rottweilers greift, um seine Zähne zu untersuchen, oder einer Kuh hilft, ihr Kalb zur Welt zu bringen. Sie wirkt nicht im mindesten zimperlich. Dabei aber nicht unweiblich. Im Gegenteil, ich empfinde sie stets als ausgesprochen feminin.
Wo also liegt ihr Reiz? Es ist schwer, dies in Worte zu fassen. Vielleicht sind es jene Eigenschaften, die ich eingangs beschrieb. Ihre Unabhängigkeit, ihre Eigenständigkeit. Beides strahlt sie schon in ihrer Haltung aus, wenn sie nur einfach einen Weg entlanggeht. In der Art, wie sie den Kopf hält. Wie sie spricht, wie sie lacht. Es ist nicht so, daß ich mit einer solchen Frau leben könnte, niemals. Aber es ist die Art Frau, die ich gern beobachte. Ich habe auch Elena gern beobachtet. Nicht in erster Linie weil sie so schön ist. Sondern weil sie interessant ist.
Evelin glaubt bis heute, sie sei die Stifterin der Ehe zwischen
Alexander und Jessica, aber in Wahrheit habe ich die Fäden gezogen. Evelin kam mit dem Vorschlag, man müsse Jessica zum Dank für ihr nächtliches Eingreifen zum Essen einladen, und ich stimmte zu. Ich meinte nur, man solle noch jemanden dazubitten, es sei doch langweilig, wenn nur wir drei um den Tisch herum säßen. Ich steuerte Evelin so lange, bis sie auf Alexander verfiel, der damals gerade in Scheidung lebte und dankbar war für alles, was ihn ein wenig ablenkte. Elena war mit Ricarda aufs Land gezogen und hatte ihn in seinem Haus allein zurückgelassen, wo er nun Abend für Abend saß, die Wände anstarrte und sich mit all den Fehlern beschäftigte, die er in seinem Leben gemacht hatte. Evelin fand, es sei eine gute Tat, ihm einen seiner düsteren Samstagabende zu versüßen, und ich war voller Spannung, ob sich meine Theorie, daß Jessica eine zweite Elena ist, bewahrheiten würde: Irgend etwas mußte zwischen ihr und Alexander passieren.
Ich hatte mich nicht geirrt, wenn ich auch, ehrlich gesagt, nicht geglaubt hatte, daß aus den beiden derart schnell ein Paar werden würde. Es war, als habe Alexander nur auf sie gewartet. Und sie schien sich tatsächlich aufrichtig in ihn zu verlieben. So sehr, daß sie schon kurz nach Alexanders Scheidung heirateten. Was mich zu meiner eingangs gestellten Frage zurückbringt: Weshalb heiraten Frauen wie Jessica und Elena einen Mann wie Alexander?
Alexander ist ein Weichei, angepaßt bis zur Selbstaufgabe, ein Chamäleon, das blitzschnell die Farbe seiner Umgebung annimmt, um nur ja nicht aufzufallen. Bevor er seine Meinung sagt, checkt er ab, wie die Meinung der Mehrheit in seiner Umgebung ist, und übernimmt diese dann. Man kann mit ihm nicht streiten, nicht diskutieren. Man kann sich nicht reiben an ihm. Er ist wie ein Stück weicher, dehnbarer Gummi. Selbst wenn man hineinschlägt, spürt man keinen Widerstand. Der Gummi macht jede Bewegung mit.
Er sieht sehr gut aus, das ist nicht zu bestreiten. Groß und schlank, angegraute Haare, schöne, helle Augen, die immer müde, immer melancholisch dreinblicken. Ein sehr sensibles Gesicht. Ja, das ist es vielleicht, man braucht eine Weile, bis man merkt, daß er ein Weichei ist. Zunächst würde man ihn mit den Attributen sensibel, melancholisch belegen. Was etwas anderes ist als schwach, was aber meist schwierig ist in der Abgrenzung. Starke Frauen — und sowohl bei Jessica als auch bei Elena handelt es sich ganz zweifelsfrei um starke Frauen — mögen einen Beschützerinstinkt gegenüber einem solchen Mann entwickeln, irgendeine mütterliche Ader wird angesprochen. Sie wollen die Ursache seiner Melancholie ergründen, sie ahnen Geheimnisse hinter seinen müden Augen, fühlen sich hingezogen zu seiner Ausstrahlung von Verständnis und Tiefgründigkeit. Irgendwann merken sie, daß sie in einer Gummimasse graben, die ihnen immer wieder durch die Finger gleitet. Dann kämpfen sie eine Weile, dann resignieren sie. So wie Elena. Sie hat ihn zweifellos geliebt. Aber nicht mehr ertragen.
Es wird interessant sein zu sehen, wann es bei Jessica soweit ist. Bislang habe ich ziemlich gut gelegen mit meinen Prognosen. Sie hat sich in ihn verliebt, sie hat ihn geheiratet. Sie übernahm bereitwillig sein Leben, was heißt: Sie übernahm bereitwillig uns alle und Stanbury. Sie ist neugierig und offen, sie findet die Clique interessant, sie will Alexander besser verstehen. Bislang hat sie sich kaum gegen ein Leben gesperrt, das keineswegs von ihr und ihrem Mann bestimmt wird, sondern von den Freunden ihres Mannes. Es ist ihr noch nicht wirklich klargeworden, was hier passiert, sie begreift noch nicht, daß das Stück Gummi, das sie geheiratet hat, nur in der Symbiose mit uns anderen leben kann. Sowie sie die Wahrheit erkennt, wird sie versuchen, Alexander von uns zu lösen. Sie wird scheitern. Sie wird gehen.
In diesen Osterferien beginnt ihr etwas zu dämmern. Das ist spürbar. Sie ist nicht glücklich. Etwas verunsichert sie stark, etwas setzt ihr sehr zu. Sie beginnt sich mehr und mehr von der Gruppe abzuseilen. Erwartungsgemäß eckt sie deswegen bei Patricia an, wird angegriffen, muß sich rechtfertigen. Verliert deutlich die Lust, Erklärungen für ihr Verhalten abzugeben. Der Ton zwischen ihr und Alexander ist schärfer geworden. Alexander schwebt in tausend Nöten, weil es seine Gattin zunehmend ablehnt, sich ihren Tagesablauf von Patricia diktieren zu lassen. Jessica hingegen sieht sich plötzlich mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, daß ihr Mann in Auseinandersetzungen keineswegs ihre Partei, sondern die der anderen ergreift. Sie ist verletzt. Sie will sich ihre Verletztheit noch nicht eingestehen, versucht, sich die Dinge zurechtzureden.
Aber sie ist zu intelligent, um dauerhaft die Augen vor der Wahrheit verschließen zu können. Sie ist zu geradlinig, um sich selbst belügen zu können. Mehr und mehr wird sie begreifen, welches Spiel gespielt wird und welch schmerzhafte Konsequenz sich daraus für sie ergibt.
Manchmal kommt es mir vor, als bewegten sie sich alle unter einem Mikroskop. Ich beobachte sie, berechne, was sie als nächstes tun werden, und erlebe wunderbare Momente des Triumphes, wenn sich meine Annahmen bestätigten. Alles ist so vorhersehbar. Der Mensch folgt seinem eigenen, ewig gleichen Muster. Immer wieder dasselbe. Ich wußte zum Beispiel auch ganz genau, daß Leon ein Auge auf Jessica werfen würde. Leon wirft ein Auge auf jede Frau, die nicht ganz häßlich ist oder so depressiv wie Evelin. Leon steht daheim unter dem Pantoffel, und seine einzige Möglichkeit, sein Selbstwertgefühl immer wieder halbwegs auszubalancieren, liegt darin, sich bei anderen Frauen Bestätigung zu holen. Wenn er irgendein hübsches Mädchen flachgelegt hat, kann er es wieder eine Zeitlang ertragen von Patricia herumkommandiert zu werden. Er würde unendlich gern mit Jessica ins Bett gehen, das sehe ich genau. Er verschlingt sie mit Blicken. Sie würde es vermutlich merken, wäre sie nicht derart mit ihren Problemen beschäftigt.
Jessica. Sie kann mich nicht leiden. Sie reagiert abweisend, patzig, unhöflich auf mich. Ich trete ihr zu nahe; ohne daß es ihr ganz bewußt wird, spürt sie, daß ich sie seziere. Sie meidet meine Nähe. Wahrscheinlich hat sie sich bereits eingestanden, daß sie mich haßt, und dies bringt sie in größte innere Schwierigkeiten. Denn wie kann sie einen von Alexanders besten Freunden hassen? Sie ahnt, daß sie deswegen massive Probleme mit ihrem Mann bekommen wird. Sie windet sich. Sie haßt auch Patricia. Sie darf Patricia aber nicht hassen. Sie ist ein schöner, glänzender Käfer, der sich in einem Spinnennetz verfangen hat. Die Fäden des Netzes ziehen sich gerade immer enger zusammen. Ihr Raum wird kleiner, die Luft zum Atmen knapper. Sie weiß, daß sie sich wird befreien müssen. Sie weiß sogar, daß sie sich befreien kann. Um den Preis, das Netz zu zerstören.
Nur daß Alexander Teil des Netzes ist. Er ist einer der Fäden. Wenn sie sich befreien will, muß sie ihn genauso abstreifen wie uns andere auch. Sie kann nicht alle Fäden zerreißen und den Faden Alexander heil lassen; das läßt die Konstruktion des Netzes nicht zu. Wenn sie sich befreit, wird sie ihn verlieren — eine Konsequenz, aus der sie noch immer einen Ausweg zu finden hofft. Es macht Spaß, ihr bei der Suche zuzusehen.
Es macht Spaß, weil man weiß, daß sie am Ende scheitert.
Mittwoch, 14. Mai — Freitag, 23. Mai
Jessica saß schon im Restaurant, als Leon kam. Ein Kellner geleitete ihn an ihren Tisch. Er war fast zwanzig Minuten zu spät und sah so schlecht aus, wie Jessica es zuvor noch nicht erlebt hatte: Er hatte sich seit mindestens zwei Tagen nicht mehr rasiert, trug ein fleckiges Hemd unter dem Jackett und mußte an die fünf Kilo Gewicht verloren haben. Der Kellner betrachtete ihn mit sichtlichem Mißfallen. Es war keines der besonders schicken Münchner Restaurants, das Jessica ausgesucht hatte, aber dennoch sah Leon außerordentlich unpassend aus.
Er fuhr sich mit der Hand durch die ungekämmten Haare, in dem vergeblichen Versuch, sie zu glätten, aber sie waren danach struppiger als zuvor.»Du wartest sicher schon lange«, sagte er anstelle einer Begrüßung,»tut mir leid. Ich hatte irgendwie…«
Es schien ihm zu anstrengend, eine Ausrede zu suchen, und so sagte er nur:»Ich hatte einfach die Zeit vergessen.«
Er wirkte zu elend, als daß sie hätte ärgerlich sein können.»Ich habe mir die Leute angeschaut«, sagte sie,»war also kein Problem. Möchtest du vielleicht ein Glas Wein?«
«Ja«, sagte er und setzte sich. Sie orderte sein Getränk.
«Hast du etwas von Evelin gehört?«fragte sie.»Du wolltest
doch ihren Anwalt anrufen.«
Für eine Sekunde stützte er den Kopf in die Hände.»Vergessen«, sagte er,»einfach vergessen.«
«Sie ist jetzt seit zweieinhalb Wochen in Haft«, sagte Jessica,»wir können sie nicht hängenlassen.«
«Natürlich nicht. Der Anwalt, den ich ihr in England besorgt habe, ist wirklich gut. Du solltest dir nicht zu viele Gedanken machen.«
«Aber er hat es offenbar bislang nicht geschafft, daß sie aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Ich verstehe das nicht.«
«Ich vermute, daß sie mit Fluchtgefahr argumentieren«, sagte Leon mit jener seltsam teilnahmslosen Stimme, die er sich seit jenen schrecklichen Tagen in England angewöhnt hatte.»Sie ist Ausländerin. Sie könnte versuchen, sich nach Deutschland abzusetzen.«
«Aber wir hatten doch sowieso überlegt, ob man sie nicht nach Deutschland überstellen könnte«, sagte Jessica.»Sie ist Deutsche. Sämtliche Opfer sind Deutsche. Ist das nicht eher ein Fall für die deutsche Justiz?«
«Das Verbrechen ist in England geschehen. Unter den ersten Tatverdächtigen war ein Engländer — der dann nur mit einem fragwürdigen Alibi davongekommen ist. Ich glaube, Scotland Yard will an der Sache dranbleiben.«
«Du wolltest dich doch trotzdem darum kümmern, ob man nicht vielleicht eine Überstellung nach Deutschland…«
«Jessica!«
Er sah sie fast flehend an. Seine Augen waren rot vor Müdigkeit.»Jessica, ich kann nicht. Bitte. Ich weiß nicht, woher du die Energie nimmst, dich für Evelin zu engagieren. Ich bewundere dich dafür, und sicher bist du der bessere Mensch von uns beiden, aber ich selbst, ich schaffe es nicht. Ich habe nicht die Kraft. Meine letzten Reserven brauche ich, um über jeden einzelnen Tag zu kommen, ohne zwischendurch mich und mein Leben aufzugeben. Es tut mir leid.«
Sie wußte, daß er dabei war, seinen ganzen Haushalt aufzulösen, um das Haus verkaufen zu können. Wie mußte es sein, sich Tag für Tag durch all die vielen großen und kleinen Dinge zu wühlen, die sich im Lauf eines Familienlebens angesammelt hatten: Zeugnisse und Sporturkunden der Kinder, Bilder, die sie gemalt, und Kastanienmännchen, die sie gebastelt hatten, erste Zähne und Bilderbücher und Anziehpuppen. Die Keramikbecher, aus denen sie morgens ihren Kakao getrunken hatten. Die Schultaschen. Die Kleider.
Und Patricias Sachen, ihre Hosen und Pullover und Kostüme, Jogginghosen und Laufschuhe. Ihre Kosmetikartikel. Ihre Fotoalben, die das glückliche Familienleben geradezu beschwörend dokumentierten. Liebesbriefe, die sie vor langen Jahren an Leon geschrieben hatte. Briefe, die er ihr geschrieben, die sie in irgendeiner Schublade aufbewahrt hatte. Das Negligé, das sie gern trug. Der Kalender, in dem sie wichtige Termine, Verabredungen, Arztbesuche und Geburtstage notierte. Ihre CDs, ihre Bücher. Ihre Schuhe und Handtaschen. All die Bilder und Skulpturen und Vasen, mit denen sie das Haus so verschwenderisch — und viel zu kostspielig — ausgestattet hatte. Nichts, was durch Leons Hände ging, würde ohne Erinnerung sein. Nichts würde ihn unberührt lassen. Es war seine Vergangenheit. Sein Leben. Seine Familie.
«Eigentlich werfe ich alles weg«, sagte er, so als wisse er, welche Gedanken gerade durch Jessicas Kopf gegangen waren.»Was brauche ich schon noch? Zuerst wollte ich eine Entrümpelungsfirma kommen lassen. Ihnen den Schlüssel in die Hand drücken, weggehen, wiederkommen und ein leeres Haus vorfinden. Es wäre das einfachste gewesen…«
Der Kellner brachte den Wein und zwei Speisekarten. Leon führte sein Glas mit einer mechanischen Bewegung zum Mund.
«Aber dann brachte ich es nicht fertig. Ich brachte es nicht fertig, alles, was mir von ihnen geblieben ist, Fremden zu überlassen. Ich hatte das Gefühl, es ihnen schuldig zu sein… selbst alles zu sichten, anzufassen. Mich davon zu verabschieden.«
«Ich verstehe das«, sagte Jessica. Es erschien ihr sinnlos, noch einmal mit Evelin anzufangen. Leon war in einer entsetzlichen psychischen Verfassung. Sie hatte geglaubt, er sei noch immer voller Wut wegen Phillip Bowen, dem vermeintlich Schuldigen, und allein deswegen würde er alles daransetzen, für Evelin zu kämpfen. Aber seit Sophies Tod hatte er sich verändert. Es ging ihm nicht mehr um Gerechtigkeit, nicht darum, den Täter zu überführen, den Menschen hinter Gittern zu wissen, der ihm die ganze Familie ausgelöscht hatte. Es war wahrscheinlich so, wie er gesagt hatte: Er brauchte seine Kraft, um sich nicht aufzugeben. Der Schlag war zu schwer gewesen. Er konnte nicht weiter sehen als bis zum Abend eines jeden Tages. Konnte keinen anderen Menschen wahrnehmen als sich selbst. Er versuchte, einen Alptraum zu überleben. Von ihnen allen war er am schwersten getroffen worden.
«Hast du schon einen Käufer für das Haus?«fragte sie, bemüht, das Gespräch auf eine sachliche Ebene zu ziehen.
Er nickte.»Einige Interessenten. Es wird da keine Probleme geben.«
«Du hast nie überlegt, Stanbury statt dessen zu verkaufen?«
«Vorerst — nein. In dem Haus hier in München würde ich ohnehin nicht mehr leben wollen, und insofern macht es Sinn, mir mit diesem Verkauf die schlimmsten Schwierigkeiten vom Hals zu schaffen. Stanbury ist ein Rückhalt.«
«Stanbury kostet auch Geld.«
Er drehte sein Glas hin und her. Am Ringfinger der rechten Hand trug er noch immer seinen Ehering.»Ich weiß. Aber es würde mir zu schnell gehen. Stanbury ist so sehr ein Teil von Patricia gewesen. So sehr ein Teil von uns allen. Vielleicht will ich einfach noch eine Zeitlang daran festhalten.«
Sie schwiegen beide, hingen eigenen Gedanken nach. Draußen verdämmerte langsam ein warmer Maitag. Der Sommer drängte jetzt mit aller Macht heran. Aber es würde ein anderer Sommer sein, es würde nie wieder einen geben, wie sie ihn gekannt hatten.
Der Kellner näherte sich dem Tisch.
«Haben Sie gewählt?«fragte er.
Leon zuckte zusammen.»Ich möchte nichts essen, danke«, sagte er. Jessica hatte ebenfalls keinen Hunger, aber sie wollte den Kellner nicht völlig verärgern, und so bestellte sie einen Salat und etwas Pizzabrot. Der Kellner zog die Augenbrauen hoch, notierte die Wünsche und verschwand.
«Es tut mir leid, daß ich nicht zu Alexanders Beerdigung gekommen bin«, sagte Leon,»das wollte ich dir die ganze Zeit schon sagen. Ich hatte nicht die Kraft.«
«Meine Eltern waren da«, sagte Jessica.»Ricarda ist nicht gekommen, aber Elena hatte deswegen angerufen. Ricarda redet immer noch fast kein Wort und liegt die ganze Zeit nur im Bett. Sie ist offenbar völlig traumatisiert.«
Er lächelte bitter.»Ich hätte lieber ein traumatisiertes Kind als gar kein Kind. Es war nicht alles Gold bei uns, weiß Gott nicht, aber trotz allem waren wir eine Familie…«
Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort:»Ist es nicht verrückt? Nach Ereignissen wie diesem plagen einen die Schuldgefühle. Weil man selbst überlebt hat? Weil man sich zu denen, die es getroffen hat, nicht immer richtig verhalten hat und Kränkungen und Versäumnisse nie wiedergutmachen kann. Geht es dir auch so?«
Er wartete ihre Antwort nicht ab.
«Ich wollte mir keine Vorwürfe machen«, sagte er,»ich wollte mir diese sinnlose Qual wenigstens nicht antun, aber dann kommen doch immer wieder Bilder… von früher, weißt du. Damals, als Patricia plötzlich schwanger wurde mit Diane. Mein Gott, sie war achtzehn. Ich war siebenundzwanzig, machte gerade mein Referendariat. Wir mußten heiraten…«
«Ihr hättet sicher auch so geheiratet. Nur etwas später.«
Er sah sie nicht an, schüttelte den Kopf.»Nein. Ich hätte Patricia nie geheiratet. Sie war damals… sehr attraktiv. Sehr jung. Mitreißend in ihrer lebendigen, energischen Art. Aber auch anstrengend. Sie hat mich immer überfordert. Ständig sagte sie: ›Du mußt dies tun, du mußt jenes tun. Du kannst dies, du kannst das. Du mußt an dich glauben, du mußt dich zusammenreißen, du mußt vorwärtsgehen, du mußt stark sein, du mußt selbstbewußt sein!‹ Sie hämmerte mir jeden Tag ihr persönliches Credo in den Kopf, und ich versuchte es mit heraushängender Zunge umzusetzen und hatte dabei das Gefühl, immer weiter zurückzufallen. Ihren Vorstellungen und Ansprüchen nie genügen zu können Und wenn es nur darum ging, daß ich am Sonntag morgen verschlafen im Bett döste, während sie schon in aller Frühe auf den Füßen war und irgendein anstrengendes Sportprogramm durchzog. Wenn ich abnehmen wollte, quälte ich mich ein paar Wochen mit halbherzigen Diätversuchen herum und brachte, wenn ich Glück hatte, am Ende ein halbes Kilo weniger als vorher auf die Waage. Wenn sie abnehmen wollte, erstellte sie sich einen knallharten Ernährungsplan, von dem sie dann um keinen Millimeter abwich, bis sie in exakt der geplanten Zeit genau die drei Kilo weg hatte, die sie hatte abnehmen wollen. Sie war so unendlich diszipliniert. Stark. Sicher mit sich genauso hart wie mit anderen, aber mich…«, er hob hilflos die Hände,»mich hat sie damit einfach fertiggemacht. Sie war immer besser. Sie war immer vorneweg. Immer.«
Der Kellner brachte den Salat und das Pizzabrot. Leon bestellte sich ein weiteres Glas Wein. Jessica stocherte in Tomaten und Pilzen herum. Sie verspürte nicht den geringsten Appetit.
«Ich hatte damals gehofft, sie würde das Kind abtreiben«, sagte Leon.»Ich habe sie nicht unter Druck gesetzt deswegen, aber ich habe die Möglichkeit ein paarmal angesprochen. Es war Patricia keineswegs recht, so früh bereits Mutter zu werden, aber sie hatte Kinder in ihrem Leben vorgesehen, und sie hatte Angst, daß ein Eingriff irgend etwas kaputtmachen könnte. Ich besprach mich mit Alexander und Tim. Beide meinten, ich müßte sie heiraten. Aus Anstand. Also heirateten wir. Ich habe mich betrunken am Morgen der Hochzeit. Als Alexander und Tim mich in meiner Wohnung abholten, war ich ziemlich blau. Die beiden haben mich unter die Dusche gestellt und kalt abgebraust, mir Aspirin eingeflößt, die Krawatte gebunden und mich mit Hustenbonbons gegen meine Fahne versorgt. So gelang es mir, das Jawort zu geben, ohne dabei zu lallen. Patricia merkte natürlich trotzdem, daß ich ziemlich dicht war. Sie bewahrte Haltung den ganzen Tag über, lächelte, mimte die perfekte, glückliche Braut, aber ich wußte, daß sie wütend war. Abends hatten wir einen schrecklichen Streit. Sie schlachtete mich mit eiskalten, verletzenden Worten regelrecht ab, und ich hatte einfach nur rasende Kopfschmerzen und immer noch zuviel Alkohol im Blut und war ihr nicht im entferntesten gewachsen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, ich verließ die Wohnung und fuhr mit dem Taxi zu Tim. Der lebte damals noch allein. Alexander war da, die beiden tranken noch etwas, unterhielten sich. Alexander hatte Elena mit der kleinen Ricarda nach Hause geschickt. Ich stieß dazu. Ich glaube, ich… ich heulte. Ich war so verzweifelt. Ja«, er atmete tief durch, sah Jessica noch immer nicht an,»so verlief unsere Hochzeitsnacht. Patricia allein daheim und ich bei meinen besten Freunden, heulend zuerst und irgendwann sturzbesoffen, denn natürlich machten wir dort weiter, wo ich am Morgen aufgehört hatte. Wir ließen uns richtig vollaufen, alle drei, und dann… führten wir unendlich dumme Reden…«
Endlich hob er den Blick. Er sah Jessica an. Sie erkannte nichts als Trostlosigkeit in seinen Augen, Leere, Hoffnungslosigkeit, daß irgend etwas sich je zum Besseren wenden würde.»Ich war ja wie in Panik. Frisch verheiratet, im Begriff, Vater zu werden und dabei gleichzeitig in einer Lebensphase, in der ich nichts als Freiheit wollte. Absolute, endlose Freiheit. Ich hatte das Gefühl, in einer Falle gefangen zu sein und nie wieder herauszukommen. Da fingen die anderen mit Stanbury an.«
«Mit Stanbury?«fragte Jessica.
Er lächelte wieder sein bitteres Lächeln, das sie erst seit diesem Abend an ihm kannte.»Ich sagte ja, wir waren absolut blau und führten dumme Reden. Sie wollten mich trösten. Tim kam auf die Idee, eine Liste aufzustellen, was alles gut sei an meiner Situation. Mir fiel überhaupt nichts ein und den anderen auch nicht viel, aber dann erwähnte Alexander Stanbury, und Tim und er schossen sich richtig darauf ein. Damals kämpfte Kevin McGowan bereits mit dem Krebs, und es stand fest, daß Stanbury in absehbarer Zeit Patricia gehören würde. Also sagten die beiden, ich hätte in gewisser Weise eine englische Landadelige geehelicht, eine mit einem Landsitz. Daß ich von nun an zur britischen upper class gehörte, demnächst neben der Queen in Ascot sitzen würde… solchen Mist eben, aber irgendwann begannen wir alle uns ernsthaft für Stanbury zu erwärmen. Damals wurde der Gedanke geboren, alle Ferien dort gemeinsam zu verbringen, Stanbury zu unserem Stanbury zu machen, zu dem von Alexander, Tim und mir. Zu dem Ort, an dem wir immer zusammenkommen könnten, an dem wir die Probleme des Alltags hinter uns lassen, ganz wir selbst sein könnten. Stanbury als der Platz, an dem sich unsere Freundschaft immer wieder manifestierte. Uns war feierlich zumute, und, betrunken wie ich war, dachte ich, alles würde gut werden. Als der Morgen graute, ging ich heim, überzeugt, alles ertragen zu können, weil es Stanbury gab. Weil es meine Freunde gab und weil unsere Freundschaft nun ein Zuhause hatte.«
Er schüttelte den Kopf in der Erinnerung an jene Stunden.»Aber ich liebte Patricia nicht. Damals nicht, später nicht. Ich liebte nur Stanbury, und das ließ mich durchhalten.«
«Das hat Alexander mir nie erzählt«, sagte Jessica.
Leon beachtete ihren Einwurf nicht.»Und jetzt ist Stanbury zu Patricias Grab geworden. Und zum Grab meiner Kinder. Es ist alles so… so schrecklich tragisch. Es hat etwas von einer Bestrafung. Ich werde bestraft. Weil ich Patricia nicht wollte und die Kinder nicht wollte. Weil mein ganzes Leben der letzten Jahre nur eine Lüge war.«
Jessica begriff, daß es keinen Zweck hätte, den Versuch zu machen, mit ihm über ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: Sie hatte mit ihm gemeinsam überlegen wollen, was getan werden konnte, um Evelin möglichst rasch zu helfen. Und sie hatte mit ihm über die schier unfaßbare Behauptung Superintendent Normans sprechen wollen, Evelin sei von Tim jahrelang mißhandelt und gequält worden. Obwohl Leon eingeräumt hatte, daß Norman die Wahrheit gesagt hatte (»Hast du es denn nicht gewußt?«), schien es ihr kaum glaubhaft, und in irgendeinem naiven Winkel ihres Gehirns hoffte sie noch immer, das Ganze werde sich als ein Mißverständnis herausstellen. Aber mit diesem gebrochenen Mann vor ihr konnte sie nicht reden, jedenfalls jetzt nicht, vielleicht viel später, in vielen Wochen oder Monaten. Sanft berührte sie für einen Moment seinen Arm.
«Schau nicht zurück«, sagte sie leise,»es nützt nichts. Versuche jetzt, nur vorwärts zu schauen.«
«Kannst du das?«fragte er.»Vorwärts schauen?«
«Ich versuche es. Ich möchte Evelin helfen. Etwas sagt mir, daß ich zusammenbrechen werde, wenn das hinter mir liegt, aber im Moment erfüllt es mich. Ich bin zutiefst von ihrer Unschuld überzeugt. Ich muß ihr helfen.«
«Arbeitest du zur Zeit?«
Sie schüttelte den Kopf.»Ich habe die Praxis nach dem Ferienende nicht mehr geöffnet. Die Patienten, die ich mir mühsam angeworben habe, werden zwar am Ende nicht mehr dasein, aber…«, sie holte tief Luft,»dann muß ich eben von vorn anfangen. Es wird sowieso nichts mehr sein, wie es war.«
«Nein«, stimmte er zu,»nichts wird mehr so sein.«
Sie schwiegen eine Zeitlang. Der Kellner räumte mit beleidigter Miene Jessicas fast unberührten Teller wieder ab. Es war dunkel geworden draußen, die lauten Geräusche der Stadt waren längst verebbt. An den Tischen im Restaurant wurde geplaudert, hier und da leise gelacht. Gläser klirrten.
«Was tust du so den ganzen Tag?«fragte Leon.
Sie überlegte. Was tat sie den ganzen Tag? Was tat sie, seitdem ihr Mann ermordet worden war?
«Ich denke nach«, sagte sie,»ich grüble. Ich versuche, unbegreifliche Dinge zu verstehen. Ich versuche, mir ein Bild zu machen.«
«Ein Bild wovon?«
Sie kramte ihre Geldtasche hervor. Es war Zeit zu zahlen. Zeit, sich in die Dunkelheit ihres Hauses zu flüchten, in das Alleinsein mit Barney. In Pläne, Strategien, Überlegungen. In all das, was sie davon abhielt, endgültig zu begreifen und dem Schmerz wehrlos ausgeliefert zu sein.
«Ein Bild von Alexander. Und von euch allen. Da ist so vieles ein Rätsel für mich.«
Sie winkte dem Kellner.»Als erstes werde ich Alexanders Vater aufsuchen. Ich könnte auch sagen, meinen Schwiegervater, aber das klingt seltsam bei einem Mann, den ich gar nicht kenne.«
«Du kennst ihn nicht?«fragte Leon überrascht.
«Er war nicht bei unserer Hochzeit. Er war nicht bei der Beerdigung. Alexander sagte mir, er habe ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater und schon seit längerem keinen Kontakt mehr. Ich möchte wissen, was dahintersteckt.«
Zum erstenmal war Leons Lächeln ein wenig entspannter, wenn auch keineswegs fröhlich.»Da wagst du dich ja direkt in die Höhle des Löwen. Alexanders Vater. Der alte Wilhelm Wahlberg. Will wurde er immer nur genannt, einfach nur Will. Alexander hatte zeitlebens eine Heidenangst vor ihm.«
«Warum?«
«Weil er so ist, wie er ist. Aufbrausend, intolerant, jähzornig. Rechthaberisch. Fordernd. Sadistisch, wenn es darum ging, andere niederzumachen. Ein Mensch, der jemanden mit bloßen Worten in den Selbstmord treiben könnte und diese Macht genießen würde. Wirklich, Jessica, du würdest nichts versäumen, wenn du ihn nicht kennenlerntest.«
Unvermittelt stellte sie eine Frage.»Alexander litt unter schrecklichen Albträumen. Weißt du etwas über die Ursache?«
Sein Blick verschloß sich, glitt von ihr weg.
«Keine Ahnung«, sagte er.
Zu Hause wurde sie sehnsüchtig von Barney erwartet. Sie gab seinem Drängen nach, legte ihm Halsband und Leine an und machte noch eine Runde durch die warme Nacht. Ein einziger einsamer Jogger begegnete ihnen, sonst schien das ganze Viertel bereits zu schlafen. Sie ließ Barney schließlich von der Leine, und er rannte wie ein Verrückter zwischen den Büschen umher, hob überall sein Bein und wühlte mit der Nase im zarten, jungen Gras. Die Mainacht war voller Düfte und Versprechungen.
Für andere. Für sie, Jessica, nicht mehr.
Es war fast Mitternacht, als sie zurückkehrten. Leer und dunkel erwartete sie das Haus. Alexanders Haus am westlichen Stadtrand Münchens. Das Haus, in dem er mit Elena und Ricarda, später allein gewohnt hatte. Sie war zu ihm gezogen, noch vor der Heirat, aber sie hatten beide immer wieder davon gesprochen, sich etwas anderes zu suchen.
«Ich will ganz neu anfangen mit dir«, hatte Alexander gesagt.
Warum waren sie jetzt, am Ende, immer noch hier gewesen?
Das Haus lag in günstiger Nähe zu ihrer Praxis, aber das allein hätte kein Grund sein sollen. Vielleicht hatten sie beide zuviel gearbeitet, um sich dem mit erheblichem Zeit- und Kraftaufwand verbundenen Projekt einer Haussuche zu widmen. Alexander hatte zwar häufig von einem Umzug geredet, nie jedoch konkrete Schritte in die Wege geleitet. Hatte er gar nicht wirklich fortgewollt? Mehr an seiner Vergangenheit gehangen, als er hatte zugeben wollen?
Interpretiere nachträglich nicht zuviel in alles hinein, warnte sie sich selbst, während sie die Tür aufschloß, du machst dich verrückt damit. Du hast schließlich selbst auch nichts unternommen, als zu reden. Letzten Endes waren wir beide einfach zu bequem.
Sie verbot sich die Vorstellung, wie schön es wäre, würde er jetzt im Wohnzimmer auf sie warten. Sie könnten ein Glas Wein zusammen trinken, er würde von der Uni erzählen, sie vom Praxisalltag. Er würde die Hand auf ihren Bauch legen und sich erkundigen, wie es dem Kleinen ginge.
«Scheiße!«sagte sie laut.»Denk nicht daran! Denk, verdammt noch mal, nicht daran!«
Sie ging ins Bad, ließ sich Wasser in die Wanne, kippte viel Rosmarinsalz dazu. Es war fast halb eins, als sie in die behagliche, leise schwappende, gluckernde Wärme stieg. Ein Glas Wein stand auf dem Wannenrand. Sie wußte, daß sie während der Schwangerschaft keinen Alkohol trinken sollte, aber seit jenem 24. April, seitdem sie von einer Wanderung durch den lieblichen englischen Frühling zurückgekehrt war und ihr Leben in Trümmern vorgefunden hatte, konnte sie ohne ein oder zwei Gläser Wein am Abend nicht schlafen. Sie hoffte, das Baby würde nicht zuviel davon abbekommen.
Sie wollte nicht an Stanbury denken, aber natürlich glitten ihre Gedanken wieder dorthin, während sie an die Decke über sich starrte und auf die Kacheln an der Wand, auf denen noch hier und da bunte Abziehbilder klebten, die Ricarda als kleines Mädchen dort hingepappt hatte: großäugige Bambis und dicke Fliegenpilze, krummnasige Hexen und goldhaarige Prinzessinnen, dazwischen Sterne, Sonnen, schmale Mondsicheln mit lächelnden Gesichtern. Eine romantische Märchenwelt. Kaum in Einklang zu bringen mit dem widerspenstigen, trotzigen Teenager, dem man sich heute gegenübersah.
Ricarda. Leon. Evelin. Und sie selbst.
Evelin hatte es getroffen, sie war in einen Verdacht geraten, der, davon war Jessica überzeugt, auch an jedem anderen hätte hängenbleiben können. Evelin hatte das Pech gehabt, eine widersprüchliche, unstimmige Geschichte erzählt zu haben, doch wer wollte dies nicht für durchaus natürlich halten angesichts des Schocks, unter dem sie gestanden hatte?
Superintendent Norman. Inspector Lewis. Die hielten es offenbar nicht für natürlich.
Das Motiv sahen sie in dem Umstand, daß Evelin offenbar unter Mißhandlungen durch ihren Mann gelitten hatte. Aber würde sie ihn deshalb töten? Würde sie in einer Art Amoklauf alle töten, die ihr zufällig vors Messer gerieten? Die dicke, depressive Evelin? Immer sanft, immer nett? Es paßte nicht. Beim besten Willen konnte Jessica dies nicht glauben.
Ricarda. Sie dachte an die Haßphantasien, die sie in ihrem
Tagebuch ausgelebt hatte. Die Vorstellung, die ganze Clique tot zu sehen, hatte beängstigend stark Besitz von ihr ergriffen. Offenbar gab sie Patricia, aber auch den anderen, die Schuld am Scheitern der Ehe ihrer Eltern. Über die Scheidung war sie ganz eindeutig bis heute nicht hinweggekommen. Aber würde sie deshalb hingehen und fünf Menschen töten?
Leon. Er hatte mit dem Rücken zur Wand gestanden. Seine finanziellen Probleme waren massiver gewesen, als er irgend jemandem — außer vielleicht Tim — anvertraut hatte. Dazu zwei anspruchsvolle Töchter, die einen hohen Lebensstandard gewöhnt waren und als selbstverständlich nahmen. Und eine Ehefrau, die er wegen der Unnachgiebigkeit, mit der sie ihn zum Erfolg antrieb, eigentlich gar nicht hatte heiraten wollen. Ihr sein berufliches Scheitern zu gestehen mußte ein Gang durch die Hölle gewesen sein. Immer wieder gab es Männer, die in derartigen Situationen keinen anderen Ausweg sahen, als die ganze Familie auszulöschen. Sich von ihren Erwartungen, Forderungen, ihrer Kritik oder sogar Häme für alle Zeiten zu befreien. Allerdings setzten diese Männer dann zumeist auch dem eigenen Leben ein Ende oder versuchten es zumindest. Doch weshalb sollte Leon auch Tim und Alexander töten?
Seine beiden besten Freunde. Sie waren immer zusammen, vom Kindergarten an. In ihrem festen Bündnis ist er derjenige, der materiellen Schiffbruch erleidet. Quält ihn auch ihnen gegenüber das Gefühl, ein Versager zu sein? Sind seine Freunde für ihn ebenso unerträglich geworden wie die Familie?
Und ich? fragte sie sich. Wo könnte mein Motiv liegen?
Sie schüttelte den Kopf, stand auf, griff nach ihrem Badehandtuch, hüllte sich darin ein. Sie starrte in den Spiegel über dem Waschbecken. Sah ihr blasses Gesicht, um das sich feuchte Haarsträhnen kringelten.
Ich habe kein Motiv.
Aber vielleicht würden das die anderen von sich selbst ebenfalls im Brustton der Überzeugung behaupten. Vielleicht würden sie zwischen Ärger und Belustigung schwanken, wenn sie erführen, was sich aus ihrer jeweiligen Lebenssituation konstruieren ließ.
Sie putzte ihre Zähne, dachte dabei an Phillip, von dessen Schuld Leon überzeugt war — oder besser: gewesen war, ehe er aufhörte sich mit irgend etwas anderem als der Bewältigung seines eigenen Elends zu beschäftigen. War Phillip plötzlich durchgedreht? Außer sich geraten vor Wut, weil niemand ihm glaubte weil sie ihn abgefertigt hatten wie einen lästigen Verrückten, der mit einer fixen Idee im Kopf herumläuft? Wie fühlte es sich an, von einem Rechtsanspruch überzeugt zu sein und nirgendwo Gehör zu finden? Konnte dies einen Mann zu solch einer Wahnsinnstat treiben?
Natürlich konnte es das. Die Zeitungen waren voll von Begebenheiten dieser Art.
Sie wußte, daß sie nicht würde schlafen können, obwohl es inzwischen ein Uhr in der Nacht war. Noch immer mit nichts als dem Badetuch bekleidet, ging sie hinunter ins Wohnzimmer. Barney lag auf dem Sofa und blinzelte sie verschlafen an. Sie setzte sich neben ihn, kraulte sein Fell, während sie mit der Fernbedienung des Fernsehers durch die Programme zappte. Sie verspürte das starke Bedürfnis nach einem weiteren Glas Wein, aber sie verbot sich diesen Wunsch energisch. Sie mußte an das Baby denken.
Und ich muß an Evelin denken, sagte sie sich. Vielleicht sollte sie ein wenig in Evelins Leben herumstöbern. Vielleicht fand sich etwas, das sie entlastete, das zumindest die Frage des Motivs in ein anderes Licht rückte. Das Problem war, daß Leon zur Zeit ausfiel. Aber irgendwie hatte das alles mit dem Freundeskreis zu tun, mit diesem eigenartig künstlichen Gebilde, das nur auf den ersten Blick aus Harmonie und Zusammengehörigkeit bestand, das beim zweiten Hinsehen jedoch einen extremen Zwang zur Anpassung verriet und jegliche Verirrung hin zur Individualität mit Argwohn beäugte.
Wann mußte ein Konstrukt sich selbst so intolerant überwachen? Sie beantwortete sich die Frage im gleichen Atemzug selbst: wenn es brüchig war. Instabil. Vielleicht nicht einmal echt.
Sie starrte in den Fernseher, ohne etwas von dem zu sehen, was dort lief. Sie wußte genau, wer ihr weiterhelfen konnte, wer der einzige Mensch war, den sie fragen konnte. Der einzige Mensch, der so lange Teil des Systems gewesen war, daß er die Antworten kannte.
Die Sache war nur die, daß sie so verdammt wenig Lust hatte, Kontakt zu der Ex-Frau ihres Mannes aufzunehmen.
Es regnete in London, ein warmer, aber sehr kräftiger Mairegen, und Phillip, der seine Wohnung am Morgen ohne Mantel und Schirm verlassen hatte, war im Nu durchweicht und ohnehin schlechter Laune. Genaugenommen besaß er überhaupt keinen Regenschirm, hätte auch gar keinen besitzen wollen, weil er Schirme spießig fand, aber ein Mantel wäre wirklich nicht schlecht gewesen. Seiner war so alt und abgetragen, daß er sich im Grunde nicht mehr darin blicken lassen konnte. Schon gar nicht, wenn er, so wie heute, einen Anwalt im feinen Londoner Bezirk Westminster aufsuchen mußte. Als er in dem holzgetäfelten Vorraum gewartet und die — zweifellos echten — Ölschinken an den Wänden bewundert hatte, war er froh gewesen, wenigstens eine Krawatte umgebunden zu haben.
Den Anwalt hatte ihm ein guter Bekannter vermittelt, aber das änderte nichts daran, daß er eine Gebühr würde bezahlen müssen, und die würde sicher ein empfindliches Loch in seine Kasse reißen. Er jobbte zur Zeit gelegentlich als Synchronsprecher bei der BBC, aber die Aufträge plätscherten nur schleppend und in weiten Abständen herein. Er schaffte es gerade so, die Miete für das schäbige Loch in Stepney aufzubringen und gelegentlich in ein Pub zu gehen. Die täglichen Nahrungsmittel wurden hauptsächlich von Geraldine bezahlt, und auch dieser Umstand kotzte ihn nur noch an.
Zu allem Überfluß hatte der Anwalt ihm kaum Mut oder Hoffnung gemacht. Er hatte sich seine Geschichte mit skeptischer Miene angehört und dann gemeint, die Argumente, auf die sich ein Antrag auf Exhumierung des verstorbenen Kevin McGowan gründen könnten, seien äußerst dünn.
«Um ganz ehrlich zu sein, Mr. Bowen, ich sehe da kaum eine Chance. Wir haben einzig und allein die Aussage Ihrer Mutter, und die lebt nicht mehr. Sie war zudem zu der Zeit, als sie Ihnen von jener… hm, Affäre erzählte, bereits im Endstadium ihrer Krebserkrankung angelangt und stand unter starken Medikamenten. Was ihre Behauptungen nicht unbedingt… glaubwürdiger macht!«
In Phillip war die ihm längst vertraute Wut aufgestiegen. Immer wieder begegnete er diesem Vorbehalt: seine kranke Mutter, vom Krebs gepeinigt und vom Morphium verwirrt, die plötzlich anfing, wilde Phantasien über verflossene Liebhaber aufzutischen. Manchmal schämte er sich richtig, daß er sie, die sich nicht mehr wehren konnte, diesen Unterstellungen ausgesetzt hatte.
Der Anwalt hatte wohl in seinem Gesicht gelesen, was in ihm vorging, denn er beeilte sich hinzuzufügen:»Ich sage nicht, daß ich das so sehe. Aber Sie wollen meinen Rat und eine realistische Einschätzung der Lage, und da nützt es Ihnen nichts, wenn ich die Dinge beschönige.«
Anschließend hatte Phillip von dem Verbrechen berichtet, das in Stanbury House geschehen war, und davon, daß man auch ihn stundenlang verhört hatte. Die Yorkshire-Morde waren natürlich noch immer ein Thema in den englischen Zeitungen, wenn auch mittlerweile nicht mehr auf den Titelseiten, und auch der Anwalt wußte davon, hatte jedoch zunächst nicht die Verbindung zu seinem Mandanten hergestellt. Nun begriff er.
«Mein Gott«, sagte er,»natürlich! Kevin McGowan! Um sein Landhaus ging es ja in den Berichten! Hören Sie«, er hatte sich nach vorn gebeugt und Phillip eindringlich angesehen,»an Ihrer Stelle würde ich die ganze Angelegenheit für längere Zeit ruhen lassen. Sie standen immerhin, wenn auch nur kurz, unter Tatverdacht. Und wenn sich der Verdacht gegen diese Deutsche, die man vorläufig festgenommen hat, nicht erhärtet, sind Sie ganz schnell wieder in der ersten Reihe derer, die man sich genauer anschaut. Mit Ihrem bisherigen Verhalten haben Sie genug Angriffspunkte gegen sich selbst geschaffen. Fügen Sie keine weiteren hinzu!«
«Ich habe lediglich versucht, das, was ich für mein Recht halte…«
Der Anwalt hatte ihn nicht ausreden lassen.»Ihr Recht oder das, was Sie dafür halten, interessiert aber im Augenblick niemanden. Was Stanbury betrifft, so geht es da jetzt in erster Linie darum, ein scheußliches Verbrechen aufzuklären, und die Polizei wird sich auf alles stürzen, was im geringsten zwielichtig erscheint. Deshalb versuchen Sie, trockene Füße zu behalten.«
Er war aufgestanden, zeigte, daß er das Gespräch beenden wollte.»Dies ist natürlich nur ein Rat von mir«, sagte er,»den Sie befolgen können oder nicht.«
Phillip wußte, daß es zumeist durchaus angebracht war, den Rat von Anwälten zu befolgen, aber letztlich lief dies darauf hinaus, daß er gar nichts mehr tat, den Kopf einzog und wartete, daß Gras über die Sache — was bedeutete: über die Morde wuchs. Wenn Evelin zu einer Haftstrafe verurteilt war, konnte er aus der Versenkung auftauchen und erneut seine Ansprüche anmelden. Wenn dann nicht alles zu spät war. Was wußte er denn, was nun mit Stanbury House geschah? Die Hälfte der Truppe, die es regelmäßig bevölkert hatte, war tot. Am Ende würde der trauernde Witwer das ganze Anwesen verkaufen. Sollte es tatsächlich irgendwann in grauer Zukunft gelingen, eine Exhumierung Kevin McGowans durchzusetzen, könnte es dann nur noch um einen Anteil am Erlös gehen. Und an Geld war Phillip in die sein Zusammenhang nie interessiert gewesen.
Irgendwie, dachte er, läuft mir die Sache aus dem Ruder. Wie immer.
In der U-Bahn herrschte eine Luft zum Zerschneiden, und die Menschen standen gepreßt wie die Ölsardinen. Es roch nach nassen Mänteln und Regenschirmen, und aus unerfindlichen Gründen schienen an den Stationen kaum Leute aus-, dafür aber immer mehr einzusteigen. Phillip stand an eine korpulente Dame gedrängt, die etwa einen Kopf kleiner war als er; ihre sich in der hohen Luftfeuchtigkeit in alle Richtungen sträubende Dauerwelle kräuselte sich vor seinem Mund, und er hatte das Gefühl, ständig graue Haare einzuatmen.
Wieso lebe ich überhaupt in London? fragte er sich. Er dachte an die weiten Wiesen und Moore rund um Stanbury, sah sich an einem Abend wie diesem mit einem Hund über die Felder streifen, in Gummistiefeln, Barbourjacke und mit karierter Schirmmütze. Um ihn herum Frieden, Einsamkeit und Freiheit. Es roch nach nassem Gras, nach Erde und Blüten. Zu Hause warteten ein Kaminfeuer und ein Whisky.
Wer hätte je gedacht, daß er sich ein solches Bild ausmalen und sich nach seiner Verwirklichung sehnen könnte? Fast hätte er über sich selbst gelacht, aber er unterdrückte es, weil er befürchtete, erneut einen Schwung Haare zwischen die Lippen zu bekommen. Und genaugenommen war es nicht im geringsten zum Lachen, in dieser U-Bahn eingequetscht zu stehen und einem tristen Zuhause entgegenzufahren.
Er atmete auf, als er im Londoner Osten endlich aussteigen konnte, obwohl ihn sofort der Regen wieder begrüßte, als er aus dem Bahnhof nach oben kam. Die Straßen lagen grau und trist vor ihm. Arbeitersiedlungen, alte, verwohnte Häuser in langen Zeilen, verwahrloste kleine Gärten davor. Nach hinten düstere Höfe, die verstellt waren mit Autoreifen und Blechteilen und ausrangierten Waschmaschinen, die über Jahre vor sich hinrosteten.
An manchen Wäscheleinen hing Wäsche, trotz des Regens. Vor einem Haus stand ein leerer Kinderwagen, offensichtlich dort vergessen und inzwischen triefend naß. Hinter den Wohnzimmerfenstern flimmerten die Fernseher. Kindergeschrei mischte sich mit den wütenden Stimmen streitender Erwachsener. Irgendwo bellte ein Hund. Es roch intensiv nach gebratenen Zwiebeln. Eine Hochbahn brauste vorbei, ließ die Fensterscheiben einiger Häuser klirren und erfüllte die Straße mit ohrenbetäubendem Lärm.
Phillip ließ die Reihenhaussiedlung hinter sich und bog in eine Straße ab, an deren Seiten sich kasernenartige, mehrstöckige Nachkriegsbauten befanden. Hier fehlte sogar das winzige Stück Rasen vor der Haustür, das vor die Reihenhäuser zumindest einen Hauch von Grün gezaubert hatte. Die Mieten waren spottbillig, aber freiwillig zog niemand hierher. Vom Mauerwerk bröckelte der Putz, die meisten Straßenlaternen waren kaputt, und nahezu jede Wand, jedes Tor, jede Tür war mit Graffiti besprüht; in der Hauptsache wüste Obszönitäten in grausamer Orthographie. Phillip spähte hinauf zu dem schrägen Dachfenster seiner Wohnung — wobei der Ausdruck Wohnung übertrieben war; es handelte sich lediglich um ein einziges Zimmer. Er hatte gehofft, das Fenster sei dunkel, aber natürlich brannte Licht, und ihm war klar, daß er es nicht wirklich anders erwartet hatte. Sie war da. Sie war jetzt einfach immer da. Wenn sie nicht gerade arbeitete.
Es war nicht so, daß Geraldine offiziell bei ihm eingezogen war, und sie hatten auch nicht über derartiges gesprochen. Sie hatten eigentlich über sich, ihre Beziehung, ihre Zukunft gar nicht mehr geredet, seitdem sie von Yorkshire abgereist waren. Aber Geraldine verhielt sich so, als habe auch jedes andere Gespräch dort oben in Stanbury nie stattgefunden. Er hatte ihr die Beziehung aufgekündigt, aber sie ignorierte diesen Umstand. Sie war in das alte Leben vor Stanbury zurückgeschlüpft und hatte es intensiviert. Ihren Schlüssel zu Phillips Wohnung hatte sie nicht zurückgegeben und kreuzte dort immer auf, wenn sie in London war. Sie kaufte ein, putzte und staubsaugte, stellte Blumen in eine Vase, hatte einen Teppich und zwei Bilder mitgebracht. Sie hatte aus dem trostlosen Loch zweifellos das beste gemacht, was man daraus machen konnte, aber es war nicht das, was Phillip wollte, und überhaupt hatte sie sich das Gehabe einer Ehefrau zugelegt, die ihren Mann umsorgt und stets für ihn da ist. Was er noch weniger wollte, aber in wütender Resignation hinnahm.
Natürlich wußte er, warum er das tat, und warum sie das tat. Es war das verdammte Alibi, das die Verbindung zwischen ihnen wieder hergestellt hatte. Auch darüber hatten sie kein Wort mehr verloren, und doch hatte es alles verändert: Sie zementierte ihren Platz in seinem Leben. Und er fühlte nicht mehr die Freiheit, sie zum Teufel zu schicken.
Er stieß die Haustür auf — die lose in den Scharnieren hing und schon lange nicht mehr richtig schloß — und tauchte ein in die Dunkelheit des engen Treppenhauses, das von abgestandenen Essensgerüchen und von dem beißenden Gestank eines scharfen Putzmittels erfüllt war. Die Stufen knarrten. Auf einigen Treppenabsätzen lagen unfachmännisch abgeschnittene Stücke flauschigen Teppichbodens, in scheußlichen Farben und Mustern, von Dreck und Milben verseucht. Auf anderen standen Bierkästen oder flogen Schuhe und alte Zeitungen herum. Nicht alle Lampen — die ohnehin nur aus nackten Glühbirnen bestanden — brannten. Viele waren kaputt und machten vorsichtiges Vorantasten notwendig. Phillip war es gewöhnt, und früher hatte er über sein Zuhause, dessen Häßlichkeit und Trostlosigkeit, nie nachgedacht. Inzwischen aber legte sich jedesmal ein dumpfer Druck auf seine Brust, wenn er von seiner BBC-Tätigkeit oder einem Streifzug durch die Stadt zurückkehrte. In erster Linie war es jedoch nicht die Tristesse, die ihm zu schaffen machte. Vielmehr war es die Enge, die ihm im Dämmerlicht zwischen den dunklen, fleckigen Wänden das Atmen erschwerte. Die Enge seiner Wohnung. Die Enge dieses Hauses. Vielleicht aber auch die Enge Londons, der Straßen und Häuser und vielen Menschen.
Ich war ein anderer früher, dachte er, ein ganz anderer. Vor Stanbury.
Geraldine riß die Wohnungstür auf, noch ehe er Zeit gefunden hatte, seinen Schlüssel hervorzukramen. Offenbar hatte sie seine Schritte auf der Treppe gehört.
«Da bist du ja! Es ist spät geworden, nicht? Stell dir vor, Lucy ist da!«
Er hatte den Eindruck, daß sie ihn absichtlich abgefangen hatte, um ihn rasch über Lucys Anwesenheit zu unterrichten, ehe er anfangen könnte, von dem Gespräch mit dem Anwalt zu berichten. Möglicherweise hatte sie ihrer Busenfreundin davon ausnahmsweise nichts erzählt. War ihr peinlich wahrscheinlich. (»Nach allem, was passiert ist, rennt er jetzt tatsächlich zum Anwalt wegen seiner blöden Exhumierungsidee! So besessen kann man doch gar nicht sein!«)
Er trat in den kleinen Raum, der Küche, Wohn- und Schlafzimmer unter schrägen Wänden in sich vereinte. Das Dach des Hauses war an mehreren Stellen undicht, und die eindringende Feuchtigkeit löste an allen Ecken und Enden die Tapete ab. Was nicht schade war, wie Phillip immer fand. Er hatte die grüngoldenen Ornamente auf eierschalfarbenem Hintergrund nie leiden können.
Lucy Corley saß an dem kleinen Bistrotisch, der in der sogenannten Kochnische stand, zwischen dem hölzernen Schrank und dem elektrischen Kocher mit zwei Herdplatten. Sie rauchte eine Zigarette, und der vor ihr stehende, überquellende Aschenbecher verriet, daß sie schon eine ganze Weile da war. Phillip fand, daß Lucy eine der unattraktivsten Frauen war, die er je gesehen hatte: klein, quadratisch, flachbrüstig, dafür mit im Verhältnis zu ihrer Größe überdimensional langen Füßen und Händen wie Baggerschaufeln. Ihre schulterlangen Haare trug sie schwarz gefärbt, dabei war ihre Naturfarbe ein sehr helles Braun, und das Schwarz bildete einen viel zu harten Kontrast zu ihrer ewig bleichen Gesichtsfarbe. Ihre Modellagentur managte sie mit großem Einsatz und Erfolg, und die Härte, die ihr diese Beruf auf einem gnadenlosen Markt abverlangte, zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie hatte ausgesprochen scharfe Züge für ihr Alter. Aus ihrer Abneigung gegen Phillip hatte sie nie einen Hehl gemacht. Er wußte, daß sie ihn für einen Versager hielt, der sich auf skrupellose Weise von Geraldine aushalten ließ und dabei ihre Gefühle mit Füßen trat. Da er sich nicht das geringste aus ihr machte, war es ihm egal, was sie von ihm dachte, aber es nervte ihn zutiefst, daß Geraldine sie hierherschleppte und er sie nun auch noch am Hals hatte.
«Hallo, Phillip«, sagte Lucy. Sie hatte eine tiefe, heisere Stimme, was vermutlich an ihrem hohen Zigarettenkonsum lag.»Du arbeitest, habe ich gehört?«
Sie sagte dies in einem Ton, als spreche sie von einem geradezu unerhörten Phänomen. Er beschloß, darauf nicht einzugehen.
«Hallo, Lucy. Was führt dich hierher?«
«Lucy und ich haben bei einer Tasse Kaffee völlig die Zeit vergessen«, sagte Geraldine,»deshalb habe ich auch noch gar kein Abendessen vorbereitet. Aber ich werde gleich…«
«Mach dir meinetwegen keine Mühe«, unterbrach Phillip mürrisch und streifte sein nasses Jackett ab, löste die Krawatte, schlüpfte aus seinen Schuhen, in denen das Wasser quietschte.»Ich erwarte bestimmt kein Essen, wenn ich nach Hause komme!«
Ich erwarte nicht mal, daß du da bist, fügte er in Gedanken hinzu.
Lucy drückte ihre Zigarette aus und stand auf.»Zeit für mich zu gehen«, verkündete sie.
«Willst du nicht zum Essen bleiben?«fragte Geraldine.
Lucy schüttelte den Kopf.»Bestimmt nicht!«
Es war völlig klar, daß sie wegen Phillip ging, daß sie es für unter ihrer Würde befand, sich mit ihm über einen längeren Zeitraum im selben Raum aufzuhalten. Sie griff nach ihrem Mantel. Phillip machte keine Anstalten, ihr hineinzuhelfen, sondern sah ungerührt zu, wie sie sich in die zu engen Ärmel quälte.
«Denk mal über das nach, was wir besprochen haben«, sagte sie und hauchte Geraldine einen Kuß auf die Wange. Sie nickte Phillip kühl zu und verließ die Wohnung. Man hörte die altersschwache Treppe draußen in allen Tönen knarren, als sie hinunterlief.
«Tut mir leid, daß sie noch da war«, sagte Geraldine,»aber ich konnte sie ja nicht einfach hinauswerfen.«
«Klar.«
Er ließ sich auf das Sofa fallen, daß ihm nachts, zur Liege ausgeklappt, als Bett diente. Bevor sich Geraldine wie eine Klette an ihn geheftet hatte, hatte er es tagsüber oftmals gar nicht wieder zusammengebaut, sondern mitsamt zerwühltem Laken und zerknäulter Decke einfach stehen gelassen.»Allerdings hast du ja auch noch, wenn ich mich recht erinnere, eine eigene Wohnung in London, in die du sie einladen könntest!«
Geraldine zuckte zusammen, begann mit etwas hektischen Bewegungen Aschenbecher und Kaffeetassen wegzuräumen.»Ich bin nicht mehr gern dort. In… meiner Wohnung, meine ich. Ich fühle mich dort sehr einsam.«
«Du könntest wieder mehr Termine wahrnehmen. Dann wärst du gar nicht so oft daheim, und wenn doch, würdest du die Stille sicher genießen.«
Er sah sie scharf an.»Jede Wette, daß die gute Lucy genau
darüber mit dir gesprochen hat? Daß du wieder stärkeres berufliches Engagement bringen sollst?«
«Lucy hat ihre eigene Sicht der Dinge. Die muß nicht immer mit meiner übereinstimmen.«
«Aber manchmal hat sie einfach recht, und du weißt, daß ich das über meine spezielle Freundin Lucy nicht gern sage. Du bist Fotomodell, du siehst toll aus, und du kannst deinen Job noch für ein paar Jahre mit vollem Einsatz ausüben. Statt dessen hängst du in meiner Wohnung herum«, er legte besondere Betonung auf das Wort meiner,»und vergeudest deine Zeit mit einkaufen, kochen und irgendwelchen überflüssigen Verschönerungsprojekten!«
Er wies auf die Bilder und Blumen.»Kein Wunder, daß Lucy noch griesgrämiger dreinblickt als sonst! Ihr geht dabei schließlich auch eine Menge Kohle durch die Lappen.«
«Ich bin nicht in erster Linie auf der Welt, um Lucy zufriedenzustellen. Ich bin überhaupt nicht auf der Welt, um irgend jemanden zufriedenzustellen. Es ist mein Leben!«
Sie war ungewöhnlich aggressiv. Das letzte, worauf Phillip an diesem Tag Lust hatte, war ein Streit mit ihr.
«Klar ist es dein Leben«, stimmte er zu,»und du wirst zugeben müssen, daß ich dich jedenfalls nie bedrängt habe, mir dein Leben deine Karriere, deine Zeit oder sonst irgend etwas zu opfern!«
«Wenn ich mit dir Zusammensein kann, ist das kein Opfer für mich«, sagte Geraldine. Sie hatte hektische rote Flecken im Gesicht bekommen. Das Gespräch mit ihm ging ihr sichtlich unter die Haut. Sie hatte den Aschenbecher geleert und die Kaffeetassen in der Spüle gestapelt. Nun holte sie einen Salatkopf und ein paar Tomaten aus dem Kühlschrank. Sie würde einen Salat machen, vielleicht ein Baguette aufbacken, und sicher hatte sie Käse und Weintrauben besorgt. Wäre er allein gewesen, hätte er wahrscheinlich gar nichts zu essen im Haus gehabt. Er wäre noch einmal zum Supermarkt getrabt und hätte sich eine Tütensuppe gekauft. Er fragte sich, weshalb, um alles in der Welt, er ihre Fürsorge so haßte.
Und was versprach sie sich von all dem? Er beobachtete sie, wie sie welke Salatblätter aussortierte, Tomaten und Zwiebeln schnitt. Was brachte ihr das? Gut, sie hatte einen Fuß in seiner Tür, wahrscheinlich sogar mehr als das. Aber sie mußte wissen, daß sie lediglich von dem Umstand profitierte, ihm ein Alibi gegeben zu haben, und daß er sie nur deshalb widerwillig in seinen vier Wänden duldete. Ihm blieb nichts anderes übrig. Konnte ihr diese Situation wirklich ein gutes Gefühl geben?
Der Gedanke an das Alibi ließ ihn sich plötzlich gerade aufsetzen.»Du hast doch hoffentlich Lucy nichts erzählt?«fragte er argwöhnisch. Nach seiner Erfahrung neigten Frauen dazu, ihre Geheimnisse auf geradezu selbstmörderische Weise ihren besten Freundinnen anzuvertrauen.»Du weißt, was ich meine… von dem Alibi?«
«Natürlich nicht«, antwortete Geraldine, aber er fand, daß sie nicht richtig entrüstet klang. Zumindest hatte sie bestimmt mit dem Gedanken gespielt.
«Du weißt, daß das unbedingt unter uns bleiben muß«, sagte er,»und gerade Lucy hätte sicher nichts Besseres zu tun, als umgehend die Bullen zu informieren. Damit alles zwischen uns kaputt ist und sie dich wieder voll und ganz in ihrer Regie hätte.«
«Ich bin doch nicht dumm, Phillip«, sagte Geraldine. Als sie weiterarbeitete, wirkte sie entspannter als zuvor. Ihm war klar, daß ihr seine Angst, alles könnte auffliegen, Sicherheit gab. Solange er sich Sorgen machte, würde er sie nicht hinauswerfen. Aber er hatte ihr eine weitere Information zukommen lassen: Wenn sie nicht dichthielt, war sie draußen. Dann gab es für ihn keinen Grund mehr, sich länger von ihr festhalten zu lassen. Ein wackliges Abhängigkeitsgebäude…
Eine beschissene Situation, dachte er.
Er stand auf, machte ein paar Schritte hin und her, sah aus dem Fenster. Das Dach des gegenüberliegenden Hauses glänzte dunkelgrau im Regen.
Diese Enge. Diese unsagbare Enge, die ihm plötzlich die Luft zum Atmen zu nehmen schien.
«Der Anwalt hat mir geraten, vorerst die Finger von Stanbury zu lassen«, sagte er.»Er meint, das sei gefährlich nach allem, was dort geschehen ist. Abgesehen davon hat er mir überhaupt wenig Hoffnung gemacht…«
Er strich sich über die nassen Haare. Er war so deprimiert, daß er sich am liebsten mit jeder Menge Whisky zugeschüttet hätte. Vielleicht würde er das auch tun im Lauf des Abends.
Er trat an das Regal, in dem seine Ordner mit dem Zeitungsmaterial über Kevin McGowan standen. Strich kurz über ihre Rücken aus Plastik. Die Berührung ersetzte für einen Moment fast den Whisky.
Geraldine begann, Zwiebeln und Speck in einer Pfanne zu braten, schlug Eier dazu. Ein köstlicher Duft erfüllte die triste Mansarde.
«Wir sollten hier ausziehen«, sagte sie unvermittelt.
Wir wohnen hier gar nicht!
«Es ist so klein… und so trostlos.«
Ach! Wer hat dich denn eingeladen, hier zu sein?
«Allerdings fände ich es auch nicht gut, wenn wir in meine Wohnung ziehen würden. Wir sollten etwas ganz Neues zusammen anfangen.«
O Gott!
«Ein bißchen außerhalb. Ein Häuschen mit Garten.«
Sie drehte sich zu ihm um.»Wie fändest du das?«
«Bitte nicht«, sagte er gequält.
«Ich halte das für eine richtig gute Idee«, beharrte Geraldine und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
«Ich halte das für eine richtige Scheißidee«, entgegnete Phillip. Und störrisch fügte er hinzu:»Ich will Stanbury.«
«Das wirst du nicht bekommen«, sagte Geraldine, und es klang etwas wie Zufriedenheit in ihrer Stimme.
Später wußte er, daß er in diesem Moment begonnen hatte, sie zu hassen.
Am Samstag morgen wurde Jessica vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Im ersten Moment dachte sie, es sei noch mitten in der Nacht, aber dann sah sie, daß es bereits zehn Uhr am Vormittag war. Sie erinnerte sich, am Abend eine Schlaftablette genommen zu haben, weil die Gedanken an Alexander so heftig über sie hergefallen waren und so viel Schmerz ausgelöst hatten, daß sie nicht hatte einschlafen können. Die Tablette hatte sie benebelt und alles Bedrängende von ihr abrücken lassen. Jetzt hatte sie weiche Knie, als sie aus dem Bett stieg und zum Telefon tappte.
«Ja, hallo?«meldete sie sich vorsichtig, ohne einen Namen zu nennen. Es kam immer noch vor, daß Journalisten anriefen, nicht mehr so häufig wie am Anfang, aber doch hin und wieder. Auch in Deutschland waren die Yorkshire-Morde auf starkes Interesse gestoßen. Sie aber hatte mit niemandem darüber reden mögen, und sie mochte es auch jetzt nicht.
«Frau Wahlberg?«fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie schien ein gebrochenes Deutsch zu sprechen.
«Wer ist denn da?«
«Alicia Alvarez. Ich bin Putzfrau von Frau Burkhard.«
«Oh — Frau Alvarez!«
Jessica kannte die junge Portugiesin von einigen Abendgesellschaften in Evelins und Tims Haus. Meist hatte Evelin bei solchen Gelegenheiten einen Catering-Service kommen lassen, aber Alicia hatte beim Servieren geholfen und später die Küche aufgeräumt.
«Ich hoffe, ich habe nicht geweckt?«
«Nein. Nein, kein Problem. Was gibt es?«
Wie sich herausstellte, wußte Alicia Alvarez nicht recht, wie sie weiter verfahren sollte. Evelin hatte sie Ende April von England aus angerufen und gebeten, sich weiter um Haus und Garten zu kümmern, bis sich» die Dinge geklärt «hätten. Allerdings wurde sie die ganze Zeit über nicht bezahlt und hatte nun offenbar Angst, womöglich nie das Geld für ihre Dienste zu sehen. Zudem wollte sie für zwei Wochen Urlaub machen und sich absichern, daß sie das Haus solange allein lassen durfte.
«Sie sind gute Freundin von Frau Burkhard«, erklärte sie.»Habe mich an Ihre Namen erinnert und Nummer in Telefonbuch gesucht. Vielleicht Sie können mir helfen?«
«Möglicherweise wird es noch eine Weile dauern, bis Evelin zurück in Deutschland ist«, erklärte Jessica.
«Ein entsetzliche Geschichte«, sagte Alicia,»so ein entsetzliche Geschichte!«
«Ich schlage vor, Sie fahren jetzt in aller Ruhe in Ihren Urlaub«, meinte Jessica,»und vorher bringen Sie mir, wenn Ihnen das recht ist, den Schlüssel zu Evelins Haus vorbei. Ich werde mich während Ihrer Abwesenheit um alles kümmern. Außerdem bekommen Sie von mir das Geld für Ihre bisherige Arbeit. Evelin kann es mir ja dann später einmal zurückzahlen.«
Alicias Erleichterung war selbst durch das Telefon spürbar.
«Das ist gut! So machen wir!«
Vermutlich brauchte sie das ausstehende Geld dringend für ihre Ferien.»Frau Burkhard würde sein einverstanden, nicht? Sie sind so gute Freunde!«
«Frau Burkhard wäre bestimmt einverstanden«, versicherte Jessica. Sie vereinbarten, daß Alicia am Mittag vorbeikommen und den Schlüssel abgeben würde.
Als sie aufgelegt hatte, überlegte Jessica, was sie als nächstes tun sollte. Sie hatte vorgehabt, Alexanders Vater aufzusuchen, und außerdem ein Gespräch mit Elena angestrebt. Unschlüssig starrte sie auf den Apparat. Vor beiden Möglichkeiten graute ihr, aber es nützte nichts, sie ständig vor sich herzuschieben. Sie wollte Evelin helfen. Und selbst Klarheit gewinnen.
Kurz entschlossen schlug sie das ledergebundene Büchlein auf, das neben dem Telefon lag. Unter Wahlberg stand Alexanders Vater: Wilhelm Wahlberg. Er lebte nicht weit weg, am Chiemsee.
Sie wählte und wartete mit klopfendem Herzen.
Eigentlich hatte Will Wahlberg am Telefon gar nicht mal unfreundlich geklungen, was Jessica ermutigte, ein Treffen mit ihm überhaupt zu wagen.
«Kommen Sie nur vorbei. Wann Sie wollen. Kommen Sie morgen. Morgen ist Sonntag, nicht wahr? Das ist doch der Tag, an dem man Verwandte besucht.«
Er hatte gekichert.»Meine Schwiegertochter. Schon wieder eine. Ich muß Ihnen sagen, ich bin durchaus gespannt, wen er diesmal geheiratet hat.«
Auf den tragischen Tod seines Sohnes ging er mit keinem Wort ein, auch schien er keineswegs von Trauer umfangen zu sein. Jessica wußte, daß Alexanders Mutter seit vielen Jahren tot war, und es wunderte sie, daß es Will nicht zu berühren schien, mit Alexander den letzten lebenden Verwandten verloren zu haben. Wenn man von Ricarda, seiner Enkelin, absah, doch zu der hatte er, wie Alexander einmal erzählt hatte, nie Kontakt aufgenommen.
«Elena hat ihm nach Ricardas Geburt ein paar Fotos geschickt. Aber er hat nicht darauf reagiert.«
Von dem Enkelkind, das in Jessicas Bauch wuchs, wußte er ebenfalls nichts, und Jessica vermutete, daß es ihn auch nicht interessieren würde.
Sie sagte, sie werde um sechzehn Uhr bei ihm sein. Er meinte, sie brauche sich nicht festzulegen.»Ich bin allein. Es ist egal, wann Sie kommen. Erwarten Sie keinen Kaffee und keinen Kuchen! Ich neige nicht dazu, andere zu bedienen. Ich decke keinen Tisch oder stelle mich in die Küche, verstehen Sie?«
Sie hatte versichert, daß sie keinerlei Erwartung in diese Richtung hege, und sich dann verabschiedet. Merkwürdiger alter Kauz, aber weniger schroff, als sie befürchtet hatte. Im Grunde wußte sie nichts von ihm. Alexander hatte kaum über ihn gesprochen.
Mittags erschien Alicia und brachte den Schlüssel, nahm erleichtert ihr Geld in Empfang. Sie wollte wissen, ob Jessica es für möglich hielt, daß Evelin ein so schreckliches Verbrechen begangen hatte.
«Nein«, sagte Jessica,»ich kann es mir nicht vorstellen. Evelin war schwierig und hatte es schwer, aber mit Sicherheit ist sie außerstande, hinzugehen und vier Menschen die Kehlen durchzuschneiden und ein kleines Kind mit einem Messer in Brust und Bauch zu stechen. Aber manchmal denke ich, die ermittelnden Beamten dort drüben sind einfach froh, einen Schuldigen zu haben, weil sie das vor der Öffentlichkeit besser dastehen läßt. Die lassen Evelin wohl erst dann gehen, wenn sie den wahren Täter haben.«
«Frau Burkhard tut mir so leid«, sagte Alicia,»muß sein so schrecklich — in fremdes Land in Gefängnis, ohne Hoffnung…«
«Ich denke, daß sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat «sagte Jessica.»Sie hat einen guten Anwalt, und es gibt Indizien gegen sie, aber keine Beweise. So einfach ist es zum Glück nicht einen Menschen wegen angeblichen mehrfachen Mordes hinter Gitter zu bringen.«
Dann kam ihr ein Gedanke.
«Wissen Sie«, fragte sie vorsichtig,»etwas über die Ehe von Evelin und Tim… Herrn Burkhard? Ich habe gehört, es soll nicht zum besten gestanden haben?«
Alicia wand sich ein wenig.»Was soll ich sagen? Er ist… war… sehr aufbrausend…«
«Evelin war häufig verletzt«, sagte Jessica,»sie spielte angeblich Tennis und joggte, aber sie hatte dabei ziemlich viel Pech. Immerzu hinkte sie oder hatte irgendwo eine Zerrung oder Quetschung oder sonst etwas, das ihr Schmerzen verursachte.«
Sie sah Alicia scharf an.»Das ist Ihnen doch sicher auch aufgefallen.«
«Sie war nicht… sportlicher Typ«, sagte Alicia,»vielleicht deshalb so viele Verletzungen…«
«Glauben Sie das?«
«Sie hat gesagt.«
«Ja. Mir hat sie das auch gesagt. Jedem hat sie das gesagt. Aber es gibt andere Gerüchte. Demnach soll ihr Mann nicht ganz unschuldig gewesen sein an ihren zahlreichen Blessuren.«
«Ich nicht weiß.«
Du weißt schon, dachte Jessica, das Personal weiß immer eine ganze Menge. Aber du willst um keinen Preis in irgend etwas verstrickt werden!
Sie verabschiedeten sich kühl voneinander.
Jessica schob sich eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle, fütterte Barney, setzte sich dann zum Essen auf die Terrasse. Der Maitag war warm und trocken. Das Gras im Garten stand hoch.
Ich muß den Rasen mähen, dachte sie, Blumen pflanzen. Irgendwie sehen, daß es weitergeht.
Die Frage war, ob sie weiterhin in diesem Haus wohnen wollte. Sie hatte dieses Problem noch keineswegs gelöst, schreckte auch immer wieder davor zurück. Woher sollte sie wissen, was richtig war? Woher sollte sie wissen, wie sie in einem Jahr empfinden würde?
Ich muß jetzt nichts entscheiden, dachte sie, ich kann warten, bis das Baby da ist.
Sie aß die Pizza nur zur Hälfte auf, dann verspürte sie keinen Hunger mehr, nur Widerwillen. Der sonnige Samstagnachmittag dehnte sich lang und leer vor ihr. Niemand, mit dem sie einen Spaziergang machen konnte. Oder Kaffee trinken oder plaudern. Oder einfach nur zusammen in der Sonne sitzen. Mit Alexander hatte es keine leeren Wochenenden gegeben. Irgend etwas hatten sie immer zusammen gemacht, manchmal Musik gehört, gelesen oder einen Film angesehen. Häufig hatten sie sich auch mit den Freunden getroffen.
Fast jedes Wochenende eigentlich, dachte Jessica. Man war zusammen in einen Biergarten gegangen oder zu den Seen hinausgefahren, hatte Wanderungen unternommen oder bei einem von ihnen daheim zu Abend gegessen. Sie hatte das damals nicht in Frage gestellt. Heute, an diesem Samstag, drei Wochen nach Alexanders Tod, überlegte sie erstmals, ob sie diese Art der Freizeitgestaltung überhaupt gemocht hatte.
Patricia hatte — natürlich — stets das große Wort geschwungen. Eigentlich hatte niemand sonst je richtig reden oder erzählen können. Evelin hatte blaß und schwermütig in einer Ecke gesessen. Tim hatte sich irgend jemanden aus der Gruppe geschnappt und ihn in ein leises Gespräch, jenseits von Patricias Getöse, gezogen, bei dem er ihn meist psychologischen Analysen unterzog. Alexander war angespannt gewesen und hatte ausgesehen, als habe er Kopfschmerzen, was er jedoch jedesmal abstritt. Leon war häufig zu spät gekommen, hatte sich entschuldigt, liegendgebliebene Arbeiten im Büro aufgearbeitet zu haben. Fast kein Wochenende offenbar, an dem er nicht arbeitete. Da seine Kanzlei wie sich herausgestellt hatte, schon länger vor dem Aus gestanden hatte, mochten dies verzweifelte Versuche gewesen sein, das Schlimmste noch abzuwenden. Aber vielleicht war auch anderes im Spiel gewesen. Der fabelhaft gut aussehende Leon… der Patricia eigentlich gar nicht hatte heiraten wollen, der unter dem Druck geächzt hatte, den sie Tag für Tag ausübte. Wäre es verwunderlich gewesen, wenn er sich anderweitig ein wenig schadlos gehalten hätte? Und war dies der Grund gewesen für Patricias unablässiges, krampfhaftes Bemühen, ihre Familie als vollkommen darzustellen?
Und ich? fragte sich Jessica.
Sie hatte sich nicht wohl gefühlt in der Runde. Da war so viel Spannung gewesen, so viel Zwanghaftigkeit. Zwei Menschen hatte sie überdies nicht im geringsten leiden können: Patricia und Tim. Mit keinem von beiden hätte sie freiwillig soviel Zeit verbracht. Warum also hatte sie es getan?
Weil ich Alexander nie aus dieser Gruppe hätte lösen können. Nie im Leben. Eher hätte er mich fallengelassen.
Sie merkte, daß sie Kopfschmerzen bekam, stand auf und schob ihre Gedanken vehement zur Seite. Was sollte sie noch grübeln? Alexander war tot. Tim und Patricia ebenfalls. Leon und Evelin brauchten Hilfe.
Nicht nachdenken, nicht nachdenken, nicht nachdenken!
Da ihr nichts Besseres einfiel, den leeren Samstag zu füllen, beschloß sie, zu Evelin zu fahren und sich in ihrem verwaisten Haus ein wenig umzusehen.
Und dann einen schönen, langen Spaziergang mit Barney zu machen.
Alicia hatte sich vorbildlich und offenbar äußerst zuverlässig um das Haus ihrer Arbeitgeberin gekümmert. Niemand hätte glauben können, daß es seit fünf Wochen leer stand. Nirgendwo vertrocknete Blumen, kein Staub, kein überquellender Briefkasten. Nicht einmal die Luft roch abgestanden; Alicia mußte noch am Morgen gründlich gelüftet haben. Vielmehr hätte man meinen können, Tim und Evelin seien nur einmal kurz zu einem Spaziergang aufgebrochen oder machten irgendwo einen Besuch. Nichts deutete darauf hin, daß der Hausherr tot war und seine Frau unter Mordverdacht in einem englischen Gefängnis saß.
Barney schoß aufgeregt schnuppernd hin und her, so daß Jessica schließlich Angst um einige kostbare Bodenvasen bekam, die überall herumstanden, und ihn in den Garten ließ. Dabei stellte sie fest, daß selbst der Rasen perfekt gemäht war. Alicia hatte dies fremde Haus zweifellos weit besser in Schuß gehalten als sie selbst ihr eigenes.
Sie mochte Tims Praxis im Souterrain nicht betreten und beschränkte sich daher auf die Privaträume des Paares. Ein wenig ziellos streifte sie umher, ohne auf einer konkreten Suche zu sein, einfach nur offen für die Atmosphäre des Hauses.
Evelins Haus.
Evelin. Sie hatte sie vom ersten Moment an gemocht. Noch bevor sie hatte ahnen können, daß sie ihren späteren Mann über sie kennenlernen, daß sie Teil einer verschworenen Gemeinschaft werden würde. Damals, als sie der Anruf aus dem Schlaf riß.
«Bitte kommen Sie schnell. Meinem Hund geht es so schlecht. Ich glaube, ich schaffe es nicht mehr in die Tierklinik!«
Sie hatte ja nur ein paar Häuser weiter gewohnt. Sie war im Handumdrehen in ihren Kleidern gewesen, hatte fünf Minuten später, ihren Notfallkoffer in der Hand, vor Evelin gestanden. Evelin war im Nachthemd gewesen. Um die linke Hand hatte sie eine Bandage getragen.
Ein unglücklicher Sturz beim Tennis, wie sie später erklärt hatte. Weshalb hätte man diese Aussage anzweifeln sollen?
Eigentlich, dachte Jessica, habe ich sie nie unverletzt erlebt Irgend etwas war immer mit ihr. Buchstäblich von der ersten Sekunde an.
Hätte sie mißtrauisch werden müssen? Aber das Bild war ihr stimmig erschienen: die dicke Evelin, die aus unerfindlichen Gründen von dem Ehrgeiz besessen war, es ihrer sportlichen schlanken, aktiven Freundin Patricia nachzutun und die dabei regelmäßig Schiffbruch erlitt. Die sich ständig an Übungen wagte, an denen sie wegen ihrer zahlreichen Pfunde scheitern mußte. Kein Wunder, daß sie andauernd unter irgendeiner Sehnenzerrung, Verstauchung oder Gelenkentzündung litt. Alle hatten sie darüber immer wieder geschmunzelt. Beim Frühstück in Stanbury war Evelin mit Sätzen wie» Na, Evelin, hast du einen doppelten Salto geübt?«begrüßt worden, oder:»Sieht die Reckstange wenigstens genauso lädiert aus wie du?«
Evelin hatte gequält gelächelt, sich aber augenscheinlich mit ihrer Rolle als plumper Unglückswurm der Truppe abgefunden. Dick und Doof in einer Person, der Tolpatsch, der die anderen erheiterte.
Schon an diesem Konzept, das erkannte Jessica nun, hätte man sich nicht beteiligen dürfen. Evelin hatte sich nicht gewehrt, aber das hieß nicht, daß die Demütigungen an ihr abgeprallt waren. Sie hatten ihre Depressionen gefüttert, angereichert, ausgebaut. Aber wenn in Wahrheit etwas ganz anderes hinter ihren Verletzungen gesteckt hatte und wenn die anderen das gewußt hatten, dann war alles noch schlimmer. Und es war vor allem so vollkommen unverständlich. Warum diese Verdrängung? Dieses gnadenlose Leugnen eines massiven Problems, das zwei von ihnen betroffen hatte. Evelin und Tim. Hatte einer der Freunde wenigstens mit Tim einmal gesprochen? Ihn gefragt, was los war?
Erneut beschloß sie, mit Leon darüber zu reden, wenn es ihm besserginge. Vielleicht wußte er auch, ob Alexander etwas unternommen hatte.
Sie strich durch die Küche, die, nur von einer Theke abgeteilt, ins Wohnzimmer integriert war. Eine Uhr tickte laut. Die Wandschränke hatten gläserne Türen und gaben den Blick frei auf Evelins edles Porzellan. Und auf die JugendstilSektgläser, die Jessica immer besonders bewundert hatte. In jener Nacht, in der Jessica den alten Schäferhund eingeschläfert hatte, hatte Evelin ihr hinterher ein Glas Sekt angeboten.
«Wir sollten uns stärken«, hatte sie erklärt. Ihre Augen waren verweint gewesen, aber die Tränen mußte sie am Vortag vergossen haben. Während ihr Hund starb, war sie sehr gefaßt gewesen, hatte ihn im Arm gehalten und leise auf ihn eingeredet. Der Hund hatte um Atem gerungen, und Jessica hatte auf den ersten Blick erkannt, daß er nicht zu retten war. Fast fünfzehn Jahre alt, seit über einem Jahr, wie Evelin berichtete, in ständiger ärztlicher Behandlung wegen Herzschwäche und Wasser in der Lunge. So schlimm wie in den letzten Tagen war es noch nie gewesen, und in dieser Nacht war ein Höhepunkt erreicht, bei dem jede Lebensverlängerung eine Quälerei bedeutet hätte.
«Sie sollten Abschied nehmen«, hatte Jessica gesagt, und Evelin hatte genickt, hatte sich nicht gewehrt, hatte offenbar vorher schon begriffen, daß es nun keine andere Möglichkeit mehr gab. Der Hund war friedlich eingeschlafen. Jessica erinnerte sich, daß sie ständig erwartet hatte, Evelins Mann werde dazustoßen, aber die beiden Frauen waren mit dem Tier allein geblieben. Erst später, es war gegen drei Uhr, als sie im Wohnzimmer saßen und einen Sekt tranken, war Tim plötzlich aufgetaucht. Er hatte einen dunkelblauen Bademantel getragen, der mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt war, und seine Haare und sein Bart waren zu einem wilden Gestrüpp zerzaust. Er wirkte ein wenig wie ein Guru oder ein Friedensmissionar und schien nicht recht in die elegante Umgebung dieses Hauses zu passen. Auch nicht zu der dicken Frau in dem zweifellos teuren Chiffonnachthemd. Jessica hatte erwartet, daß er Evelin tröstend in den Arm nehmen und dann dem toten Hund über das Fell streichen würde, aber er ignorierte sowohl das Tier als auch seine Frau und wandte seine Aufmerksamkeit sofort der Fremden zu.
«Ah, die junge Tierärztin! Sie wohnen am Ende der Straße nicht? Ich habe Sie ein paarmal im Vorgarten Ihres Hauses gesehen. Sie leben allein?«
Jessica empfand ihn als zudringlich und unangenehm, zudem als gefühllos seiner Frau gegenüber. Ohne auf seine letzte Frage einzugehen, sagte sie:»Es war vernünftig, daß Ihre Frau mich angerufen hat. Der arme Hund hat sich sehr gequält. Leider konnte ich nichts anderes mehr tun, als ihn zu erlösen.«
Tim hatte gelächelt.»Er quälte sich seit einem Jahr. Ich habe immer wieder auf Einschläfern gedrängt. Aber meine Frau konnte sich nicht entschließen. Der Hund war ein Kindersatz für sie.«
Evelin zuckte zusammen und senkte den Kopf. Jessica fragte sich, warum dieser Mann mit jedem Satz, den er sagte, zu weit zu gehen schien.
«Den meisten Menschen fällt eine solche Entscheidung sehr schwer«, sagte sie unbehaglich.
«O ja, das stimmt, das stimmt. Vor allem, wenn ein Tier als Ersatz herhalten muß für eine befriedigende Familiensituation. Ich erlebe solche Fälle sehr häufig«, sagte Tim.»Ich bin Psychotherapeut, müssen Sie wissen. Wenn das normale Familiengefüge nicht stimmt, drehen viele Frauen einfach durch.«
Jessica hatte ihr Glas abgestellt.»Wir sollten alle sehen, daß wir noch ein bißchen Schlaf finden. Ich gehe jetzt besser nach Hause.«
«Meine Frau kann keine Kinder bekommen«, sagte Tim,»was sich zunehmend zu einem Trauma bei ihr auswächst. Daher ihre geradezu verrückte Liebe zu diesem Tier. Man muß nun sehen, wie es weitergeht.«
Evelin war völlig in sich zusammengesunken, hatte kein Wort mehr hervorgebracht, sich nicht einmal von Jessica verabschiedet. Tim hatte Jessica zur Tür begleitet und ihr noch einmal für ihre Mühe gedankt. Jessica entsann sich, auf der nächtlichen Straße gestanden und gedacht zu haben: Mein Gott, was für ein aufdringlicher Typ!
Aber am nächsten Tag hatte Evelin angerufen und sich völlig normal gegeben, und dann war es zu jenem Abendessen gekommen, bei dem Jessica Alexander kennengelernt hatte. Sie hatte sich verliebt, sie war glücklich gewesen, und sie hatte Tim überhaupt nicht mehr richtig zur Kenntnis genommen. Im nachhinein hatte sie die Nacht, in der sie Evelin kennenlernte, als verworren und kompliziert empfunden, aber Tims Verhalten hatte sich verwischt und schließlich relativiert. Heute wußte sie, daß sie, genau wie die anderen Freunde, mit dem Verdrängen begonnen hatte: Sie liebte Alexander und wollte ihm nicht als erstes erklären, daß sie einen seiner besten Freunde für einen Kotzbrocken hielt. Sie wollte nicht die sein, die Unfrieden stiftete. Sie wollte nicht unbequem sein. Sie hatte sich angepaßt.
Sie stieg die Treppe hinauf. Evelin hatte sie bereits einmal durch das Haus geführt, deshalb wußte sie, wie die Räume angeordnet waren. Das große Schlafzimmer, das Evelin ganz in Weiß eingerichtet hatte, das Bad, das jeden erdenklichen Komfort besaß. Evelins kleines, persönliches Zimmer. Und das große Zimmer zur Südseite hin, das Evelin während ihrer Schwangerschaft sechs Jahre zuvor für das Baby eingerichtet hatte. Nichts war darin verändert worden. Die Wiege stand noch in der Ecke, darüber hing das Mobile mit bunten Enten daran. Den Wickeltisch gab es noch, den kleinen Schrank, auf dessen Tür Abziehbilder von putzigen Kätzchen klebten, die Schmetterlinge jagten oder an kitschigen Rosen schnupperten. Überall Stofftiere. Vorhänge und Tapete trugen das gleiche Motiv tanzender Teddybären. Jessica öffnete die Schranktür. Windelpakete und säuberlich gefaltete Strampelanzüge, kleine Schuhe und Strümpfe, Strickmützchen. Milchfläschchen, Schnuller, Babyrasseln. Die Ankunft des neuen Erdenbürgers war damals voller Liebe und Hingabe vorbereitet worden. Aber der Raum war dann sechs Jahre lang unberührt geblieben.
Warum hatte sich Evelin das angetan? Dieses Zimmer zu sehen, es zu hegen und zu pflegen? Denn es war sauber, es roch frisch, offenbar wurde hier regelmäßig Staub gewischt, wurden die Fenster geputzt, die Blumen auf der Fensterbank gegossen. War dies alles ein Zeichen der Hoffnung, die Evelin nie aufgegeben hatte? Oder kam die Unfähigkeit darin zum Ausdruck, Abschied zu nehmen, den Verlust zu realisieren — und damit auch zu verarbeiten?
Jessica hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß hier, in diesem Zimmer, das Zentrum der Qual lag, in der Evelin lebte, und daß sie noch weit mehr und umfassender gelitten hatte, als es irgend jemand hatte erfassen können. Sie mußte um diese leere Wiege gekreist sein, wieder und wieder, Stunden und Tage. Wie oft mochte sie vor dem Schrank gestanden und die kleinen Strampelanzüge neu geordnet haben? Wie oft hatte sie die Stofftiere gestreichelt und die weiche, blumenbedruckte Matte auf dem Wickeltisch berührt? Wie oft hatte sie geträumt von dem, was hätte sein können, und war dann in der erbarmungslosen Realität erwacht?
Und heute saß sie im Gefängnis unter Mordverdacht.
Es paßte einfach nicht. Ein Selbstmordversuch wäre für Evelin vielleicht nicht ungewöhnlich gewesen, aber vielfacher Mord — das war einfach nicht vorstellbar.
Sie ging hinüber in Evelins Zimmer. Ein Sofa, ein Fernseher, Regale mit Videos und CDs. Es sah so aus, als habe sie hier viel Zeit verbracht, sicher mehr Stunden als unten in dem stets etwas steril wirkenden Wohnzimmer. Hierher hatte sie sich abends zurückgezogen, sich auf das Sofa gekuschelt, ihre Lieblingsfilme angesehen. Sie war eine einsame Frau. Eine dicke, depressive, einsame Frau.
Jessica stöberte auf dem Schreibtisch herum. Ein paar Ansichtskarten lagen da, von irgendwelchen Bekannten, ein Buch über positives Denken, ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Kochrezept, Fotos vom Weihnachtsurlaub auf Stanbury. Und eine Karte, weiß, etwas größer als eine Visitenkarte: Dr. Edmund Wilbert, Arzt — Psychotherapie stand darauf, daneben Adresse und Telefonnummer. Darunter befand sich eine Tabelle der Wochentage, in der Patienten Datum und Uhrzeit ihrer jeweiligen Termine eintragen konnten. Evelin hatte den 28. April vermerkt, den Montag unmittelbar nach der geplanten Rückkehr vom Osterurlaub in Stanbury. Offenbar hatte sie es eilig gehabt, ihren Therapeuten nach den zwei Ferienwochen wiederzusehen.
Aber sie hat niemandem erzählt, daß sie in Psychotherapie ist, dachte Jessica.
Zumindest hatte sie es ihr nicht erzählt. Aber da niemand je etwas darüber hatte verlauten lassen, war es vielleicht wirklich ihr ganz eigenes Geheimnis gewesen. So offen, wie die Karte auf dem Schreibtisch gelegen hatte, schien sie ihre Behandlung jedoch vor ihrem Mann jedenfalls nicht verheimlicht zu haben. Ob das Tim gestört hatte? Er hatte sich immer für den Papst unter den Psychotherapeuten gehalten. Natürlich hatte Evelin nicht seine Patientin sein können, aber ein Typ wie er mochte es bereits als ehrenrührig empfunden haben, daß seine Frau überhaupt professionelle Hilfe für ihre Seele in Anspruch nehmen mußte. Womöglich hatte er sich auch Sorgen gemacht, was alles sie jenem Dr. Wilbert erzählte. Wenn er ihr gegenüber wirklich wiederholt gewalttätig gewesen war, konnte der Gedanke, daß ein Kollege haarklein davon erfuhr, nicht gerade angenehm für ihn gewesen sein.
Jessica schob die Karte in ihre Handtasche. Sie würde Dr. Wilbert anrufen und ihn um ein Gespräch bitten. Natürlich stand er unter Schweigepflicht, aber angesichts der besonderen Umstände konnte er ihr vielleicht trotzdem mit ein paar Informationen weiterhelfen. Außerdem wußte er womöglich gar nicht, daß seine Patientin im Gefängnis saß, und machte sich Sorgen um ihren Verbleib.
Immerhin, sie war einen kleinen Schritt weitergekommen. Es gab einen Menschen, an den sie sich wenden konnte, und zwar einen, der nicht in das ganze Drama verstrickt war. Sie ging wieder hinunter, ließ Barney, der schon ungeduldig an der Gartentür kratzte, wieder ins Haus. Sie würde jetzt mit ihm aufs Land fahren und Spazierengehen, und am nächsten Tag würde sie ihre Schwiegervater in Angriff nehmen.
Zu den Verrücktheiten, die ihr Leben seit der Heirat mit Alexander bestimmten, paßte es, daß sie ihn nun erst kennenlernen würde, nachdem sie Witwe geworden war.
Ricardas Tagebuch
17. Mai. Heute bin ich zum erstenmal wieder aufgestanden. Es ist Mai, und draußen ist schönes Wetter. Die ganze Zeit habe ich im Bett gelegen, bin nur manchmal ins Bad gegangen. Mama hat mir das Essen gebracht. Sie hatte oft verweinte Augen. Ich weiß nicht, ob es daher kommt, weil sie sich Sorgen um mich macht oder weil Papa tot ist. Vielleicht beides. Sie hat ein paarmal gesagt:»Ich kann es nicht fassen. Ich kann es nicht fassen.«
Und heute hat sie gesagt:»Ich glaube, ich fange jetzt erst ganz langsam an, es zu begreifen.«
Ich habe mich nicht ganz richtig angezogen. Leggings, Sportsocken, ein Sweatshirt. Ich bin wacklig auf den Beinen. Im Augenblick würde es mit dem Basketball nicht besonders gut gehen. Egal. Die Mannschaft kommt auch ohne mich klar. Ich habe mit all denen sowieso nichts mehr zu tun.
Ich habe mich gleich ins Bett gelegt, als ich aus England zurückkam. J. hat mich nach Hause gefahren. Ich wollte nicht, daß sie mit reinkommt. Sie hat im Auto gewartet, bis sie gesehen hat, daß Mama mir öffnet, dann ist sie weggefahren. Mama wußte über alles Bescheid, denn J. hatte sie noch von England aus angerufen. Mama sah so schlecht aus, ganz blaß und total geschockt.
«Warum ist sie denn gleich weggefahren?«fragte sie, und ich sagte, daß ich das so gewollt hätte.
Mama seufzte.»Warum haßt du sie so? Sicher geht es der armen Frau jetzt auch ganz schlecht.«
Wenn sie wüßte, wie scheißegal mir das ist. Im Gegenteil. Wenn es J. schlechter ginge, würde es mir bessergehen.
Als ich im Bett lag, habe ich Fieber gekriegt. Ziemlich hohes. Ich habe dauernd Bilder vor mir gesehen. Papa. Vor allem Papa. Papa mit durchgeschnittener Kehle. Er war voller Blut. Alles war voller Blut, das Haus, der Park, und überall lagen Tote. Ich habe geschrien. Manchmal kam jemand an mein Bett, ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Mama hat mir dann später gesagt, daß das ein Arzt war, der hat mir Spritzen gegeben, gegen das Fieber und zur Beruhigung.
Als das Fieber weg war, war über eine Woche vergangen. Papa war beerdigt worden, und ich hatte nicht hingehen können. Mama ist auch nicht da gewesen. Sie sagt, sie habe J. nicht stören wollen. Was haben die nur immer alle mit J.? Als ob sie eine Prinzessin auf der Erbse wäre! Ich bin nicht traurig, daß ich nicht dort war. Ich hätte J. nicht begegnen wollen, und außerdem ist Papa ganz bei mir.
Die ganze Zeit meinte Mama, ich müßte aufstehen und wieder in die Schule gehen, aber ich stand einfach nicht auf. Sie konnte reden, was sie wollte. Natürlich fing sie an, ich müßte zu einem Seelenklempner, ich hätte einen Schock, ein Trauma, und das müßte behandelt werden. Nein, vielen Dank! Ich habe Tim gekannt. Wenn ich mir vorstelle, einer wie Tim sitzt mir gegenüber und glibbert mich an und will wissen, wie ich zu meinem Vater stand und ob ich ein Problem mit J. habe und ob ich Patricia mochte — da wird mir speiübel! Ich habe Mama gesagt, daß sie sich auf den Kopf stellen kann, aber sie kriegt mich nicht zu einem Psychodoc. Ich weiß, daß Evelin bei einem war. Sie hat von Stanbury aus ein paarmal bei ihm angerufen. Und — hat es etwas genützt? Sie wurde dicker und fetter und heulte sich die Augen aus. Und jetzt sitzt sie auch noch im Knast. Daß es ausgerechnet an ihr hängenbleiben mußte, tut mir echt leid. Aber so ein Unglückswurm zieht das Unglück an. Das ist immer so. Wer schon in der Kacke steckt,kriegt garantiert immer noch eine Ladung dazu. Das ist eben Evelins Schicksal. Mit und ohne Psychiater.
Mama war total erleichtert, als ich heute aufgestanden bin. Ich hab nicht groß was gemacht, in meinem Zimmer gesessen und Musik gehört und an Keith gedacht. Warum schreibt er nicht, warum ruft er nicht an? Er hat vielleicht viel zu tun mit dem Hof. Ob er jetzt Schaffarmer wird, was er doch nie wollte? Aber ich lebe auch auf einer Schaffarm mit ihm. Ich würde überall mit ihm leben. For better, for worse, for richer, for poorer, in sickness and in health. Ich hab ihm das tausendmal schon geschworen in Gedanken. Wenn wir heiraten, ist das nur noch eine Formalität. Ich möchte es trotzdem gern, ganz bald, wenn ich sechzehn bin. Ich möchte Mrs. Keith Mallory sein. Mein Leben wird ein anderes sein. Mein altes Leben wird es nicht mehr geben.
Ich habe vorhin mit Mama Tee getrunken. Es ist Samstag, sie war bei irgendeiner Fortbildung, kam aber früher nach Hause als unter der Woche. Sie fing wieder vom Psychiater an, das hab ich ihr gleich abgeschmettert. Dann fragte sie, wann ich wieder zur Schule gehen wollte. Ich sagte, ich weiß nicht. Das stimmt nicht. Ich weiß es schon. Ich gehe gar nicht mehr zur Schule. Ich warte, bis ich sechzehn bin in ein paar Wochen, und dann fahre ich zu Keith. In England kann man mit sechzehn heiraten. Ich werde Mama dann von England aus einen Brief schreiben und ihr alles erklären.
Beim Teetrinken seufzte sie andauernd, und ihre Augen waren mal wieder rot. Ich hab immer gewußt, daß sie Papa noch liebt, und er sie auch. Die Scheidung war eine Dummheit, und wäre J. nicht aufgetaucht, hätten sie das längst in Ordnung gebracht. Ich wollte Mama sagen, daß J. ein kleines Miststück im Bauch hat, das sie Papa abgeluchst hat, aber ich brachte es nicht fertig, ihr so weh zu tun.
Oder eigentlich brachte ich es nicht fertig, es auszusprechen. Ich kann darüber schreiben, aber nicht sprechen. Es ist so…, es
kommen so viele Bilder, wenn ich daran denke, und wenn ich sprechen würde, würden mich die Bilder ersticken. Diese Bilder von Blut, die ich auch gesehen habe, als ich das Fieber hatte. Inmitten von all dem Blut ist dann J. Sie ist tot. Ihre Kehle ist durchgeschnitten, und im Todeskampf ist das Miststück zwischen ihren Beinen herausgeflutscht, so ein schleimiger Zellhaufen, den man gar nicht als Baby erkennt. Ich sehe das immer wieder vor mir. Alles ist in Ordnung. Eine schöne, glatte Abtreibung, die keiner überlebt.
Warum, verdammt, hat es nicht J. erwischt? Wieso war sie nicht da?
Ich schreie!!!
Nachdem sie zweimal angehalten und Passanten nach dem Weg gefragt hatte, fand Jessica das Haus ihres Schwiegervaters. Ein alter, ehemaliger Bauernhof, einsam gelegen, fast sieben Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt. Eingebettet in die hügelige, liebliche Chiemseelandschaft, in die weiten Wiesen des Alpenvorlandes, die jetzt im Mai im sattesten Grün standen. Überall weideten scheckige Kühe, und hinter ihnen erhob sich das großartige Panorama der schneebedeckten Berge. Hier war Alexander aufgewachsen, jedenfalls in den Zeiten, die er nicht im Internat verbracht hatte. In einer abgeschiedenen Welt, die unberührt schien von all den Schrecknissen und Wirren, die draußen passierten. Was natürlich nicht bedeutete, daß diese Welt nicht in der Lage war, ihre eigenen Dramen zu produzieren. Wieso verbrachte ein Heranwachsender seine ganze Jugend im Internat? Wieso erschien ein Vater weder zur Hochzeit noch zur Beerdigung seines Sohnes? Warum weigerte sich ein Großvater, sein einziges Enkelkind kennenzulernen?
Plötzlich wünschte sie, nicht hergekommen zu sein. Was Evelin anging, würde Alexanders Vater ihr kaum helfen können, und wollte sie wirklich mehr über Alexander selbst und seine Geschichte erfahren? Er war tot. Die Toten sollte man ruhen lassen. Ganz gleich, was sein Vater über ihn zu sagen hatte, er konnte sich nicht mehr dazu äußern, konnte nichts erklären oder aus seinem Blickwinkel verständlich zu machen suchen. Vielleicht lud sie sich nur neue Belastungen, neue Fragen und Ungereimtheiten auf.
Trotzdem hielt sie an und stieg aus dem Auto. Das Anwesen wirkte gepflegt, hell und freundlich. Auf dem langen
Holzbalkon blühten Geranien. Zwei Kastanienbäume beschatteten den gepflasterten Hof. Es gab ein paar Stallgebäude, die jedoch leer zu stehen schienen. Das Haus war in einem hellen Ockergelb gestrichen, hatte grüne Fensterläden und weiße Sprossen in den Fenstern. Die Idylle der Landschaft setzte sich in dem Hof fort.
Vielleicht war alles halb so schlimm. Und zudem hatte sie tief innen das Gefühl, daß ihr so oder so nichts anderes übrigblieb, als den Weg zu Ende zu gehen, den sie begonnen hatte.
Es gab keine Klingel, also klopfte sie kräftig an die Tür. Eine Weile rührte sich nichts, aber schließlich vernahm sie schleppende Schritte, die sich langsam näherten, und dann wurde ihr geöffnet. Ein alter Mann stand vor ihr, weißhaarig, gebeugt. Die Augen in dem zerfurchten Gesicht sahen hellwach und lebendig drein. Aber er sah nicht im geringsten aus wie Alexander, es gab nicht die Spur einer Ähnlichkeit, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, und diesen Umstand empfand Jessica als beruhigend.
«Ich bin Jessica«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin,»guten Tag.«
Er ergriff ihre Hand, drückte sie aber nur kurz und wie nebenbei, während er sie eindringlich musterte. Er lächelte. Es war ein kaltes Lächeln.
«Sie sind Jessica. Alexanders zweiter Versuch. Ich muß zugeben, nach Ihrem Anruf hat mich doch ein bißchen die Neugier gepackt. Welche Frau hat er sich diesmal gesucht, habe ich mich gefragt. Er hatte eine Traumfrau. Elena. Kennen Sie sie?«
«Nur ein bißchen«, sagte Jessica.
Er machte einen Schritt zurück. Dabei fiel ihr auf, daß er ein Bein nachzog.»Kommen Sie herein. Ich weiß zwar nicht, was Sie von mir wollen, aber kommen Sie.«
Er schlurfte vor ihr her den dämmrigen Gang entlang. Das Wohnzimmer, in das sie gelangten, war überraschend hell und gemütlich. Weiche, geblümte Sofas und Sessel, helle Regale, ein Glasschrank, in dem sich Gläser und goldgerändertes Geschirr befanden. Von den Fenstern aus hatte man einen Blick in den hinteren Garten, der voller Obstbäume und Blumen war. Irgendwie paßte die Umgebung nicht zu dem alten Mann — oder zumindest nicht zu dem Eindruck, den Jessica von ihm hatte.
Als ahnte er ihre Gedanken, sagte er:»Ich habe eine phantastische Haushälterin. Früher nannte man so etwas eine Perle. Sie kümmert sich um alles. Haus, Garten, Küche. Ich würde nicht so ein Brimborium veranstalten, aber… im Grunde ist es mir egal. Sie soll es machen, wie sie denkt.«
Er ließ sich mit einem leisen Stöhnen in einen Sessel fallen.»Verdammtes Bein. Ein Jagdunfall. Vor fast dreißig Jahren. Kann einem das halbe Leben versauen, so etwas.«
Er wies auf ein Sofa.»Setzen Sie sich. Und dann sagen Sie, weshalb Sie gekommen sind.«
Sie setzte sich. Sie mochte ihn nicht, und sie hatte nicht den Eindruck, daß sich daran etwas ändern würde. Er war verbittert, er lebte diese Verbitterung aus und scherte sich einen Dreck um andere Menschen. Vielleicht war es die Sache mit dem Bein, vielleicht etwas anderes. Er haderte mit dem Leben, fühlte sich als ein Opfer ungerechter Schicksalslaunen und sah nicht ein, daß es andere besser haben sollten. Er strahlte eine fast greifbare Kälte aus. Aber auch die Faszination einer völligen Unabhängigkeit. Er brauchte niemanden, und es war ihm absolut gleichgültig, was andere von ihm dachten.
«Ich war etwas über ein Jahr mit Alexander verheiratet«, sagte sie,»und ich kannte ihn nicht allzu lange Zeit davor. Er wurde… er ist gestorben, bevor ich ihn richtig kennenlernen konnte. Vieles an ihm und um ihn ist mir ein Rätsel. Deshalb dachte ich, Sie könnten mir helfen.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Sein Gesicht trug einen verächtlichen Ausdruck.»Wie ich es mir gedacht hatte. Aber wissen Sie, wann ich Alexander zuletzt gesehen habe? Das war am Tag seiner ersten Hochzeit. Vor… na ja, das müssen so siebzehn Jahre sein. Er war Anfang bis Mitte zwanzig, was weiß ich. Er heiratete diese unheimlich schöne Spanierin. Elena. Ich wollte zu der Hochzeit nicht kommen, aber Elena kreuzte hier bei mir auf und bequatschte mich, es doch zu tun. War ein Fehler, habe mich nachher nur geärgert. Aber sie hatte mich komplett eingewickelt. Hätte nie gedacht, daß das einer Frau gelingen könnte. Aber sie war… mein Gott, war sie schön! Und klug. Ich dachte, wenn es Alexander gelungen ist, eine solche Frau an Land zu ziehen, dann hat er sich vielleicht geändert. Ist nicht mehr der jämmerliche Waschlappen, als den ich ihn kannte. Also hab ich mich in meinen besten Anzug geworfen und bin am Standesamt erschienen. Elena trug ein weißes Kostüm, sehr kurz, sehr eng, sehr sexy. Der Standesbeamte geriet ins Stottern bei ihrem Anblick. Aber wissen Sie, was ich dachte?«
Er beugte sich vor, fixierte sie genau und mit einer gewissen Wollust, und noch bevor er weitersprach, wußte sie, daß er ihr weh tun würde und daß er es genoß.
«Ich dachte, daß er immer noch der Schlappschwanz ist, der er immer war. Nur eben ein Schlappschwanz mit einer tollen Frau. Er hat sie angebetet. Er konnte es wohl selbst nicht fassen, weshalb sie sich mit ihm eingelassen hatte.«
Seine Worte waren wie Giftpfeile. Sie schmerzten, weil es schrecklich war, einen Vater zu erleben, der in dieser Art über seinen toten Sohn sprach. Aber das wirklich Schlimme war, daß Jessica wußte, was er meinte. Gerade in der letzten Zeit vor Alexanders Tod hatte sie selbst so gedacht wie dieser alte Mann vor ihr. Nicht in seinen gehässigen Ausdrücken, nicht in seinen brutalen, verächtlichen Formulierungen. Aber sie hatte Alexander als schwach empfunden, als einen Menschen, der sich von anderen dirigieren und bestimmen ließ. Dessen Schwäche ihren Höhepunkt an jenem Abend erreicht hatte, als er es nicht fertigbrachte, sich vor sein Kind zu stellen. Als er verzweifelt und hilflos zugesehen hatte, wie Ricarda erniedrigt wurde. Als er ein einziges Bild der Rückgratlosigkeit abgegeben hatte.
«Ihr Sohn lebt nicht mehr«, sagte sie.
«Na und? Ändert das etwas an objektiven Wahrheiten? Sie sind seine Witwe, und Sie meinen, pietätvoll mit seinem Andenken umgehen zu müssen. Aber soll ich Ihnen etwas sagen? In ein paar Jahren hätten Sie ihn genauso verlassen, wie Elena es getan hat. Sie scheinen mir eine Frau zu sein, die mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Sie haben um Klassen mehr Willensstärke und Kraft als Alexander. Irgendwann wäre es Ihnen zu bunt geworden, mit einem Weichei durchs Leben zu gehen. Sie hätten sich auf und davon gemacht, und er hätte sich in panischer Hast nach der nächsten Frau umgesehen, die er heiraten und an die er sich anlehnen kann. Mit Ihnen ist es auch ziemlich schnell gegangen, nicht? Wahrscheinlich war er kaum geschieden, da hat er Sie schon zum Standesamt geschleppt. Aus Liebe?«
Er lachte, und es klang höhnisch.»Tut mir leid, wenn ich Ihnen ein paar Illusionen zerstöre, junge Frau, aber geliebt, wirklich geliebt hat mein Sohn nur Elena. Das war so fanatisch, das konnte sich nie ändern. Sie hat er nur gebraucht, um sich festzuhalten.«
Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte sie und schloß für eine Sekunde die Augen. Der alte Mann ohrfeigte sie mit jedem Wort, das er sagte, und entfernte sich doch nie von dem, was auch durch ihre eigenen Gedanken bereits gegeistert war. Sie dachte an das Telefongespräch, dessen Zeuge sie in Stanbury geworden war, daran, wie durcheinander und angstvoll sie gewesen war. Nicht, weil er mit seiner Ex-Frau telefonierte. Auch nicht in erster Linie deshalb, weil er es heimlich tat. Aber der Klang seiner Stimme hatte sie erschüttert.
Das ist nicht vorbei, hatte sie gedacht, es wird nie vorbei sein.
Er hatte sie sehr genau beobachtet.»Sie hören das nicht gern«, stellte er fest,»aber Sie wissen, daß ich recht habe. Es tut mir leid für Sie. Sie werden immer mit dem Gefühl leben, mit einem Mann verheiratet gewesen zu sein, der Sie nicht wirklich geliebt hat. Das ist das Tragische an Alexanders gewaltsamem Tod, er hat Ihnen die Möglichkeit genommen, ihn zu verlassen. Eine Scheidung tut weh, aber Sie hätten sie gewollt, und irgendwann wäre es Ihnen völlig gleichgültig gewesen, ob Alexander Sie geliebt hat oder nicht. So wird es das vielleicht nie sein. Aber damit müssen Sie nun eben leben. Irgend etwas schleppen wir ja alle mit uns herum.«
«Warum haben Sie Ihren Sohn so gehaßt?«fragte sie. Ihren Impuls, aufzustehen und zu gehen, hatte sie innerhalb weniger Sekunden in den Griff bekommen. Sie wollte Informationen. Nur darauf kam es jetzt an. Später konnte sie zusehen, wie sie mit ihren Gefühlen zurechtkam.
Will versuchte, sein steifes Bein auszustrecken, und stöhnte dabei leise.»Tut verdammt weh. Bei jeder Bewegung. Damit muß ich leben.«
«Ihr Sohn…«
«Wissen Sie, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn gehaßt habe. Haß ist ein sehr großes Wort. So groß wie Liebe. Ich bin in meinem Leben immer vorsichtig mit diesen Begriffen gewesen. Ich habe von niemandem gesagt, daß ich ihn liebe. Und ich habe von niemandem gesagt, daß ich ihn hasse.«
«Wenn ein Vater seinen Sohn nicht liebt, so ist das ungewöhnlich.«
«So ungewöhnlich ist das gar nicht. Die meisten Leute reden nur viel, und es ist nichts dahinter. Viele Ehemänner lieben ihre
Frauen nicht, und viele Frauen nicht ihre Männer. Mit Eltern und Kindern ist es genauso. Aber sie hantieren alle mit dem Wort Liebe herum, weil sie denken, es gehört sich so.«
Er machte einen erneuten Versuch, sein Bein auszustrecken, gab stöhnend auf.»Verfluchte Schmerzen! Ich sage Ihnen etwas, junge Frau: Ich habe Alexander nicht gehaßt. Ich war nur maßlos enttäuscht von ihm. So enttäuscht, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Ich wollte ihn vergessen. Und daran hat die Tatsache, daß er ermordet wurde, nichts geändert. So. Das ist es. Mehr gibt es nicht zu sagen.«
«Doch. Warum waren Sie so enttäuscht von ihm?«
Will verdrehte die Augen.»Sie sind hartnäckig, nicht? Als ob es jetzt auf all das noch ankäme! Er war kein Mann. Er war ein Duckmäuser, ein Arschkriecher, ein Schleimer. Von Anfang an, schon als Kind. Mein Gott, als kleiner Junge hat er schon ständig geheult. Und immer aufgepaßt, daß er alles richtig machte. Niemals über die Stränge geschlagen, nie angeeckt. Hatte Augen wie ein zitterndes Kaninchen. Keinen Mumm in den Knochen. Das hat mich wahnsinnig gemacht.«
«So wird ein Kind nicht von selbst. Es hat doch Gründe, wenn ein kleiner Junge ständig Angst hat.«
«Gründe! Gründe!«
Will klang ärgerlich.»Kommen Sie bloß nicht mit neumodischem psychologischen Scheiß! Ich habe ihn hart angefaßt, von Anfang an. Verwöhnen bringt nichts. Das macht sie nur lebensuntauglich.«
«Härte nicht? Nach dem Bild, das Sie von Alexander hatten, kann Ihr Konzept doch nicht aufgegangen sein!«
«Wer als Weichei geboren wird, der bleibt ein Weichei. So oder so. Insofern haben Sie recht, ich hätte mir meine Abhärtungsversuche bei Alexander sparen können.«
Ihre Abneigung gegen ihn wuchs mit jedem Wort, das er sagte, aber sie bemühte sich, ruhig zu bleiben.»Alexander war fünf, als seine Mutter starb, nicht?«
«Ja. Schlimmer Einschnitt für ihn. Er hing maßlos an ihr. Na ja, sie hat ihn auch ständig verzärtelt und verhätschelt. Als sie tot war, wehte der Wind dann rauher. Und das haute ihn um.«
Sie hatte den Eindruck, daß Haß aus ihrer Stimme sprach» Meinen Sie nicht, daß ein Kind, das seine Mutter verloren hat besonders viel Liebe und Zuwendung braucht? Und nicht einen rauheren Wind?«
«Meine Liebe«, sagte Will,»ich sehe eigentlich nicht den mindesten Anlass dafür, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen. Ob Sie es glauben oder nicht, ich wollte das beste für meinen Sohn. Ich wollte, daß er zurechtkommt im Leben, daß er in der Lage ist, Herausforderungen anzunehmen, anstatt ihnen auszuweichen. Ich bin gescheitert. Was bringt es noch, jetzt zu analysieren, weshalb ich gescheitert bin?«
«Als er zehn war, schickten Sie ihn ins Internat.«
«Ich konnte ihn offensichtlich nicht zu dem Menschen machen, den ich gern aus ihm machen wollte. Ich dachte, eine gute Schule, der Kontakt zu Gleichaltrigen, das ist es, was er braucht. Ich sagte ihm gleich, daß er mich vermutlich blamieren würde und daß ich nur hoffte, er würde sich nicht als der größte Versager von allen entpuppen. Na ja…«
Er machte eine vage Handbewegung, die alles bedeuten konnte, die aber vermutlich nur ausdrücken sollte, daß er schon damals nicht mehr das geringste von seinem Sohn gehalten hatte.
«Und«, fragte Jessica spitz,»hat er Sie blamiert? Hat er sich als Versager entpuppt?«
«Er paßte sich im Internat genauso an wie überall sonst, und damit rutschte er in der üblichen unauffälligen Art durch. Kamen keine Klagen.«
«Haben Sie ihn je im Internat besucht? An Schulveranstaltungen teilgenommen oder ähnliches?«
Will lachte.»Warum hätte ich das tun sollen? Alexander profilierte sich mit gar nichts. Weder war er in der Fußballmannschaft der Schule, noch machte er beim Hockey mit oder beim Tennis. Was glauben Sie, wie gern ich auf einer Tribüne gesessen und zugesehen hätte, wie mein Sohn einen Pokal holt für seine Schule — in welcher Sportart auch immer! Oder daß er wenigstens die Hauptrolle in einem Theaterstück gespielt hätte. Wissen Sie, wenn er einmal etwas getan hätte, was ihn aus der Masse der Schüler herausgehoben hätte! Aber nein! Immer schön mit dem Strom schwimmen, nur nicht anecken, nur nicht auffallen, das war seine Devise. Als was hätte ich dorthin gehen sollen, werte Dame? Als der Vater der grauesten Maus, die diese Schule je gesehen hatte?«
«Einfach als der Vater von Alexander.«
Wieder beugte er sich vor. Seine Augen, dachte Jessica. Sie haben die gleiche Farbe wie die von Alexander. Wenn sie nicht so ohne jedes Gefühl wären, könnte man eine Ähnlichkeit erkennen.
«Was wollen Sie? Mir erklären, daß ich ein schlechter Vater gewesen bin? Wozu? Was soll das ändern? Mein Sohn ist tot. Sie werden irgendwann einen anderen Mann kennenlernen und ihn heiraten, und dann wird das alles in Vergessenheit geraten. Und unserer beider Wege werden sich kaum noch kreuzen.«
Ihr war jetzt klar, daß sie ihm nichts von dem Enkelkind erzählen würde, das unterwegs war; es hätte ihn nicht interessiert.
«Sie haben recht«, sagte sie,»unsere Wege werden sich kaum noch kreuzen.«
Sie wollte schon aufstehen, da fiel ihr noch etwas ein.»Kannten Sie eigentlich seine Freunde?«
«Sie meinen diese Jungen-Clique, in der er sich festgekrallt hatte, um in ihrem Windschatten unbeschadet voranzukommen? Ja. Ich kannte alle drei. Hatte sie einmal während der Sommerferien hier. Dachte, wenn ich sie kennenlerne, lerne ich auch meinen Sohn kennen.«
Er schüttelte den Kopf.»Aber sie haben mir nur bestätigt, was ich bereits wußte. Er war abhängig von denen. Sie beschützten ihn. Es war einfach wie immer. Nie sagte oder tat er etwas, das von ihm gekommen wäre. Er vergewisserte sich, was die anderen dachten, sagten, taten, und schloß sich dem dann an. Es bedeutete eine ungeheure Frustration für mich, das ansehen zu müssen, das können Sie mir glauben!«
Irgend etwas in dem, was er sagte, hatte sie stutzen lassen, und jetzt wußte sie, was es gewesen war.
«Zwei«, sagte sie,»zwei Freunde hatten Sie hier. Mit Alexander zusammen waren es dann drei.«
Will runzelte die Stirn.»Ich mag alt sein, aber ich bin nicht völlig verblödet. Drei Freunde. Mit Alexander waren es vier.«
«Tim und Leon. Mehr waren da nicht.«
«Meine Beste, ich hatte die Jungs fünf Wochen lang hier, also werde ich wohl am besten wissen, wie viele Kinder es waren, die mich genervt haben! Dreizehn oder vierzehn Jahre waren sie alt. Schwieriges Alter. Doch ich hätte jeden einzelnen als Sohn bevorzugt gegenüber dem, mit dem ich geschlagen war!«
Jessica konnte es nicht mehr ertragen und stand auf. Wenn Alexanders Kindheit und Jugend aus derartigen Bemerkungen bestanden hatten, wunderte es sie höchstens, daß er nicht noch viel neurotischer gewesen war.
«Ich glaube, ich bin meinem Mann ein Stück näher gekommen«, sagte sie.»Danke, daß Sie Zeit hatten.«
Will versuchte sich aus seinem Sessel zu wuchten, aber Jessica machte eine abwehrende Handbewegung.»Bleiben Sie sitzen! Ich finde zur Tür. Leben Sie wohl!«
Sie wartete nicht länger, sondern eilte zur Haustür, riß sie auf. Sie atmete tief, als sie in die klare, warme Luft trat, von der Sonne und dem Blütenduft des herrlichen Maitages empfangen wurde. So freundlich das Anwesen wirkte, so beklemmend war die Atmosphäre drinnen mit dem alten, zynischen Mann, der mit soviel unversöhnlicher Abneigung über seinen Sohn herzog. Dennoch war sie froh, hergekommen zu sein. Sie begriff Dinge, die sie zuvor nicht hatte nachvollziehen können. Sie begriff etwas von seiner Schwäche, von seiner Ängstlichkeit, die es ihm unmöglich gemacht hatte, sich gegen die Gruppe seiner Freunde zu stellen. Seine Unfähigkeit, den Weg der Anpassung zu verlassen. Ganz gleich, was er noch hätte tun können in seinem Leben — dieser Vater reichte aus, alles zu entschuldigen.
Als sie im Auto saß und auf die Autobahn Richtung München bog, kamen ihr auch Wills Worte über Elena in den Sinn.
Wirklich geliebt hat mein Sohn nur Elena!
«Alte Giftspritze«, sagte sie laut,»woher will er das so genau wissen?«
Sie beschloß, ihn in diesem Punkt nicht ernst zu nehmen, aber sie spürte genau, daß der Stachel tief saß und daß er nicht mehr verschwinden würde.
Es war nach sieben Uhr, als sie daheim ankam. Sie hatte in mehreren Staus gestanden, da der Sonntagnachmittag die Wochenendausflügler von Seen und Bergen zurück in die Stadt schwemmte, und streckenweise hatte sich gar nichts mehr bewegt. Jessica machte sich Sorgen um Barney, der schon so lange allein daheim aushalten mußte. Sie war müde, frustriert und verschwitzt. Sie sehnte sich nach einem entspannenden warmen Bad.
In ihrer Auffahrt stand ein Auto, und als sie dahinter bremste, öffnete sich die Fahrertür. Zu ihrer Überraschung stieg Leon
aus. Er hatte früher einen anderen Wagen gefahren. Dieses Auto nun war klein und offenbar schon einige Jahre alt. Er schien ernsthaft dabeizusein, seinen Lebensstil auf allen Ebenen zu reduzieren.
«Da bist du ja endlich«, sagte er. Es klang vorwurfsvoll.»Ich sitze hier seit halb vier!«
«Meine Güte, wie konntest du nur so lange warten? Ich war am Chiemsee.«
«Am Chiemsee?«
«Ich habe Alexanders Vater besucht. Ich hatte dir doch erzählt, daß ich das vorhabe.«
Sie schloß die Haustür auf. Barney stürmte heraus und sprang wie ein Gummiball auf der Treppe herum.»Willst du mit hineinkommen?«
Sie war zu müde, um sich über sein Erscheinen zu freuen, aber nachdem er fast vier Stunden auf sie gewartet hatte, konnte sie ihn schlecht wegschicken. Er trat dicht hinter ihr ins Haus und hauchte ihr zur Begrüßung einen Kuß auf die Wange. Er roch stark nach Alkohol und war unrasiert, genau wie in der vergangenen Woche im Restaurant.
«Alle Achtung«, sagte sie verblüfft,»du hast ganz gut getankt!«
«Getankt?«
«Du hast eine ziemliche Fahne.«
«Ich habe zum Mittagessen was getrunken. Und dann hatte ich noch einen Flachmann im Auto. Irgendwie mußte ich mir ja die Zeit vertreiben.«
Sie merkte, daß er sich bemühte, deutlich zu sprechen, daß aber die Endungen seiner Worte leicht verwischten. Er sah erbärmlich schlecht aus.
«Setz dich doch auf die Terrasse«, sagte sie.»Ich muß schnell duschen und mich umziehen. Ich bin ziemlich fertig.
Du kennst dich ja aus.«
«Alles klar«, sagte er und verschwand in Richtung Wohnzimmer. Sie hörte, wie er die Gartentür öffnete. Barney folgte ihm schwanzwedelnd.
Der hat mir jetzt wirklich noch gefehlt, dachte sie erschöpft.
Da sie ein langes, regenerierendes Dahindämmern in der Badewanne nun vergessen konnte, duschte sie nur rasch und merkte, wie sich auch dabei schon ihre Glieder ein wenig entspannten. Sie trocknete sich ab, zog ein leichtes Kleid an, bürstete ihre nassen Haare. Sie würde sie an der Luft trocknen lassen, der Abend war warm genug. Sie merkte, wie hungrig sie war. Wäre sie allein gewesen, hätte sie sich mal wieder eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle geschoben, aber wenn Leon auch essen wollte, müßte sie am Ende richtig kochen. Sie wunderte sich über ihre Gefühle. Sie hatte Leon im Grunde immer gemocht, aber im Moment wünschte sie ihn auf den Mond.
Er saß auf den Treppenstufen, die von der Terrasse in den Garten führten, und trank einen Whisky. Barney rannte in großen Sprüngen vor ihm auf und ab.
«Vielleicht solltest du erst einmal etwas essen, bevor du weitertrinkst«, sagte Jessica.
Er schwenkte den Whisky, der im Licht der Abendsonne rotgolden glänzte.»Ich habe eigentlich keinen Hunger.«
«Du hast schon neulich nichts gegessen. Und du hast stark abgenommen. Du mußt sorgsamer mit dir umgehen.«
«Ja, ja.«
Er klang ein wenig ungeduldig.»Barney ist unheimlich gewachsen, finde ich.«
Sie setzte sich neben ihn auf die Stufe.
«Dir fällt das sicher noch mehr auf als mir. Ich sehe ihn ja jeden Tag.«
«Ich erinnere mich noch, wie du ihn nach Stanbury mitbrachtest. So ein kleines Bündel mit großen Pfoten. Das ist noch gar nicht lange her, gerade erst ungefähr einen Monat. Und doch…«
«…und doch scheint es in einem anderen Leben gewesen zu sein, ich weiß.«
«Ich habe am Freitag den Mietvertrag für meine neue Wohnung unterschrieben. Nächste Woche ziehe ich um. Das wollte ich dir sagen, deshalb bin ich hergekommen.«
«Du hast etwas gefunden! Ist die Wohnung schön?«
Er zuckte mit den Schultern.»Sie ist okay. Ziemlich klein, aber für mich allein reicht sie. Ich werde sowieso wohl nur zum Schlafen da sein. Ich muß arbeiten wie ein Verrückter, damit ich von meinem Schuldenberg herunterkomme.«
«Willst du versuchen, deine Kanzlei wieder in Schwung zu bringen?«
«Ich weiß nicht. Das versuche ich eigentlich schon zu lange, ohne Erfolg. Nein, ich denke, ich werde eher versuchen, wieder in einem großen Büro unterzukommen. Nicht so einfach in meinem Alter, schließlich drängen von den Universitäten jede Menge hochbegabter Nachwuchskräfte hinterher. Aber ich habe keine Familie mehr. Ich kann zunächst gegen eine geringere Bezahlung arbeiten, und das ist vielleicht meine Chance.«
Er lächelte traurig.»Mich allein kriege ich immer irgendwie satt. Und meine Bedürfnisse sind minimal — vor allem verglichen mit denen, die Patricia und die Kinder hatten.«
«Du fängst ganz von vorn an. Trotz allem, was passiert ist, birgt das viele Möglichkeiten.«
Er nahm einen tiefen Schluck Whisky. Jessica bemerkte, daß seine Hände leicht zitterten.»Wenn man nur die Erinnerungen loswerden könnte…«
«Sie werden schwächer. Sie werden nie ganz verschwinden aber sie verblassen ein wenig. Und irgendwann merkt man, daß man mit ihnen leben kann.«
Er drehte sich zu ihr um, lächelte ein wenig.»Du bist so jung Wie willst du das wissen?«
«Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Es ist die einzige Hoffnung die mir die Kraft gibt, weiterzumachen.«
Er betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich. Dann sagte er unvermittelt:»Ich kann nur einen kleinen Teil unserer Möbel in der neuen Wohnung unterbringen, und verkaufen kann ich auch nicht alles. Ich wollte dich fragen, ob du kommen und dir ein paar Sachen aussuchen möchtest.«
«Ich habe eigentlich alles.«
«Du willst hier in dem Haus bleiben?«
«Das weiß ich noch nicht genau. Alexander und ich hatten ein gemeinsames Testament, wonach das Haus im Todesfall eines Partners an den anderen geht. Erst bei dessen Tod dann an Ricarda — und an das Kind, das ich erwarte. Aber manchmal denke ich…«
Sie starrte in den Garten, in dem ganz langsam die Schatten länger wurden.»Manchmal denke ich, ich sollte es Ricarda überschreiben, wenn sie achtzehn ist, also in zwei Jahren, und für mich und das Baby ein ganz neues Leben aufbauen.«
«Ein neues Leben. Das ist nicht so einfach. Ich bin sicher, auf irgendeine Weise werden wir beide immer gebrandmarkt bleiben. Das Böse ist zu tief in unser Leben eingedrungen. Es hat uns gezeichnet. Es ist wie ein Virus, das wir in uns tragen.«
«Ein Virus ist es nicht«, widersprach Jessica,»das Böse steckt nicht an.«
Er warf ihr einen fast verächtlichen Blick zu.»Klar steckt es an. Das Böse ist die größte Seuche, mit der wir es hier auf der Welt zu tun haben. Aber manche Menschen können das Leben vielleicht nur aushalten, wenn sie sich mit dieser Wahrheit nicht abfinden.«
«Ich bekomme ein Kind, Leon. Dieses Kind darf nicht mit einer Mutter aufwachsen, die sich selbst als vom Bösen gezeichnet empfindet. Die sich für gebrandmarkt hält. Ich muß diesem Kind so viel Unbefangenheit und Normalität geben, wie ich nur kann. Alles andere wäre unverzeihlich.«
«Wenn Sophie überlebt hätte«, sagte Leon,»würde ich vielleicht auch denken wie du. Aber so…«
«Du darfst auch dich selbst nicht aufgeben.«
Er lachte ein wenig, trank den letzten Schluck Whisky, stand auf und ging ins Wohnzimmer. Diesmal brachte er gleich die ganze Flasche mit heraus. Jessica sah es voller Unbehagen.»Komm, ich taue für jeden von uns eine Pizza auf. Du brauchst eine Unterlage.«
Er drückte seine Hand auf ihre Schulter und hinderte sie so am Aufstehen.»Ich würde keinen Bissen herunterkriegen.«
Er setzte sich neben sie auf die Stufe.»Wie war es denn nun eigentlich beim alten Will?«fragte er.
Der alte Will war nicht gerade ein neutrales Thema, aber Jessica war froh, daß sich Leon wenigstens vorläufig von seinen Gedanken über das Virus des Bösen verabschiedet hatte.
Sie überlegte. Sie hatte ihre Gedanken, den Nachmittag betreffend, selbst noch nicht richtig geordnet.
«Am Anfang wäre ich am liebsten wieder weggelaufen«, sagte sie.»Dieser Mann ist von einer Eiseskälte, wie ich sie noch nie erlebt habe. Aber jetzt im nachhinein bin ich froh, daß ich da war. Manches in Alexanders Verhalten, das mir fremd erschien, unverständlich, ist mir jetzt klarer geworden. Offenbar hat ihn sein Vater von Anfang an nur eingeschüchtert und erniedrigt, und als er schließlich ein verängstigtes, unterwürfiges Kind aus ihm gemacht hatte, hat er ihn genau dafür gehaßt. Ich könnte weinen, wenn ich an Alexanders Kindheit und Jugend denke, Leon. Ich begreife jetzt, warum er so traurige Augen hatte und warum er mir häufig als ein Mensch erschien, der…«, sie zögerte. Sie mochte nichts über ihn sagen, was an seiner Ehre gerührt hätte.»Ein Mensch, der sich nicht so recht durchsetzen konnte gegenüber anderen«, sagte sie schließlich dennoch.»Es ging ihm immer mehr darum, von seiner Umgebung gemocht und anerkannt zu werden, als darum, die Dinge zu erreichen, die er erreichen wollte. Ein Mensch, der solche Angst hat, sich unbeliebt zu machen, zieht in Auseinandersetzungen entweder den kürzeren, oder er geht dem Problem schon im Vorfeld aus dem Weg. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, daß er…«
«Ja?«
Leon blickte auf.»Welches Gefühl hattest du?«
«Das Gefühl, daß er überhaupt nicht wußte, was er wollte. Daß er Angst hatte, seine eigenen Bedürfnisse oder Vorstellungen überhaupt zu entdecken. Weil es ihn in Konflikte mit anderen hätte bringen können. Bevor er in diese eigenen Tiefen hätte stoßen können, blockte er ab. Und beschäftigte sich lieber damit, seine Umwelt scharf zu beobachten und sich nahtlos in die Vorstellungen anderer einzufügen.«
Sie strich sich über die nassen Haare.»Wie schrecklich, so über ihn zu reden, nicht?«
«Ich habe nicht den Eindruck, daß du schlecht über ihn redest, wenn du das meinst. Du versuchst, die Zusammenhänge zu begreifen. Das ist doch positiv.«
Sie sah ihn nicht an. Rupfte nur ein paar Grashalme aus und verknotete sie — wie Phillip. Zum erstenmal seit einigen Wochen kam er ihr wieder in den Sinn. Ob er wohl immer noch Tag und Nacht seine Kreise um Stanbury House zog und an kaum etwas anderes dachte?
«Will hat noch etwas gesagt. Er meinte, Alexander habe Elena geradezu abgöttisch geliebt. Und er habe auch nach der Trennung nie damit aufgehört. Mich habe er… nur geheiratet, weil er einen Halt gebraucht habe.«
Leon schüttelte den Kopf.»Woher will er das denn wissen? Er hatte doch seit Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn. Ich denke, er wollte dir einfach weh tun, Jessica. Er ist so ein Typ. Es bereitet ihm Genuß, anderen Schmerzen zuzufügen.«
Sie hätte seinen Worten gern geglaubt, doch stand ihr eigenes, innerstes Gefühl dagegen. Sie wußte, daß Will nicht nur ein paar Gehässigkeiten hatte ausschütten wollen. Der alte Mann mochte bösartig sein, aber er war nicht dumm. Ganz sicher hatte er für mancherlei Gegebenheiten einen durchaus klaren Blick.
Und dann fiel ihr plötzlich etwas ein.»Ich erinnere mich an noch etwas, das Will sagte: Er sprach von euch als von vier Freunden. Nicht bloß drei. Wer war der vierte? Und weshalb ist er nicht mehr mit euch zusammen?«
Leon erschrak sichtlich. Und noch ehe er antwortete, erkannte sie an seinen Augen, daß er ihr nicht die Wahrheit sagen würde.
«Ich darf mal vorangehen«, sagte der Makler, nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, und Geraldine nickte. Sie stand in einem kleinen Vorgarten mit sauber gemähtem Rasen und schmalen Stiefmütterchenbeeten und fragte sich bang, was Phillip zu dieser Vorstadtidylle sagen würde. London war in erreichbarer Nähe, aber man war eben nicht direkt dort. Die sonnige Straße war gesäumt von hübschen Häusern, in denen offensichtlich junge Familien mit Kindern wohnten; jedenfalls deuteten die vielen Fahrräder und Skateboards in den Gärten darauf hin. Die Autos, die hier verkehrten, fuhren langsam, so daß man die Kinder auch unbesorgt auf der Straße spielen lassen konnte. All die anderen Straßen ringsum waren genauso adrett, gepflegt und still. Nur zehn Minuten zu Fuß entfernt floß die Themse. Der Wind trug stets eine Spur Salz in sich, und hoch in der Luft hörte man die Möwen kreischen.
«Leigh-on-Sea ist außerordentlich beliebt bei jungen Familien«, sagte der Makler, als habe er lesen können, welche Gedanken durch Geraldines Kopf zogen.»Man kann in London arbeiten, aber die Kinder wachsen dennoch in einer ruhigen Umgebung auf. Es gibt hier sehr gute Schulen. Überhaupt könnten Sie es kaum irgendwo hübscher haben. Haben Sie Kinder?«
«Noch nicht«, sagte Geraldine,»aber wir wollen welche haben.«
«Und vorher wollen Sie ein schönes Nest bauen. Sehr vernünftig. Schade, daß Ihr Mann zu dieser ersten Besichtigung nicht mitkommen konnte.«
«Ich erzähle ihm alles genau«, murmelte Geraldine.
Sie hatte dem Makler verschwiegen, daß sie überhaupt nicht verheiratet war und auch, daß der Mann, mit dem sie den Umzug in den Vorort plante, nicht die geringste Ahnung von ihren Aktivitäten hatte.
Da es in England eher üblich ist, Häuser zu kaufen als zu mieten, war es nicht leicht gewesen, ein geeignetes Objekt zu finden. Geraldine war auf das Angebot in Leigh-on-Sea in der Zeitung gestoßen und hatte sich in einem Moment der Tollkühnheit mit dem Makler in Verbindung gesetzt. Wie sich herausstellte, gingen die Eigentümer für sieben Jahre aus beruflichen Gründen in die USA und wollten ihr Haus für die Dauer dieser Zeit vermieten. Mit Sack und Pack waren sie bereits abgereist und hatten dem Makler Schlüssel und alle Vollmachten hinterlassen.
Das Häuschen entsprach genau dem Bild, das sich Geraldine immer von einem Zuhause für sich und Phillip gemacht hatte. Überschaubar, kuschelig, etwas altmodisch und warm. Lichtjahre entfernt vom Glamour der Model-Szene, aber auch nicht im geringsten mehr vergleichbar mit dem bohèmegefärbten, tristen Dasein, dem sich Phillip verschrieben hatte. Zutiefst bürgerlich, ein bißchen spießig — Phillip würde, wie sie fürchtete, sagen:»Grauenhaft spießig!«- und anheimelnd. Es gab ein Wohnzimmer nach vorne zur Straße, mit einem schönen Erker, in den Geraldine gleich in Gedanken einen Teetisch und zwei Sessel stellte und dessen Fenster sie mit Blumen schmückte. Küche und Eßzimmer öffneten sich nach hinten zum Garten, in dessen Mitte ein Apfelbaum stand. Geraldine sah sich an heißen Sommertagen in seinem Schatten liegen und ein Buch lesen, vielleicht bereits mit einem dicken Bauch gesegnet, in dem Phillips Kind wuchs. Sie seufzte leise. Wenn er doch nur begreifen würde…
«Sie sehen, das Eßzimmer hat einen eigenen Kamin«, sagte der Makler,»hübsch, an kalten Wintermorgen hier zu frühstücken. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, spielt sich in Küche und Eßzimmer das meiste Familienleben ab.«
Sie mochte ihn. Er war rund und klein und hatte rote Apfelbäckchen. Und teilte ihr Weltbild.
«Wo arbeitet Ihr Mann?«fragte er.
Sie zögerte kurz.»Bei der BBC«, sagte sie dann,»er ist Sprecher dort.«
«Oh!«
Der Makler war beeindruckt.»Moderiert er eine Sendung, die man kennen müßte?«
«Nein… er… er synchronisiert Filme…«
Sie hoffte, daß der Makler wenig Ahnung hatte und nicht wußte, daß Synchronisieren häufig kein Beruf, sondern nur ein lausig bezahlter Gelegenheitsjob war. Tatsächlich war ihm das wohl unklar.
«Wie interessant! Dann hören wir im Fernsehen sicher manchmal seine Stimme?«
«Ja.«
Dieser Umstand schien Phillip schon fast in einen Prominentenstatus zu heben.
«Einen solchen Kunden hatte ich noch nicht. Darf ich fragen, ob Sie auch beim Fernsehen sind?«
Geraldine wußte, wie umwerfend ihr Aussehen auf andere Menschen wirkte. Jeder hätte ihr geglaubt, wenn sie behauptet hätte, Schauspielerin zu sein. Um sich einen seriösen Anstrich zu geben, unterschlug sie jedoch sogar ihre Tätigkeit als Model.
«Ich arbeite in der Modebranche.«
«Oh…«
Er empfand sie beide ganz offenkundig als immer exotischer.»Na ja, für jede Art von Mode müßten Sie ja das beste Aushängeschild sein!«
Sie ging nicht darauf ein.»Könnte ich noch das obere Stockwerk sehen?«
«Selbstverständlich. Kommen Sie!«
Er führte sie eine weiß lackierte Holztreppe hinauf. Oben gab es vier mittelgroße, helle Zimmer und ein Bad.
«Vater, Mutter, zwei Kinder und noch ein Raum für Gäste«, sagte der Makler.»Ist es nicht einfach perfekt?«
Es war perfekt. Es war so perfekt, daß Geraldine hätte heulen können. Wenn er nur mitmachte! Wenn er es nur einmal wenigstens probieren würde. Dem Projekt eine Chance geben! Wie hatte er ihren zaghaften Vorstoß in Richtung eines gemeinsamen Hauses neulich bezeichnet? Eine Scheißidee!
«Ich werde mit meinem Mann sprechen«, sagte sie.»Wir geben Ihnen so rasch wie möglich Bescheid.«
«Ein Objekt wie dieses ist begehrt«, sagte der Makler.»Sie sollten sich schnell entschließen.«
Sie standen in einem der oberen Zimmer. Geraldine schaute hinunter in den Garten. Der Apfelbaum hatte seine Blüte hinter sich, war voll zartgrüner Blätter. Sie dachte an die dicken, roten Äpfel im Herbst.»So rasch wie möglich«, sagte sie.
Sie hatte ihr Auto in London gelassen und war mit dem Zug gefahren, um Phillip später genau sagen zu können, wie lange man auf diese Weise bis London brauchte. Jetzt machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof. Der Tag war sehr warm, beinahe schon sommerlich. Ganz selten nur zeigte sich eine zerrupfte kleine Wolke am Himmel. Geraldine verließ die Siedlungsstraßen und überquerte den Marine's Drive, der oberhalb des Flusses entlangführte. Sie ging über sauber angelegte Kieswege einer kleinen Parkanlage. Schilder, auf denen durchgestrichene Hunde in Kauerstellung abgebildet waren, wiesen darauf hin, daß man sie hier nicht ihr Geschäft verrichten sehen wollte.
Es ist wirklich ein bißchen spießig, dachte Geraldine unbehaglich.
Dennoch vermittelten die träge dahinfließende Themse, der Anblick eines Laubwaldes fern am gegenüberliegenden Ufer, die Boote und die in der Sonne silbern glänzenden Möwen mit ihren breitgefächerten Flügeln eine Atmosphäre von Weite und Freiheit. Nur wenige Meilen weiter mündete der Fluß in den Kanal. Es roch so stark nach Salz und Meer. Vielleicht gefiel es Phillip doch. Es mußte ihm einfach irgendwann klarwerden, daß das triste Loch, in dem er hauste, keine Lebensperspektive sein konnte.
Einen Gedanken, der ständig in ihrem Innersten herumspukte und sich gelegentlich energisch ihres Sinnens bemächtigte, versuchte sie immer wieder mit aller Gewalt zu verdrängen, und doch tauchte er beharrlich auf und nagte an ihr. Der Gedanke, daß es das Alibi war, was Phillip überhaupt noch an ihrer Seite hielt. Daß sie keinen Fuß mehr in seine Wohnung hätte setzen dürfen, wäre das schreckliche Verbrechen in Yorkshire nicht geschehen. Daß an ein Vorhaben wie dieses nicht einmal zu denken gewesen wäre. Daß es nur jener furchtbare 24. April war, der sie noch verband. Phillip parierte, weil er sich in ihrer Hand fühlte und es im übrigen ganz objektiv auch war. Doch wie weit würde er sich von ihr bestimmen lassen? Bis in das Häuschen in Leigh-on-Sea hinein? Bis ins Standesamt? Bis hin zur Zeugung und Geburt gemeinsamer Kinder? Oder würden ihn sein Stolz, sein Eigensinn, vielleicht sogar so etwas wie ein Selbsterhaltungstrieb ausbrechen lassen, ungeachtet der Folgen, die dies für ihn haben würde?
Und umgekehrt, wie weit würde sie gehen? Bislang hatten sie nicht einmal über das Thema gesprochen. Würde sie ihn an seine Lage erinnern, wenn er sich gegen ihre Pläne sträubte? Würde sie drohen? Wäre sie in letzter Konsequenz sogar fähig, zur Polizei zu gehen und ihre Aussage zu widerrufen?
Was sie wieder an den Punkt brachte, über den sie am allerwenigsten nachdenken mochte: die Frage, ob sie einem Unschuldigen ein Alibi verschafft hatte; ob es also ein Unschuldiger war den sie natürlich mit einem Gang zur Polizei nun nachträglich in größte Schwierigkeiten bringen würde.
Oder ob sie vorhatte, mit einem mehrfachen Mörder unter einem Dach zu leben und ihn womöglich sogar zum Vater ihrer Kinder zu machen.
Ich darf nicht an ihm zweifeln. Nicht eine Minute lang!
Aber sie zweifelte, sie hatte von der ersten Sekunde an gezweifelt. Keinen Moment lang war sie sicher gewesen, ob seine Geschichte vom kopflosen Aufbruch nach Leeds stimmte. Es hatte sie mißtrauisch gestimmt, wie eilig er es mit der lückenlosen Konstruktion eines Alibis gehabt hatte. Zugleich war es in seiner Situation verständlich gewesen. Wissend, daß er in der ersten Reihe der Verdächtigen rangieren würde, mußte ihm stark an einer entlastenden Aussage liegen. Immer wieder mußte sie sich vorbeten, daß es normal war, einen halben Tag lang scheinbar irrationale Dinge zu tun. Wie etwa in der Gegend herumfahren, ein obskures Ziel vor Augen, das man später wieder verwarf, nachdem einem jeder andere Mensch vorher hätte sagen können, daß man sich in einen blödsinnigen Gedanken verrannt hatte. Was hatte sie schon getan an jenem Tag? Im wesentlichen in ihrem Zimmer gesessen und geheult. Wäre sie aus irgendeinem Grund verdächtig erschienen, sie hätte auch niemanden gehabt, der ihre Unschuld bestätigte. Sie hätte sich ebenfalls um eine Konstruktion und einen bereitwilligen Mitspieler bemühen müssen.
Dies alles bedenkend, wieder und wieder, zweifelte sie dennoch. Und wahrscheinlich war es das, was Phillip hatte kuschen lassen in den letzten Wochen. Er war sensibel genug, ihren Zweifel zu spüren. Deshalb hielt er sie für gefährlich. Er wußte, wenn ihre Sorge, daß sie einen Killer deckte, zu groß wurde, würde sie alles zusammenbrechen lassen. Solange sie in seiner Nähe war, konnte er das Bild, das sie von ihm hatte, beeinflussen. Er war der Phillip, der er immer gewesen war, der Freund, den sie jahrelang kannte. Der Mann, der ihr jede Menge Probleme bereitet hatte, nach dem sie aber auch verrückt war. Den sie liebte. Das machte sie lenkbar. Lenkbarer, als sie es gewesen wäre, wenn er ihr die Tür gewiesen hätte. Wenn sie depressiv und einsam in ihrer Wohnung gesessen und sich mit dem Gedanken zu trösten versucht hätte, daß der Mann, der sie zurückgestoßen hatte, sowieso ein Verbrecher war. Einer, der ins Gefängnis gehörte, für wenigstens ein Vierteljahrhundert. Den sie dann womöglich sogar lieber im Gefängnis gesehen hätte als in den Armen einer anderen Frau.
Sie konnte sich gut vorstellen, daß er so dachte. Und nur deswegen hatte sie seine Wohnung umräumen und Tag für Tag dort aufkreuzen dürfen. Nur deshalb würde er es unterlassen, ihr den Kopf abzureißen, wenn sie ihm von ihrem Treffen mit dem Makler erzählte. Nur deshalb durfte sie sich überhaupt in der vagen Hoffnung wiegen, daß er das Häuschen mit ihr zusammen besichtigen würde. Und zugleich schauderte es sie, weil sie wußte, daß dies alles keine Basis für eine Beziehung oder gar eine Ehe war. Ein brüchiges Gebilde, das eines Tages unter Donnergetöse zusammenkrachen würde. Sie hatte Phillip nicht für sich gewonnen. Sie hatte lediglich einen Aufschub der Trennung erreicht.
Sie blieb stehen, versuchte ihren beschleunigten Herzschlag zu beruhigen, indem sie tief atmete. Sie durfte nicht zuviel grübeln, nicht zu weit in die Zukunft denken. Es ging um den Augenblick, und der bot ihr manche Möglichkeiten, die es zu nutzen galt.
Rigoros verwies sie all die düsteren Gedanken in einen abgelegenen Winkel ihres Gehirns und begann sich vorzustellen, wie sie das Häuschen einrichten würde. Sie konnte einige ihrer Möbel verwenden, aber sie wollte gern auch mit Phillip zusammen ein paar neue Sachen kaufen. Neue Sachen für ein neues Leben.
Sie sah auf die Uhr. Sie mußte sich beeilen, wenn sie den nächsten Zug erwischen wollte. Sie würde eine Flasche Champagner kaufen und dann in Phillips Wohnung warten.
Die Zeit war reif für den nächsten Schritt.
Ricardas Tagebuch
20. Mai. Mama ist verzweifelt, weil ich nicht zur Schule gehe. Nachdem ich am Samstag ja das Bett verlassen hatte, war sie wohl überzeugt, es würde nun alles werden wie früher. Aber ich sehe nicht, welchen Sinn das noch haben sollte. Ich sitze meine Zeit ab, ohne daß es dort eine Zukunft für mich gibt. Wozu sollte das gut sein? Außerdem hat es in der Zeitung Berichte gegeben über die Sache in England, und alle würden mich anstarren. Das sage ich Mama immer als Grund, weshalb ich das Haus nicht verlasse und weshalb sie auch die paar Klassenkameraden, die anrufen, nicht mit mir verbinden darf.»Ich will nicht ausgefragt werden«, sage ich. Viele haben sich ohnehin nicht gemeldet. Eine richtige Freundin habe ich gar nicht, und ich gehöre auch nicht zu einer der Cliquen in der Klasse. Vom Basketball-Verein haben einige angerufen, aber ich weiß, daß mich da keiner richtig mag. Ich bin nur ziemlich gut, und deshalb sind sie nervös, daß ich nicht mehr wiederkomme. Und natürlich hat die Klassensprecherin mit Mama geredet. Das gehört zu ihren Aufgaben, und schließlich will sie im nächsten Schuljahr wiedergewählt werden. Wenn sie wüßte, wie sinnlos es ist, sich deswegen um mich zu kümmern! Meine Stimme wird sie garantiert nicht kriegen.
Weil ich nicht mehr dasein werde.
Mama kommt jetzt übrigens immer zum Mittagessen heim. Früher hat sie in der Kantine in der Firma gegessen. Ich habe mir ein Brot gemacht, und abends hat Mama dann für uns gekocht. Jetzt macht sie sich solche Sorgen um mich, daß sie mittags einfach vorbeischauen muß. Irgendwie tut sie mir leid, weil sie sich so abhetzt. Sie kommt angerast, schmeißt irgend etwas aus der Tiefkühltruhe in die Mikrowelle, deckt hektisch den Tisch, schlingt das Essen hinunter und saust wieder los. Was das bringen soll, möchte ich wirklich mal wissen! Ich warte nur darauf, daß sie sagt, ich könnte mal was einkaufen und kochen und den Tisch decken, jetzt, wo ich ja nicht mehr im Bett liege. Ich merke ihr ganz genau an, daß ihr dieser Gedanke im Kopf herumspukt und daß sie hin und her überlegt, was meiner Psyche besser tut: wenn sie nichts sagt, keinen Druck auf mich ausübt und mich» selbst den Weg zurück finden läßt«(so hat sie es gestern einer Freundin gegenüber am Telefon ausgedrückt, als sie nicht wußte, daß ich zuhörte), oder ob sie so tun soll, als sei alles wie früher, und es sei selbstverständlich, daß ich mich in irgendeiner Weise nützlich mache. Aber dann müßte sie auch dafür sorgen, daß ich wieder in die Schule gehe, und ich glaube, sie ist völlig ratlos, wie sie das anstellen soll.
Heute dachte ich: Ich koche jetzt etwas für uns beide, aber ich schaffte es nicht, weil es sich so anfühlte, als würde ich damit ein Spiel unterbrechen, das ich angefangen habe und das mich zu sehr reizt, als daß ich damit aufhören könnte. Es ist das Spiel: Mama beobachten, wie sie hofft, daß sich etwas ändert. Sie hat so einen bestimmten Gesichtsausdruck, wenn sie mittags angehechtet kommt, und ich bin total geil darauf, den zu sehen. Ihre Augen sind groß und ein bißchen ängstlich und gleichzeitig erwartungsvoll, aber die Angst ist etwas größer als die Erwartung. Sie hat ein ganz schönes Tempo drauf, wenn sie mit dem Auto in unsere Straße einbiegt, so richtig mit quietschenden Reifen. Dann höre ich die Wagentür zuknallen, und dann klappern ihre Absätze rasant über den Gartenweg. Sie ist so hektisch beim Aufschließen der Haustür, daß sie zwei-, dreimal das Schlüsselloch verfehlt. Sie wirft ihre Jacke auf den Stuhl in der Diele und läßt die Handtasche fallen. Sie hat Streß pur, weil ihre Mittagspause so kurz ist und sie keine Sekunde verschenken darf. Aber dann wird sie plötzlich ganz langsam. Wenn sie sich um die Ecke in die Küche schiebt. Dann hat sie diesen Ausdruck von Hoffnung. Von wahnsinniger, ängstlicher Hoffnung. Daß es nach Essen riecht.
Daß ich den Tisch vor der Eckbank gedeckt habe. Daß ich mit ein paar Schüsseln und Tellern klappere und fröhlich sage —»Hallo, Mama! Schön, daß du da bist! Setz dich, wir essen gleich!«
Sie hätte dann das Gefühl, daß ich wieder am Leben teilnehme, und das wäre ja einfach das Schönste, was ihr zur Zeit passieren könnte. Sie würde denken, daß ich sicher bald wieder zur Schule gehe und in die Basketball-Gruppe und daß alles wie früher wird.
Aber statt dessen kauere ich auf der Eckbank, entweder noch im Schlafanzug oder in meiner Trainingshose. Ich starre sie einfach an. Auf dem Tisch türmt sich das abgegessene Frühstücksgeschirr. Es riecht nach Käse, der längst wieder in den Kühlschrank gemußt hätte, und die Butter ist ziemlich zerlaufen. Mamas Gesicht fällt in sich zusammen, aber da sie nun mal vorerst die Taktik fährt, mir keine Vorwürfe zu machen, versucht sie gleich darauf ein Lächeln. Es wirkt ganz schön angestrengt, und jedesmal genieße ich es zu sehen, wie sie sich zusammenreißen muß. Ich schaue ihr gern zu, wie sie in der Küche herumhastet, jetzt wieder in dem Tempo, in dem ich sie schon draußen gehört habe, eher sogar noch schneller. Irgendein Gericht in die Mikrowelle, dann wird das Frühstück abgeräumt, werden die Krümel vom Tisch gewischt, die Sets neu aufgelegt, Teller, Besteck, Gläser hergeschleppt, die Mikrowelle piept, sie zieht das Essen so hastig heraus, daß sie sich die Finger verbrennt und» Au!«schreit. Sie rennt in den Keller, um Mineralwasser zu holen, wenn keines mehr im Kühlschrank ist. Und die ganze Zeit sitze ich nur da und schaue zu.
Ich frage mich, warum es mir solchen Spaß macht, sie so zu erleben. Warum ich nicht nett sein und ihr das geben kann, was sie ersehnt. Es ist sehr schwer, sich über das klarzuwerden, was im eigenen Inneren passiert. Ich denke, es hat etwas mit Rache zu tun. Es ist Genuß, und Rache kann genußvoll sein. Ich mag Mama. Ich liebe Mama. Eigentlich dürfte es nicht sein, daß ich mich rächen will. Wofür?
Weil sie von Papa weggegangen ist.
Er hat sie nicht weggeschickt. Sie ist gegangen.
«Ich mußte einen Schlußstrich ziehen«, hat sie mal zu mir gesagt.
Warum? Warum? Warum?
Immer wenn ich daran denke, merke ich, daß ich ihr nicht entgegenkommen kann. Daß ich weiter zusehen will, wie sie sich abzappelt, wie sie sich Sorgen macht, wie sie mich wortlos anfleht. Ich erschrecke ein bißchen vor mir selbst, aber wirklich nur ein bißchen. Nach allem, was war, wieso sollte ich da noch richtig erschrecken?
Außerdem ist Mama bald die Sorgen los. Wenn ich nach England gehe. Ich überlege immer, ob ich Keith vorher anrufe, oder ob ich einfach da stehe. Seine Telefonnummer daheim habe ich nicht, denn früher hätte ich da ja nie anrufen dürfen wegen seines Vaters. Aber sein Vater kann ihm ja jetzt wohl keine Vorschriften mehr machen. Auf seinem Handy habe ich es zweimal versucht, es war aber nicht eingeschaltet. Über die Auskunft würde ich natürlich auch die Nummer der Farm herausbekommen, aber ich bin einfach ein bißchen zu ängstlich, um mich anzukündigen.
Warum habe ich Angst?
Ich habe so viel Zeit zum Grübeln jeden Tag, da stellen sich solche Fragen. Und eigentlich will ich sie gar nicht beantworten. Keith liebt mich. Ich liebe ihn. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müßte. Er wollte mit mir ein neues Leben anfangen, aber es ist klar, daß er auch an seine Mutter denken mußte. Wir hatten keinen richtigen Abschied, aber wie hätten wir das auch machen sollen?
Ich werde einfach da stehen. Im Juni.
Jessica hatte Dr. Wilbert am Montag früh angerufen, und er hatte ihr für den nächsten Tag einen Termin gegeben. Er war sofort äußerst hellhörig gewesen, als sie sagte, sie sei eine Freundin von Evelin Burkhard und brauchte dringend ein Gespräch mit einem Menschen, der sie gut kenne.
«Evelin ist in großen Schwierigkeiten«, hatte sie gesagt, und Dr. Wilbert hatte erwidert:»Ich weiß. Sie hat mich angerufen von England aus.«
«Ich möchte ihr helfen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, in ganz wichtigen Bereichen ihres Lebens völlig im dunkeln zu tappen.«
«Sie wissen, daß ich natürlich an meine Schweigepflicht gebunden bin«, sagte Dr. Wilbert.
«Ich weiß. Aber im Moment sind Sie der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann.«
«Ich fliege heute zu einem Vortrag nach Hamburg und kehre erst spätabends zurück. Aber kommen Sie doch morgen früh zu mir. Gleich um neun Uhr?«
Ihm lag an seiner Patientin, das war klar. Er wollte Jessica schnellstmöglich sehen.
Dr. Wilbert hatte seine Praxis mitten in Schwabing, im ersten Stock eines Mietshauses. Jessica kurvte eine entnervende Viertelstunde lang durch die Straßen ringsum, ehe sie ihr Auto parken konnte — im Parkverbot, aber das war ihr inzwischen egal. Sie mußte ein ziemlich weites Stück laufen und kam abgehetzt und verspätet an. Dr. Wilbert schien damit gerechnet zu haben.
«Es gab keinen Parkplatz, ich weiß«, sagte er als erstes, dann reichte er ihr die Hand.»Wilbert.«
«Jessica Wahlberg.«
«Kommen Sie bitte herein.«
Es gab einen kleinen Warteraum, an dessen Wänden bunte Bilder hingen und der einen recht heimeligen Eindruck machte. Ganz im Gegensatz zu dem Sprechzimmer, das höchst minimalistisch eingerichtet war mit einem Schreibtisch aus Glas und Chrom, zwei schwarzen Ledersesseln und einem einzigen Bild an der Wand, etwas sehr Abstraktes in leuchtend roter Farbe, das Jessica spontan als Phallus gedeutet hätte — was sie sich natürlich zu sagen hüten würde.
Wilbert bat sie, in dem schwarzen Sessel Platz zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber. Er war ein großer Mann, grauhaarig und vertraueneinflößend. Jessica schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Sie konnte sich gut vorstellen, daß sich Evelin in seiner Nähe sehr aufgehoben gefühlt hatte. Er lud dazu ein, sich auszusprechen, und strahlte das Selbstvertrauen aus, mit seiner Hilfe Probleme in den Griff zu bekommen.
Sie fühlte sich Evelin auf einmal sehr nahe. Hierher war sie jede Woche gekommen. Hier lag ohne Zweifel einer ihrer Lebensmittelpunkte. Hier hatte sie Hilfe gesucht und wahrscheinlich auch bekommen, hier hatte sie Hoffnung geschöpft. Von allem erzählt, was sie bedrückte: von ihrer Sehnsucht nach einem Kind, von dem Kummer über ihren dicken Körper, von der Eintönigkeit ihres Lebens. Von einer Ehe, die die Hölle war?
«Dr. Wilbert, ich weiß, daß ich Sie in eine schwierige Lage bringe«, fing Jessica ohne Umschweife an,»aber Evelin sitzt in England unter Mordverdacht in Untersuchungshaft, und ich habe den Eindruck, daß ich ihr irgendwie helfen muß. Sie wissen, was geschehen ist?«
Er nickte.»In groben Zügen. Ich habe von dem schrecklichen… Massenmord in der Zeitung gelesen, aber da waren zunächst keine Namen erwähnt. Evelin — ich nenne sie immer beim Vornamen — hatte mir natürlich schon oft von Stanbury und dem Ferienhaus erzählt, von der Freundesgruppe, die sich dort regelmäßig traf. Deshalb wurde ich äußerst unruhig, als ich den Namen des Ortes las und von den Deutschen, die dort jedes Jahr mehrfach Urlaub machten. Aber Sie wissen sicher, wie das ist, man glaubt immer nicht, daß solche Dinge in das eigene Leben hineinspielen können. Ich schob diese Möglichkeit immer wieder von mir. Dann erschien Evelin nicht zum vereinbarten Termin im April, und ich begann mir größte Sorgen zu machen. Na ja, und dann, drei oder vier Tage nach jenem ausgefallenen Termin, erhielt sie die Erlaubnis, mich telefonisch zu kontaktieren. Sie erzählte mir alles, unter Tränen und in denkbar wirrer Form. Aber soviel begriff ich: Sie war unter dem Verdacht, fünf Menschen ermordet zu haben, festgenommen worden. Sie können sich vorstellen, daß ich seither ständig an sie denke.«
Jessica empfand seine offensichtliche Anteilnahme als sehr sympathisch. Evelin war für ihn nicht einfach nur irgendein Fall, ein Teil seines Berufs, dem er zuverlässig nachging, weil er sein Geld mit ihm verdiente. Er nahm Anteil über die vier Wände seiner Praxis hinaus. Evelins Schicksal schien ihm aufrichtig am Herzen zu liegen.
«Sie lassen sie nicht raus, wegen Fluchtgefahr«, erklärte sie.
«Hm. Natürlich, sie ist Ausländerin. Sagen Sie«, er lehnte sich vor,»Sie gehören zu jener… Clique?«
Sie fragte sich kurz, was Evelin über die Clique erzählt haben mochte.
Womöglich hatte Wilbert den Eindruck gewonnen, daß es sich um einen Haufen Neurotiker handelte.
«Ja, ich gehöre dazu. Gehörte, muß man wohl eher sagen. Zwei Kinder und drei Erwachsene sind tot. Darunter mein Mann.«
«Das tut mir sehr leid.«
«Danke.«
Sie sah zur Seite. In dem Moment, da ihm ihre persönliche Tragik aufging, hatte er, wahrscheinlich unwillkürlich, einen Therapeutenblick bekommen, und den hatte sie schon bei Tim nicht ertragen.
«Ich möchte Evelin helfen«, sagte sie dann.»Und, gerade auch wegen meines Mannes, möchte ich, daß der wahre Täter hinter Gitter kommt.«
«Sie sind überzeugt von Evelins Unschuld?«
«Ja.«
Er nickte langsam.»Was mich interessiert«, sagte er,»und was aus Evelin am Telefon einfach nicht herauszubringen war: Weshalb hat man gerade sie verhaftet? Warum hält man sie für die Täterin?«
«Sie war als einzige Überlebende anwesend. Wir anderen waren fort — wobei aber keiner von uns dafür einen Zeugen hat. Auf der Tatwaffe befanden sich ihre Fingerabdrücke. Ihre Kleidung war voller Blut von den Toten. Sie hatte sie gefunden, sich über sie gebeugt und sie wiederzubeleben versucht. Aber es war auch das Blut… meines Mannes und das eines kleinen Mädchens dabei. Beide hat sie aber angeblich nicht gefunden.«
«Wie erklärt sie das?«
«Evelin stand völlig unter Schock.«
Jessica berichtete kurz, wie und wo sie Evelin nach dem grausigen Geschehen angetroffen hatte.»Ich bin kein Psychologe, aber nach meiner Ansicht muß man alles, was sie in den Stunden und sogar Tagen nach dem Verbrechen gesagt hat, unter Vorbehalt sehen. Wenn sie in der Aufzählung der Opfer Personen vergißt, obwohl sie offensichtlich mit ihnen in Berührung gekommen ist, so halte ich das für ganz normal angesichts des Horrors, den sie erlebt hat. Evelin hält es zudem für möglich, daß sie die Tatwaffe irgendwo im Haus gefunden, aufgehoben und auf die Terrasse geworfen hat wo die Polizei auf sie stieß. Evelin kann sich nicht mehr genau erinnern, aber ist das nicht verständlich?«
Wilbert hatte sehr aufmerksam zugehört.
«Gibt es einen Grund, weshalb Evelin leugnen sollte, jene beiden Toten — Ihren Mann und das kleine Mädchen — gefunden zu haben? Wenn sie dies verdächtig erscheinen läßt, sollte man doch annehmen, daß es — im Falle einer tatsächlichen Schuld — schlauer von ihr gewesen wäre, die beiden ebenfalls zu erwähnen!«
«Das spricht ja auch in meinen Augen absolut dafür, daß sie es nicht getan hat. Eine Frau, die kaltblütig hingeht und fünf Menschen, darunter zwei Kinder, tötet, ist sicher auch ausgefuchst genug, nachher die Tatwaffe verschwinden zu lassen oder doch zumindest ihre Fingerabdrücke abzuwischen. Außerdem würde sie sicher nicht abstreiten, zwei der Opfer auch nur gesehen zu haben, wenn sie doch wissen muß, daß sie über und über voll mit deren Blut ist. Das ergibt keinen Sinn.«
«Für die Polizei offenbar doch.«
«Die halten sie für völlig durchgeknallt. Die meinen, daß sie in einer Art Trance gehandelt hat und womöglich selbst nicht mehr weiß, daß sie ein paar Menschen umgebracht hat und wer das im einzelnen war.«
«Hm.«
«Deshalb ist es mir so wichtig, mit Ihnen zu sprechen«, sagte Jessica.»Sie sind Evelins Therapeut. Von allen können Sie doch sicher am ehesten beurteilen, daß ein solcher Gedanke absolut aus der Luft gegriffen ist!«
Anstatt ihr zu antworten, stellte er eine Frage, die sie überraschte:»Ihr Mann — also Evelins Mann — ist er unter den Toten?«
«Ja. Warum?«
«Ich finde das nicht ganz unerheblich. Wenn man Evelin verdächtigt, ist es durchaus von Bedeutung, ob der Mensch, der ihr am nächsten stand, ebenfalls tot ist.«
Jessica holte tief Luft.»Evelins Mann… wissen Sie, es gab da noch etwas, das der Polizei wichtig erschien.«
«Ja?«
«Kurz bevor die Verbrechen geschahen, war Evelin im Park. Sie traf dort auf einen… Bekannten, der sich eine Weile mit ihr unterhielt. Er berichtet, sie sei in sich versunken gewesen, sehr depressiv. Ihre Verzweiflung war greifbar wie eine hohe Mauer, so hat er es ausgedrückt.«
Wilbert nickte.»Ja«, sagte er, fast mehr zu sich selbst als zu Jessica,»das war sie. Verzweifelt. Zutiefst verzweifelt.«
«Und dann muß Tim, ihr Mann, erschienen sein und nach ihr gerufen haben. Und angeblich ist sie vor Angst förmlich erstarrt.
Phillip — der Bekannte — sagte etwas in der Art, sie habe ihn an ein Tier erinnert, das seinen schlimmsten Feind wittert. Und daraufhin stellte sich heraus, daß Tim angeblich seit Jahren schon seine Frau mißhandelte, physisch und psychisch, und daß das offenbar jeder außer mir gewußt hat. Somit hätte Evelin in den Augen der ermittelnden Beamten durchaus ein Motiv gehabt, ihren Mann zu töten. Und danach ist sie ausgetickt und hat ein Blutbad angerichtet.«
Dr. Wilbert überlegte einen Moment.»Es gibt also durchaus Indizien, die für Evelin als Täterin sprechen«, meinte er,»aber ob sie für eine Verurteilung reichen… da bin ich nicht sicher. Allerdings bin ich natürlich auch kein Jurist. Hat sie einen guten Anwalt?«
Jessica nickte.»Ich denke schon. Dr. Wilbert, Evelin kam doch jede Woche hierher. Sie müssen wissen, ob das stimmt mit ihrem Mann.«
«Ich kann Ihnen über nichts, was hier gesprochen wurde, eine Auskunft geben«, sagte Wilbert.»Das müssen Sie verstehen.«
«Kannten Sie Tim Burkhard? Immerhin war er ein Kollege.«
«Ich kannte ihn. Nicht besonders gut, aber wir sind uns gelegentlich bei Seminaren begegnet.«
«Und welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«
«Wenn Sie es genau wissen wollen, ich hielt ihn für einen Schaumschläger. Er war Psychotherapeut, aber am liebsten wäre er eine Art Guru gewesen — und diesen Eindruck vermittelte er nicht nur wegen seines verfilzten Bartes und seiner ewig nackten Füße in diesen schrecklichen Sandalen. Das kam in all seinen Gesten, Blicken, Worten zum Ausdruck. Er hatte es sich angewöhnt, die Menschen auf eine suggestive Weise anzusehen, die auf mich eine abstoßende Wirkung hatte. Ich bin überzeugt, daß er seine Patienten tief verachtete und sich ihnen haushoch überlegen fühlte. Labile Menschen haben ihm gegenüber darauf sicher mit einer gewissen Verehrung reagiert. Und darum ging es ihm. Nicht darum, anderen wirklich zu helfen.«
Genauso hatte Jessica ihn auch empfunden. Sie verstand genau, wovon Dr. Wilbert sprach.
Sie seufzte, weil sie begriff, daß Dr. Wilbert sie nicht wirklich weiterbringen würde. Was immer er von Evelin wußte, er durfte es ihr nicht sagen. Seine Augen blickten so undurchdringlich drein, daß sie nichts von dem hätte erahnen können, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Lediglich seine Frage, ob Tim unter den Opfern sei, schien ihr einen Anhaltspunkt zu ergeben. Zudem hatte er sich über Tim sehr negativ geäußert.
Vielleicht hat er damit meine Frage beantwortet, überlegte sie.
Sie stand auf, strich unwillkürlich mit der rechten Hand über ihren kaum merklich gewölbten Bauch. Wer nichts von dem Baby wußte, sah nichts, aber Dr. Wilbert, der sich ebenfalls erhoben hatte und mit dem Blick unwillkürlich ihrer Hand gefolgt war, schien zu verstehen. Er sah sie sehr nachdenklich an.
«Sie haben ein überaus traumatisches Erlebnis hinter sich«, sagte er,»und sprechen mit sehr viel Abstand und erstaunlich wenig Emotion darüber. Verdrängen Sie Ihren Schmerz nicht zu sehr. Das ist für Sie nicht gut — und für Ihr Kind auch nicht.«
Sie wußte selbst nicht, warum sie sich ihm plötzlich ein Stück weit öffnete.»Ich kann nicht weinen«, sagte sie.»Seitdem es passiert ist, habe ich nicht ein einziges Mal weinen können. Selbst bei der Beerdigung meines Mannes ist es mir nicht gelungen.«
«Würden Sie gern weinen?«
«Ich weiß nicht… Vielleicht denke ich auch nur, daß es dazugehört.«
«Haben Sie mal überlegt, sich in die Hände eines Fachmanns zu begeben? Das Ganze therapeutisch aufzuarbeiten?«
Sie lächelte unwillkürlich, und rasch hob er abwehrend die Hände.»Ich habe mehr als genug Patienten! Ich dachte nicht an mich. Es gibt Kollegen, die sind darauf spezialisiert, Verbrechensopfern zu helfen.«
«Ich…«
Er unterbrach sie, offensichtlich genau wissend, was sie hatte sagen wollen.»Sie sind ein Verbrechensopfer. Daran ändert die Tatsache, daß Sie mit dem Leben und körperlich unversehrt davongekommen sind, gar nichts. Menschen in Ihrer unmittelbaren Nähe ist auf brutalste Weise Gewalt angetan worden, darunter auch Ihrem Mann. Damit ist etwas in Ihr Leben eingedrungen, das Sie nicht unterschätzen sollten. Es hat Sie verändert. Es wird Sie weiter verändern. Sie müssen sich dem stellen.«
Ihr kam eine Phrase in den Sinn, die sie für abgedroschen hielt, die ihr aber richtig erschien.»Alles«, sagte sie,»hat seine Zeit.«
«Wir müssen aber die richtige Zeit erkennen«, sagte Wilbert nachdrücklich.
Sie streckte ihm die Hand hin.»Danke, daß ich zu Ihnen kommen durfte.«
«Ich habe Ihnen leider nicht wirklich helfen können.«
Er sah sie bekümmert an.»Und Evelin auch nicht. Welch eine grausame Entwicklung Dinge manchmal nehmen…«
Wahrscheinlich, dachte Jessica, wäre es ihm lieber gewesen, es hätte mich oder Leon erwischt. Einer von uns beiden säße im Untersuchungsgefängnis und müßte darum kämpfen, seine Unschuld zu beweisen. Ausgerechnet Evelin, auf die sich ohnehin schon soviel Unheil im Leben konzentriert hat. Aber geht es so nicht immer? Zieht nicht stets Unglück weiteres Unglück an?
«Ich möchte Sie dringend bitten, mich über alles, was Evelin betrifft, auf dem laufenden zu halten«, bat er,»wirklich alles.«
«Wenn sie entlassen wird, dann…«
«…dann möchte ich bereitstehen. Sie haben ja meine Telefonnummer.«
«Ja. Und ich werde Ihnen selbstverständlich Bescheid geben. Sie meinen, wenn sie entlassen wird, braucht sie sofort therapeutische Hilfe?«
Er holte tief Luft, sagte aber nichts, doch Jessica ahnte, was er dachte: daß sie alle, alle Überlebenden, diese Hilfe dringend brauchten.
Sie kramte in ihrer Handtasche, zog ihre Visitenkarte hervor und reichte sie ihm.
«Hier haben Sie alle Nummern, unter denen ich erreichbar bin. Zu Hause, Praxis, Handy. Wenn Ihnen etwas einfällt, das Sie mir sagen wollen, sagen dürfen, dann rufen Sie mich bitte an, ja?«
«Das tue ich.«
Er begleitete sie durch das Wartezimmer, öffnete ihr die Wohnungstür. Im Hinausgehen drehte sie sich noch mal zu ihm um.
«Dr. Wilbert, bitte, sagen Sie mir: Halten Sie Evelin eines solchen Verbrechens für fähig?«
«Ich halte jeden Menschen eines jeden Verbrechens für fähig«, antwortete Wilbert ausweichend.
Es war halb zehn, als Jessica wieder auf der Straße stand, und sie hatte noch nicht gefrühstückt. Zum Glück hatte sich ihre Schwangerschaftsübelkeit inzwischen völlig verabschiedet, so daß sie auch in einem öffentlichen Café nicht mit unangenehmen Zwischenfällen rechnen mußte. Der Tag war sonnig und bereits sehr warm, und sie fand schnell ein kleines Bistro, das Tische und Stühle draußen auf dem Bürgersteig aufgestellt hatte. Sie setzte sich, bestellte Kaffee und Croissants, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Sonne schien ihr direkt aufs Gesicht, auf Hals und Bauch. Sie kam sich vor wie eine Katze, die auf einer warmen Mauer liegt.
Sie überlegte, wie es weitergehen sollte.
Irgendwann mußte sie wieder arbeiten. Sie hatte sich ihre Praxis mühsam aufgebaut. Sie hatte ihren Beruf immer geliebt, zudem war er ihre Existenzgrundlage. Es dauerte lange, sich als Anfänger einen Patientenstamm zu schaffen, aber es ging sehr schnell, ihn zu verlieren. Wenn sie noch den ganzen Sommer herumtrödelte, wäre niemand mehr da. Zumal sie vermutlich spätestens ab Ende September wegen des Babys wiederum eine Zeitlang würde aussetzen müssen. Vielleicht konnte sie für diese Phase eine Vertretung organisieren.
Sie mußte auch endlich die Frage klären, ob sie in Alexanders Haus bleiben wollte. Es gab ihr zu denken, daß es für sie immer Alexanders Haus gewesen war, nicht unser Haus. Wenn dieses Gefühl anhielt, würde sie sich dort vielleicht stets als Gast empfinden, als Gast eines Toten. Sie hatte Leon geraten, den Neuanfang als Chance zu begreifen. Vielleicht brauchte sie auch einen Neuanfang.
«Ihr Frühstück«, sagte eine Stimme, und sie zuckte zusammen und öffnete die Augen. Ein junges Mädchen stellte eine Tasse Kaffee, einen Teller und ein Körbchen mit zwei Croissants vor sie hin.
«Ist das nicht ein herrlicher Mai?«fragte sie.
«Wunderschön«, stimmte Jessica zu. Sie empfand es nicht so, aber was hätte sie sagen sollen? Wen interessierte es schon, wie es ihr tatsächlich ging?
Kein Selbstmitleid, warnte sie sich, das macht alles nur schlimmer.
Während sie vorsichtig die ersten Schlucke des sehr heißen Kaffees trank, dachte sie, daß sie kaum mehr etwas für Evelin tun konnte. Dr. Wilbert, der einzige Mensch, der vielleicht wirklich interessante Informationen besaß, würde aus Angst um seine Zulassung nichts sagen. Womöglich hätte sich jedoch auch aus seinem Wissen nichts ergeben, was Evelin von jeglichem Verdacht reingewaschen hätte, sonst hätte er es doch gesagt, um ihr zu helfen.
Vielleicht, dachte Jessica, wird er sie aber jetzt auch zu kontaktieren versuchen und sie fragen, ob er Auskünfte geben darf. In diesem Fall höre ich dann sicher von ihm.
Ich muß an mein eigenes Leben denken.
Vielleicht hatte Wilbert recht. Vielleicht mußte sie die Geschehnisse dringend aufarbeiten.
Ich drücke mich davor, indem ich mich für Evelin engagiere.
Sie war überzeugt von Evelins Unschuld. Sie war sicher, daß das Verbrechen von einem Außenstehenden begangen worden war.
Warum vertraue ich nicht darauf, daß die Beamten in England das schon herausfinden werden? Die sind nicht blöd. Evelin wird freikommen, und zwar auch ohne mein Zutun.
Sie sollte loslassen. Sich nicht weiter als Amateurdetektivin betätigen. Was kam schon dabei heraus? Als einzig echte neue Erkenntnis hatte sie nur die Aussage des alten Will, Alexander habe sie nie geliebt.
Phantastisch. Mit der Möglichkeit, daß er die Wahrheit gesagt hatte, mußte sie nun leben. Sie war keinen Schritt weiter, was Evelin betraf, dafür war sie verunsichert, was ihren toten Mann anging.
Na ja, sie verstand ihn im nachhinein besser. Aber es war die Frage, ob es so wichtig war, alles und jeden zu verstehen. Vielleicht versuchte sie auch nur, Alexander zu verstehen, Evelin und die Freunde zu verstehen, weil sie nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert werden wollte, plötzlich sich selbst verstehen zu müssen.
Ihr Hunger war auf einmal wie weggeblasen, was ihr verriet, wieviel Anspannung diese Gedanken in ihr auslösten. Sie schob den Korb mit den Croissants von sich weg, als könnte sie mit dieser Bewegung auch die belastenden Vorstellungen auf Distanz zu sich bringen. Sie würde ihren Energien jetzt eine andere Richtung geben. Es war Dienstag. Was sprach dagegen, daß sie am kommenden Montag ihre Praxis wieder eröffnete? Irgendwann vorher mußte sie noch Leon besuchen, das hatte sie ihm versprochen. Seine neue Wohnung ansehen, ihm Mut machen. Ohne daß sie das gewollt hätte, fiel ihr der vergangene Sonntag ein, als er bis spätabends auf ihren Verandastufen gesessen und sich betrunken hatte. Irgendwann hatte sie ihm ein Taxi gerufen, denn er hätte nicht mehr selbst fahren können. Sein Auto mußte er in aller Heimlichkeit am nächsten Morgen abgeholt haben, während sie noch schlief, denn als sie gegen neun Uhr das Haus verlassen hatte, um Barney spazierenzuführen, war es verschwunden gewesen. Sie erinnerte sich, daß sie ihn nach dem vierten Freund im Kreis der einstigen Internatsschüler gefragt hatte.
«Ach, du meinst Marc«, hatte er gesagt.»Liebe Güte, an den habe ich schon ewig nicht mehr gedacht! Marc! Er war nicht lange mit uns zusammen. Er blieb sitzen in der achten Klasse, und dann sogar noch ein zweites Mal, und damit mußte er die Schule verlassen. Wir haben nie mehr von ihm gehört.«
Eigentlich eine normale, vernünftige Erklärung, die nicht weit hergeholt klang. Trotzdem hatte sie, noch ehe Leon überhaupt zu sprechen begonnen hatte, das sichere Gefühl gehabt, nicht die Wahrheit zu hören zu bekommen. Sie blinzelte in das helle Sonnenlicht und fragte sich, woran das gelegen haben mochte. Vielleicht hatte sie sich etwas eingebildet. Sie war sehr müde gewesen, seelisch tief erschöpft von der unangenehmen Begegnung mit Alexanders Vater. Man sah leicht Gespenster, wenn man völlig zerschlagen war.
Aber da war etwas in seinen Augen gewesen. Nur einen Moment lang. Ein unkontrollierter Ausdruck des Entsetzens, des Schreckens. Als rühre sie an etwas, woran sie unter keinen Umständen hätte rühren dürfen.
Verdammt. Ich hatte gerade beschlossen, über diese Dinge nicht mehr nachzudenken!
Sie kramte ihr Portemonnaie hervor, legte das Geld für ihr Frühstück auf den Tisch. Stand entschlossen auf.
Sie würde jetzt Barney holen und ihn mit in die Praxis nehmen. Und dort beginnen, den Papierberg, der sich in den vergangenen Wochen ohne Zweifel angesammelt hatte, zu bearbeiten.
Wenn sie am nächsten Montag wieder anfangen wollte, hatte sie jede Menge Arbeit.
Viel zuviel Arbeit, um über die Vergangenheit nachzugrübeln.
«Nein«, sagte Phillip,»mit absoluter Sicherheit: nein! Hast du wirklich einen Moment lang geglaubt, ich könnte hier leben?«
Sie waren in einem Pub am Ufer der Themse. Der Abend war warm, und man konnte draußen an breiten Holztischen sitzen. Zu dieser ziemlich frühen Stunde hatten sich noch nicht allzu viele Menschen eingefunden, aber langsam, nach und nach, kamen sie heran. Geschäftsleute in dunklen Anzügen oder junge Familien mit Kinderwagen und Hunden im Schlepptau. Ein weicher Wind trieb den Salz- und Algengeruch des Meeres heran. Die Atmosphäre war sanft und anheimelnd. Geraldine hätte sich darin wiegen können, aber Phillip saß ihr gegenüber wie ein dunkler, steinerner Klotz, angespannt und unbehaglich. Geraldine hatte für beide Fish and Chips und dunkles Bier geholt, aber Phillip rührte sein Essen nicht an, nippte nur gelegentlich an dem Bier. Er sah aus, als würde er am liebsten davonlaufen und könne sich nur mit äußerster Disziplin beherrschen.
«Was stört dich so sehr?«fragte Geraldine.»Die Vorortatmosphäre?«
«Es ist eng. Es ist spießig. Es ist so… adrett.«
«Es ist zumindest weniger eng als deine Wohnung.«
«Kann sein. Dafür ist meine Wohnung jedenfalls weit davon entfernt, spießig oder adrett zu sein.«
Sie hatte sich ein paar Chips in den Mund schieben wollen, ließ aber ihre Hand wieder sinken.»Was willst du?«fragte sie erschöpft.
«Das weißt du.«
«Oh… nein!«
Sie lehnte sich zurück.»Fang nicht wieder mit…«
«Wenn du es nicht hören willst, dann frag mich nicht«, sagte Phillip.»Ich will Stanbury. Und solange ich nicht jede Möglichkeit ausgeschöpft habe, es zu bekommen, ziehe ich bestimmt nicht in einen Vorort mit kleinen Häusern und Stiefmütterchenbeeten. Ich passe dort nicht hin. Ich bin das nicht!«
«Du bist auch nicht Stanbury! Du bist nur völlig verrannt in eine fixe Idee!«
Er sprach mit leiser Stimme, aber seine Augen verrieten, wie zornig er war.»Ein für allemal, Geraldine«, sagte er langsam und betont,»das geht dich nichts an! Nichts, was in meinem Leben geschieht, geht dich etwas an. Ich gehe meinen Weg. Aus für mich unerfindlichen Gründen bist du wild entschlossen, neben mir herzugehen, obwohl das, wie ich dir versichern kann, zu nichts führen wird. Du wirfst mir vor, in etwas verrannt zu sein? Wie sieht es denn mit dir aus? Du schiebst doch seit Jahren eine gigantische Illusion vor dir her und ignorierst geflissentlich jeden, der dich auf diesen Umstand hinweist. Mich, zum Beispiel, oder deine innige Freundin Lucy. Du weißt, daß ich letztere auf den Tod nicht leiden kann, aber sie hat verdammt recht, wenn sie dir immer wieder erklärt, daß ich ein Arschloch bin und du keine Zukunft mit mir haben wirst. Aber du bist ja offenbar überzeugt, es besser zu wissen!«
In dieser Art hatte er seit Wochen nicht mehr mit ihr gesprochen, und sie zuckte unter der Wucht seiner Worte wie unter Ohrfeigen. Sie hatte nicht erwartet, daß er die unausgesprochene Übereinkunft des Neuanfangs, die seit dem Verbrechen von Stanbury zwischen ihnen herrschte, so plötzlich und so heftig brechen würde. Er war wieder der Phillip, den sie in Yorkshire erlebt hatte, gereizt, harsch, verletzend. Sie brauchte ein paar Sekunden, dies zu begreifen.
«Du willst deinen Weg gehen?«fragte sie und konnte fühlen, wie bleich sie geworden war.»Und ich darf ihn nur dann gelegentlich kreuzen, wenn du zufällig mal wieder ein Alibi für einen Mord brauchst?«
«Ich habe mit den Morden nichts zu tun«, entgegnete Phillip. Beide waren sie ziemlich laut geworden, und am Nachbartisch drehte man sich um.
«Ich habe damit nichts zu tun«, wiederholte Phillip flüsternd» und das weißt du genau!«
«Weiß ich das? Woher soll ich das wissen? Und im übrigen geht es darum auch gar nicht. Du warst in der wahrscheinlich fatalsten Situation deines bisherigen Lebens, und das vor allem wegen des absolut neurotischen Verhaltens, das du zuvor im Zusammenhang mit Stanbury an den Tag gelegt hast. Ohne mich würdest du noch immer im Untersuchungsgefängnis sitzen.«
«Sei nicht so sicher. Vielleicht wäre meine Unschuld längst erwiesen und ich wieder draußen.«
«Willst du es ausprobieren?«
Sie starrte ihn an. Er hielt ihrem Blick stand, bis sie schließlich die Augen senkte.
«Ach, Phillip«, sagte sie müde,»müssen wir so miteinander reden?«
«Müssen wir hier so sitzen?«fragte er zurück.»Was wolltest du mit dieser Aktion erreichen? Daß ich mit dir in dieses Häuschen ziehe, daß wir heiraten, daß wir eine Familie gründen?«
«Warum sperrst du dich so dagegen?«
«Weil mir für mich ein anderes Leben vorschwebt.«
«Aber was denn für eines? Du weißt doch überhaupt nicht, was du willst! Du kannst doch nicht bis ans Ende deiner Tage in dieser Dachkammer leben und dich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten!«
«Und warum nicht? Wenn das meine Vorstellung von Leben wäre, welches Recht hättest du, es mir auszureden?«
«Aber du weißt doch, daß es nicht stimmt!«
Sie legte alle beschwörende Kraft, die sie in sich fühlte, in ihre Stimme.»Du hast es mir doch selbst gesagt. Du zweifelst an dir und deinem Leben. Deshalb bist du ja so wild hinter Stanbury und den Spuren deines Vaters her! Du kommst nicht zurecht mit deinem Dasein. Du…«
«Aber das geht dich nichts an. Das alles ist ganz allein mein Problem. Es mag sein, daß ich mit meinem Dasein, wie es ist, nicht zurechtkomme — aber mit dir komme ich noch weniger zurecht.«
Er schob seinen Teller mit den kalten Chips und dem fettig glänzenden Fisch angewidert zurück und stand auf.»Vergiß es, Geraldine«, sagte er.»Versuch so etwas nie wieder. Es nützt nichts. Du kannst mich nicht ändern.«
«Ich könnte dich glücklich machen.«
Er lachte, aber es klang eher verzweifelt als höhnisch.»Es gibt tausend Männer«, sagte er,»die sich bestimmt gern von dir glücklich machen ließen. Warum mußtest du dir einen suchen, bei dem es einfach nicht funktioniert?«
«Ich liebe dich, Phillip. Ich würde dich sogar noch lieben, wenn du…«
Sie hielt inne.
Er sah sie fragend an.
«Wenn du es getan hättest«, sagte sie leise.
Es war ein Hochhaus, in das Leon am Vortag umgezogen war, einer jener Wohnsilos mit vierzig Klingelschildern an der Haustür und zahllosen, winzig kleinen Balkons, die an Bienenwaben erinnerten, keinerlei Individualität erlaubten und, dank vorgezogener Wände und steinerner Überdachung, soviel Sonne wie nur möglich aussperrten. Vor dem Haus gab es Grünflächen, deren Betreten verboten war, aber auf den asphaltierten Plätzen vor den Garagen spielten Kinder, was offenbar als erlaubt galt. Jessica, die auf dem schattigen Plattenweg stand, der zur Haustür führte, mußte den Kopf in den Nacken legen, um bis zum obersten Stockwerk hinaufblicken zu können. Über dem flachen Dach erhob sich der Himmel in leuchtendem Blau, was dem lieblosen Betonbau ein klein wenig Charme verlieh. Schlechtes Wetter mußte die Anlage in vollkommene Trostlosigkeit tauchen. Aber vielleicht ist es genau das, was Leon jetzt braucht, dachte Jessica, dieses Eintauchen in die Anonymität, diese Reduzierung des Wohnorts auf einen Platz zum Schlafen, von dem man im Grunde nicht mehr erwartet als ein Dach über dem Kopf. Das Leben an einen Nullpunkt bringen, um von vorne anfangen zu können.
Es war halb sieben am Abend, die Luft weich, das Licht hell. Jessica wäre lieber daheim im eigenen Garten geblieben, nachdem sie den ganzen Tag in ihrer Praxis gesessen und stapelweise Post durchgesehen und bearbeitet hatte. Aber sie hatte Leon versprochen, seine Wohnung anzusehen, und es hatte keinen Sinn, dies ewig vor sich herzuschieben. Vorsichtshalber hatte sie Barney daheim gelassen. So konnte sie nach einer gewissen Zeit behaupten, sie müsse nach Hause, um den Hund ins Freie zu lassen.
Leons Stimme klang durch die Sprechanlage, kaum daß Jessica geklingelt hatte. Ob er neben seiner Wohnungstür gewartet hatte, fragte sie sich. Er war einsam. Er hatte drei Menschen verloren.
«Ich bin im vierten Stock«, sagte er,»nimm den Aufzug!«
Er stand im Flur, als sie oben ausstieg. Er hatte sich endlich einmal rasiert und war offenbar sogar beim Friseur gewesen. Er trug Jeans, dazu ein weißes T-Shirt, weiße Leinenschuhe. Er schien nichts getrunken zu haben und sah so gut aus, daß Jessica sofort dachte: Er bleibt nicht lang allein. Die Frauen werden ihm die Tür einrennen, und wenn er die Trauerzeit hinter sich hat, wird es jemanden für ihn geben.
Er zog sie an sich und sagte, wie sehr er sich freue, sie zu sehen. Er schien aufrichtig glücklich, und sie schämte sich plötzlich, daß sie so widerwillig zu dieser Verabredung gegangen war.
Er war neben Tim Alexanders bester Freund, dachte sie. Alexander würde erwarten, daß ich mich um ihn kümmere.
Er zog sie in die Wohnung, und sie gab ihm die Flasche Wein, die sie für ihn daheim aus dem Keller geholt hatte.»Nicht sehr originell, ich weiß. Aber ich war den ganzen Tag in der Praxis, und es blieb dann keine Zeit mehr, um…«
«Ich freue mich über den Wein. Ich freue mich vor allem, daß du da bist. Du arbeitest wieder? Ich finde, da tust du genau das Richtige!«
Er holte tief Luft.»Also, das hier ist mein neues Reich!«
Die Wohnung sah so aus, wie vermutlich alle Zwei-ZimmerWohnungen in dem Haus aussahen, mit der Ausnahme, daß sich hier noch eine Menge unausgepackter Kisten stapelten. Es gab ein Wohnzimmer mit einer durch eine kleine Theke abgetrennten Küche und ein winziges, recht dunkles Nebenzimmer, dessen Fenster nach Norden ging und das gerade eben Platz für ein Bett und einen Schrank bot.
«Hier schlafe ich«, erklärte Leon,»und, na ja, im Rest wohne ich.«
Er hatte sich wirklich von nahezu allen alten Möbeln verabschiedet. Im Wohnzimmer standen ein neuer Ikea-Tisch mit passenden Stühlen (»Unser großer Eßtisch hätte das Zimmer ja fast völlig ausgefüllt«, sagte Leon) und in der Ecke zwei Sessel aus der früheren Sitzgarnitur, zwischen ihnen ein kleiner Teetisch, von dem sich Jessica erinnerte, daß er im alten Haus seinen Platz in Patricias sorgfältig gestyltem Wintergarten gehabt hatte. Sie erkannte die Stehlampe, zwei Blumenbilder an den Wänden und eine Vase im Fenster. Auf der Küchentheke standen ein paar Figuren aus bunter Knete, die wohl Diane und Sophie in Kindertagen gebastelt hatten. Eigentlich erinnerten nur sie daran, daß es im Leben dieses Mannes einmal eine Familie gegeben hatte.
Gleich neben der Theke führte eine Tür hinaus auf den Balkon. Hier standen ein weißlackierter Bistrotisch und zwei Gartenstühle, und aus einem Blumentopf kroch ein undefinierbares grünes Gewächs an der Betonmauer hinauf. Es lag keine Abendsonne auf dem Balkon, aber man hatte einen schönen Blick auf die Stadt, und man roch den warmen Wind des Frühsommers.
«Südosten«, sagte Leon,»ein bißchen Sonne habe ich am Tag. Aber ich bin ja ohnehin kaum daheim. Setz dich doch. Wie wäre es mit einem Glas Champagner?«
Er brachte Gläser und eine eiskalte Flasche.
«Es gibt etwas, worauf wir anstoßen können«, sagte er.»Ich habe eine Anstellung in einer Kanzlei gefunden. Ich kann am ersten August dort anfangen. Das heißt, ich werde endlich wieder Geld verdienen.«
«Wie schön für dich«, sagte Jessica, aufrichtig erleichtert und
erfreut,»darauf stoße ich gern an.«
Sie prosteten einander zu. Sie war erstaunt, wie sehr Leon unter Strom zu stehen schien und wie verjüngt er wirkte.
«Die neue Arbeit gibt dir ungeheuren Auftrieb«, stellte sie fest.
«Die neue Arbeit und die neue Wohnung. Es ging mir beschissen die letzten Wochen, aber das hast du ja selbst bemerkt. Es ist mir unendlich schwergefallen, das Haus aufzulösen. Ich bin durch die Hölle gegangen. Ich…«
Er schüttelte den Kopf, strich sich mit der Hand über das Gesicht in einer Geste, die schauderndes Erinnern an die Müdigkeit und Depression jener Tage ausdrückte.»Ich habe jeden Tag mit Alkohol begonnen und mit Alkohol beendet. Anders hätte ich diese Zeit nicht durchgehalten.«
«Das ist doch ganz normal. Du…«
«Aber mir geht es besser«, sagte er lebhaft.»Als ich endlich durch war, ging es mir besser! Ich fühle mich, als wäre ich wieder da, wo ich mit Mitte zwanzig war, bevor ich aufhörte, selbst über mein Leben bestimmen zu können. Ich bekomme noch einmal eine Chance.«
Sie nahm einen Schluck von ihrem Champagner. Irgendwo tief in ihr erwachte ein Frösteln, aber sie wollte es nicht wahrnehmen, wollte nicht, daß es sich ausbreitete.
«Du siehst viel besser aus als noch vor ein paar Tagen«, meinte sie.
«Wie gesagt«, fing er an, und sie unterbrach ihn:»Ja. Ich weiß. Es geht dir auch besser.«
Sie schwiegen ein paar Minuten.
Unvermittelt sagte Leon:»Meine Herzschmerzen sind weg.«
«Du hattest oft Herzschmerzen?«
«Immer häufiger und immer stärker in den letzten Jahren, ja. Es begann mich wirklich zu belasten. Ich rechnete mir schon aus, daß ich irgendwann an einem Infarkt sterben würde, und das war alles andere als eine erfreuliche Vorstellung. Dabei habe ich nie ungesund gelebt, ich habe kein Übergewicht, ich rauche nicht, und wenn nicht gerade meine ganze Familie ermordet wird, trinke ich auch kaum jemals einen Schluck zuviel. Aber der Streß…«
Er atmete tief durch.»Der Streß, der mit dem Tag begann, an dem ich Patricia heiratete. Diese unglückliche Ehe, dieser nicht enden wollende Druck… Es ist, als wäre ein Gewicht von mir genommen. Als könne mein Herz wieder frei schlagen.«
Jessica legte ihm die Hand auf den Arm.»Ich verstehe dich«, sagte sie, obwohl sich das Frösteln in ihr verstärkte,»ich verstehe dich, aber du solltest… du solltest nicht zu anderen so sprechen.«
«Weshalb nicht?«
«Weil es… weil es eigenartig klingt. Deine Frau und deine beiden Töchter sind bestialisch ermordet worden, und du scheinst… ja, irgendwie erleichtert. Befreit. Ich kann durchaus nachvollziehen, was da in dir vorgeht, aber…«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie fragte sich, ob sie es wirklich nachvollziehen konnte.
«Ich spreche sowieso mit niemandem über diese Dinge«, sagte Leon.»Meine beiden besten Freunde sind tot. Es gibt sonst niemanden, den ich so dicht an mich heranlassen würde.«
«Entschuldige meine Einmischung«, sagte Jessica.
Er stand auf.»Wie wäre es, wenn du hier in Ruhe deinen Champagner trinkst und ein wenig in den Abend hinaus träumst? Ich kümmere mich so lange um das Essen!«
«Du sollst doch nicht kochen für mich.«
«Es ist alles vorbereitet. Da mußt du jetzt durch.«
Er lachte. Ehe er den Balkon verließ, legte er ihr einen Moment lang die Hand auf die Schulter.
Sie hatte nicht gewußt, daß Leon kochen konnte. Patricias Schilderungen hatte man immer nur entnehmen können, daß sie für das leibliche Wohl der Familie gesorgt hatte, auf die für sie typische, disziplinierte Weise: fettarm, vitaminreich, gesund. Von Leon war nie eine Klage gekommen, aber auch nie eine Andeutung, daß er selbst das Talent hatte, einmal etwas Besonderes für sie alle zuzubereiten. Nun zauberte er eine Köstlichkeit nach der anderen auf den Tisch, mit, wie es schien, leichter Hand und ganz nebenbei, und Jessica, die in ihrem Arbeitseifer das Mittagessen ausgelassen hatte, merkte, wie hungrig sie war. Sie aß und aß, bis sie meinte zu platzen, und sich nach dem Dessert mit einem Seufzer in ihrem Stuhl zurücklehnte.
«O Gott, Leon, das war unglaublich«, sagte sie.»Aber wenn ich jetzt noch einen Bissen zu mir nehme, kann ich mich für drei Tage nicht mehr rühren. Warum hast du nie erzählt, daß du ein begnadeter Koch bist?«
«Es gibt noch Käse. Du darfst noch nicht aufhören!«
«Vorsicht!«
Sie lachte.»Nachher wirst du mich nicht mehr los, weil ich es nicht mehr schaffe, mich hochzuhieven.«
Er lächelte. Er hatte ein Windlicht auf die Balkonbrüstung gestellt, das sein Gesicht nur undeutlich erhellte, aber Jessica konnte das Blitzen in seinen Augen sehen.
«Warum sollte ich dich loswerden wollen?«fragte er.
Sein Tonfall verunsicherte sie, aber sie versuchte, möglichst unbefangen zu antworten.»Weil deine Wohnung viel zu klein ist für einen Übernachtungsgast.«
Sie sah, daß er den Mund öffnete, und fügte schnell hinzu:»Barney ist allein daheim und muß irgendwann noch mal raus. Ich sollte jetzt bald gehen.«
«Hast du ihn deshalb zu Hause gelassen?«fragte Leon.»Ich habe mich schon gewundert.«
Er wollte ihr Wein nachschenken, aber sie wehrte ab.
«Was meinst du mit deshalb?«
«Um auf gar keinen Fall in Versuchung zu kommen, hierzubleiben.«
«In die Versuchung wäre ich sowieso nicht gekommen.«
«Nein?«
«Nein.«
Sie griff nach ihrer Handtasche.»Ich sollte…«
«Weißt du nicht, daß es unhöflich ist, direkt nach dem Essen zu gehen?«
«Leon, ich…«
Sie wollte weg. Auf einmal hatte sie das Gefühl, Teil einer mit Bedacht geplanten Inszenierung zu sein. Die Einladung, der warme Maiabend, das flackernde Windlicht, der Champagner, das Essen. Der gutaussehende Mann, der plötzlich nichts mehr mit dem Leon gemein hatte, der früher einfach nur ein guter Freund, ein netter Kerl gewesen war. Und der jetzt ein neues Leben wollte, viel zu schnell, viel zu radikal, aber vielleicht mit einer gewissen Berechtigung, weil jedes Verweilen im alten Leben, und sei es nur eine Sekunde zu lang, das mühsam errichtete Gerüst, mit dessen Hilfe er das Dasein ertrug, zum Einstürzen bringen konnte.
«Jessica«, sagte Leon,»laß mich ganz offen sein: Ich habe über uns nachgedacht. Uns beide verbindet das gleiche Schicksal. Wir haben die Menschen, die uns am nächsten standen, durch ein schreckliches Verbrechen verloren, und aus den Trümmern, die geblieben sind, müssen wir unser Leben neu errichten. Wir sind zu jung, um dauerhaft allein zu bleiben, aber wir können nie einen Partner finden, der wirklich versteht, was wir durchlebt haben. Uns ist etwas zugestoßen, das nicht zu den Dingen gehört, die Menschen üblicherweise zustoßen.
Neulich habe ich ja schon versucht, dir das zu erklären, erinnerst du dich? Ich meine, es gibt Geldsorgen und Probleme mit den Kindern und Schwierigkeiten in der Partnerschaft, aber wen — außer mir und Evelin natürlich — kennst du schon, der Teil eines solchen Verbrechens war oder ist? In gewisser Weise hat jener Tag in Stanbury uns aus der Mitte der Gesellschaft hinauskatapultiert. Wir sind nicht mehr die, die wir waren, aber wir sind auch nicht mehr da, wo die anderen sind.«
Sie wußte, daß er auf gewisse Weise recht hatte, gleichzeitig meinte sie zu fühlen, daß sie nicht zulassen durfte, was er da in großen schwarzen Lettern vor sie hinmalte. Dr. Wilbert hatte sie als ein Verbrechensopfer bezeichnet, aber letztlich akzeptierte sie den Status als Opfer erst dann, wenn sie die Ausgrenzung aus der Gesellschaft anerkannte, die Leon für sich selbst offenbar als zwangsläufig und unabwendbar hinnahm. Und das würde sie nicht tun. Niemals. Nicht nur wegen des Kindes, das sie erwartete. Sondern auch, um ihr eigenes Überleben zu sichern.
Sie stand auf. Auch Leon erhob sich. Er stand so, daß sie ihn hätte zur Seite schieben müssen, wenn sie den Balkon verlassen wollte. Sie hielt sich an ihrer Handtasche fest wie ein unsicheres Schulmädchen, das nicht weiß, wohin es mit seinen Händen soll.
«Ich glaube, daß jeder von uns beiden eine andere Art hat, mit dem Geschehenen fertig zu werden«, sagte sie,»und das ist keine Frage von falsch oder richtig. Es hat nur damit zu tun, daß wir verschiedene Menschen sind. Versuche nicht, mir deine Art überzustülpen, Leon. Ich muß meine eigene finden.«
«Ich wollte dir nichts überstülpen«, sagte Leon hastig,»ich wollte nur… ich dachte, es sind Fakten, die ich aufliste, und daraus ergeben sich Perspektiven für uns, die… nun, ich rede ziemlichen Blödsinn, was?«
Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich aus dem Geflecht verwirrender Gedanken befreien.»Ich wollte einfach sagen, daß ich dich sehr mag, Jessica. Daß ich mir vorstellen könnte, daß wir den Neuanfang, der ja für uns beide notwendig ist… daß wir den zusammen probieren?«
Er formulierte den letzten Satz mehr als Frage denn als Feststellung. Er sah sie abwartend an, und fast eine Minute lang wurde das Schweigen zwischen ihnen begleitet von einer vollkommenen Stille, die das ganze Haus erfüllte und in der sie beide nichts anderes hörten als den eigenen Atem.
Dann begannen wieder irgendwo Menschen zu reden, jemand lachte, ein Hund bellte. Das Gefühl, allein zu sein auf der Welt, löste sich auf.
Jessica hatte den Eindruck, daß sie etwas sagen mußte.
«Leon, kann es nicht sein, du überstürzt die Dinge? Du hast einen neuen Arbeitsplatz, du hast eine neue Wohnung… und nun meinst du, du mußt auch ganz schnell eine neue Partnerin haben. Aber es sind gerade erst vier Wochen vergangen, seit… nun, seit das Schreckliche passiert ist. Du meinst jetzt, ich sei geeignet für dich, aber das ist vielleicht nur deshalb so, weil gerade niemand anderer da ist und du auch gar nicht in der Lage wärst, jemand anderen zu sehen. Aber…«
«Nein«, unterbrach er sie,»so einfach ist es nicht. Auch als Patricia noch lebte, konnte ich dich nicht anschauen, ohne mir vorzustellen, wie…«
Er zögerte.
Sag es nicht, dachte sie, sag es bitte nicht!
«Ich konnte dich nicht anschauen, ohne mir vorzustellen, wie es sein müßte, dich zu berühren. Dich in den Armen zu halten. Dich zu küssen.«
Er hob entschuldigend beide Hände.»So, jetzt weißt du es. Patricia und Alexander mußten nicht sterben, um in mir diese
Gefühle zu wecken.«
Angestrengt versuchte Jessica, ihre Fassungslosigkeit unter Kontrolle zu bekommen.
«Aber… davon habe ich ja nie etwas bemerkt«, sagte sie schließlich und dachte gleichzeitig: Welch ein dummer Kommentar! Das wollte ich doch gar nicht sagen!
«Ich habe mir auch alle Mühe gegeben, daß du nichts merkst«, erwiderte Leon,»schließlich sprach nichts in unserer Situation dafür, daß meine Wünsche in Erfüllung gehen könnten. Ich war verheiratet, du warst verheiratet. Dein Mann war noch dazu einer meiner besten Freunde. Ihr beide wart noch nicht lange zusammen, ihr schient glücklich. Selbst wenn ich mich hätte scheiden lassen — wie hätte ich hoffen können, daß du das gleiche tätest? Wie hätte ich auf irgend etwas hoffen können?«
«Du warst sehr unglücklich mit Patricia, oder?«
«Das habe ich dir ja erzählt.«
«Ja, aber… ich dachte nicht, daß…«
«Ich habe das Leben mit ihr gehaßt«, sagte Leon, und es klang fast gleichmütig, so als schildere er einen ganz alltäglichen Zustand.»Ich habe jede Minute gehaßt. Ich glaube, ich habe sie selbst gehaßt. Aber da waren die Kinder, der Alltag. Ein Ausbrechen schien einfach nicht möglich. Irgendwie arrangierten wir uns, irgendwie ging es immer weiter. Ich sagte mir, daß die meisten Menschen um mich herum auch keine glücklichen Ehen führten. Ich mußte ja nur meine engsten Freunde ansehen. Tim und Evelin — das war ein einziges Desaster. Bei Alexander und Elena konnte man schon am Anfang das Ende absehen. Patricia und ich murksten eben auch so herum. Irgendwie war das halt normal.«
«Ich verstehe«, sagte Jessica. Sie hätte ihn gern gebeten, sie vorbeizulassen, weil sie gehen wollte, aber aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht fertig.
«Und dann tauchtest du an Alexanders Seite auf. Eine Frau, ganz anders als die anderen. Nicht depressiv und neurotisch wie Evelin. Nicht perfektionistisch und herrschsüchtig wie Patricia. Nicht mondän und unberechenbar wie Elena. Sondern einfach… ja, mit beiden Beinen auf der Erde stehend. Geradlinig. Du erschienst mir als ein ungeheuer aufrichtiger, warmherziger Mensch, ehrlich und offen. Dabei auch sehr eigenständig, sehr unabhängig. Ich dachte: Alexander hat's geschafft. Er hat die Frau gefunden, mit der er durchs Leben gehen kann. Was für ein Glückspilz er doch ist!«
Leon schwieg einen Moment.»Mit der Frau, dachte ich, könnte ich es auch schaffen«, sagte er.
«Was schaffen?«fragte Jessica.
Ich sollte das gar nicht fragen. Ich sollte zusehen, daß ich dieses Gespräch beende.
«Das Leben«, sagte Leon,»ich dachte, mit einer Frau wie dir könnte ich das Leben schaffen. Den Neuanfang. Den Beruf. Die Familie. Eben alles.«
«Leon, möglicherweise idealisierst du…«
«Außerdem finde ich dich sehr attraktiv. Sehr anziehend. Ich konnte dir in Stanbury kaum am Tisch gegenübersitzen, ohne…«
Er sah sie an, schien auf ein Entgegenkommen zu warten, aber Jessica blieb stumm, senkte den Blick.
«…ohne daran zu denken, wie es sein müßte, mit dir zu schlafen«, vollendete er leise seinen Satz.
«O Gott«, flüsterte Jessica.
«Tja«, sagte Leon.
Sie schaute ihn nicht an, weil sie fürchtete, er könnte in ihren Augen die Gedanken lesen, die ihr durch den Kopf schossen. Das Mißtrauen, das seit Tagen — oder schon seit Wochen, genau hätte sie das nicht mehr zu sagen gewußt — in ihr keimte,züngelte hoch wie ein Feuer, dem frischer Sauerstoff zugeführt wird. Es war immer die alte Frage: Wie verzweifelt war Leon gewesen in seiner Ehe? Wie hoffnungslos war ihm die Situation erschienen?
Und nun noch eine weitere Frage dazu: Wie heftig hatte er sich verliebt in die Frau seines Freundes? Wie tief hatte er sich in die Idee hineingesteigert, an ihrer Seite sein Leben zu retten, das ihm vielleicht schon verloren schien?
Hatte dies alles zusammen zu der Vorstellung führen können, der gemeinsame Weg werde nur offen sein, wenn es Patricia und Alexander nicht mehr gab? Konnte er so weit durchgedreht sein, daß er auch das Leben seiner beiden kleinen Mädchen auslöschte? Und das von Tim noch dazu, weil er Schulden bei ihm hatte, die er kaum je hätte zurückzahlen können? Dann hätte Evelin einfach nur Glück gehabt, denn da sie in die Ansprüche ihres toten Mannes eintreten würde, wäre auch sie für Leon nur tot von Nutzen gewesen. Es sei denn, es gelang, ihr das Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Aber das hatte Leon nicht versucht. Für ihn war immer Phillip der Schuldige gewesen, und von dieser Ansicht war er nie abgewichen.
Sie stöhnte leise, ratlos und zutiefst erschöpft. Warum konnte die Polizei nicht endlich den Täter fassen? Warum fand der Fall nicht zu der Klarheit, die Spekulationen und Verdächtigungen ein Ende setzte? Warum mußte Leon plötzlich mit einer Liebeserklärung daherkommen? Warum schien alles nur immer schwieriger und verworrener zu werden?
«Ich möchte nach Hause«, bat sie.»Es tut mir leid, Leon, aber ich kann dir heute abend nicht antworten. Das alles kommt sehr überraschend für mich, und es kommt auch zu schnell nach… nach allem, was passiert ist. Ich bin noch nicht so weit, daß ich über eine neue Beziehung nachdenken kann. Ich brauche sehr viel mehr Zeit.«
«Natürlich«, sagte Leon rasch, aber er sah nicht so aus, als könne er sie wirklich verstehen oder als behage ihm die Vorstellung, auf eine endgültige Stellungnahme ihrerseits warten zu müssen.
«Telefonieren wir?«fragte er.
«Ja. Sicher.«
Sie schob sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer.»Ich werde dich anrufen.«
Er lächelte gequält:»Was soviel heißt wie: Ruf du mich bitte nicht an!«
Sie hätte es albern gefunden, ihm nach all der Zeit zum Abschied die Hand zu geben, und so hauchte sie ihm einen Kuß auf die Wange, so flüchtig, daß er es kaum mißverstehen konnte.»Gib mir Zeit. Und danke für den Abend!«
Sie wartete nicht einmal auf den Fahrstuhl. Sie lief die Treppen hinunter wie gehetzt und atmete auf, als sie draußen vor der Haustür stand.
Erst dort fiel ihr ein, daß sie ihn eigentlich noch einmal nach Marc hatte fragen wollen.
Keith Mallory hatte ein eigenartiges Gefühl, nachdem er den Telefonhörer aufgelegt hatte. Fast hatte es ihn erschüttert, Ricarda plötzlich am Telefon zu hören. Es war eine unausgesprochene Vereinbarung gewesen, daß sie ihn nicht zu Hause anrief. Klar, das hatte in erster Linie mit seinem Vater zu tun gehabt, und da dieser nun in einem Zustand war, in dem er sich in nichts, aber auch gar nichts mehr einmischen konnte, was um ihn herum geschah, sah sich Ricarda an diese Übereinkunft natürlich nicht mehr gebunden.
Er fragte sich, warum ihm die Knie zitterten, nachdem er ihre Stimme gehört hatte.
Das Telefon stand im niedrigen Hausflur, und Keith mußte nur zwei Schritte machen, um hinaus auf den Hof zu treten. Es war warm, erstaunlich warm für Mai und auch ungewöhnlich trocken. Sie hatten sonst viele Niederschläge hier in Yorkshire, aber nicht in diesem Jahr. Im Süden des Landes regnete es weitaus häufiger, wie er dem Fernsehen und der Zeitung immer wieder entnahm.
Der Hof lag still und friedlich in der Sonne. Zwei Hühner schritten majestätisch vom Stall zur Scheune, ihre Artgenossen hatten sich in den Schatten der Büsche zurückgezogen und sich behagliche Kuhlen in der trockenen Erde gekratzt. Das Anwesen wirkte gepflegter als zu den Schaffenszeiten des alten Greg, und diese lagen schließlich erst vier Wochen zurück. Aber Keith hatte in den vier Wochen geschuftet wie noch nie. Er hatte verrostete Geräte, die in allen Ecken vor sich hingammelten, weggeschafft, ebenso die alten Autoreifen und das völlig verfallene Bretterhäuschen, das früher als Toilette gedient hatte. Er hatte Unkraut ausgegraben, bis seine Hände voller Blasen und sein Rücken ein einziger brüllender Schmerz waren. Er hatte den Schweinestall gestrichen und den brüchig gewordenen Zaun um den Auslauf der Tiere erneuert. Als nächstes würde er die zerbrochene Fensterscheibe am Heuschober durch ein sauberes, intaktes Glas ersetzen. Die Haustür brauchte dringend einen frischen Anstrich. Es gab viel zu tun.
Er hatte sich noch nie zuvor in seinem Leben so tatkräftig gefühlt.
Vor allem hätte er nie gedacht, daß ihn ausgerechnet dieser Hof zu solch einer Hingabe, zu solch einer Leistungsbereitschaft inspirieren könnte. Früher hatte er sich um jede Arbeit gedrückt, die mit der Farm zu tun gehabt hatte. Ihm war geradezu schlecht geworden bei der Vorstellung, hier Seite an Seite mit seinem Vater irgendwelche Tätigkeiten zu verrichten. Sein ganzes Dasein hatte darin bestanden, in seine einsame Scheune zu flüchten, dort auf dem zerschlissenen Sofa zu liegen und davon zu träumen, den Stuck alter, edler Häuser zu restaurieren.
Unkraut jäten, Zäune reparieren und Ställe ausmisten hatte kaum etwas zu tun mit der Arbeit, die er sich für sein Leben vorgestellt hatte. Deshalb erstaunte ihn die Erkenntnis, daß er sie mit echter Leidenschaft verrichtete. Es war, als habe die Krankheit seines Vaters einen Weg frei gemacht, der zuvor verstellt gewesen war und der sich plötzlich ungeahnt weit öffnete. Er hatte sich befreit. Mit jedem verrosteten Eimer, den er fortschaffte, hatte er ein Stück seines Vaters fortgeschafft. Mit jeder zähen Distel, die er aus der Erde riß, hatte er ein Stück seines Vaters ausgerissen. Mit jeder Erneuerung, die er vornahm, hatte er ein Stück seines Vaters ausradiert und sich selbst an die frei gewordene Stelle gesetzt.
Greg war nicht tot, aber man konnte ihn auch kaum als wirklich lebendig bezeichnen. Das Krankenhaus hatte ihn in die häusliche Obhut seiner Frau entlassen, was bedeutete, daß Gloria nun eine Art Riesenbaby zu versorgen hatte, einen Mann, der von morgens bis abends im Bett lag, der gefüttert und gewindelt werden mußte, der kein einziges verständliches Wort aussprechen konnte und dessen Zustand sich, wie es die Ärzte bereits vorsichtig angedeutet hatten, wohl kaum jemals entscheidend verbessern würde.
Jetzt gehörte der Hof ihm, Keith. Noch nicht im juristischen Sinne, aber er hatte bereits die volle Verantwortung für die Tiere, für das Land, das Haus und die Ställe übernommen. Und er merkte, daß sowohl seine Mutter als auch seine Schwester in ihm das neue Familienoberhaupt sahen.
Zudem hatte er das Gefühl, sich in jenen vier Wochen den Hof wirklich angeeignet, sich dauerhaft ein Revier abgesteckt zu haben.
Wie ein Hund, der die Ecken anpinkelt, dachte er ironisch.
Plötzlich hatte er eine Perspektive. Eine Zukunft. Sein Leben hatte sich von einem Moment zum anderen völlig und grundlegend verändert.
Er atmete tief durch und dachte an das eben geführte Telefongespräch. Ricarda hatte sich angehört, als flehe sie um Hilfe. Ein wenig machte ihm dieser Gedanke Angst, das merkte er deutlich. Er stand am Beginn eines neuen Lebens. Die Vorstellung, ausgerechnet jetzt könne sich ein anderer Mensch haltsuchend an ihn klammern, gab ihm ein Gefühl der Überforderung. Er war neunzehn. Er war dabei, seinen Weg zu finden. Wie geeignet war er, eine ernste Beziehung mit einer traumatisierten Sechzehnjährigen einzugehen?
Denn natürlich war sie traumatisiert. Man mußte kein Psychologe sein, um das zu wissen. Sie hatte ihren Vater auf die grauenhafteste Art verloren, die man sich vorstellen konnte, und der Umstand, daß noch dazu eine Reihe enger Bekannter regelrecht hingemetzelt worden waren, konnte kaum dazu beitragen, daß sie sich besser fühlte. Ob sie manchmal darüber nachdachte, daß es vermutlich reiner Zufall war, daß sie selbst überlebt hatte?
Am Telefon hatte sie das Geschehen mit keinem Wort gestreift, und gerade das kam Keith verdächtig vor. Schon damals in der Scheune, als er ihr die Nachricht überbrachte, hatte sie so eigenartig reagiert — verdrängend, herunterspielend. Sie hatte sich, wie er fand, ausgesprochen ungesund verhalten, und nach wie vor schien sie sich einer Verarbeitung der Ereignisse zu entziehen.
Er liebte sie, da war er schon sicher inzwischen. Sie war zärtlich und hingebungsvoll. Zudem sehr echt, sehr authentisch. Nicht so blasiert und zickig wie andere Mädchen. Und er fand sie außerordentlich attraktiv.
«Keith, ich bin es, Ricarda«, hatte sie gesagt, und er war erst einmal verstummt, so daß sie nach ein paar Sekunden nachgehakt hatte:»Keith? Bist du noch da?«
«Ja«, hatte er schließlich herausgebracht,»ja, klar bin ich noch da.«
«Ich habe es ein paarmal auf deinem Handy versucht. Aber du hast es offenbar nie angeschaltet.«
«Na ja, ich bin jetzt immer auf dem Hof. Da bin ich ja über den normalen Apparat erreichbar.«
«Und die Mailbox hast du auch nie abgehört, oder?«
«Nein.«
Er hatte sich gefangen.»Ricarda, es ist wirklich schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?«
Die Frage war mehr gewesen als eine Höflichkeitsfloskel, dennoch hatte er erwartet, daß sie das übliche» Gut. Alles okay «darauf antworten würde.
Statt dessen sagte sie:»Mir geht es gar nicht gut. Überhaupt nicht. Ich vermisse dich sehr, und es ist nichts mehr, wie es war. Ich finde nicht in das alte Leben zurück.«
«Nun ja, es ist etwas Schreckliches geschehen, und es wird Zeit brauchen, bis du…«
Sie hatte ihn unterbrochen.»Ich meine uns. Wegen uns finde ich nicht zurück.«
An das Verbrechen wollte sie offenbar nicht einmal denken. Für sie schien es gar nicht stattgefunden zu haben.
Kann man so tief verdrängen? fragte er sich.
«Es ist alles anders«, fuhr sie fort.»Vor den Osterferien, weißt du, da war ich ein Kind. Jetzt nicht mehr.«
«Du bist fünfzehn«, hatte er sie erinnert.
«Fast sechzehn. In zwei Wochen werde ich sechzehn.«
«Das ist auch noch sehr jung.«
Sie hatte einen Moment geschwiegen.»Du fandest es nicht zu jung, als wir uns zusammen in London ein neues Leben aufbauen wollten.«
«Nein, weil damals…«
«Was?«fragte sie, als er innehielt.»Was war damals?«
Er wußte es auch nicht. Es war eben anders gewesen. Vielleicht hing es mit dem Verbrechen zusammen. Als sie gemeinsam nach London aufgebrochen waren, war sie ein junges Mädchen mit einigen Problemen gewesen, aber diese Probleme hatten sich innerhalb eines Rahmens bewegt, den Keith als normal empfand. In der Zwischenzeit aber war etwas Unfaßbares geschehen. Etwas, das Keith mit einer bislang ungekannten Angst erfüllte.
«Du wirst auf dem Hof bleiben?«fragte Ricarda schließlich.
Er war erleichtert, daß sie es von sich aus ansprach.»Ja. Verstehst du, irgendwie hing alles mit meinem Vater zusammen. Daß ich unbedingt weg wollte und so. Jetzt… gehört mir der Hof. Mein Vater ist völlig außer Gefecht. Er ist am Leben, aber auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes. Ich bin mein eigener Herr. Und ich… ich fühle mich verpflichtet,dieses Erbe… Generationen meiner Familie haben hier gelebt und gearbeitet. Ich möchte den Faden nicht abreißen lassen.«
Ihre Stimme hatte auf einmal sehr warm geklungen.»Das verstehe ich. Das verstehe ich sehr gut.«
Es war diese Wärme gewesen, die ihn wieder mit dem Gefühl der Geborgenheit erfüllte, das er immer in ihrer Gegenwart verspürt hatte. Es war das, was er stets als ihre Echtheit empfunden hatte. Diese Wärme.
Er stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn er ihr dieses sechzehnjährige deutsche Mädchen präsentierte, das in seinem Leben noch keine Kuh gemolken, kein Schaf geschoren, kein Brot gebacken hatte. Das aber dafür zu den Leuten von Stanbury House gehörte. Das Verbrechen hielt die Gegend nach wie vor in Atem, vor allem da man wußte, daß nur hauchdünne Indizien für die Frau, die man festgenommen hatte, sprachen. Der Fall galt als ungeklärt, und niemand wollte wirklich etwas damit zu tun haben. Mum würde ihn für verrückt erklären.
«Wenn du sechzehn bist, können wir heiraten«, hatte er gesagt.
Nun wühlte er in seiner Hosentasche herum, fand ein Feuerzeug und eine zerdrückte Zigarette, zündete sie an und inhalierte tief. Er hatte einen großen Schritt getan. Er hoffte, daß es der richtige war.
Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Gloria erschien in der Tür. Die schwere Krankheit ihres Mannes ließ sie noch verhärmter aussehen, und irgendwie schien sie kleiner geworden zu sein. Es mochte daran liegen, daß sie ihre Schultern so weit nach vorn zog.
«Wer hat gerade angerufen?«fragte sie und hüstelte dann demonstrativ, um ihm zu zeigen, was sie von seinem Hang zu Zigaretten hielt.
«Eine alte Bekannte«, sagte Keith.
«Kenne ich sie?«fragte Gloria mißtrauisch.
Seitdem Greg krank war, interessierte sie sich für seinen weiblichen Bekanntenkreis, der ihr früher ziemlich gleichgültig gewesen war. Aber nun hegte sie die verschiedensten Befürchtungen: daß er eine Frau kennenlernen und mit ihr weggehen könnte. Oder daß er eine Frau auf den Hof bringen würde, mit der sie, Gloria, nicht zurechtkam. Die neue Situation überforderte sie ohnehin schon, sie wollte nicht, daß sich nun noch etwas änderte.
«Du kennst sie nicht«, sagte Keith, warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
«Also nichts Ernstes?«vergewisserte sich Gloria.
Es war der Moment, in dem Keith begriff, daß es nichts Ernsteres je in seinem Leben gegeben hatte.
Auf einmal hätte er seine Mutter am liebsten umarmt. Er tat es nicht. Eine solche Geste war nicht üblich zwischen ihnen und hätte Gloria nur erschreckt und verwirrt.
Es war wie ein Déjà-vu, aber Phillip wußte genau, daß es ihm nur so vorkam. In Wahrheit wiederholte sich einfach eine Situation, die er in der Woche zuvor schon erlebt hatte: Es regnete in Strömen. Er war auf dem Heimweg. Er sah Licht hinter seinen Fenstern. Er wußte, daß sie da war.
Er kam diesmal nicht vom Anwalt, sondern aus dem Archiv des Observer. Im Grunde hatte er während des letzten Jahres alles zusammengetragen, was es an Pressematerial über seinen Vater gab, aber an manchen Tagen konnte er es nicht lassen, sich erneut in die Suche einzugraben, immer in der vagen Hoffnung, doch noch auf eine Spur zu stoßen, die zu seiner Mutter und damit zu ihm führen würde. Oder die in ihm das Verständnis hervorrufen würde, weshalb Kevin McGowan seine Geliebte Angela Bowen verleugnet, sitzen gelassen, aus seinem Leben gestoßen hatte. Vielleicht gab es Gründe. Gute, überzeugende Gründe, die ihn, Phillip, seinem Vater näherbringen und ihn mit ihm versöhnen würden.
Er hatte nichts gefunden, nichts, was er nicht schon hatte in einem seiner vielen Ordner, und irgendwann hatte er gemerkt, daß er hungrig war und daß seine Augen schmerzten. Er hatte auf die Uhr gesehen. Es war halb sieben.
Als er auf die Straße trat, regnete es. Der Tag hatte warm und sonnig begonnen, aber am Nachmittag waren dichte Wolken herangezogen. Der Himmel öffnete alle Schleusen. Phillip hatte wieder keinen Schirm, keinen Mantel. Den mäßigen Schutz der Vordächer ausnutzend, war er die Straße entlanggesprintet, bis er ein pakistanisches Restaurant erreichte. Es war ziemlich voll dort, weil viele Menschen einen Unterschlupf suchten, aber es gelang ihm, einen kleinen, freien Tisch zu ergattern. Ein Blick in seinen Geldbeutel eröffnete ihm die Aussicht, daß er tatsächlich ausnahmsweise ein paar Pfund dabeihatte. Es reichte für ein Bier und einen Teller Reis mit Gemüse.
Das Essen schmeckte, seine nassen Klamotten trockneten, der Alkohol wärmte ihn. Er bestellte noch einen Schnaps, betrachtete ein wenig die Leute ringsum. Er schnappte Gesprächsfetzen auf, ohne ihnen jedoch wirklich zuzuhören. Er befand sich in einer friedlichen, zuversichtlichen Stimmung.
Während des Nachmittags hatte er einen Plan gefaßt. Er hatte sich mit Kevin und Patricia und mit dem deutschen Zweig der Familie beschäftigt. Nicht zum erstenmal, aber mit mehr Entschlossenheit und Mut als sonst. In England hatte Kevin McGowan keine Verwandten mehr. Aber nie hatte er versucht, herauszufinden, ob es Angehörige in Deutschland gab. Vielleicht lebte Kevins Sohn noch, außerdem mochte es irgendwelche entfernten Tanten, Onkel, Cousinen oder Cousins geben. Vielleicht hatte Kevin zu dem einen oder anderen von ihnen nach seiner Scheidung Kontakt gehalten. Vielleicht gab es einen Vertrauten, dem er sogar von Angela Bowen erzählt hatte. Vielleicht gab es Spuren, denen bislang niemand gefolgt war.
Er würde es jetzt tun. Er würde nach Deutschland reisen. Nach Hamburg. Dort hatten Kevin und Patricia gelebt. Dort nahm die Fährte ihren Anfang.
Er hatte ein bißchen Geld von seinem Synchronisieren. Mit der Miete war er im Rückstand, aber noch hatte sich der Hauseigentümer nicht bei ihm gemeldet, und Kummer war er von ihm ohnehin gewöhnt. Wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß seine Barschaft zur Zeit deshalb besser aussah als sonst, weil Geraldine so oft bei ihm war und alles finanzierte, was im Alltag anfiel: Essen und Trinken, die Stromrechnung, das Geld für die Tageszeitung. Auf ihre Kosten hatte er ziemlich sparsam gelebt in den letzten Wochen. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen, wie er fand. Er hatte sie, weiß Gott, nicht gebeten, sich bei ihm einzunisten.
Es war neun Uhr, als er das Lokal verließ. Es dämmerte, und der Regen strömte unvermindert heftig. Es würde in dieser Nacht nicht mehr aufhören, deshalb hatte es keinen Sinn, zu warten.
Der Gedanke an ein Taxi war verführerisch, gerade weil er ein wenig übriges Geld hatte, aber natürlich verbot er sich diese Möglichkeit sofort. Die Reise nach Deutschland hatte oberste Priorität.
Und so kam es, daß er wieder in der vollen U-Bahn stand und den widerlichen Geruch nasser Mäntel atmete, daß er wieder durch den Regen seinem Haus zustrebte, daß ihm wieder Enge und Häßlichkeit des Viertels ins Auge sprangen. Und daß er wieder das erleuchtete Fenster sah. Es war halb zehn inzwischen. Eigentlich hatte er gehofft, sie wäre gegangen, verärgert, weil er nicht zum Essen erschienen war und sich nicht einmal telefonisch gemeldet hatte. Wahrscheinlich, dachte er resigniert, sitzt die Schreckschraube Lucy wieder da. Die beiden kippen eine Flasche Sekt und haben gar nicht bemerkt, wieviel Zeit vergangen ist.
Obwohl im Inneren sanft gestimmt wegen des Alkohols und des Entschlusses, nach Deutschland zu reisen, merkte er doch, wie Aggressionen in ihm aufstiegen. Vielleicht auch deshalb, weil ihm schon jetzt klar war, wie sie zetern würde, wenn er ihr eröffnete, was er vorhatte.
Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloß, fiel ihn sofort beißender Qualm an, und er mußte husten. Rauch wogte durch das Zimmer, und Phillip begriff nicht sofort, aus welcher Quelle er stammte. Dann sah er Geraldine, die vor dem kleinen eisernen Ofen kniete, der sich ganz hinten im Zimmer unter die tief herabgezogene Dachschräge duckte.
Phillip hatte den Ofen noch nie benutzt. Er hatte schon im
Zimmer gestanden, als er einzog, und der Vermieter hatte gemeint, man könne ihn ruhig entfernen, da ja das ganze Haus, auch der Dachboden, mit Zentralheizung ausgestattet worden war. Phillip war das egal gewesen, und letztlich war der Ofen geblieben, wo er war: verrußt und verstaubt und ohne Funktion.
Und nun hatte sich Geraldine offensichtlich zu einem romantischen Kaminabend entschlossen, und das im Mai, und nur, weil es draußen regnete!
Was führt sie jetzt schon wieder im Schilde? fragte er sich genervt. Warum, verdammt, kann sie nicht einfach mal Ruhe geben?
Sie war dabei, zerknäulte Zeitungen in die Flammen zu schieben, wobei sie gar nicht zu bemerken schien, daß das Feuer ohnehin schon viel zu hoch schlug, daß der Rauch nicht richtig abzog und daß sie selbst schon hustete und keuchte. Obwohl er nasse, dreckige Spuren auf dem Teppich hinterließ, lief Phillip sogleich in Straßenschuhen zum Fenster und riß es auf.
«Willst du uns vergiften?«fragte er.»Was, zum Teufel, tust du denn da?«
Sie hatte ihn nicht kommen hören und schrak zusammen. Sie blickte auf. Er bemerkte Rußpartikel in ihrem Gesicht, auf ihrem weißen Pullover. Sie war sehr blaß. Ihre Hände zitterten.
«Ich verbrenne Zeitungen«, sagte sie.
«Wieso das denn? Wir haben da draußen einen Altpapiercontainer, und…«
Er sprach nicht weiter. Jetzt erst, langsam, fast in Zeitlupe, begriff er das Bild, das er vor sich sah: die Ordner, die um den Ofen herum lagen. Die große Küchenschere auf dem Boden. Die wenigen verbliebenen Zeitungen, zumeist schon in Fetzen gerissen. Reste von Fotos. Das leere Regal im Hintergrund. Geraldines fahles, unnatürlich bleiches Gesicht. Ihre Hände, deren Zittern sie nicht unter Kontrolle zu bekommen schien.
Er starrte sie an. Es kostete sie offensichtlich Kraft, aber sie senkte nicht den Blick. Doch er registrierte die Angst in ihren dunklen Augen.
«Was hast du getan?«fragte er, obwohl er es eigentlich schon wußte. Seine Stimme klang krächzend, und das lag nicht am Qualm.
Sie machte eine hilflose Bewegung mit beiden Armen.»Ich dachte…«
Sie verbesserte sich:»Ich denke, es ist besser für dich… für uns, wenn du dich befreist. Du bist ein Gefangener deiner Idee, und…«
Was sie in seiner Miene las, brachte sie dazu, den Satz nicht zu beenden.
«Du hättest es nie geschafft«, sagte sie statt dessen leise,»du hättest dich nie lösen können.«
Er war so fassungslos über das, was sie getan hatte, daß in einem völlig irrationalen Winkel seines Gehirns noch immer die Hoffnung existierte, er könne sich irren, und die Szene vor seinen Augen stelle in Wahrheit nicht das dar, was sie darzustellen schien.
«Mein Archiv«, sagte er langsam,»die Zeitungen… alles, was ich über meinen Vater zusammengetragen habe… sag nicht, daß du…«
Es war zu ungeheuerlich, um es auszusprechen. An diesen Punkt seines Lebens konnte sie nicht vorgedrungen sein, diesen Nerv konnte sie nicht durchtrennt haben, einen solchen Übergriff… nicht einmal sie…
Ihm wurde schwindlig, und er atmete tief. Durch das geöffnete Fenster strömte frische Regenluft in den verräucherten Raum und in seine Lungen. Das Zimmer hörte auf zu schwanken.
«Ich habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen, Phillip«, sagte Geraldine. Ihre Stimme gewann ein wenig an Festigkeit, aber ihr Gesicht war noch immer von gespenstischer Blässe.»Du hast dich in etwas hineingesteigert, das mir Angst macht und das vor allem deine Zukunft völlig blockiert. Du sitzt in Zeitungsarchiven herum, du legst Ordner an, du sammelst jeden noch so unbedeutenden Schnipsel… und du machst einen Lebensinhalt daraus. Aber diese verzweifelte Beschäftigung mit Kevin McGowan ist kein Lebensinhalt. Es ist nur ein… ein gigantischer Irrtum.«
«Mein Vater…«, brachte er hervor.
Sie sah ihm direkt in die Augen.»Er ist nicht dein Vater«, sagte sie,»er ist lediglich eine Lüge deiner Mutter, und ich will nicht, daß deswegen unser Leben…«
Während sie die Worte aussprach, begriff sie, daß sie zu weit gegangen war. Er konnte das an ihrem Gesicht sehen, dessen Ausdruck plötzlich von Entschlossenheit in Entsetzen umschlug. Sie verstummte jäh, schluckte und fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen.
«Ich meine…«, begann sie noch einmal, sprach aber nicht weiter, weil es nichts zu sagen gab.
Er hatte seine rechte Faust geballt, und sein Bedürfnis, sie in dieses weiße Gesicht mit den riesigen Augen und den weichen Lippen zu schmettern, war so stark, daß er meinte, ersticken zu müssen, wenn er es nicht täte. Es war der Wunsch, den Mund zum Schweigen zu bringen, der solche Ungeheuerlichkeiten gesagt hatte, es war der Wunsch, ihr Schmerzen zu verursachen, die so heftig waren wie die ihm zugefügten. Er wollte sie wimmern und sich krümmen sehen, zwischen den leeren Ordnern und den zerfetzten Zeitungen sollte sie sich winden, inmitten ihres zerstörerischen Werks. Er wollte auf sie einschlagen, bis sie genug hätte, bis sie aus dieser Wohnung kriechen würde und für alle Ewigkeit von dem Gedanken kuriert wäre, noch einmal einen Fuß in sein Leben zu setzen, ihn zu belagern, ihn zu bestimmen, ihm ihre Ideen und Wünsche und Vorstellungen aufzuzwingen. Er wollte Rache nehmen, er wollte sich befreien, er wollte…
«Bitte nicht«, flüsterte sie und rutschte auf den Knien bis an die Wand zurück,»bitte nicht!«
Seine Wut brauchte ein Ventil, andernfalls, davon war er überzeugt, würde er sterben. Blitzschnell und ohne wirklich nachzudenken, ergriff er die Küchenschere, mit der Geraldine gewütet hatte. Mit einem einzigen Schritt war er neben der kauernden jungen Frau, die entsetzt aufschrie.»Nein! O Gott, nein!«
Jetzt war es Todesangst, was ihre Augen erfüllte, das Grauen darüber, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben; sie verströmte diese Angst, atmete und seufzte sie. Er packte ihre Haare und zerrte ihren Kopf zurück, und sie schrie und schrie, während er mit ein paar wenigen brutalen Schnitten ihre prachtvolle, hüftlange Mähne abtrennte und die dicken, schwarzen Strähnen ins Zimmer schleuderte.
«Verschwinde«, sagte er leise,»verschwinde aus meinem Leben, und laß dich nie wieder blicken! Hörst du, nie wieder! Komm mir nie wieder unter die Augen!«
Sie zitterte und stieß leise wimmernde Laute aus und schien es kaum fassen zu können, daß sie noch am Leben war. Sie sah grotesk aus mit ihren krumm und schief abgesäbelten, kurzen Haaren, die wirr um ihren Kopf herum standen, sie sah so zerstört aus wie die Ordner und Zeitungen um sie herum, und dies erfüllte Phillip mit einer bösartigen Befriedigung.
«Ich sagte, raus!«wiederholte er.
Immer noch wimmernd, hob sie zaghaft die Hände und befühlte ihre Haare, das, was von ihrem einstmals schönsten Schmuck noch übrig war, und sie zuckte zusammen, als ihr klarwurde, was er getan hatte. Sie blickte an sich herab,
dorthin, wo sonst die langen, seidigen Strähnen über ihre Brust und ihren Bauch geflossen waren, und ihre Augen weiteten sich. Sie hob den Kopf, sah zu Phillip auf.
«Raus«, befahl er noch einmal.
«Du Schwein«, sagte sie leise.
Er nahm ihre Handtasche, die sie auf dem Schlafsofa abgestellt hatte, ging damit zur Tür, warf die Tasche ins Treppenhaus. Polternd hüpfte sie die Stufen hinab, ehe sie sich öffnete und ihren Inhalt klirrend und klappernd auf Stiegen und Absätzen verteilte.
«Ich will, daß du verschwindest«, sagte er tonlos.
Sie rappelte sich auf, kam schwankend auf die Füße. Sie sah aus wie eine Vogelscheuche. Zu Hause vor dem Spiegel würde sie der Schlag treffen, aber das war Phillip plötzlich egal. Er wollte nur noch, daß sie ging. Er wollte allein sein mit ihrem Werk der Zerstörung, wollte sehen, was er retten konnte. Ihm war übel von ihrer Anwesenheit. Er wollte sie nicht, er hatte sie nie gewollt. Und fast spürte er etwas wie Erleichterung, weil sie selbst ihm die Kraft gegeben hatte, endlich den Schlußstrich zu ziehen.
Ihre Angst wandelte sich in Haß, das konnte er sehen, aber auch das war ihm gleich. Wenn sie nur endlich durch seine Wohnungstür verschwände! Gern hätte er sie gepackt wie ihre Handtasche und einfach in hohem Bogen hinausgeschmissen. So mußte er warten. Sie schniefte.
«Du elendes Schwein«, sagte sie,»und dir habe ich alles geopfert!«
In einer anderen Situation hätte er gelacht und sie gefragt, was sie unter opfern verstand: den Umstand, daß sie sich über Jahre in sein Leben gedrängelt und ihn ununterbrochen mit ihrer Zukunftsplanung belästigt hatte? Daß sie nicht zugehört hatte, wenn er erklärte, daß es keine gemeinsame Zukunft gab? Daß sie sich ihn in den Kopf gesetzt hatte wie ein schönes Spielzeug, ein hübsches Kleid, ein tolles Auto, das man unbedingt haben mußte?
Aber er fragte nichts, er sagte nichts. Sie hatten viel zuviel geredet, viel zuviel Zeit verschwendet. Es ging nur noch um das Ende, um ein rasches Ende.
Sie sah ihn an, und dann ging sie an ihm vorbei, mit großen Schritten, zerrte ihren Mantel von der Stuhllehne, über den sie ihn gelegt hatte. Sie schlug laut krachend die Wohnungstür hinter sich zu. Er hörte ihre Schritte auf der Treppe. Sie würde ein paar Minuten brauchen, ihre verstreuten Utensilien zusammenzusuchen.
Sie war draußen!
Er sank vor dem Ofen auf den Boden und klaubte die Reste zusammen, die dem Feuer entgangen waren. Ein paar Bilder, ein paar Artikel, dazu ein paar Schnipsel, sinnlose Fragmente, die im Grunde keinen Wert mehr hatten. Er sah sich selbst vor seinem inneren Auge, wie er sich in vielen, endlosen Stunden durch Bibliotheken und Archive gegraben hatte, Fotokopien gemacht und Ausdrucke aus dem Internet angefertigt hatte. Ein Jahr Arbeit. Recherche. Sammeln wie ein Eichhörnchen, ordnen, sortieren, beschriften, anlegen. Zwölf Monate, in denen er unermüdlich am Bild seines Vaters gebaut hatte, so sorgfältig und ruhig wie ein Puzzlespieler. Zwölf Monate, die sie in vermutlich weniger als einer Stunde vernichtet hatte.
Zutiefst erschöpft stand er schließlich auf. Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war. Aus dem Treppenhaus klang kein Laut mehr.
Er ging hinüber in das winzige Kabuff, das sich Bad nannte, zwängte sich in die billige Plastik-Duschkabine, die der Eigentümer der Wohnung vor Jahren voller Stolz hatte einbauen lassen. Klo auf dem Gang, aber Dusche in der Wohnung. Besser als nichts, hatte Phillip damals gedacht.
Er duschte eiskalt, reckte sein Gesicht dem strömenden Wasser entgegen, merkte, wie sich unter dem schmerzenden Prickeln der Kälte wieder Leben in seinem Körper regte. Wie sein Gehirn aus der Dumpfheit erwachte, sein Verstand die Gegenwart wieder wahrzunehmen begann. Er ging in das Zimmer zurück. Das Feuer im Ofen war erloschen, draußen hatte sich schwarze Nacht über die Straße gesenkt. Feuchte, kühle Luft wogte durch das Fenster herein, vermischte sich mit dem Geruch nach kaltem Rauch. Büschel langer, schwarzer Haare lagen mitten auf dem Teppich.
Phillip starrte sie an. Nun, da der Schock wich, begann er zu begreifen, was er getan hatte. Er hatte Geraldine aus seiner Wohnung und aus seinem Leben geworfen, und er hatte es so nachdrücklich getan, daß ihr klargeworden sein mußte, daß es nun nie wieder ein Zurück geben konnte. Er hatte ihr zudem etwas angetan, was vielleicht mit zu dem Schlimmsten gehörte, was ein Mann einer Frau antun konnte: Er hatte sie gepackt und festgehalten und ihr die Haare abgeschnitten. Abgesehen davon, daß ihre Haare ihr ganzer Stolz gewesen waren, daß sie sie immer mit besonderer Hingabe gepflegt hatte und daß sie auch gerade in ihrem Beruf ihr besonderes Kapital dargestellt hatten, war dies auch ein Übergriff gewesen, der sie tief gedemütigt und gekränkt haben mußte. Eine grausame Verletzung der Grenzen, die zwischen Menschen eingehalten werden mußten, weil ihr Ignorieren unerträglich wäre. Was er getan hatte, kam gleich nach einer Vergewaltigung. Vielleicht empfand es Geraldine sogar als ebenbürtig.
Plötzlich unangenehm frierend, schloß er das Fenster. Er mußte überlegen. Es war nicht so, daß er sein Tun bereut hätte, denn es hatte zumindest Klarheit in die sogenannte Beziehung zwischen ihm und Geraldine gebracht, und nun, da es passiert war, ging ihm erst wirklich auf, wie unerträglich die letzten Wochen für ihn gewesen waren, wie unaufschiebbar das Ende. Aber erstmals an diesem Abend dämmerten ihm die Konsequenzen.
Sie würde zur Polizei gehen. Oder direkt jenen Superintendenten Sowieso — er hatte den Namen vergessen — in Yorkshire anrufen. Sie würde ihre Aussage zurückziehen und ihm damit das Alibi nehmen. Sie würde berichten, wie heftig er sie bedrängt hatte, ihre Angaben in seinem Sinn zu machen, und er würde verdächtiger dastehen denn je.
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach halb elf. Es mußte etwa eine Stunde her sein, seitdem Geraldine die Wohnung verlassen hatte.
Im Prinzip konnten hier jeden Moment die Bullen auftauchen.
Es blieb ihm keine Zeit, das Für und Wider abzuwägen: Machte er sich durch Flucht noch verdächtiger? Wäre es vernünftiger zu bleiben? Würde Geraldine überhaupt zur Polizei gehen? Oder morgen wieder heulend bei ihm auf der Matte stehen und eine Aussprache verlangen? Egal. Wenn er nicht schnell verschwand, konnte es ihm passieren, daß er den Rest der Nacht in Polizeigewahrsam würde verbringen müssen.
Er warf das Handtuch, in das er noch immer gehüllt war, in eine Ecke, schlüpfte in frische Wäsche, Jeans, ein graues Sweatshirt. Er zog seine Segeltuchtasche aus dem Schrank, warf ein paar Sachen zum Wechseln hinein, dazu seine Zahnbürste, Zahnpasta, das Portemonnaie mit seinen mageren Ersparnissen, die eigentlich für die Deutschlandreise gedacht gewesen waren. Er hatte keine Ahnung, wohin er wollte. Es war nur wichtig, zunächst einmal unterzutauchen.
Alles war sehr schnell gegangen. Um zehn vor elf verließ er die Wohnung. Er trug Turnschuhe und über dem Sweatshirt eine verschrammte Lederjacke. Er fand, daß er sehr unauffällig aussah. Aber wenn sie nach ihm suchen würden, war er nirgendwo sicher. Nicht im Zug, nicht im Bus, in keiner Pension.
Jetzt nicht darüber nachdenken, ermahnte er sich, erst mal sehen, daß du wegkommst.
Wie immer war das Treppenhaus nur spärlich beleuchtet, dennoch entdeckte er im trüben Schein einer der wenigen intakten Glühbirnen einen Lippenstift auf einer Stufe und einen Tampon auf einer anderen. Zweifellos Utensilien aus Geraldines Handtasche, die sie übersehen hatte.
Er huschte hinunter, trat auf die Straße. Es regnete noch immer, keine Menschenseele war zu sehen. Er atmete leichter. In den letzten Minuten war ihm das Haus wie eine Falle vorgekommen, dort oben in seiner Mansarde hätte es für ihn keinen Fluchtweg gegeben. Aber jetzt war er draußen, und noch war die Polizei nicht zu sehen.
In normalem — in unauffälligem — Tempo schlug er den Weg in Richtung U-Bahn-Station ein.
Sie war fast erleichtert, ihn so zu sehen. Mitten in der Nacht, angetrunken, nach Schweiß riechend, mit ungekämmten Haaren. Er schien elend und verzweifelt und haltlos und erfüllte damit die Vorstellung, die man sich nun einmal machte von einem Mann, dessen gesamte Familie vier Wochen zuvor in einem abscheulichen Blutbad gewaltsam ausgelöscht worden war. Der gutaussehende, um Jahre verjüngte Mann, den er noch zwei Abende zuvor abgegeben hatte, hatte Jessica mit Grauen erfüllt. Dieser hier beschwichtigte den furchtbaren Gedanken eines Verdachts, der tief in ihrem Inneren leise keimte und von dem sie ständig fürchtete, er werde sich irgendwann nicht mehr verdrängen lassen.
Nun begriff sie: Für eine vielleicht sehr lange Zeit würde Leon wie ein Grashalm im Wind schwanken. Zwischen euphorischen Neuanfängen und tiefstem Katzenjammer, zwischen dem Gefühl, von einer Last befreit worden zu sein, und dem Bewußtsein einen grausamen Verlust erlitten zu haben. Es war seine Art, die Zeit danach zu leben.
Sprach es ihn frei von jeglichem Verdacht?
So wenig wahrscheinlich, wie ihn jedes andere Verhalten zwangsläufig hätte verdächtig erscheinen lassen müssen. Im Grunde gab es keinerlei Anhaltspunkte, die für die eine oder die andere Möglichkeit sprachen. Es gab keine Richtlinien für das Verhalten eines Mannes, dessen Familie ermordet worden war.
Jessica hatte gezögert, die Haustür zu öffnen. Sie war wieder spät ins Bett gegangen, es war fast ein Uhr gewesen, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie hatte einschlafen können. Das Klingeln hatte sie geweckt, und im ersten Moment hatte sie geglaubt, es sei der Wecker. Doch dann klingelte es erneut, und es kam eindeutig von der Haustür, und außerdem war es kurz nach zwei Uhr. Nicht die Zeit für morgendliches Aufstehen.
Barney, der in seinem Körbchen neben dem Bett lag, hatte den Kopf gehoben und knurrte leise. Nun stand er auf und lief eilig aus dem Zimmer. Jessica konnte das Tappen seiner Pfoten auf der Treppe hören. Sie erhob sich und ging ebenfalls nach unten.
Es mochte gefährlich sein, nachts um zwei Uhr die Haustür zu öffnen, aber sie sagte sich, daß Einbrecher wohl kaum klingeln würden. Außerdem war Barney wieder ein ganzes Stück gewachsen und würde durchaus schon einen gewissen Schutz darstellen.
Leon trat ins Haus. Er roch nach Alkohol, war aber nicht so betrunken, daß er geschwankt oder gelallt hätte.
«Ich war noch in einer Kneipe«, erklärte er.»Habe ich dich geweckt?«
«Es ist zwei Uhr nachts!«
«Oh!«
Er schien nicht wirklich bestürzt, hatte wohl aber eine Ahnung, daß man ein wenig Bedauern zeigen mußte, wenn man mitten in der Nacht bei einem anderen Menschen ins Haus platzte.»So spät? Das wußte ich gar nicht.«
Er sah elend aus, hatte noch stärker abgenommen, und die tiefen Schatten unter seinen Augen verrieten, daß er wenig schlief und viel grübelte.
«Leon«, sagte Jessica vorsichtig,»ich hatte dir doch neulich bei meinem Besuch erklärt, daß…«
Er war immerhin nüchtern genug, sofort zu wissen, wovon sie sprach. Er machte eine abwehrende Handbewegung, die nur ansatzweise fahrig ausfiel.»Das habe ich begriffen. Wirklich, Jessica, ich habe begriffen. Genauer gesagt, ich habe es nicht nur begriffen, ich respektiere deine Haltung auch. Voll und ganz. Was mich betrifft, so gibt es keinerlei Verstimmung zwischen uns!«
«Schön«, sagte Jessica,»was mich betrifft auch nicht.«
Nachdem dies geklärt war, sahen sie einander etwas unschlüssig an.
Schließlich senkte Leon den Kopf und sagte leise:»Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte.«
«Du wolltest nicht nach Hause?«
«Es ist…, es ist so still dort. So leer. Irgendwie…«, er hob hilflos die Schultern,»irgendwie habe ich das Alleinsein noch nicht gelernt.«
Sie wußte, daß sie ihn nicht fortschicken konnte.
«Geh ins Wohnzimmer«, sagte sie,»ich mache einen Tee.«
«Hast du Whisky?«
«Ich glaube, Tee ist jetzt besser.«
Er nickte ergeben.
«Ich will dir aber keine Umstände machen«, sagte er.»Sicher hältst du mein Benehmen für völlig unmöglich.«
Sie schüttelte den Kopf.»Angesichts dessen, was passiert ist, halte ich es für ziemlich normal«, meinte sie.
Während er ins Wohnzimmer ging, machte sie in der Küche Wasser heiß, holte zwei Becher aus dem Schrank, hängte Teebeutel hinein, stellte alles zusammen mit einer Zuckerdose auf ein Tablett. Sie spürte keine Müdigkeit. Ihr Schlaf war oberflächlich gewesen. Wie immer in der letzten Zeit.
Leon saß zusammengekauert auf dem Sofa. Sie stellte seinen Tee vor ihn hin.
«Laß ihn noch eine Weile ziehen«, sagte sie.
Er sah sie an. Ihr wurde bewußt, daß sie wenig anhatte, nur ein übergroßes T-Shirt von Alexander, das knapp ihre
Oberschenkel bedeckte. Sie hätte sich ihren Morgenmantel holen müssen, aber die Hitze des vergangenen Tages staute sich noch im Raum, und sie fühlte sich leicht bekleidet wohler.
Was ist schon dabei, dachte sie.
«Es gibt Tage«, sagte Leon,»da denke ich, daß ich alles im Griff habe. Dann plötzlich bricht alles wieder zusammen. Und dann merke ich, daß es nur eine Illusion war. Daß der Schmerz sich schlafen gelegt hatte und ich so dumm war zu denken, er sei gegangen. Ich wußte das vorher nicht. Wußtest du das?«
«Was?«
«Daß Schmerz Schlaf braucht. Daß er einen gar nicht dauernd quälen kann. Ab und zu wird er richtig müde. Und dann denkt man: Er ist weg. Er wird nicht wiederkommen. Das Leben ist neu. Aber es ist ein Irrtum. Einfach nur ein gigantischer Irrtum.«
«Trotzdem wird der Schmerz weniger. Ganz gleich, wie oft er sich schlafen legt, er verliert dennoch in seinem wilden Wüten stetig an Kraft. Fast unmerklich zuerst. Aber es geschieht. Und irgendwann ist er verbraucht.«
«Ich wollte gestern nachmittag schon zu dir kommen. Das Alleinsein war… egal. Ich dachte nur, nach allem, was war, wäre es dir peinlich, wenn ich hier aufkreuze. Ich bin dann in die Kneipe gegangen. Da waren wenigstens Menschen. Aber irgendwann ist man der letzte Gast. Dann ist das Alleinsein wieder da. Wie der Schmerz. Es taucht auf und sagt: Oh, hallo, dachtest du etwa schon, ich hätte dich allein gelassen?«
Leon lachte.»Hübsch, nicht? Das Alleinsein läßt dich allein. Aber es ist in Wahrheit eine verdammt treue Seele. Es haut nicht so einfach ab.«
«Leon«, sagte Jessica sanft,»du solltest jetzt aufhören nachzudenken. Du siehst unglaublich schlecht aus. Du brauchst dringend Schlaf. Ich könnte dir ein leichtes Schlafmittel geben, du streckst dich hier auf dem Sofa aus und schläfst endlich mal
zwölf Stunden hintereinander. Du wirst hinterher besser dran sein.«
«Ich will nicht schlafen. Ich will mit dir reden.«
Sie seufzte.»Mit allem, was du sagst, quälst du dich nur. Das ist nicht gut.«
Er schüttelte den Kopf.»Ich will nicht über meine… Familie reden. Über Patricia und die Kinder. Das halte ich manchmal aus und manchmal nicht. Heute halte ich es nicht aus.«
«Leon…«
Sie hatte Angst vor nahezu allem, was er sagen könnte. Sie hatte Angst vor Selbstanklagen, Situationsanalysen. Sie hatte Angst vor seinem Schmerz, weil es auch ihr Schmerz war, den sie sich so mühsam vom Leibe hielt und der sich Leons Worte als Hintertür würde bedienen können, um sich heimtückisch an sie heranzuschleichen. Sie bereute es, ihn in ihr Haus gelassen zu haben. Sie wollte allein sein. Sie wollte die Chance haben, ihren eigenen Scherbenhaufen zu kitten. Sie wollte ihre Scherben nicht mit denen eines anderen Menschen vermischen.
«Ich will dir von Marc erzählen«, sagte er.