Es war nach zehn Uhr abends und dunkle Nacht, als Cathérine, Tristan l'Hermite und ihre Eskorte am Ende einer ermüdenden Reise vor Montsalvy ankamen. Das freundliche Sommerwetter hatte den Schlamm der Straßen ausgetrocknet, ihn aber auch in ebensoviel Staub verwandelt. Glücklicherweise hatte es den Reisenden auch ermöglicht, die Nächte unter freiem Himmel zu verbringen und täglich lange Wegstrecken zurückzulegen. Man hatte reichlich Verpflegung mitgeführt, und die Aufenthalte in Herbergen waren selten gewesen. Die meisten von ihnen hatten ohnehin nicht viel zu bieten.
Je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, desto mehr schien Cathérines Ungeduld zu wachsen, und gleichzeitig verdüsterte sich ihre Stimmung. Sie wurde immer einsilbiger und ritt ganze Stunden lang, ohne ein Wort zu sprechen, die Augen auf den Weg vor ihr gerichtet, von fiebriger Eile besessen. Tristan beobachtete sie insgeheim, ohne freilich zu wagen, ihr Fragen zu stellen. Sie forcierte das Tempo soweit wie möglich und zeigte sich ärgerlich, wenn eine Rast eingelegt werden mußte. Aber die Pferde brauchten nun einmal Atempausen.
Indes, als man Aurillac passiert hatte, ließ die große Hast unversehens nach. Cathérine ließ das Tempo mehr und mehr verlangsamen, als fürchtete sie, sich den Bergen zu nähern, in denen Arnaud immer noch lebte. Und als die Wälle und Türme von Montsalvy auf der Hochebene auftauchten wie eine dunkle, der Nacht aufgesetzte Krone, zügelte die junge Frau ihr Pferd und hielt einen Augenblick an, mit schwerem Herzen diese Landschaft betrachtend, die kennenzulernen sie allzuwenig Zeit gehabt hatte. Tristan lenkte beunruhigt sein Pferd neben sie.
»Dame Cathérine, was habt Ihr?«
»Ich weiß nicht … Freund Tristan, mir scheint, ich habe plötzlich Angst.«
»Wovor?«
»Ich weiß nicht!« wiederholte sie mit müder Stimme. »Es ist wie … eine Vorahnung.«
Niemals hatte sie etwas Ähnliches wie diese erstickende Furcht vor dem empfunden, was sie hinter diesen stummen Mauern erwartete. Sie versuchte, vernünftig zu sein. Da drüben waren Michel, Sara, ohne Zweifel auch Gauthier. Aber selbst das Bild ihres kleinen Sohns vermochte das bedrückende Gefühl in ihrer Brust nicht zu lösen. Sie warf Tristan einen tränenfeuchten Blick zu.
»Reiten wir weiter«, sagte sie schließlich. »Die Männer sind müde!«
»Und Ihr auch!« brummte der Flame. »Vorwärts, Leute!«
Die Stadttore waren zu dieser späten Stunde geschlossen, aber Tristan setzte das Horn, das an seinem Gürtel hing, an den Mund und stieß dreimal hinein. Nach einem Weilchen beugte sich ein Mann mit einer Laterne über die Zinne.
»Wer ist da?«
»Öffnet!« rief Tristan. »Es ist die edle Dame Cathérine de Montsalvy, die vom Hofe zurückkehrt, öffnet! Im Namen des Königs!«
Der Wächter stieß einen unartikulierten Schrei aus. Das Licht verschwand, aber einige Augenblicke später öffnete sich knarrend das Tor der kleinen befestigten Stadt. Der Mann mit der Laterne erschien wieder, die Kappe in der Hand, und trat bis unter die Köpfe der Pferde heran, seine Laterne hebend.
»Wahrhaftig, es ist unsere Dame!« rief er freudig. »Gott segne sie, daß sie zu so gelegener Zeit ankommt. Man hat nach dem Amtmann geschickt, um sie würdig zu empfangen.«
In der Tat kam auf der einzigen schmalen Gasse eine schwankende Gestalt eilends angelaufen. Cathérine, plötzlich erleichtert, erkannte den alten Saturnin. Er kam mit der ganzen Schnelligkeit, die seine alten Beine ihm erlaubten, und rief:
»Dame Cathérine! Dame Cathérine kehrt zu uns zurück! Gott sei gelobt! Willkommen unserer Herrin!«
Er war ganz außer Atem. Bewegt und ein wenig belustigt, wollte Cathérine absteigen, um ihn zu begrüßen, aber er warf sich buchstäblich gegen das Pferd.
»Bleibt im Sattel, Herrin! Der alte Saturnin will Euch zur Abtei führen, wie er Euch damals zu seiner Meierei geführt hat.«
»Ich bin so glücklich, Euch wiederzusehen, Saturnin … und Montsalvy wiederzusehen!«
»Nicht so glücklich wie Montsalvy, Euch wiederzusehen, gnädige Dame. Seht!«
Wirklich öffneten sich wie durch ein Wunder sämtliche Fenster und Türen, Köpfe lugten heraus, Männer und Frauen traten über die Schwellen, Fackeln wurden geschwenkt. Im Augenblick war das Gäßchen festlich erleuchtet, während von überallher freudige Stimmen riefen:
»Heil! Heil unserer Dame, die zu uns zurückkehrt!«
»Ich beneide Euch«, murmelte Tristan. »Ein solcher Empfang muß ungeheuer labend sein.«
»Das ist wahr! So habe ich ihn nicht erwartet, und ich bin sehr glücklich darüber … sehr glücklich!«
Sie hatte Tränen in den Augen. Saturnin, hochaufgerichtet vor Stolz, hatte die Zügel ihres Pferdes ergriffen und führte sie langsam die Straßen entlang, zwischen zwei Reihen strahlender, von Freude und Fackelschein geröteter Gesichter hindurch, überall sah man nur leuchtende Augen, offene Münder, die Freudenrufe ausstießen.
»Was fürchtet Ihr noch?« flüsterte Tristan. »Die ganze Welt betet Euch hier an!«
»Vielleicht. Und ich weiß noch immer nicht, was ich fürchtete. Es ist wunderbar! Es ist …«
Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Sie war vor dem Portal der Abtei angelangt, das ebenfalls weit geöffnet war. Auf der Schwelle erhob sich die riesige Gestalt Gauthiers. Cathérine erwartete, daß er bei ihrem Anblick auf sie zueilen würde, wie Saturnin es getan hatte, aber er rührte sich nicht. Statt dessen verschränkte er die Arme, als wollte er ihr den Eintritt verwehren. Sein Gesicht hatte die Unbeweglichkeit von Granit. Kein Lächeln erhellte es. Und als Cathérine dem eisigen Blick seiner grauen Augen begegnete, konnte sie sich eines Fröstelns nicht erwehren.
Von Saturnin gestützt, stieg sie vom Pferd und ging auf den Normannen zu. Er verharrte bewegungslos, ohne ihr auch nur einen Schritt entgegenzugehen. Sie versuchte zu lächeln.
»Gauthier!« rief sie. »Welche Freude, dich wiederzusehen!«
Doch aus dem verkniffenen Mund kam kein Wort des Willkommens. Nichts als ein trockenes:
»Seid Ihr allein?«
»Wie?« fragte sie verdutzt.
»Ich habe gefragt, ob Ihr allein seid«, wiederholte der Normanne ungerührt. »Ist er nicht bei Euch, dieser schöne blonde Galan, den Ihr heiraten wollt? Zweifellos ist er ein wenig zurückgeblieben, um Euch allein Einzug halten zu lassen!«
Cathérine errötete jählings, mehr aus tiefer Kränkung als aus Zorn. Die Unverschämtheit Gauthiers verwirrte sie. Er wagte es, sie brutal vor allen Leuten anzugreifen und Rechenschaft von ihr zu fordern! Wenn sie in den Augen ihrer Bauern nicht das Gesicht verlieren wollte, mußte sie zurückschlagen. Ihr kleines Kinn vorschiebend, schritt sie entschlossen dem Portal zu.
»Platz!« sagte sie trocken. »Wer hat dir erlaubt, mir Fragen zu stellen?«
Gauthier rührte sich nicht von der Stelle. Er versperrte weiter den Eingang mit seiner riesigen Gestalt. Tristan runzelte die Stirn, legte die Hand auf den Degen. Aber Cathérine hielt ihn zurück.
»Laßt, Freund Tristan. Das ist meine Sache! Also«, befahl sie scharf, »laß mich durch. Empfängt man so eine Lehnsherrin, die in ihr Haus zurückkehrt?«
»Das ist nicht Euer Haus, sondern das des Abtes! Und was die Herrin betrifft, Dame Cathérine, seid Ihr dieses Titels noch würdig?«
»Welche Anmaßung!« rief Cathérine außer sich. »Bin ich dir Rechenschaft schuldig! Ich will meine Schwiegermutter sehen!«
Wie mit Bedauern trat Gauthier zur Seite. Cathérine schritt hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei und betrat den Hof der Abtei. Kalt rief er ihr nach:
»Beeilt Euch! Denn sie wird nicht mehr lange leben!«
Wie von einem Peitschenhieb getroffen, blieb Cathérine stehen. Einen Moment schien sie wie erstarrt, dann wandte sie sich langsam um und warf dem Normannen einen entsetzten Blick zu.
»Wie?« stammelte sie. »Was hast du gesagt?«
»Daß sie im Sterben liegt! Aber das wird Euch ja nicht sehr berühren! Ein weiteres hinderliches Band, das nun wegfallen wird!«
»Ich weiß nicht, wer du bist, Freund«, warf Tristan wütend ein, »aber du hast ein sonderbares Benehmen! Wieso diese Grobheit deiner Herrin gegenüber?«
»Wer seid Ihr?« fragte Gauthier verächtlich.
»Tristan l'Hermite, Stallmeister des Herrn Konnetabel, vom König beauftragt, die Gräfin de Montsalvy nach Hause zu geleiten und darüber zu wachen, daß ihr nichts zustößt. Zufrieden?«
Gauthier nickte. Aus ihrer Eisenklammer nahm er eine Fackel, die dicht unter dem Kreuzgewölbe brannte, und ging schweigend den Reisenden zum Gästehaus der Abtei voraus. Nach der Aufregung und dem Gelärm des Dorfes war die Stille des Klosters auffallend. Die Mönche hatten sich bereits in ihre Zellen zurückgezogen, der Abt war unsichtbar. Nur einige Kerzen brannten hinter den kleinen Fenstern des Gästehauses. Auf der Schwelle stand niemand, und Cathérine hielt Gauthier plötzlich an, indem sie seinen Arm ergriff:
»Und Sara? Ist sie hier?«
Er sah sie mit überraschten Augen an.
»Warum sollte sie hier sein? Sie hat Euch nie verlassen …«
»Doch, sie hat mich verlassen«, entgegnete Cathérine betrübt. »Sie hat mir gesagt, sie kehre nach Montsalvy zurück. Mehr weiß ich nicht, auch unterwegs habe ich sie nicht getroffen.«
Gauthier antwortete nicht sofort. Seine grauen Augen hefteten sich für einen Moment prüfend auf die Cathérines. Er hob die breiten Schultern und murmelte mit bitterer Ironie:
»Sie auch! Dame Cathérine, wie konntet Ihr uns das alles antun?«
Im höchsten Grad erbittert, schrie sie fast:
»Was antun? Was habe ich denn getan, um euer aller Mißbilligung zu verdienen? Was werft ihr mir vor?«
»Uns diesen Mann geschickt zu haben!« erwiderte Gauthier schroff. »Ihr hättet Euch ihm hingeben können, wenn Euch das richtig erschien, ohne ihn herzuschicken und ihn mit seiner angeblichen großen Liebe hier paradieren zu lassen! Woran, glaubt Ihr, stirbt die Dame de Montsalvy … in Wahrheit? An den vertraulichen Mitteilungen Eures Geliebten!«
»Er ist nicht mein Geliebter!« wandte Cathérine wütend ein.
»Eures künftigen Gatten also! Das ist dasselbe.«
Mit beiden Händen umklammerte Cathérine die riesige Hand des Normannen. Ein unwiderstehlicher Drang, sich zu rechtfertigen, erfüllte sie. Sie konnte es einfach nicht mehr aushalten, noch länger unter dieser Anklage zu stehen.
»Hör zu, Gauthier. Wirst du mir glauben, wenn ich dir versichere, daß er es nicht und niemals sein wird, daß ich ihn aller Wahrscheinlichkeit nach niemals wiedersehen werde?«
Zunächst antwortete der Riese nicht. Er schien eher in den Augen Cathérines nach einer Antwort zu suchen, doch nach und nach schwand die Härte aus seinem Gesicht. Spontan nahm er beide Hände der jungen Frau in die seinen.
»Ja«, sagte er mit neuer Wärme, »ich werde Euch glauben! Und wie gern! Jetzt kommt, kommt schnell und sagt ihr, daß es nicht wahr ist, daß Ihr nie daran dachtet, Messire Arnaud zu ersetzen! Sie hat so sehr darunter gelitten!«
Tristan l'Hermite beobachtete sie erstaunt. Offensichtlich begriff er nichts von dem, was sich vor ihm abspielte. Daß Cathérine, eine große Dame, sich dazu hergab, sich vor diesem Bauernlümmel zu rechtfertigen, ging nun wirklich über sein Verständnis! Cathérine bemerkte es, wandte sich ihm mit der Andeutung eines Lächelns zu und sagte kurz:
»Ihr könnt nicht verstehen, Freund Tristan! Ich werde es Euch erklären!«
Er verneigte sich, ohne zu antworten, dachte, daß er bis auf weiteres zweifellos überflüssig sei, und fragte, ob man ihn freundlicherweise an einen Ort führen würde, wo er seine Männer für die Nacht unterbringen und sich selbst ausruhen könne. Gauthier wies auf einen dicken, schläfrigen Mönch, der ein paar Schritte hinter ihnen gähnte, als ob er sich gleich die Kinnlade ausrenken würde.
»Das ist Bruder Eusebius, der Pförtner, der sich um Euch kümmern wird. Die Tiere kommen in den Stall, die Männer finden ein Strohlager in einer Scheune, und Ihr bekommt eine Zelle.«
Wieder verneigte sich Tristan vor Cathérine und folgte dann Bruder Eusebius an der Spitze seiner Männer. Die junge Frau schritt nicht ohne Bewegung über die Schwelle dieses Gästehauses, das sie vor so vielen Monaten mit Arnaud und Bernard verlassen hatte, um nach Carlat zu gehen und dort das zu finden, was sie für das Glück hielt. Aber mit aller Kraft verjagte sie diese niederdrückenden Bilder, denn das, was sie jetzt erwartete, erforderte ihren ganzen Mut.
In der kleinen Halle mit ihrer niedrigen, gewölbten Decke blickte sie Gauthier an:
»Mein Sohn?«
»Er schläft zu dieser Stunde.«
»Laß mich ihn sehen! Es ist so lange her!«
Ein kurzes Lächeln spielte um Gauthiers Lippen, und er nahm Cathérine bei der Hand.
»Kommt! Das wird Euch Mut machen.«
Er zog sie in ein kleines dunkles Zimmer, von dem eine offene Tür in einen anderen, schwach erleuchteten Raum führte, in dem Cathérine Donatienne, die Frau Saturnins, bemerkte. Sie hockte auf einem Bänkchen und schien eingeschlafen zu sein. Der Schein der Kerze zuckte über die verbrauchten Züge der alten Frau und verriet ihre Müdigkeit. Gauthier zeigte mit einer Bewegung auf sie und murmelte:
»Seit drei Nächten schon wacht sie über unsere Dame. Gewöhnlich schläft sie neben dem kleinen Herrn. Sie ist eingeschlafen …«
Während er sprach, nahm er eine Kerze von einer Truhe, ging leise zu einer draußen neben der Tür brennenden Fackel und zündete die Kerze an der rauchigen Flamme an. Dann kam er zurück, begab sich ans Kopfende des Bettes, in dem der kleine Michel schlief, und hob das zitternde Licht über den Kopf des Kindes. In größtem Erstaunen ließ Cathérine sich auf die Knie fallen und faltete die Hände wie vor dem Tabernakel.
»Mein Gott!« stammelte sie. »Wie schön er ist! Und … wie er ihm schon ähnlich sieht!« fügte sie mit heiserer Stimme hinzu.
Es stimmte. Unter dem dichten Gewirr seiner zerzausten goldenen Locken hatte der kleine Michel schon das klare Profil seines Vaters. Seine runden, rosigen Wangen, auf die die gebogenen Wimpern einen zarten Schatten warfen, waren noch ganz von kindlicher Süße, aber das Naschen hatte etwas Stolzes an sich, und eine eigenwillige Falte zeichnete den fest geschlossenen Mund.
Cathérines Herz schmolz vor Zärtlichkeit, doch sie wagte nicht, sich über den Kleinen zu beugen. Er sah wie ein schlafendes Engelchen aus, und sie fürchtete, daß die geringste Bewegung ihn wecken würde.!
Gauthier, der das Kind gleichfalls mit einer Art Stolz betrachtete, bemerkte es.
»Ihr könnt ihn umarmen«, sagte er lächelnd. »Wenn er einmal schläft, kann neben ihm der Blitz einschlagen. Er zuckt nicht mit der Wimper.«
Darauf beugte sie sich hinunter und drückte die Lippen mit Entzücken auf die kleine, ein wenig feuchte Stirn. Tatsächlich wachte Michel nicht auf, aber ein Lächeln huschte über seinen kleinen, fest zusammengepreßten Mund.
»Mein Kleiner!« flüsterte Cathérine, von Liebe erstickt. »Mein ganz Kleiner!«
Sie hätte ohne weiteres die ganze Nacht neben dem Bett ihres Sohnes kniend und seinen Schlaf bewachend zugebracht, doch aus dem anschließenden Zimmer drang ein Röcheln. Donatienne fuhr aus ihrem Schlummer auf, hastete in den hinteren Teil des Raums und war nicht mehr zu sehen.
»Dame Isabelle muß aufgewacht sein!« flüsterte Gauthier.
»Ich gehe hinein!« sagte Cathérine.
Jetzt drang ein erschütterndes Atemgeräusch, von trockenem Husten unterbrochen, zu ihr heraus. Rasch betrat sie das Zimmer, das kaum größer als eine Mönchszelle und auch kaum weniger kahl war. Auf dem schmalen Bett in einer Ecke lag, sehr abgemagert, Isabelle de Montsalvy. Donatienne beugte sich über sie und versuchte, ihr etwas dampfenden Heilkräutertee aus einer Schale einzuflößen, die sie von einem kleinen Ölkocher genommen hatte.
Aber die alte Frau war unfähig, auch nur einen Schluck hinunterzubringen. Wie sie gealtert und seit ihrer Abreise geschrumpft war, und wie zerbrechlich sie jetzt schien! Ihr Körper wirkte ätherisch, ohne jede Substanz, und im fahlen, völlig blutlosen Gesicht sah man nur noch den eingefallenen Mund, der nach Luft rang, und die zu groß gewordenen Augen.
Donatienne wandte sich mit einem entmutigten Seufzer ab, um die Schale wieder zurückzustellen. Und jetzt sah sie Cathérine. Ihre müden Augen begannen zu strahlen, vor Freude und Tränen gleichermaßen.
»Dame Cathérine!« stammelte sie. »Gott sei gelobt! Ihr kommt zur rechten Zeit!«
Rasch legte Cathérine einen Finger auf die Lippen, um der alten Frau Schweigen zu gebieten, doch diese schüttelte traurig den Kopf.
»Oh, wir können sprechen! Sie hört nichts! Das Fieber ist so stark, daß sie nur im Delirium spricht!«
Tatsächlich drangen einige unzusammenhängende Worte über die pergamentenen Lippen der Kranken, unter denen Cathérine erschüttert ihren und Arnauds Namen unterscheiden konnte … Der heftige Hustenanfall hatte allmählich nachgelassen, doch die Atemzüge blieben schwer und röchelnd. Der Ausdruck der Augen war ein einziges Flehen. In ihrem Delirium schien Isabelle entsetzlich zu leiden, und Cathérine spürte, daß sie der Grund dieses Leidens war.
Sacht nahm sie die brennend heiße Hand, die sich in den rauhen Stoff der Decke krampfte, und drückte ihre Lippen darauf. Dann legte sie sie an ihre Wange, wie sie es früher so oft getan hatte.
»Mutter«, bat sie leise, »Mutter, hört mich! Seht mich an! Ich bin da … bei Euch! Ich bin's, Eure Tochter Cathérine … Cathérine!«
Etwas schien sich in dem leeren, schmerzlichen Blick zu beleben. Der Mund schloß sich, öffnete sich wieder und hauchte:
»Cathérine!«
»Ja!« sagte die junge Frau beharrlich. »Ich bin's … Ich bin da!«
Die Augen drehten sich in ihren Höhlen, ihr Blick schien etwas zu suchen, glitt zu der jungen Frau, die sich über sie beugte, um die abgezehrten Finger zu drücken.
»Es hat keinen Zweck, Dame Cathérine«, murmelte Donatienne betrübt. »Sie ist nicht bei Bewußtsein.«
»Aber doch! Sie kommt zu sich! Mutter! Seht mich an! Erkennt Ihr mich?«
Sie nahm ihren ganzen Willen zusammen, völlig darauf konzentriert, den schweifenden Geist der Kranken zu erreichen, zu fesseln. Sie wünschte so sehr, ihre Kräfte auf diesen erschöpften Körper übertragen zu können, daß sie den Eindruck hatte, ein warmer Strom vereinige ihre Hände. Noch einmal flehte sie:
»Seht mich an! Ich bin Cathérine, Eure Tochter! Die Frau Arnauds!«
Bei der Nennung seines Namens lief ein Schauder über die trockene Haut Isabelles. Ihr Blick, diesmal klar, haftete auf dem ängstlichen Gesicht der jungen Frau.
»Cathérine!« hauchte sie. »Ihr seid zurückgekommen?«
»Ja, Mutter … ich bin zurückgekommen! Und ich werde Euch nicht mehr verlassen … nie mehr!«
Die dunklen Augen der Kranken sahen sie mit einer Mischung von Bangen und Zweifel an.
»Ihr … bleibt hier? Aber … dieser junge Mann … Brézé?«
»Er hat seine Träume für Wirklichkeit gehalten! Ich werde ihn nicht mehr wiedersehen! Ich bin Cathérine de Montsalvy und bleibe es, Mutter. Ich bin ›seine‹ Frau … Nichts als seine Frau!«
Ein intensiver Ausdruck der Erleichterung breitete sich über die Züge der Kranken. Ihre Hand, die sich an die Cathérines klammerte, wurde weich und gab nach, und ein leises Lächeln öffnete ihre Lippen.
»Gott sei gesegnet!« hauchte sie. »Ich kann in Frieden sterben!«
Einen Augenblick schloß sie die Augen, öffnete sie wieder und sah Cathérine zärtlich an. Durch ein Zeichen gab sie ihr zu verstehen, daß sie sich zu ihr herunterbeugen solle, und flüsterte geheimnisvoll:
»Ich habe ihn wiedergesehen, wißt Ihr …«
»Wen, Mutter?«
»Ihn, meinen Sohn! … Er ist zu mir gekommen! … Er ist immer noch so schön! O ja, so schön!«
Ein heftiger Hustenanfall schnitt ihr brutal das Wort ab. Ihr Gesicht wurde purpurrot, der Blick flackerte. Die arme Frau fiel zurück und kämpfte gegen das Ersticken an. Der Augenblick der Beruhigung war vorüber.
Donatienne näherte sich wieder mit ihrer Tasse:
»Der Bader sagt, wenn sie hustet, soll man ihr einen Absud aus Klatschmohn, getrockneten Malven und Veilchen zu trinken geben, aber es ist nicht leicht …«
Mit Cathérines Hilfe gelang es ihr trotz allem, der Kranken ein wenig von der Flüssigkeit einzuflößen. Der Husten klang weniger hohl, und langsam entspannte sich der verkrampfte Körper, doch die Augen öffneten sich nicht wieder.
»Vielleicht wird sie jetzt ein wenig schlafen«, flüsterte Donatienne. »Legt Euch auch hin, Dame Cathérine. Die lange Reise muß Euch ermüdet haben. Ich werde noch bis gut in den Morgen hinein wach bleiben.«
»Ihr seid erschöpft, Donatienne.«
»Bah! Ich bin rüstig!« sagte die alte Bäuerin mit einem wackeren Lächeln. »Und Euch nun wieder hier zu wissen gibt mir Mut.«
Mit dem Kopf machte Cathérine eine Bewegung zu der Kranken hin, die tatsächlich einzuschlafen schien.
»Ist sie schon lange krank?«
»Seit über einer Woche, gnädigste Dame! Sie hat unbedingt hinübergehen wollen … nach Calves, mit Fortunat! Sie wollte nicht mehr länger von ihrem Sohn getrennt sein … Unterwegs geriet sie in starke Regengüsse, die drei Tage lang ununterbrochen fielen. Trotzdem wollte sie nirgendwo anhalten. Fortunat ist es nicht gelungen, sie zu bewegen, Schutz zu suchen. Durchweicht, erstarrt und mit den Zähnen klappernd kehrte sie heim. In der folgenden Nacht bekam sie hohes Fieber. Seitdem ist die Krankheit nicht besser geworden …«
Mit gerunzelter Stirn hatte Cathérine Donatienne zugehört, ohne sie zu unterbrechen. Die Reue nagte an ihr. Sie verstand die Reaktion Isabelles sehr wohl. In ihrem Mutterherzen hatte sie das Leid, das Cathérine Arnaud angetan hatte, ausgleichen wollen, selbst wenn ihr Sohn nichts davon wußte. Wie hätte er auch in dieser Gruft von einer Leprastation davon erfahren sollen? Machten nicht alle Geräusche der Außenwelt an der Schwelle der lebendig Begrabenen halt, die nur unter der Bedingung geduldet wurden, daß sie sich abseits von allem hielten und sich der Vergessenheit anheimgaben?
Mechanisch fragte Cathérine:
»Wo ist eigentlich Fortunat?«
Gauthier, der in die Betrachtung Michels versunken war, antwortete:
»Heute ist Freitag, Dame Cathérine. Fortunat ist gestern nach Calves aufgebrochen, wie er es jede Woche tut. Nicht ein einziges Mal hat er's versäumt … und er geht stets zu Fuß, aus Demut.«
»Habt ihr denn genug Lebensmittel hinzuschicken?«
»Nein. Manchmal nimmt Fortunat nur ein kleines, rundes Weißbrot oder einen Käse mit und zuweilen sogar überhaupt nichts. Dann setzt er sich auf eine Anhöhe, von der aus man die Krankenstation sehen kann. Dort bleibt er stundenlang und blickt hinüber … Er ist ein seltsamer Bursche, aber ich versichere Euch, Dame Cathérine, ich habe noch niemals solche Treue angetroffen.«
Verlegen wandte Cathérine den Kopf ab, um die plötzliche Röte, die ihr in die Wangen stieg, zu verbergen. Sicher, der kleine gaskognische Knappe gab da eine großartige Lektion. Nichts vermochte ihn von seinem Herrn loszureißen, den er nicht vergessen konnte. Und wenn sie ihr eigenes Verhalten mit dem Fortunáis verglich, mußte sie sich eingestehen, daß der Vorzug bei dem Gaskogner lag.
»Ich auch nicht«, murmelte sie. »Wer hätte gedacht, daß dieser Gaskogner sich so anhänglich erweisen würde? übrigens, wann kommt er zurück … von da unten?«
»Morgen im Laufe des Tages.«
Aber am nächsten Tag kehrte Fortunat nicht zurück. Erst gegen Abend merkte es Cathérine, als man sich im Gemeinschaftsraum zum Abendessen versammelte. Den ganzen Tag war sie bei Isabelle geblieben, der es etwas besser zu gehen schien. Außerdem hatte sie mit dem Prior der Abtei eine lange Unterredung gehabt. Es war jetzt Zeit für sie, das Schloß wiederaufzubauen, da ihr die nötigen Mittel dafür zur Verfügung standen. Der königliche Finanzminister hatte ihr eine schöne Summe in Goldtalern ausgezahlt, und sie besaß noch immer ihre Juwelen, abzüglich der wenigen Steine, die von ihr oder von Isabelle für ihren Unterhalt in den vergangenen Zeiten verkauft worden waren.
Bernard de Calmont d'Olt, der junge Abt von Montsalvy, war ein energischer und intelligenter Mann. Sie überreichte ihm in Anerkennung des Schutzes, den er ihrer Familie gewährt hatte, einen wundervollen Ordensstern aus Rubinen, den er an seinen Chormantel heften konnte, und begann, die ersten Pläne für den Wiederaufbau zu skizzieren. Einer der Mönche der Abtei, Bruder Sebastian, wurde beauftragt, die Pläne auszuarbeiten, ein anderer, den Steinbruch zu suchen, aus dem man die Bausteine beziehen würde. Wie in allen großen Abteien traf man in Montsalvy fast alle Handwerks- und Gewerbegruppen an.
»Auf jeden Fall«, hatte der Abt zu ihr gesagt, »könnt Ihr hier bleiben, solange Ihr wünscht. Das Gästehaus liegt abseits genug vom Klostergebäude, so daß die Anwesenheit einer jungen Frau, selbst für längere Zeit, keinen Stoff zu Skandalen bietet.«
Über diesen Punkt beruhigt, hatte sich Cathérine sodann um Tristan l'Hermite und seine Männer gekümmert, die am folgenden Morgen nach Parthenay aufbrechen sollten. Die Soldaten hatten eine großzügige Vergütung erhalten. Was Tristan betraf, so hatte sie ihm eine schwere, mit Türkisen besetzte Goldkette geschenkt, die einst Garin de Brazey gehört hatte.
»Sie soll Euch an uns erinnern!« sagte sie zu ihm, als sie sie ihm um den Hals legte. »Tragt sie oft in Erinnerung an Cathérine.«
Er hatte sein seltsames Lächeln im Mundwinkel gelächelt und mit zweifellos bewegterer Stimme, als er gewollt hatte, gemurmelt:
»Glaubt Ihr, es bedürfte eines königlichen Juwels, um mich an Euch zu erinnern, Dame Cathérine? Und lebte ich zweihundert Jahre, würde ich Euch nicht vergessen! Aber ich werde mit Freuden diese Kette aus großen Tagen tragen. Mit Stolz auch, da sie von Euch kommt.«
Das gemeinsam eingenommene Abendessen sollte das letzte vor ihrer Trennung sein. Cathérine empfand echten Schmerz, sich von diesem guten, wortkargen Kameraden trennen zu müssen, der sich so aufopfernd und von so großem Mut beseelt gezeigt hatte. Auch wollte sie, trotz des Zustandes ihrer Schwiegermutter, daß diese Mahlzeit einen festlichen Charakter annehmen sollte. Mit Hilfe Donatiennes und dem guten Willen des Wirtschaftshofes des Klosters gelang es ihr, wenn auch kein prächtiges, so doch ein achtbares Souper zusammenzustellen. In eine der wenigen eleganten Roben gekleidet, die sie noch besaß, setzte sie sich neben ihren Gast unter einen herrschaftlichen Baldachin, und Gauthier servierte das Festmahl mit mehr gutem Willen als Stil. Aber die beiden Freunde sprachen der Kohlsuppe und den gebratenen Kapaunen des Abtes deshalb nicht weniger herzhaft zu.
Als man sich von der Tafel erhob, sah Cathérine, daß die Nacht voll hereingebrochen war, und erkundigte sich nach Fortunat. Den ganzen Tag hatte sie auf seine Rückkehr gewartet, mit der absurden Hoffnung auf neue Nachrichten. Als ob er überhaupt Nachrichten haben könnte, wo es sich doch um einen Leprakranken handelte? … Es war eine Enttäuschung zu hören, daß er noch nicht zurückgekommen sei. Und dieser Enttäuschung fügte sich noch eine Unruhe hinzu, als sie feststellte, daß Gauthier besorgt zu sein schien.
»Er muß sich verspätet haben«, sagte sie, als er von einem letzten Besuch beim Bruder Pförtner zurückkam. »Dann wird er eben morgen zurückkehren.«
Aber der Normanne schüttelte den Kopf.
»Fortunat? Der ist pünktlich wie eine Uhr! Er bricht stets in derselben Stunde auf und kehrt stets zur selben Stunde zurück, genau vor dem Abendessen. Es geht nicht mit natürlichen Dingen zu, daß er nicht hier ist!«
Sein Blick kreuzte den Cathérines. Beide hatten denselben Gedanken. Etwas war Fortunat zugestoßen, aber was? Ein unglückliches Zusammentreffen war immer möglich, obgleich das Gebiet ziemlich sicher war, seitdem die Armagnacs die Garnison von Carlat verstärkt hatten und der energische Bernard de Calmont der Abtei vorstand. Außerdem räumte der Engländer einen der befestigten Plätze nach dem anderen in der Auvergne.
»Warten wir!« sagte Cathérine nur.
»Morgen bei Tagesanbruch gehe ich ihm entgegen.«
Cathérine hatte Lust zu sagen: »Ich komme mit …«, aber sie besann sich eines Besseren. Sie konnte Isabelle in diesem Augenblick nicht allein lassen. In ihren wenigen lichten Augenblicken verlangte die alte Dame sofort nach ihr und zeigte eine solche Freude über ihre Anwesenheit, daß Cathérine es nicht übers Herz brachte, sie ihrer zu berauben.
Sie begnügte sich zu seufzen: »Es ist gut! Du wirst tun, was du für richtig hältst!«
Ehe sie schlafen ging, machte sie einen Rundgang im Hause, bedacht darauf, alle ihre Pflichten als Haushaltungsvorstand peinlich zu erfüllen. Da der Abt ihr freie Verfügung über das Gästehaus ließ, sorgte sie dafür, daß alles in bester Verfassung war. Sie ging sogar in den Stall, wo die Pferde der Eskorte standen, doch eher aus einem sentimentalen Grund als der Ordnung halber. Tatsächlich war sie überrascht, Morgane dort wiederzufinden, ihre weiße Stute, die der Schotte Hugh Kennedy, treu seinem ihr gegebenen Versprechen, nach Carlat hatte zurückbringen lassen. Morgane war für sie ebenso eine wichtige Persönlichkeit wie eine Freundin. Beide verstanden sich wunderbar und hatten sich mit großer Freude wiedergefunden.
»Es ist uns bestimmt, allmählich zusammen alt zu werden«, sagte Cathérine etwas melancholisch, das schneeige Fell Morganes streichelnd. »Du wirst nichts mehr als der weise Zelter einer noch weiseren Dame sein!«
Die großen, gescheiten Augen Morganes blickten sie mit einem Ausdruck an, den Cathérine für diabolisch hielt, und das kampflustige Wiehern, das ihn begleitete, gab deutlich zu verstehen, daß die kleine Stute, was sie betraf, nichts dergleichen glaubte … Dies war so erstaunlich, daß Cathérine lachen mußte. Sie reichte Morgane ein Stück Zucker, das sie extra für sie mitgebracht hatte, und tätschelte ihr dann die Kruppe.
»Wir haben Lust auf Abenteuer, wie mir scheint, was? Gut, meine Schöne, wir müssen dir einen Grund dazu finden!«
Nachdem sie den Stall verlassen hatte, bekam Cathérine Lust, sich noch etwas im Hof aufzuhalten, weil die Nacht außergewöhnlich schön war, aber Donatienne kam, um ihr zu sagen, sie habe ihr ein Bett in einem Zimmer neben dem Isabelles hergerichtet.
»Ich wollte mich neben ihr niederlassen!« protestierte Cathérine. »Ihr habt genug gewacht, Donatienne. Ihr müßt schlafen …«
»Bah! Ich schlafe ebensogut auf einer Bank!« sagte die alte Bäuerin gutmütig lächelnd. »Und dann glaube ich, daß sie heute nacht gut schlafen wird. Der Bruder Apotheker hat mir für sie einen Absud aus Klatschmohn gegeben … Ihr solltet eigentlich auch etwas davon trinken. Ihr scheint recht nervös zu sein!«
»Ich glaube, ich werde auch ohne das ausgezeichnet schlafen!«
Sie ging Michel umarmen, der unter dem gleichmütigen Blick Gauthiers sein Gebet herunterhaspelte. Die Kameradschaft, die das Kind und den riesenhaften Normannen verband, hatte sie gleichermaßen belustigt und überrascht. Beide verstanden sich wunderbar, und wenn Gauthier dem kleinen Herrn gegenüber eine gewisse Nachgiebigkeit zeigte, so ließ er ihm doch nicht alles durchgehen. Was Michel betraf, so betete er Gauthier an, dessen Kräfte er sichtlich bewunderte.
Er hatte seine Mutter empfangen, als wäre sie erst tags zuvor abgereist. Er war ihr auf seinen noch etwas unsicheren Beinchen in die Arme geeilt, sobald er sie von weitem erblickte, und hatte, die Händchen um ihren Hals schlingend, seinen blonden Kopf zärtlich an den Cathérines gelegt und einen glücklichen Seufzer ausgestoßen.
»Mama!« hatte er nur gesagt. Und Cathérine waren die Tränen gekommen.
An diesem Abend brachte sie ihn selbst zu Bett, dann, nachdem sie ihn geküßt hatte, ließ sie ihn die Geschichte anhören, die Gauthier erzählte. Jeden Abend erzählte der Normanne seinem kleinen Freund eine Geschichte, einen Ausschnitt, wenn die Erzählung zu lang war, und es waren die fremden Legenden aus dem Norden, voll von Dämonen, phantastischen Göttern und kriegerischen Jungfrauen. Der Kleine hörte mit offenem Mund zu und schlief schließlich langsam ein …
Cathérine zog sich auf Zehenspitzen zurück, während Gauthier begann:
»Also, der Sohn Erichs des Roten stieg mit seinen Kameraden auf sein Schiff und fuhr mit ihnen auf das große Meer hinaus …«
Gauthiers Stimme hatte etwas Einschläferndes. Das Kind war noch zu jung, um diese Erzählungen aus einem anderen Zeitalter zu begreifen, aber es machte trotzdem große verwunderte Augen, von den melodramatischen, unbekannten Worten und dem Zauber dieser ernsten Stimme gefesselt. In ihrem kleinen, schmalen Bett überließ Cathérine sich ihr auch, empfänglich für die Besänftigung, die die Stimme ihr brachte. Ihr letzter Gedanke galt Sara. Sie waren so schnell geritten, sie und die Bretonen, daß sie sie vielleicht überholt hatten, ohne es zu wissen. Aber jetzt würde sie zweifellos bald eintreffen … Der Gedanke, daß ihr etwas zugestoßen sein könnte, kam ihr gar nicht. Sara war unverwüstlich, kannte die Geheimnisse der Natur, und die Natur war ihre Freundin. Bald würde sie dasein … ja, bald …
Der Sohn Erichs des Roten segelte bereits geraume Zeit auf den grünen, endlosen Wellen des Meeres, als Cathérine schon tief schlief …
Sie hatte eine merkwürdige Vision, etwa um Mitternacht. Schlief sie noch, oder war sie vielleicht halb aufgewacht? War dies ein Traum? Es war ihr, als ob sie die Augen auf den ihr noch fremden Hintergrund des Zimmers öffnete. Die Stille war vollkommen, aber das Nachtlicht, das neben Isabelle brannte, leuchtete noch. Von ihrem Bett aus konnte Cathérine die schlafende Donatienne sehen, die Nase im Schoß und die Haube quer über ihrer mit Kissen belegten Bank … Plötzlich glitt eine dunkle Gestalt neben das Bett der Kranken … die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der eine Maske trug … Der Schreck stieg Cathérine in die Kehle. Sie wollte schreien, aber kein Ton entrang sich ihrem Mund. Sie wollte sich bewegen, aber ihre Glieder, ihr Körper waren so schwer geworden, daß sie den Eindruck hatte, ans Bett gefesselt zu sein. Wie in einem quälenden Alptraum sah sie, wie der Mann sich hinabbeugte, sich noch einmal über das Bett Isabelles beugte, eine Bewegung machte und sich dann wieder aufrichtete. In der Meinung, der Unbekannte sei im Begriff, die Kranke zu ermorden, öffnete Cathérine den Mund, aber wieder kam kein Ton heraus …
Der Mann trat jetzt zurück, wandte sich um … die Maske in der Hand … und Cathérines Angst verwandelte sich in eine ungeheure Freude, die sie überflutete. Sie erkannte das kühne Profil, die dunklen Augen und den festen Mund ihres Gatten sehr gut! Arnaud! Es war Arnaud! … Eine wundervolle Glückswelle, wie nur die Träume sie einem gewähren, hüllte Cathérine ein. Er war da, er war zurückgekommen … Gott hatte zweifellos ein Wunder bewirkt, denn das schöne Gesicht, das sie so deutlich in Erinnerung behalten hatte, war unversehrt. Es zeigte keinerlei Spuren der abscheulichen Krankheit. Aber warum war es so blaß, so todtraurig? …
Von der Liebe aufgewühlt, die sie einen Augenblick eingeschlummert geglaubt hatte und die nun fordernder denn je wiederkehrte, wollte sie ihn zu sich rufen, die Arme ausstrecken … und fand sich wieder ohnmächtig, unfähig dazu. Der Alpdruck, der Nebel, der sie einhüllte, erstickte sie fast … Und schon sah sie Arnaud unerbittlich in diesem Nebel verschwinden, in Richtung auf Michels Zimmer. Und dann war nichts mehr als ein schreckliches Gefühl der Verlassenheit, der unabänderlichen Einsamkeit …
»Er ist verschwunden«, dachte Cathérine verzweifelt. »Diesmal werde ich ihn nicht wiedersehen … nie mehr!«
Sie stand bei Sonnenaufgang auf. Draußen stieß Tristan ins Horn und rief die Bretonen in den Sattel. Die Stunde des Aufbruchs war nahe, und Cathérine erhob sich, um dabei behilflich zu sein. Nicht ohne Mühe. Sie fühlte sich schrecklich müde, ihr Kopf war schwer, und die Beine waren schwach. Aber durch das schmale Fenster ihrer Zelle drang ein schöner, zu dieser Morgenstunde noch etwas schüchterner Sonnenstrahl zu ihr, und im anderen Zimmer hörte sie Michel in seinem Bettchen plappern … Sie betupfte sich das Gesicht mit etwas Wasser, beeilte sich beim Ankleiden und kämpfte, so gut sie konnte, gegen einen mehr und mehr peinigenden Eindruck an.
Es gelang ihr nicht, den Traum der vergangenen Nacht aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Je mehr sie daran dachte, desto mehr fühlte sie sich versucht zu weinen, denn sie erinnerte sich, schreckliche Geschichten von Leuten gehört zu haben, die ihren Lieben zur Stunde ihres Todes erschienen waren, um ihnen dies anzukündigen. War dieser so realistische Traum nicht eine dieser tragischen Vorwarnungen? Und war Arnaud nicht …? Nein, sie konnte sich nicht einmal das Wort vorstellen! Andererseits … die ungewöhnlich lange Abwesenheit Fortunáis? Wenn er etwa da unten eine schreckliche Neuigkeit erfahren hätte? Vielleicht hatte die Krankheit zu schnelle Fortschritte gemacht …
»Es ist zum Verrücktwerden!« dachte Cathérine laut. »Ich muß Bescheid wissen, Gauthier muß sofort aufbrechen … oder vielmehr, nein, ich werde mit ihm gehen … Donatienne wird meine Schwiegermutter heute noch gut versorgen, und für die schnellen Beine Morganes sind sechs Meilen hin und ebenso viele zurück eine Kleinigkeit. Bis zum Abend sind wir wieder hier!«
Sie eilte, ihren Sohn zu umarmen, stellte nebenbei fest, daß die Dame Isabelle noch schlief, und trat schnell in den Hof. Die Bretonen waren bereits aufgesessen, aber neben dem weit offenstehenden Stall unterhielt Tristan sich mit Gauthier. Sie traten auseinander, als sie Cathérine bemerkten. Sie zwang sich, trotz der Trauer in ihrem Herzen dem Abreisenden zuzulächeln, und streckte ihm die Hand hin:
»Gute Reise, Freund Tristan! Sagt Monseigneur dem Konnetabel, wie dankbar ich ihm bin, daß er Euch zu mir geschickt hat.«
»Bestimmt wird er wissen wollen, wann wir das Glück haben werden, Euch wiederzusehen, Dame Cathérine!«
»Nicht sehr bald, fürchte ich, außer Ihr kommt inzwischen wieder her! Ich habe soviel zu tun in der Auvergne! Es muß alles wieder werden wie früher!«
»Bah! Die Auvergne ist nicht so weit! Ich weiß, daß der König plant hierherzukommen, und wenn er sich endlich mit Richemont ausgesöhnt hat, werden wir vielleicht alle bald vereint sein!«
»Gebe es Gott! Auf Wiedersehen, mein Freund.«
Er küßte die Hand, die sie ihm noch hinhielt, und schwang sich in den Sattel. Die Pforten der Abtei öffneten sich weit vor ihm, gaben den Dorfplatz frei, wo sich die Hausfrauen bereits zusammenrotteten. Tristan l'Hermite setzte sich an die Spitze seiner Truppe, doch im Augenblick, als er über die geweihte Schwelle ritt, drehte er sich um, zog seinen schwarzen Filzhut und schwenkte ihn in die Luft.
»Auf bald, Dame Cathérine!«
»Auf bald, so Gott will, Freund Tristan!«
Einige Augenblicke später waren die schweren Torflügel wieder geschlossen, und der Hof war leer. Cathérine ging auf Gauthier zu, der sich noch neben der offenen Stalltür aufhielt.
»Ich habe heute nacht einen seltsamen Traum gehabt, Gauthier … Traurige Gedanken quälen mich … Außerdem habe ich beschlossen, mit dir Fortunat nachzureiten. Selbst wenn wir bis Calves reiten müssen, glaube ich doch, daß wir noch bei Tag zurückkommen können. Nimm dir ein Pferd und sattle mir Morgane!«
»Das würde ich gerne tun«, erwiderte ruhig der Normanne, »aber leider ist es unmöglich!«
»Und warum?«
»Weil Morgane nicht mehr da ist.«
»Was heißt das?«
»Ich sage die Wahrheit: Morgane ist verschwunden. Seht selbst …«
Verblüfft folgte Cathérine Gauthier in den dunklen Stall. Mehrere Pferde standen noch da, aber es war nur zu wahr, daß sich darunter keine weiße Stute befand. Bewegungslos inmitten des Stalles stehend, starrte Cathérine Gauthier an.
»Wo ist sie?«
»Wie soll ich das wissen? Niemand hat etwas gesehen, niemand etwas gehört … Außerdem fehlt noch ein anderes Pferd, Roland, eins von denen, die der Abt uns gegeben hat.«
»Unglaublich! Wie konnten die beiden Tiere hier herauskommen, ohne daß jemand es merkte?«
»Ohne Zweifel, weil der, der sie weggeführt hat, die Möglichkeit hatte, sich hier einzuschleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Er muß die Abtei gut gekannt haben.«
»Und«, sagte Cathérine, sich auf ein Bündel Stroh setzend, »was schließt du daraus?«
Gauthier antwortete nicht sofort. Er überlegte. Nach einem Augenblick warf er Cathérine einen unsicheren Blick zu.
»Zufällig«, sagte er, »war Roland, das Pferd, das zusammen mit Morgane gestohlen wurde, dasjenige, dessen Fortunat sich gewöhnlich bediente, wenn er nach Aurillac oder sonstwohin ritt …«
»Aber nicht nach Calves?«
»Nein. Ihr wißt noch, daß er grundsätzlich nur zu Fuß dorthin ging … wegen Messire Arnaud!«
Jetzt war es an Cathérine zu schweigen. Sie hatte sich einen Strohhalm herausgezogen und kaute zerstreut daran. Eine Fülle von Gedanken ging ihr durch den Kopf. Schließlich hob sie den Blick.
»Ich frage mich, ob ich wirklich geträumt habe!« sagte sie. »Ob es nicht eine dieser Vorahnungen war?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Nichts, ich werde es dir erklären. Sattle zwei Pferde und sage Donatienne, daß wir den ganzen Tag fort sein werden. Ich werde meine Männerkleidung anlegen.«
»Wohin reiten wir?«
»Nach Calves, los! Und so schnell wie möglich!«
An der Kreuzung der beiden Landstraßen hielten die Reiter ihre Pferde an, unschlüssig, welche sie einschlagen sollten. Das ärmliche Dorf Calves lag jetzt ganz nahe, und am Horizont konnte Cathérine nicht ohne Bewegung den Basaltfelsen von Carlat, gespickt mit Türmen und Mauern, aufragen sehen.
Dort hatte sie die quälendsten Stunden ihres ganzen Daseins durchlebt, war aus der bedrohten Feste geflohen, aber nun, angesichts dieses imposanten, vertraut gewordenen Hintergrunds, fühlte sie doch, wie ihr der Mut schwand.
Ein von den Feldern kommender Bauer, die Hacke über der Schulter, näherte sich dem Kreuzweg. Gauthier erkundigte sich vom Sattel aus bei ihm.
»Weißt du, braver Mann, wo das Haus der Leprakranken ist?«
Der Mann bekreuzigte sich bestürzt und zeigte auf eine der beiden Straßen.
»Dort hinunter bis zum Fluß … dann werdet Ihr ein großes, verschlossenes Gebäude sehen. Das ist es. Aber kommt hinterher nicht ins Dorf!«
Eiligst entfernte er sich in Richtung des Weilers. Cathérine lenkte den Kopf ihres Pferdes in die angezeigte Richtung.
»Reiten wir!« sagte sie nur.
Die Straße fiel zur Ebene ab, einem kleinen Fluß, der sich weiter entfernt um den Felsen von Carlat wand. Eine Reihe Weiden bezeichnete seinen Lauf. Cathérine ritt schweigend voran, sich ganz dem Schritt ihres Pferdes überlassend. So dicht bei dem Ort, von dem sie so oft geträumt hatte, ohne je zu wagen, sich ihm zu nähern, befiel sie eine beklemmende Erregung. In wenigen Augenblicken würde sie Arnaud ganz nahe sein, nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo er lebte … Vielleicht würde es ihr gelingen, ihn zu sehen! Der bloße Gedanke ließ ihr Herz wild pochen, doch trotzdem fiel es ihr schwer, sich im Geiste von der bösen Vorahnung loszureißen, die sie seit dem Morgen mit sich herumtrug …
Der Weg bog jetzt ab und führte durch ein kleines Gehölz, dessen Zweiggewirr undurchdringlich schien. Der holprige, schwierige, von eingefahrenen uralten Wagenspuren und schlammig gebliebenen Löchern ausgehöhlte Boden konnte nicht oft betreten worden sein. Der Himmel an diesem Tagesende (Cathérine und Gauthier hatten wesentlich mehr Zeit gebraucht, als sie glaubten, um Calves zu erreichen) verschwand hinter dem dichten Gewölbe des Blattwerks. Dieses Gehölz wirkte, als sei es eine von Menschen errichtete Baumschranke zum Schutz vor den Ausgestoßenen der Leprastation … Und dann plötzlich, am Fuß des Abhangs, schwenkten die beiden Reiter um einen steilen Felsen herum und befanden sich wieder am Ufer des Flüßchens.
Über dem hier verengten Tal, in dem nur das melancholische Lied des Wassers zu hören war, lastete eine Atmosphäre beklemmender Trauer. Am Rand des Wäldchens hielt Cathérine brüsk ihr Pferd an. Gauthier tat es ihr nach, und beide verharrten nebeneinander, bewegungslos, verblüfft. Einige Klafter vor ihnen ragten die Umfassungsmauern einer Art Meierei empor … nur die Umfassungsmauern, denn in der Mitte gab es nichts als geschwärzte Mauerreste, verkohlte Balken, einen stehengebliebenen Spitzbogen, der der Eingang der Kapelle gewesen sein mußte. Das große Portal, herausgerissen und in seinen Angeln hängend, gab den Blick auf den Innenhof der Leprastation frei, der voll ausgeglühten Schuttes lag. Einzig das unheilvolle Krächzen der Raben, die am Himmel kurvten, und das Rauschen des Flüßchens störten die Stille.
Cathérine wurde totenblaß, schloß die Augen und schwankte im Sattel, einer Ohnmacht nahe.
»Arnaud ist tot!« stammelte sie. »Es war sein Geist, den ich gestern nacht gesehen habe!«
Mit einem Satz sprang Gauthier zu Boden. Seine starken Arme hoben die junge Frau aus dem Sattel. Besorgt, weil sie erschreckend blaß war und mit den Zähnen klapperte, bettete er sie auf die Wegböschung und machte sich daran, ihr kräftig die erstarrten Hände zu massieren.
»Dame Cathérine! Vorwärts! … Kommt zu Euch! Habt Mut, ich bitte Euch!« flehte er sie an.
Doch ihr war, als entrinne ihr das Leben, als flösse es ihr aus dem Körper wie Wasser, als schwinde mit ihm ihr Bewußtsein. Verzweifelt gab er ihr zwei Ohrfeigen, sich mit aller Gewalt beherrschend, um sie nicht durch ein Übermaß an Kraft zu töten. Die blassen Wangen wurden schnell wieder rot, Cathérine öffnete die Augen und sah ihn verblüfft an. Er lächelte zerknirscht:
»Verzeiht mir, ich hatte keine andere Wahl! Wartet, ich werde Euch ein wenig Wasser holen.«
Die niedergebrannten Gebäude umgehend, lief er zum Fluß, füllte den Becher, den er am Gürtel trug, und kam zurück, um Cathérine mit der Fürsorglichkeit einer Mutter zu trinken zu geben. Die Wirkung trat sofort und jäh ein; die junge Frau brach in Tränen aus.
Vor ihr stehend, ließ er sie weinen, denn er kannte die beruhigende Macht der Tränen. Er sagte kein Wort, tat nichts, um den schrecklichen Tränenstrom aufzuhalten, der aus ihr hervorbrach. Und mählich beruhigte sich Cathérine … Nach einer kurzen Weile hob sie ihr versteinertes Gesicht mit den verweinten Augen zu dem Normannen.
»Wir müssen herausbekommen, was passiert ist!« sagte sie mit sich festigender Stimme.
Gauthier reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie ließ sie nicht los, glücklich, diese Kraft, diese Wärme zu spüren, die sie für das Kommende brauchen würde. Von ihm gestützt, schritt sie zum zerstörten Portal, über dem noch das Wappen der Abtei Saint-Géraud d'Aurillac zu sehen war, zu der die Leprastation gehörte. Aber ihr Herzschlag setzte einmal aus, als sie über die Schwelle trat, über die Arnaud eines Tages geschritten war … für immer!
Noch liefen ihr Tränen über die Wangen, schwer, unversiegbar, aber sie kümmerte sich nicht darum. Die Zerstörung im Innern war vollkommen, total. Es blieben nur angekohlte, verbogene Trümmer, die Cathérine an die Ruinen von Montsalvy erinnerten. Die Feuersbrunst hatte alles verwüstet, ausgenommen einige besonders dicke Mauern, die dem Brand widerstanden hatten. Aber nirgends war mehr ein Dach, keine einzige Tür, nichts als geborstene Steine, über die Gauthier sich beugte.
»Das Feuer muß erst vor kurzem gewütet haben«, sagte er. »Die Steine sind noch warm!«
»Mein Gott!« seufzte Cathérine mit schwacher Stimme. »Wenn ich daran denke, daß er da unten liegt … mein vielgeliebter Mann … meine Liebe!«
Sie ließ sich zwischen den Trümmern auf die Knie fallen und versuchte, die Steine wegzuräumen, an denen sich ihre zitternden, unbeholfenen Hände verletzten. Gauthier hob sie mit Gewalt auf.
»Bleibt nicht hier, Dame Cathérine, kommt mit mir!«
Aber sie sträubte sich mit unerwarteter Heftigkeit.
»Laß mich … ich will hierbleiben! Er ist hier, sage ich dir!«
»Ich glaub's nicht und Ihr auch nicht! … Aber selbst wenn er hier wäre, was würde es Euch nützen, Euch an diesen heißen Steinen die Finger zu verbrennen?«
»Ich sage dir, er ist tot!« rief Cathérine außer sich. »Ich sage dir, daß ich seinen Geist gestern nacht gesehen habe … Er ist mir erschienen, maskiert, im Zimmer meiner Schwiegermutter. Er hat sich über ihr Bett gebeugt, und dann ist er verschwunden!«
»Und er ist nicht zu Euch ins Zimmer getreten? War die Dame Isabelle wach, oder schlief sie?«
»Sie schlief. Sie hat nichts gesehen! Zuerst glaubte ich an einen Traum, aber jetzt weiß ich, daß ich nicht geträumt habe, daß ich den Geist Arnauds gesehen habe …«
Sie begann wieder zu schluchzen. Gauthier packte sie an den Schultern, schüttelte sie heftig und brüllte sie an:
»Und ich sage Euch, daß Ihr keinen Geist gesehen habt! Daß Ihr auch nicht geträumt habt … Ein Geist wäre zu Euch gekommen! Ganz bestimmt wußte Messire Arnaud nichts von Eurer Rückkehr, also hat er gar nicht versucht, sich Euch zu nähern.«
»Was willst du damit sagen?«
Mit einem Schlag zur Ruhe gebracht, blieb Cathérine der Mund offen, und sie starrte Gauthier an, als wäre er plötzlich verrückt geworden.
»Ich will sagen, daß ein Geist alles, was die Lebenden betrifft, weiß. Er hätte sich zu Euch umgewandt. Und dann, wozu die Maske?«
»Du glaubst doch nicht, daß ich Arnaud gesehen haben könnte … Arnaud in Person?«
»Ich weiß nichts! Aber es geschehen seltsame Dinge. Angenommen, Fortunat ist zu Messire Arnaud gegangen und hat ihm gesagt, seine Mutter liege im Sterben! Selbst auf der Schwelle des Todes, hat sie von Leprakranken nichts mehr zu fürchten … Vielleicht hat er sie noch ein letztes Mal sehen wollen, während er nicht zu Euch hinüberging, weil er von Eurer Rückkehr nichts wußte. Fortunat wußte ja auch nichts davon …«
»Wo kann er also jetzt sein? Und was ist hier vorgegangen? Was bedeuten diese Ruinen, diese Stille, diese Einöde?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Gauthier nachdenklich, »aber ich werde versuchen, es herauszubekommen. Und was die Frage betrifft, wo er ist, so habe ich eine Idee, daß Fortunat es uns sagen könnte … Wie er uns vielleicht auch sagen könnte, wo Morgane und Roland geblieben sind!«
Sanft führte er sie aus den Ruinen heraus. Cathérine hängte sich wie ein ängstliches Kind bei ihm ein und sah ihn mit verwunderten Augen an.
»Glaubst du wirklich, was du da sagst?«
»Hab' ich schon etwas gesagt, was ich nicht glaube? Besonders zu Euch?«
Ein zitterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, den Tränen noch so nahe, daß der Normanne sein Herz vor Mitleid schmelzen fühlte. Er liebte sie genug, um seine eigene Liebe zu vergessen und nichts anderes zu wünschen, als sie glücklich zu sehen. Ach, das Schicksal bestrafte sie allzu hart. Wie viele gegenwärtige und kommende Tränen für eine Schwäche, deren sie sich schuldig gemacht hatte!
»Mach mir nicht zuviel Hoffnung«, bat sie ihn. »Siehst du, ich könnte daran sterben …«
»Bleibt stark, wie Ihr es immer gewesen seid. Und bemühen wir uns, es herauszubekommen … Brechen wir auf. Wir werden sicher jemand finden, der wissen wird, was sich zugetragen hat.«
Sie nahmen ihre Pferde und verließen das einsame Tal, kehrten zu den bewohnten Gefilden, zum freieren Himmel zurück … Diesmal ritt Gauthier an der Spitze, nach einer Spur von Leben in der verlassenen Landschaft suchend. Cathérine folgte, den Kopf gesenkt, bemüht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, die gleichermaßen zwischen Hoffnung und Kummer schwankten. Mit einem Schlag war all das, was bislang für sie von Wichtigkeit gewesen war, unwichtig geworden. Nur eins zählte jetzt noch: herauszubekommen, ob Arnaud tot war oder lebte. Denn es konnte für sie keine Ruhe mehr geben, bevor sie sich darüber nicht Gewißheit verschafft hätte.
Als sie das düstere Gehölz hinter sich hatten, hob Gauthier sich in den Steigbügeln, sah sich um und wies dann nach Süden:
»Ich sehe den Rauch eines Bauernhauses auf einer Anhöhe … Von da oben muß man die Dächer des Hospitals sehen können. Dann müßte man auch …«
Es war ein ganz kleines Haus, bescheiden unter seinem verwaschenen Strohdach. Um den Bewohnern keinen Schreck einzujagen, banden Gauthier und Cathérine ihre Pferde an einen Baum und kletterten zu Fuß den steilen Pfad hinauf, der bis zur Tür führte. Das Geräusch ihrer Schritte rief eine alte Bäuerin in gelber Haube auf die Schwelle. Sie mußte sehr alt sein, denn sie war ganz bucklig und stützte sich mit der freien Hand auf einen Kornelkirschstock, aber die Augen, die sie zu den Fremden emporhob, waren jung und durchdringend geblieben.
Cathérine reichte ihr ein Goldstück und fragte, ob sie ihr eine Auskunft geben wolle.
»Gold«, sagte sie, »schönes, gutes Gold! Es ist schon sehr lange her, daß ich das gesehen habe! Was wollt Ihr wissen, mein junger Edelknappe?«
»Wann ist das Hospital abgebrannt?«
Trotz des Goldstücks wandte die Alte den Kopf zur Seite, sichtlich abgeneigt zu sprechen. Sie zögerte, umklammerte mit ihrer runzligen Hand das Goldstück und entschloß sich endlich.
»Donnerstag nacht. Die Leprakranken sind närrisch geworden. Das heißt … der Mönch, der sie behütete und über sie wachte … ein Heiliger! … ist abends zuvor gestorben, am Biß einer Viper. Was für einen Heidenlärm sie gemacht haben! Den ganzen Abend konnte man sie weinen und kreischen hören … wie Dämonen! Die Berge hallten davon wider. Es war, als hätte sich die Hölle aufgetan … Die Leute vom Dorf hatten Angst. Sie glaubten, die Leprakranken seien ausgezogen, um sie anzugreifen! Sie sind deshalb nach Carlat gelaufen, um die Besatzung um Hilfe zu bitten. Darauf sind die Soldaten gekommen …«
Sie hielt inne und warf, offenbar in Erinnerung an die Schreckensbilder, die sie gesehen hatte, ängstliche Blicke in Richtung der Ruinen. Dann bekreuzigte sie sich.
»Und dann?« fragte Cathérine keuchend.
»In der Nacht sind sie gekommen«, fuhr die Alte mit abnehmender Stimme fort. »Die Leprakranken schrien unaufhörlich ihren Schmerz hinaus … Es war entsetzlich! Doch danach … war es noch schlimmer!«
Cathérine wurde übel. Sie ließ sich auf eine vor der Hütte stehende Steinbank sinken und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
»Um Himmels willen … Weiter, weiter!«
»Die Bewaffneten waren alte Landsknechte, richtige Barbaren«, platzte die Alte mit plötzlicher Heftigkeit heraus. »Sie haben das Portal des Hospitals verbarrikadiert … und dann haben sie das Feuer angelegt!«
Ein doppelter Entsetzensschrei antwortete ihr. Cathérine, zutiefst getroffen, hatte sich an die Wand gelehnt.
»Arnaud!« flüsterte sie. »Mein Gott!«
Die Alte war jetzt in Fahrt. Mit einer Art Wut fuhr sie fort:
»Die Soldaten waren betrunken, weil die Leute vom Dorf ihnen zu trinken gaben, um ihnen Mut zu machen, zum Hospital zu gehen. Sie brüllten, man müsse dieses Nest der Ausgestoßenen zerstören … das Tal müsse gesäubert werden! … Die ganze Nacht hat es gebrannt. Doch schon vor Mitternacht hörte man nichts mehr schreien … nur noch das Knattern der Flammen!«
Sie schwieg, und es war auch Zeit. Cathérine war es schwindlig geworden.
Gauthier neigte sich über sie und packte ihren Arm.
»Kommt«, sagte er sanft. »Wir gehen …«
Aber wie teilnahmslos blieb sie unbeweglich sitzen. Die Alte sah sie neugierig an.
»Der junge Herr scheint zu leiden! Kannte er denn einen der Unglücklichen?«
»Der junge Herr ist eine Frau«, erwiderte Gauthier kurz. »Sie kannte … tatsächlich einen von ihnen!«
Cathérine hörte nichts mehr. Ihr Körper schien ihr wie Stein, und in ihrem leeren Kopf hallte ein einziger Gedanke wie der Schlag einer Glocke:
»Er ist tot! Sie haben ihn mir getötet!«
Sie hatte alles vergessen, was Gauthier ihr gesagt hatte. Vor ihren Augen war nur noch die flammende Feuersbrunst in der Nacht, und ihr Herz schmerzte, als ob Eisenkrallen es ihr aus der Brust reißen wollten …
Die Alte war still ins Haus zurückgegangen und kehrte mit einem Napf wieder zurück.
»Da, arme Dame«, sagte sie, »trinkt das! Es sind in Wein eingeweichte Kräuter. Es wird Euch guttun.«
Cathérine trank, fühlte sich gleich ein wenig besser und wollte aufstehen, aber die Alte hielt sie zurück.
»Nein, bleibt! Die Nacht bricht gleich herein, und die Straßen sind nicht sicher. Wenn Euch niemand erwartet, bleibt hier bis zum Morgen … Ich habe Euch wenig zu bieten, aber ich gebe es Euch gern.«
Gauthier blickte fragend in das blasse Gesicht der jungen Frau, die sich nur mit Mühe aufrecht halten zu können schien. In dieser Nacht konnte sie auf keinen Fall nach Montsalvy zurückreiten.
»Wir bleiben hier«, sagte er einfach. »Habt Dank!«
Die ganze Nacht verbrachte Gauthier am Kopfende der Strohmatratze, auf die Cathérine, vergebens Schlaf suchend, sich ausgestreckt hatte. Die ganze Nacht versuchte er, der wunden Seele der jungen Frau das Vertrauen einzuflößen, das ihn beherrschte. Er sagte es immer wieder, wiederholte unablässig dieselben Dinge! Cathérine hatte keinen Geist gesehen! Sie hatte Arnaud selbst gesehen, der zweifellos mit Hilfe Fortunáis dem Feuer entronnen war … und die beiden Männer hatten fliehen und die Pferde nehmen müssen. Aber sie wollte ihm nicht glauben. Arnaud hatte keinen Grund, von Montsalvy zu fliehen. Er konnte zumindest bei Saturnin Zuflucht suchen, der ihn trotz der Angst vor der Krankheit aufgenommen hätte … Nein, erwiderte Gauthier, der Herr fürchtete, die Seinen zu infizieren. Wenn er sich seiner Mutter genähert hatte, dann nur, weil er wußte, daß sie im Sterben lag … und Fortunat hatte ihn vielleicht in ein anderes Hospital geführt. Bei Conques solle es eines geben …
»Verzweifelt nicht, Dame Cathérine … Wir werden nach Montsalvy zurückkehren, und in einigen Tagen werdet Ihr Fortunat wiedersehen. Glaubt mir!«
»Ich möchte dir gerne glauben«, seufzte Cathérine, »aber ich wage es nicht! Allzuoft bin ich getäuscht worden!«
»Ich weiß! Aber mit Mut und Zähigkeit kann man die Not überwinden! Eines Tages, Dame Cathérine, werdet Ihr auch noch …«
»Nein. Sag nichts mehr. Ich werde versuchen, vernünftig zu sein … Ich werde versuchen, dir zu glauben …«
Aber es gelang ihr nicht. Als der Tag anbrach, war sie noch ebenso entmutigt, ebenso verzweifelt. Sie bedankte sich großzügig bei der alten Bäuerin für ihre Gastlichkeit und schlug dann im herrlichsten Sonnenschein, der gleichermaßen ihren müden Augen und ihrem schweren Herzen weh tat, mit Gauthier den Weg nach Montsalvy ein.
Von der wundervollen Landschaft des Tals der Truyère mit ihren grünen, bewaldeten Bergrücken bemerkte Cathérine nichts. Sie ritt mit gebeugtem Rücken und halbgeschlossenen Augen dahin, in ihre quälenden Gedanken versunken. Die Vision, die ihr neulich nacht zuteil geworden war, hatte sie so nachhaltig vom Tode Arnauds überzeugt, daß die ganze Welt plötzlich ihre Farbe verloren hatte. Es war, als sei etwas in ihr selbst gestorben. Ihr leerer Geist fand nicht einmal mehr ein Gebet, um den Himmel um Hilfe anzuflehen. Der Gotteslästerung nahe, dachte Cathérine nur an Gott, um ihn ungerechter Grausamkeit zu bezichtigen. Welchen Preis ließ er sie für jede der Gunstbezeigungen, die er ihr so knausrig gewährte, bezahlen!
Außerdem entdeckte sie, daß sie Arnaud bisher nicht wirklich verloren gegeben hatte. Gewiß, man hatte ihn aus der Liste der Lebenden gestrichen, aber irgendwo unter dem Himmel atmete er, und sie, Cathérine, hielt es für möglich, ihn wiederzufinden, sobald ihre Aufgabe beendet sein würde. Was blieb ihr jetzt? Eine ungeheure Leere und der Geschmack von Asche auf den Lippen … Von Zeit zu Zeit trieb Gauthier sein Pferd neben das ihre und sprach mit ihr, um zu versuchen, sie aus ihrer selbstzerstörerischen Traurigkeit zu reißen. Sie antwortete einsilbig, dann gab sie ihrem Pferd die Sporen und ritt einige Klafter voraus. Für sie war nur noch die Einsamkeit erträglich.
Als Cathérine indessen in den Hof von Montsalvy einritt, regte sich eine Empfindung in ihr, die fast ein wenig wie Freude war, denn auf der Schwelle des Gästehauses stand Sara, den kleinen Michel auf dem Arm! Sie stand bewegungslos da, hatte das Kind ans Herz gedrückt und glich in dieser Haltung einer ländlichen Madonna; doch als die Reiter näher kamen, bemerkten die scharfen Augen der Zigeunerin das verwüstete Gesicht und den schlafwandlerischen Blick Cathérines. Der anfangs strenge Ausdruck ihrer Züge milderte sich. Die fast mütterliche Liebe, die Sara für Cathérine empfand, erriet ihr Leid allein aus ihrer gedrückten Haltung. Ohne die Augen von ihr zu wenden, reichte sie Michel Donatienne, die das Klappern der Hufe herbeigelockt hatte, und ging den Ankömmlingen entgegen.
Kein Wort wurde gesprochen. Als Sara neben ihrem Pferd angelangt war, ließ Cathérine sich zu Boden gleiten und warf sich schluchzend in die ihr entgegengestreckten Arme. Wie tröstlich sie ihr schien in diesem Augenblick der Verzweiflung, diese vorübergehend verlorene Zuflucht! Aber so jammervoll war der Anblick der jungen Frau, daß nun auch Sara in Tränen ausbrach.
Ohne sich voneinander zu lösen, kehrten sie zusammen ins Haus zurück.
Drinnen bekam Cathérine ihre Nerven wieder ein wenig in die Gewalt und wandte der alten Freundin ihr tränenüberströmtes Gesicht zu.
»Sara! Meine gute Sara! … Daß du zurückgekommen bist! Ich bin also doch nicht ganz verflucht!«
»Verflucht? Du? Armes Ding! … Wer hat dir denn diese Idee in den Kopf gesetzt?«
»Sie ist überzeugt, daß Messire Arnaud in dem Brand umgekommen ist, der das Hospital von Calves zerstört hat!« sagte hinter ihr die ernste Stimme Gauthiers. »Sie will keinen Trost empfangen, will keinen Zweifel gelten lassen!«
»Sieh mal einer an!« sagte Sara, deren Kampflust beim bloßen Anblick ihres alten Feindes sofort wiedererwacht war. »Erzählt mir das!«
Und während Cathérine ihren Sohn mit einer Heftigkeit umarmte, die auf ihr übersprudelndes Herz schließen ließ, zog Sara den Normannen zum Kaminsims. In wenigen Worten hatte Gauthier alles berichtet: Cathérines Rückkehr, die Krankheit der Dame Isabelle, die seltsame nächtliche Vision der jungen Frau, das Verschwinden der beiden Pferde und schließlich das Drama von Calves. Sara hörte ihn an, ohne ihn zu unterbrechen, mit gerunzelter Stirn, nicht die geringste Einzelheit des Berichts übersehend. Als er geendet hatte, verharrte sie einen Augenblick mit verschränkten Armen, das Kinn in der Hand, stumm auf den Rost des Kamins starrend, wo man Reisig aufgehäuft hatte.
Schließlich ging sie zu Cathérine zurück, die sie von ihrem Schemel aus angstvoll beobachtete, während sie Michel mechanisch auf den Knien wiegte.
»Was haltet Ihr davon?« fragte Gauthier.
»Daß Ihr recht habt, mein Junge! Der Herr ist nicht tot! Das ist nicht möglich!«
»Wie hätte er dann entkommen können?« fragte Cathérine.
»Ich weiß es nicht! Aber einen Geist hast du nicht gesehen. Geister tragen keine Masken, ich kenne sie!«
»Ich will dir gern glauben«, seufzte Cathérine. »Aber nun sag, was ich tun soll?«
»Ein paar Tage abwarten, wie Gauthier sagte, um Fortunat Zeit zur Rückkehr zu geben. Wenn er nicht kommt …«
»Wenn er nicht kommt?«
»Reiten wir mit Saturnin und ein paar kräftigen Männern nach Calves zurück. Wir werden die Trümmer durchwühlen, bis wir Gewißheit haben. Aber was mich betrifft, habe ich diese Gewißheit bereits: Es gibt keine Leiche in Calves … zumindest nicht die, an die du denkst …«
Diesmal kehrte ein wenig Hoffnung in Cathérines Herz zurück. So innig waren die Bande, die sie mit Sara vereinten, daß sie, durch mancherlei Erfahrungen bestärkt, in ihr wenn nicht ein Orakel, so doch einen klaren Verstand sah, der sich selten täuschte und sich zuweilen sogar zu Momenten seltsamen Scharfblicks aufschwingen konnte … Sie antwortete nicht, sondern nahm die Hand ihrer alten Freundin und hob sie demütig an ihre Wange wie ein Kind, das um Verzeihung bittet.
Saras Augen waren voll Zärtlichkeit, als sie auf den blonden, ihr zugeneigten Kopf hinabsah. Im einbrechenden Abend läutete die Klosterglocke zum Gebet.
»Die Mönche gehen jetzt in die Kapelle«, sagte Sara. »Du solltest auch beten gehen …«
Cathérine schüttelte den Kopf.
»Ich habe keine Wünsche mehr, Sara! Was nützt es zu beten? Gott erinnert sich meiner nur, um mich zu züchtigen.«
»Du bist ungerecht! Er hat dir die bitteren Früchte der Rache und die süßeren des Triumphs geschenkt. Du hast Montsalvy das Recht auf seine Existenz zurückgegeben.«
»Aber um welchen Preis?«
»Um einen Preis, den du noch nicht kennst … es sei denn, du bedauerst den, den du in Chinon zurückgelassen hast«, fügte sie absichtsvoll hinzu. Sie wollte sehen, wie Cathérine auf die Erinnerung an den Mann reagieren würde, dessentwegen sie beide sich entzweit hatten … Aber sie wurde in dieser Hinsicht sofort beruhigt. Cathérine hob ungeduldig die Schultern.
»Was soll ich bedauern, solange ich nicht weiß, was Amaud zugestoßen ist?«
Dem gab es nichts hinzuzufügen.
Das Fieber, das Isabelle verzehrte, schien nachzulassen. Die alte Dame delirierte nicht mehr, sie hustete weniger, aber sie wurde mählich schwächer wie eine heruntergebrannte Öllampe.
»Wir werden sie nicht retten!« sagte Sara, die Cathérine am Krankenbett ablöste, um Donatienne zu erlauben, ein wenig auszuruhen und sich um Saturnin zu kümmern, den sie seit Beginn der Krankheit sehr vernachlässigt hatte.
»Man möchte meinen«, bemerkte Cathérine darauf, »daß sie keine Lebenskraft mehr hat.«
Alle Arzneien des Klosters, das ganze medizinische Wissen des Baders von Aurillac, der sie wieder am Krankenlager besucht hatte, waren machtlos, den Lebensfluß in diesem erschöpften Körper zu erhalten. Ganz sanft verlosch Isabelle.
Sie blieb jetzt stundenlang auf dem Bett ausgestreckt, die Hände um ihren Rosenkranz oder um ein Gebetbuch gefaltet, in dem sie nicht las, schweigend und reglos. Nur ihre Lippen, die sich leise bewegten, deuteten an, daß sie betete.
Eines Abends, drei Tage nach dem Ritt Cathérines und Gauthiers nach Calves, hob die alte Dame die Lider und sah Cathérine an, die auf einem Schemel neben ihr saß.
»Ich bete für Euch, mein Kind«, sagte sie leise, »für Michel … und für ihn, meinen Sohn! Laßt ihn in seinem Elend nicht allein, Cathérine. Da ich nicht mehr lange dasein werde, wacht aus der Ferne über ihn! Es ist ein so schreckliches Unglück, das ihn befallen hat!«
Cathérine preßte die Hände zusammen, dann räusperte sie sich, um zu verhindern, daß ihre Stimme zitterte. Isabelle wußte nichts von dem Drama in Calves, das man ihr sorgfältig verheimlicht hatte; aber wie schwer war es, die Komödie weiterzuspielen, eine beschwichtigende, notwendige Heiterkeit vorzutäuschen, da ihre Seele von Bangigkeit erfüllt war! Jede Minute der drei verflossenen Tage war für Cathérine eine Minute der Qual gewesen. Im Vertrauen darauf, was Sara ihr versichert hatte, wartete sie auf die Rückkehr Fortunáis, und diese Rückkehr stand noch immer aus … Aber es gelang ihr, der alten Frau zärtlich zuzulächeln.
»Seid ohne Furcht, Mutter! Ich werde mich nie von ihm lösen. Ich möchte für ihn einen Wohnsitz bauen, nicht weit von hier, wo er abseits der anderen leben kann, aber besser, mehr seinem Geschmack, seinem Rang entsprechend … Ich habe immer davon geträumt, ihn diesem entsetzlichen Hospital zu entreißen!«
Die Augen der Kranken strahlten vor Freude. Ihre magere Hand streckte sich aus, um die Cathérines zu drücken.
»O ja! Tut das! … Holt ihn aus diesem Ort des Schreckens heraus! Da wir jetzt wieder reich sind …«
»Sehr reich, Mutter!« lächelte Cathérine, die Tränen zurückhaltend. »Montsalvy wird wiedererstehen, schöner, mächtiger als zuvor … Bruder Sebastian, der Architekt des Klosters, hat die Pläne für das neue Schloß schon entworfen, während Saturnin, von Bruder Placide angeleitet, sich darauf vorbereitet, nahe der Truyère einen Steinbruch anzuschlagen. Das ganze Dorf wird Arbeit haben, sobald die Feldbestellung beendet ist. Bald werdet Ihr wieder einen Eurer würdigen Wohnsitz haben!«
Isabelle schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. Ihr Blick glitt zu Cathérines Hand, an der der Smaragd der Königin Yolande grün funkelte. Seit sie ihn empfangen hatte, hatte Cathérine diesen Ring nicht abgestreift. Als sie sah, daß die alte Dame ihn betrachtete, nahm sie ihn vom Finger, legte ihn in die abgemagerte, doch noch schöne Hand auf dem Laken, eine Hand, deren fast männliche Form an die Arnauds erinnerte.
»Er ist das Unterpfand der Freundschaft Yolandes von Anjou für unsere Familie. Seht ihr Wappen, in den Stein eingraviert. Behaltet ihn, Mutter, er steht Euch so gut!«
Isabelle betrachtete das Juwel mit einem entzückten Lächeln, einer fast kindlichen Freude, und warf Cathérine einen liebevollen Blick zu.
»Ich nehme ihn nur als Leihgabe. Bald … meine Tochter, werde ich ihn Euch zurückgeben. Doch, doch … keine Einwände! Ich weiß es und bin darauf vorbereitet. Der Tod schreckt mich nicht, im Gegenteil … Er wird mich bald zu denen führen, die ich mein Leben lang beweint habe … zu meinem teuren Gatten, meinem kleinen Michel, den Ihr einst habt retten wollen! Und so ist es gut!«
Einen Augenblick blieb sie still, den Smaragd bewundernd, der auf ihre Hand den grünen Schimmer tiefen Wassers warf. Dann fragte sie:
»Und der fabelhafte schwarze Diamant? Was ist aus ihm geworden?«
Cathérines Gesicht verriet flüchtig Mißbehagen.
»Ich hatte ihn verloren und habe ihn wiedergefunden. Aber er hat noch viel Unheil angerichtet. Ich habe geschworen, daß er keins mehr anrichten soll!«
»Wie das?«
»Bald, in einigen Tagen, werde ich den verfluchten Diamanten der einzigen anbieten, die von seiner teuflischen Macht nichts zu fürchten hat.«
»Ist er wirklich so verderbenbringend?«
Cathérine stand auf, ihr Blick irrte durch das kleine Zimmer. Wie in jener ersten Nacht sah sie visionär die Feuersbrunst vor sich, die Calves verwüstet hatte … Sie biß sich auf die Zähne, um nicht vor Schmerz zu schreien, und murmelte dann mit einem unüberhörbaren Ausdruck von Haß und Entsetzen:
»Mehr, als Ihr glaubt! Das Böse … er hat nie aufgehört, es zu bewirken! Er tut es immer noch, fast jeden Tag, den Gott erschafft, aber ich weiß genau, wie ich ihm seine Macht entreißen kann! Ich werde Satan der zu Füßen legen, die einstmals die Schlange unter ihren nackten Sohlen zermalmte. Am Mantel der Schwarzen Jungfrau vom Berge wird der schwarze Diamant machtlos werden!«
Tränen glitzerten nun in den Augen Isabelles, aber ein Licht funkelte in ihnen.
»Ihr wart uns vom Schicksal bestimmt, Cathérine! Instinktiv findet Ihr die alte Tradition der Burgfrauen von Montsalvy wieder, die in Zeiten des Krieges und der Gefahr sich zum Berge von Le Poy aufmachen, um göttliche Hilfe bitten und ihre schönsten Kleinode auf den Altar legen! Geht, meine Tochter, Ihr denkt wie eine echte Montsalvy!«
Cathérine antwortete nicht. Zwischen Isabelle und ihr bedurfte es keiner Worte mehr! Schweigsamkeit genügte ihnen, sie konnten sich in Zukunft aufeinander verlassen, sie verstanden sich, übrigens trat in diesem Augenblick der Abt Bernard ins Zimmer, um, wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die Kranke abends zu besuchen. Cathérine zog sich zurück, nachdem sie seinen Hirtenring geküßt hatte, und ließ die beiden allein. Sie wollte zu Sara gehen, die in der Küche Michel badete, doch als sie den Gemeinschaftsraum durchschritt, sah sie den Bruder Pförtner herbeieilen.
»Dame Cathérine«, sagte er, »der alte Saturnin bittet Euch, sich gütigst zu ihm zu bemühen. Er sagt, es handle sich um etwas Wichtiges!«
In seiner Eigenschaft als Amtmann von Montsalvy war Saturnin beauftragt, die Arbeiter für den Wiederaufbau des Schlosses anzuwerben. In der Annahme, es handle sich um Probleme der Anwerbung oder der Bezahlung, hielt Cathérine es für unnötig, Sara von ihrer Abwesenheit zu unterrichten.
»Es ist gut, ich komme!« erwiderte sie. »Danke, Bruder Eusebius!«
Nachdem sie sich mit einem schnellen Blick in den Spiegel ihres Zimmers vergewissert hatte, daß ihr blaues Barchentkleid proper und ihre hohe Linnenhaube makellos weiß waren, verließ Cathérine das Kloster und wandte sich zu dem Hause Saturnins, das sich, nur wenige Schritte entfernt, in der Hauptstraße befand. Die Bauern kehrten eben nach ihrer Tagesarbeit vom Felde zurück, denn man war mitten in der Ernte. Zum erstenmal seit Jahren hatte es keine Katastrophe gegeben, die Weizen und Hafer am Wachsen hätte hindern können. Die Leute beeilten sich, die Ernte zu bündeln und einzufahren …
Auf der Straße traf Cathérine ihre Bauern in fröhlichen Gruppen an, die Gesichter unter den nach hinten geschobenen Strohhüten sonnverbrannt, die Kittel über der schwitzenden Brust weit geöffnet. Die Frauen hatten ihre Kleider geschürzt und gingen mit nackten Beinen, den Rechen oder die Forke auf der Schulter. Alle grüßten Cathérine mit einem Lächeln, einem Lüpfen des Hutes oder einem kurzen Knicks und einem freundlichen »Le bonsoir, not' dame!«, so daß es ihr warm ums Herz wurde. Diese braven Leute hatten sie spontan unter sich aufgenommen, der Leiden wegen, die sie mit ihnen geteilt hatte, und in Erinnerung an Arnaud … Sie war wirklich zu Hause in Montsalvy!
Das Haus des Amtmanns Saturnin und seiner Frau Donatienne lag dem Südtor Montsalvys und seinem viereckigen Wehrturm unmittelbar benachbart. Mit seinem hohen Giebel war es eines der schönsten Häuser des Dorfs, fast ein Bürgerhaus, und Donatienne hielt es auf geradezu flämische Weise sauber. Als Cathérine es erreichte, erwartete sie schon der alte Saturnin auf der zwei Stufen hohen Schwelle, die Kappe in der Hand. Die Sorge ließ sein Gesicht noch runzliger erscheinen, und das vorspringende Kinn schien sich um ein Haar mit der langen, messerscharfen Nase zu treffen. Er begrüßte Cathérine respektvoll und reichte ihr die Hand, um ihr beim Eintreten ins Haus behilflich zu sein.
»Es ist ein Schäfer hier, Dame Cathérine … Er ist soeben aus Vieillevie eingetroffen, einem Dorf etwa vier Meilen von hier im Tal des Lot, und er hat merkwürdige Dinge zu berichten. Aus diesem Grunde habe ich es vorgezogen, ihn nicht in die Abtei zu bringen, sondern Euch bitten lassen – ich hoffe, Ihr vergebt mir die Kühnheit – hierherzukommen.«
»Das habt Ihr gut gemacht, Saturnin«, beeilte Cathérine sich zu erwidern, der es ein wenig den Atem verschlagen hatte, als er vom Tal des Lot sprach. »Was hat er denn so Merkwürdiges zu erzählen?«
»Ihr werdet es gleich hören. Tretet nur ein!«
In der Küche, in der das Zinn auf dem Kaminsims wie Silber glänzte und der Steinboden so weiß war, daß er wie Samt aussah, saß ein in einen Kittel aus Schafsfell über grobem Leinen gekleideter junger Mann auf einer Bank neben dem Tisch aus dunklem Kastanienholz. Er aß Brot und Käse, die Saturnin ihm hingestellt hatte, sprang aber sofort höflich auf, als er Cathérine eintreten sah, grüßte linkisch und erwartete stehend, daß man zu ihm sprechen würde.
»Dieser Junge«, sagte Saturnin, »ist einer der Schäfer des Herrn de Vieillevie. Du, mein Junge, stehst vor der Dame de Montsalvy. Sage ihr, was du am Sonntagmorgen gesehen hast.«
Der Schäfer wurde ein wenig rot, zweifellos durch die Anwesenheit dieser großen Dame verschüchtert, und seine Stimme war zuerst kaum hörbar; doch schon bei seinen ersten Worten spürte Cathérine, wie ihr leidenschaftliches Interesse erwachte.
»Am Sonntagmorgen hütete ich meine Schafe auf der Ebene über der Garrigue …«
»Sprich lauter!« befahl Saturnin. »Man kann dich schlecht hören!«
Der Junge räusperte sich und hob die Stimme.
»Ich sah zwei Reiter, die aus Montsalvy zu kommen schienen. Der erste, groß und von schöner Gestalt, war ganz in Schwarz gekleidet: er trug sogar eine schwarze Maske, aber er ritt eine wundervolle schneeweiße Stute …«
»Morgane!« murmelte Cathérine gefesselt. »Morgane und …«
»Der andere war ein kleiner, magerer gelber Mann mit kohlschwarzen Augen und einem Spitzbärtchen. Sie hielten neben mir, und der Kleinere sprach mich an. Von dem anderen … dem Reiter mit der Maske, habe ich kein Sterbenswörtchen gehört. Er sah mich nicht an. Er hielt sich etwas abseits, mit seiner behandschuhten Rechten den Hals seines Tieres tätschelnd, das ungeduldig auf dem Boden scharrte.«
»Was hat der Kleinere zu dir gesagt?« fragte Saturnin.
»Er hat mich gefragt, ob ich den Amtmann von Montsalvy kenne. Ich habe geantwortet, ich hätte ihn zwei- oder dreimal gesehen und ich sei Schäfer des Herrn de Vieillevie. Dann hat der kleine gelbe Mann gefragt, ob ich bereit sei, Meister Saturnin etwas zu überbringen, ob man mir vertrauen könne. Ich habe ja gesagt, aber ich brauche einen Vorwand, um hierherzukommen. Zufällig hatte ich Käse zu verkaufen. Ich sagte also, daß ich in dieser Woche nach Montsalvy gehen würde. Dann hat er mir noch eine Frage gestellt. Er hat mich gefragt, ob ich lesen könne. Ich habe geantwortet: Nein …«
»Und dann?« fragte Cathérine, auf die Folter gespannt. »Was hat er hinzugefügt?«
»Nicht viel. Er hat aus seinem Wams ein zusammengefaltetes und versiegeltes Pergament gezogen und mir aufgetragen, es so schnell wie möglich zu Meister Saturnin zu bringen. Und er hat mir einen Taler für meine Mühe gegeben!«
»Dieser Brief«, fragte Cathérine, »wo ist er?«
»Hier!« antwortete Saturnin, Cathérine die versiegelte Botschaft reichend, die sie mit zitternder Hand in Empfang nahm.
»Ihr habt ihn nicht geöffnet?«
»Das ist nicht meine Sache«, entgegnete der Amtmann, den Kopf schüttelnd. »Lest nur!«
Tatsächlich waren einige Worte auf das Pergament geschrieben: »Für Dame Cathérine de Montsalvy, sobald sie zurück ist.«
Plötzlich schien es Cathérine, als drehten sich die gekalkten weißen Wände vor ihren Augen. Diese Worte, daran gab es keinen Zweifel, hatte Arnaud selbst geschrieben! Mit einer instinktiven Bewegung drückte sie das Pergament ans Herz, während sie gegen die Erregung ankämpfte, die in ihr aufstieg. Saturnin bemerkte es, wollte den Schäfer entlassen.
»Du hast deine Botschaft gut überbracht, mein Junge. Geh nun und ruh dich aus.«
Doch Cathérine hielt ihn zurück:
»Warte! Auch ich möchte dir danken, Schäfer …«
Sie wühlte in ihrem Almosenbeutel, aber der junge Mann machte eine abweisende Bewegung.
»Nein, edle Dame! Ich habe meinen Lohn schon erhalten! Kauft meinen Käse, wenn Ihr wollt, sonst nehme ich nichts an.«
»Ich kaufe deinen ganzen Käse, Kleiner! Und Gott segne dich!«
In die Hand des sprachlosen Schäfers leerte sie ihre Börse. Der Junge trat zurück, sie mit Segenswünschen überhäufend, die sie nicht einmal mehr hörte. Sie wollte allein sein, um die kostbare Botschaft zu lesen … Als der Schäfer verschwunden war, hob sie die Augen zu Saturnin.
»Niemand«, sagte sie, »darf erfahren, wer den Schäfer getroffen hat, niemand in Montsalvy! Und besonders nicht Dame Isabelle!«
»Es war Messire Arnaud, nicht wahr?«
»Ja, Saturnin, er war es! Das Hospital in Calves ist gestern nacht abgebrannt. Er konnte entrinnen, durch welches Wunder auch immer, aber es ist besser, daß sie es nicht erfährt. Nur Donatienne, Sara und Gauthier dürfen es wissen.«
»Seid ohne Furcht. Niemand wird davon erfahren. Für jedermann hier, selbst für den Abt, ist Messire Arnaud in Carlat gestorben. Sie werden weiter daran glauben! Jetzt lasse ich Euch einen Augenblick allein.«
»Danke, Saturnin … Ihr seid gut!«
Er ging auf Zehenspitzen hinaus und schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Cathérine setzte sich auf den blitzsauberen Stein des gelöschten Kamins und öffnete langsam das Pergament. Ihre Hände zitterten vor Erregung und Freude, aber die Tränen brannten ihr derart in den Augen, daß sie zuerst Mühe hatte, die festen Schriftzüge ihres Gatten zu entziffern. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, über die Augen, als wollte sie den Schleier, der sie bedeckte, wegreißen.
»Mein Gott«, sagte sie mit einem nervösen Lachen. »Ich werde es nie lesen können! Ich muß mich beruhigen!«
Sie zwang sich, zwei- oder dreimal tief zu atmen, und trocknete sich die Tränen. Diesmal wurde der Text klar.
»Cathérine«, lautete das Pergament, »ich bin im Gebrauch der Feder nie sehr geschickt gewesen, aber bevor ich für immer verschwinde, wollte ich Dir ein letztes Mal Lebewohl sagen und Dir das Glück wünschen, das Du verdienst. Du hast es gefunden, wie man mir sagt, und mein Wunsch ist belanglos. Bin ich nicht ein Toter, der noch atmet und der – ach! – nicht aufgehört hat zu denken? … Aber ich habe noch die Fähigkeit, Dir zu sagen, daß Du von nun an frei bist, kraft meines eigenen Willens!«
Cathérines Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Ihre Finger krampften sich um das Pergament, doch tapfer fuhr sie in ihrer Lektüre fort. Das Folgende war noch schlimmer:
»Der, den Du auserwählt hast, wird Dir alles geben, was ich Dir nicht habe geben können. Er ist tapfer und Deiner würdig. Du wirst reich, gefeiert und geehrt sein! Doch ich, Cathérine, ich, dem es, obwohl tot, noch nicht gelungen ist, die Liebe in meinem Herzen abzutöten, ich kann nicht mehr in diesem Lande bleiben, in dem Du nicht mehr sein wirst. Was ich ertragen konnte, solange Du in meiner Nähe warst, kann ich nicht mehr, wenn Du Dich entfernst! Ich möchte nicht mehr wie eine Ratte in ihrem Loch krepieren, mich langsam in einer Höhle zum Sterben legen. Ich möchte am hellichten Tage sterben … und allein! Fortunat, der nie aufgehört hat, mit mir in Verbindung zu bleiben, hat mir, bei Gefahr seines Lebens und trotz meiner Gegenwehr, geholfen zu fliehen. Er wird mein letzter Freund gewesen sein …
Denkst Du noch an den Pilger, den wir beide getroffen haben? Er hieß Barnabe, glaube ich, und ich höre noch, wie er uns sagte: ›Erinnert Euch in den schweren Stunden, die Euch bevorstehen, an den alten San-Jago-Pilger …‹ Erinnere Dich, Cathérine! An der Gruft des Apostels hat er seine Sehkraft wiedererlangt … So Gott will, werde ich die verfluchte Krankheit in Galicia los. Dann werde ich unter einem angenommenen Namen dem Heiligen Vater meinen Degen gegen die Ungläubigen anbieten. Sollte jedoch die Gnade der Heilung dem Sünder, der ich bin, verweigert werden, werde ich trotzdem eine Gelegenheit finden, als Mann zu sterben.
Hier trennen sich unsere Wege für immer. Du gehst dem Glück, ich meinem Schicksal entgegen. Leb wohl, Cathérine, meine Kleine …«
Der Brief entglitt den plötzlich eisigen Fingern Cathérines. In ihrer Seele mischte sich unerträglicher Schmerz mit einem Zorn, einem wahnsinnigen Zorn, stürmisch, mörderisch, auf Brézé. Was für Unheil hatte sein Geschwätz angerichtet! Sein großes Leidenschaftsgeschrei! Der nahe bevorstehende Tod Isabelles, Arnauds Flucht und für Cathérine diese entsetzlichen Gewissensbisse! Arnaud war fortgegangen, weit, weit fort, weil er sie für untreu hielt! Er sagte, er liebe sie noch und aus diesem Grunde gehe er fort … aber wie lange würde diese Liebe noch anhalten, die sich nicht vom anderen getragen, vom anderen erwidert fühlte? Zorn auch gegen sich selbst! Wie hatte sie nur den alten Pilger und den Rat, den er ihnen gegeben hatte, vergessen können? Warum hatte sie nicht alles stehen- und liegenlassen, alles aufgegeben, um den Mann, den sie liebte, seiner möglichen Rettung zuzuführen, statt einer lächerlichen Rache nachzujagen! Warum war sie nicht mit ihm fortgegangen, vor Monaten schon, um das Unmögliche zu versuchen? In ihrer Wut vergaß sie, daß Arnaud niemals eingewilligt hätte, sie in ein solches Abenteuer zu verwickeln, er, der sie aus Furcht vor Ansteckung nicht einmal zu berühren gewagt hatte.
Und dann ebbte der Zorn ab, und es blieb nur noch der Schmerz. Auf dem Kaminstein zusammengekauert, schluchzte Cathérine hemmungslos, immer wieder den Verlorenen rufend … Der Gedanke, daß Arnaud sich verraten und vergessen glauben konnte, war unerträglich. Er brannte wie glühendes Eisen. Mit Entsetzen sah sie sich im Obstgarten von Chinon wieder in die Arme Pierre de Brézés fallen und verfluchte sich wütend. Mit welchem unmenschlichen Preis mußte sie diesen Augenblick der Tollheit bezahlen?
Sie hob den Kopf, sah sich allein in diesem geschlossenen Raum, eingefangen wie in einem Spinnennetz. Ihr verstörter Blick irrte von der Tür zum Fenster. Sie mußte fliehen, auch sie, mußte sich an die Verfolgung Arnauds machen! Sie brau Ate ein Pferd, sofort, das schnellste Pferd … Sie mußte über Mauern, über Ebenen, über Gebirge fliegen … Sie mußte ihn finden! Das war es, ihn finden, koste es, was es wolle, sich ihm zu Füßen werfen, seine Verzeihung erflehen und ihn nicht mehr verlassen … nie mehr!
Wie eine Wahnsinnige stürzte sie zur Tür, stieß sie auf und rief:
»Saturnin! Saturnin! … Pferde!«
Der alte Mann eilte herbei, voller Sorge, als er die in Tränen aufgelöste Frau mit den roten, brennenden Augen gewahrte.
»Dame! Was habt Ihr?«
»Ich möchte ein Pferd, Saturnin … und zwar sofort! Ich muß fort … ich muß ihn wiederfinden!«
»Dame Cathérine, es dunkelt schon, die Tore werden geschlossen … Wo wollt Ihr hin?«
»Ihn finden, meinen Herrn … Arnaud!«
Sie hatte verzweifelt den vielgeliebten Namen hinausgeschrien. Saturnin schüttelte den Kopf und trat zu der jungen Frau. Noch nie hatte er sie so blaß, so erschüttert gesehen.
»Ihr zittert! … Kommt mit mir. Ich werde Euch ins Kloster zurückbringen! Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber heute abend könnt Ihr nichts mehr tun. Ihr braucht Ruhe.«
Er hob das Pergament auf, legte es ihr wie einem Kind in die Hände und zog sie sanft hinaus. Gleich einer Schlafwandlerin ließ sie es geschehen, protestierte aber trotzdem wie aus der Tiefe eines Traums.
»Ihr versteht nicht, Saturnin! Ich muß ihn einholen … Er ist schon weit fort … und für immer!«
»Er war schon vorher für immer fort, Dame Cathérine! An einem Ort, von dem man nicht wiederkehrt. Kommt mit mir. Im Kloster sind Dame Isabelle, Gauthier, Sara … Sie lieben Euch, sie werden Euch helfen, wenn sie Euch in dieser großen Not sehen werden. Kommt, Dame Cathérine …«
Die frische Abendluft tat der jungen Frau gut und gestattete ihr, sich wieder ein wenig zu fassen. Vom Arm Saturnins gestützt, vermochte sie während des kurzen Weges ihr Hirn zu zwingen, den wahnwitzigen Gedankenwirbel zu beenden, sich zu beruhigen. Mußte sie sich nicht beschwichtigen, mußte sie nicht so vernünftig und kalt denken wie möglich? Saturnin hatte recht, wenn er sagte, Sara und Gauthier würden ihr helfen … Aber es war unumgänglich, daß sie ihre Nerven in der Gewalt hatte, daß sie versuchte, nicht mehr zu denken, Arnaud habe sich für immer von ihr getrennt, habe das Band, das sie noch vereinte, zerschnitten …
Sie richtete sich auf, bemühte sich, vor den Leuten, die sie auf der Straße traf, Haltung zu bewahren. Doch als sie im Kloster ankamen, trafen Cathérine und Saturnin den Abt persönlich in der Loge des Bruders Pförtner an …
»Ich wollte Euch schon suchen gehen, Dame Cathérine«, sagte er. »Eure Mutter hat einen Rückfall gehabt und das Bewußtsein verloren …«
»Dabei ging es ihr vorhin doch so gut!«
»Ich weiß. Wir sprachen ruhig miteinander, doch plötzlich sank sie in die Kissen zurück, der Atem ging kurz … Sara ist bei ihr und unser Bruder Apotheker.«
Cathérine war gezwungen, ihren eigenen Schmerz zum Schweigen zu bringen, während sie an das Krankenbett der alten Frau eilte. Tapfer schob sie den fatalen Brief in ihren Almosenbeutel und ging zu Isabelle hinein. Die Kranke lag immer noch regungslos auf ihrem Lager, über sie gebeugt, versuchte Sara, sie wiederzubeleben, indem sie sie scharfen Duft eines Fläschchens einatmen ließ, während der Bruder Apotheker ihr die Schläfen mit einem belebenden Wasser einrieb. Cathérine beugte sich hinunter:
»Geht es ihr sehr schlecht?«
»Sie kommt wieder zu sich!« flüsterte Sara mit gerunzelter Stirn. »Aber ich habe wahrhaftig geglaubt, es gehe zu Ende.«
»Auf jeden Fall«, meinte der Mönch, »wird sie es nicht mehr lange machen. Sie hält sich nur mit Mühe aufrecht.«
In der Tat kam Isabelle mählich wieder zu sich. Mit einem erleichterten Seufzer richtete Sara sich auf und lächelte Cathérine zu, doch ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen.
»Aber … du bist ja blasser als sie! Was ist denn passiert?«
»Ich weiß, wo Arnaud ist!« erwiderte Cathérine mit tonloser Stimme. »Du hattest recht, Sara, als du sagtest, daß ich es mein Leben lang bereuen würde, wenn ich Pierre de Brézé erhörte. Die Reue ist sehr schnell gekommen.«
»Sprich doch. Was ist?«
»Nein. Später. Saturnin wird im großen Saal warten. Bitte ihn zu bleiben. Suche auch Gauthier, schicke jemand zu Ehrwürden Vater Abt und laß ihn bitten, sich zu uns zu bemühen. Ich habe ernste Dinge zu berichten!«
Eine Stunde später trat der Rat zusammen, den Cathérine gewünscht hatte, zwar nicht im Gemeinschaftssaal des Gästehauses, sondern im Kapitularsaal der Abtei, in den der Abt seine Gefährten hatte bitten lassen. Von Bruder Eusebius geführt, schritten Cathérine, Gauthier, Saturnin und Sara durch die zu dieser Stunde stille Kirche, in der ein Öllämpchen vor einer Statue Unserer Frau brannte, der die Stiftskirche geweiht war. Dann traten sie in den großen Saal. Er wurde durch vier an zwei das Gewölbe tragenden Säulen angebrachte Fackeln erleuchtet.
Der Abt, ein schmales Schemen in seiner langen schwarzen Kutte, war allein. Langsam ging er vor dem Abt-Thron hin und her, die Hände in den weiten Ärmeln vergraben, die Stirn unter dem kurz geschorenen, hellen Haarkranz gesenkt. Das Licht der Fackeln verlieh seinem gelben, asketischen Gesicht die Tönung alten Elfenbeins. Er war gleichermaßen ein Mann der Tat, denn er leitete sein Kloster mit fester Hand, und ein Mann des Gebetes.
Seine Liebe zu Gott war unermeßlich, sein Leben ohne Fehl, und wenn seine Jugend ihn zwang, strenge Haltung zu bewahren, ernst auszusehen, um seine Autorität zu sichern, verbarg er unter seinem fast eisigen Benehmen doch großes Mitleid mit den Menschen und ein glühendes Herz.
Als er die von ihm Erwarteten eintreten sah, blieb er stehen, setzte einen Fuß auf die Stufe, die den Thron erhöhte, und wies Cathérine mit einer Handbewegung einen Schemel an.
»Setzt Euch, meine Tochter! Ich bin hier, Euch anzuhören und Euch mit meinem Rat zu helfen, wie Ihr gebeten habt.«
»Seid bedankt, mein Vater, denn ich bin in großer Not. Ein unvorhergesehenes Ereignis hat mein ganzes Leben in Unordnung gebracht. Auch wollte ich Euch um Eure Unterstützung bitten. Dies hier sind meine getreuen Diener, vor denen ich nichts zu verbergen habe.«
»Sprecht, ich höre Euch zu!«
»Zuerst muß ich Euch die Wahrheit über den angeblichen Tod meines Gatten, Arnaud de Montsalvy, gestehen. Es wird Zeit, daß Ihr sie kennt …«
Die blasse Hand des Abtes hob sich, um Cathérine zu unterbrechen.
»Spart Euch die Mühe, meine Tochter! Dame Isabelle hat mir in der Beichte dieses schmerzliche Geheimnis bereits anvertraut. Es ist keins mehr, da Ihr nun einmal davon sprechen wollt.«
»Dann, mein Vater, wollt Ihr bitte diesen Brief lesen … und lest ihn bitte laut. Gauthier hier kann nicht lesen; und Sara hat große Mühe, ihn zu entziffern.«
Bernard de Calmont neigte zustimmend den Kopf, nahm den Brief und begann ihn vorzulesen. Cathérine hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Die ruhige, ernste Stimme des Abtes verlieh den Abschiedsworten einen aufwühlenden Zauber, der sie trotz aller Bemühung, Ruhe zu bewahren, erschütterte. Hinter ihrem Rücken hörte sie die gedämpften Ausrufe ihrer drei Gefährten, wandte sich aber nicht um. Erst als der Abt verstummte, öffnete sie wieder die Augen.
Jetzt sah sie, daß aller Augen auf sie gerichtet waren und daß in denen des Abtes tiefes Mitleid lag. Saras Hand legte sich ermutigend auf ihre Schulter.
»Welchen Rat soll ich Euch geben, meine Tochter«, fragte der Abt, »und welche Art Hilfe?«
»Ich werde aufbrechen, mein Vater. Trotz des Kummers, den mir die Trennung von meinem kleinen Sohn bereiten wird, da ich nur noch ihn habe und er nur mich, muß ich fort und um jeden Preis seinen Vater finden! Ein furchtbares Mißverständnis ist zwischen ihm und mir entstanden. Ich kann es nicht ertragen. Messire de Brézé hat – in gutem Glauben angenommen, weil ich ihm freundschaftlich entgegenkam, daß ich einwilligen würde, seine Frau zu werden. Er kannte die Wahrheit nicht und konnte nicht wissen, daß ich mich um keinen Preis bereit finden würde, einen anderen Namen als den meinen zu tragen. Er hat aus Naivität gehandelt, auch aus Liebe … und hat eine entsetzliche Katastrophe heraufbeschworen. Ich möchte Euch bitten, Euch meines Sohnes anzunehmen, über ihn zu wachen wie ein Vater, mich völlig in der Herrschaft über Montsalvy zu ersetzen und Euch für den Wiederaufbau des Schlosses zu interessieren. Meine Diener bleiben … ich gehe!«
»Wohin geht Ihr? Ihm nach?«
»Natürlich. Ich möchte ihn nicht für immer verlieren.«
»Er ist bereits für immer verloren!« sagte der Abt streng. »Er wendet sich Gott zu. Warum wollt Ihr ihn auf die Erde zurückholen? Die Lepra ist gnadenlos!«
»Nur wenn Gott es will! Muß ich Euch, mein Vater, daran erinnern, daß es Wunder gibt! Wer sagt Euch, daß er am Grab San Jagos von Galicia nicht Heilung finden wird?«
»Dann laßt ihn dort hingehen, wie er es beabsichtigt! Aber allein!«
»Und wenn er gesundet? Soll ich ihn auch dann weiterziehen lassen, fern von mir, um sich im Kampf gegen die Ungläubigen töten zu lassen?«
»Was sonst taten die Frauen der alten Kreuzfahrer?«
»Einige gingen mit ihnen! Ich möchte den Mann wiederfinden, den ich liebe!« schleuderte Cathérine in wildem, leidenschaftlichem Ton dem Abt entgegen, der die Augen abwandte und leicht die Stirn runzelte.
»Und … wenn er nicht geheilt wird?« sagte er schließlich. »Es ist eine seltene Gnade, die einem nicht leicht widerfährt.«
Es trat Stille ein. Bis dahin hatten sich die Fragen und Antworten Cathérines und des Abtes in rascher Folge gekreuzt wie die Degen zweier Duellanten. Aber die letzten Worte beschworen das große Entsetzen der verfluchten Krankheit herauf. Ein Frösteln glitt über den Rücken aller Anwesenden.
Cathérine erhob sich, schritt zu dem großen gekreuzigten Christus, der seine entfleischten Arme an der Wand des Kapitularsaales ausbreitete.
»Wenn er nicht gesundet, bleibe ich bei ihm, so lange lebend, wie er leben wird, an seiner Krankheit sterbend, aber mit ihm!« sagte sie fest, die Augen auf das Kreuz geheftet, als wollte sie es zum Zeugen anrufen.
»Gott verbietet den Selbstmord! Mit einem Leprakranken leben heißt willentlich den Tod suchen!« wandte der Abt trocken ein.
»Lieber den Tod mit ihm als das Leben ohne ihn … und selbst die Verdammnis, falls man Gott lästert, indem man über alle Maßen liebt!«
Die Stimme des Abtes donnerte, während seine magere Hand sich gen Himmel streckte.
»Schweigt! Die menschliche Leidenschaft läßt Euch ganz bestimmt noch einmal lästern! Bereut, wenn Euch vergeben werden soll, und bedenkt, daß die Stimme der fleischlichen Liebe eine Beleidigung der Reinheit Gottes ist!«
»Verzeiht mir … aber ich kann nicht lügen, wenn es sich um das handelt, was mein Leben ausmacht. Ich kann nicht anders sprechen! Antwortet mir nur, mein Vater. Seid Ihr einverstanden, mich in Montsalvy zu vertreten und meine Familie weiter zu beschützen, gleichzeitig also Herr und Abt bis zu meiner Rückkehr zu sein?«
»Nein!«
Das Wort kam geradezu knallend, scharf und endgültig.
Von neuem trat dumpfe Stille ein. Hinter Cathérine hielten die drei stummen Zeugen den Atem an. Die junge Frau sah das schmale, strenge Gesicht ungläubig an.
»Nein? … Mein Vater! … Warum nicht?«
Es war ein wahrhafter Schmerzensschrei! Langsam ließ sie sich auf die Knie fallen und streckte die Hände in der instinktiven Bewegung einer Flehenden aus.
»Warum nicht?« wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme. »Laßt mich gehen! Wenn ich seine Liebe auf immer verliere, wird mein Herz von selbst aufhören zu schlagen. Ich könnte nicht mehr leben!«
Die starren Züge drückten plötzlich tiefe Sanftmut aus. Bernard de Calmont beugte sich zu der jungen Frau hinunter, nahm die ihm entgegengestreckten Hände und hob die Kniende behutsam auf.
»Weil Ihr jetzt nicht gehen könnt, meine Tochter! Ihr denkt nur an Eure menschliche Leidenschaft, an Euren rechtmäßigen … und vielleicht auch verdienten Schmerz. Hattet Ihr diesen jungen Herrn nicht ermutigt, Eure Liebe zu erhoffen? Nein, antwortet mir nicht! Sagt mir nur, ob diese Liebe Euch nicht zur Grausamkeit treibt, ob es in diesem so völlig vergebenen Herzen nicht noch Mitleid für andere gibt?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Dies: Von Eurem Sohn ganz zu schweigen, der Euch hier zurückhalten sollte, werdet Ihr die alte Frau ohne Eure Liebe allein sterben lassen, diese Mutter, die nur noch Euch hat und deren Leid zweifellos schlimmer ist als das Eure, denn Ihr bewahrt in Eurem Inneren zähe die dunkle Hoffnung, Euren Gatten wiederzusehen. Während sie weiß, daß sie ihren Sohn niemals wiedersehen wird … Werdet Ihr so gefühllos sein?«
Cathérine senkte den Kopf. In ihrer Verzweiflung hatte sie Isabelle vergessen, die sich in der schmalen Zelle des klösterlichen Gästehauses zum Sterben legte. Nur bei dem Gedanken an die Trennung von Michel hatte sie gelitten. Er war der Grund für ihr ganzes Bedenken gewesen, für alles, was sie hätte zurückhalten können. An die alte Frau hatte sie nicht gedacht. Jetzt schämte sie sich dessen, aber hinter den Vorwürfen, die ihr Gewissen ihr machte, hörte sie dennoch ihre Liebe protestieren. Niemand zählte, wenn es sich um Arnaud handelte.
Trotzdem gab sie sich ohne Zögern geschlagen.
»Nein!« sagte sie nur. Aber sie wandte sich um, in Saras Armen Trost suchend, die sie zärtlich an sich drückte. Mit einem Seufzer fügte sie hinzu: »Ich werde bleiben.«
Darauf erhob sich die rauhe Stimme Gauthiers.
»Ihr müßt hierbleiben, Dame Cathérine, der Sterbenden und Eures Kindes wegen. Aber ich bin frei, wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt zu gehen! Ich kann Messire Arnaud nachreiten! Wer sollte mich daran hindern?« Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich an den Abt, den er um einen Kopf überragte: »Gebt mir ein Pferd und ein Beil, Mann Gottes! Vor den großen Landstraßen und den langen Ritten ist mir nicht bang!«
Cathérine, die dieser Ausbruch wieder belebt hatte, warf dem Normannen einen von Dank überfließenden Blick zu.
»Das ist wahr … Du bist ja da! Du wirst ihm sagen können, daß ich ihn niemals verraten habe, aber er wird nicht einwilligen, zu mir zurückzukehren, das weißt du sehr gut! Niemand hat je seinen Willen beugen können!«
»Ich werde tun, was ich kann. Zumindest wird die Pflicht für Euch den bitteren Geschmack verlieren, den Ihr jetzt empfindet. Wenn Messire Arnaud gesundet, werde ich ihn zurückbringen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn nicht … komme ich allein zu Euch zurück! Laßt Ihr mich gehen?«
»Wie könnte ich es dir verweigern? Du bist meine einzige Chance.«
»Also gehen wir!« rief Gauthier, der wie alle Männer der Tat nicht gern viele Worte machte. »Wir haben so schon genug Zeit verloren! Laßt mir die Stadttore öffnen – und aufs Pferd! Bei Odin, ich werde ihn schon zu finden wissen, selbst wenn ich ihm bis zu Mohammed nachreiten müßte!«
»Dies ist das Haus Gottes!« empörte sich der Abt. »Götzen haben hier nichts zu suchen! Kommt mit mir, Cathérine, meine Tochter … Bitten wir Unsere Liebe Frau im Himmel, über diesen Wilden zu wachen, der sie nicht einmal kennt! Und dann werden wir ihn zusammen gehen lassen … Ich werde Euch helfen!«
Eine Stunde später stand Cathérine zwischen Sara und Saturnin unter dem Südtor von Montsalvy und lauschte dem in Richtung des tiefen Tals des Lot verhallenden Hufgeklapper des Pferdes nach, das Gauthier im Galopp davontrug. Mit etwas Mundvorrat versehen, in festen Kleidern und mit einer vollen Börse ausgerüstet, im Sattel eines kräftigen Percheronpferdes, das durch Kraft wettmachte, was ihm an Rasse fehlte, stürzte sich der Normanne auf die Fährte Arnauds und Fortunats.
Als die Huf schlage sich in der Tiefe der von Sternen übersäten Nacht verloren hatten, hüllte Cathérine sich noch enger in den dunklen Mantel, in den sie sich gewickelt hatte, suchte am Firmament die weiße Spur der Milchstraße, die man auch die Straße San Jagos nannte, und seufzte.
»Wird es ihm gelingen, ihn zu finden? Diese südlichen Bereiche werden ihm so fremd sein wie das Land des Großen Khan.«
»Der Herr Abt hat ihm gesagt, er müsse der von Muscheln gezeichneten Straße folgen. Er hat ihm die Namen der ersten Wegstationen eingetrichtert, da er sie ihm ja nicht aufschreiben konnte«, sagte Saturnin. »Ihr müßt Vertrauen haben, Dame Cathérine! Wenn er auch nicht an sie glaubt, weiß ich doch, daß die Heilige Jungfrau über Gauthier wachen wird! … Sie verläßt diejenigen nie, die ihre Großmut auf die großen Landstraßen treibt!«
»Er hat recht!« meinte Sara zustimmend, Cathérines Arm nehmend. »Gauthier hat Kraft, Intelligenz und Verschlagenheit auf seiner Seite. Er hat in sich die Fähigkeit, Berge zu versetzen. Komm jetzt, kehren wir wieder zurück! Dame Isabelle braucht uns, und wenn du deinen Sohn umarmst, wirst du den Mut finden, dich weiter der Aufgabe zu widmen, die deiner wartet.«
Cathérine antwortete nicht.
Sie unterdrückte den Seufzer des Bedauerns, der ihr auf den Lippen lag, und stieg still wieder zur Abtei hinauf. Aber sie wußte genau, daß sie sich nur der Vernunft gebeugt hatte und daß der Wunsch, gleichfalls der Spur Arnauds zu folgen, sie nicht so bald verlassen würde …!
Lange wiegte sie an diesem Abend Michel in den Armen und erwärmte ihr schmerzendes Herz an ihrer Liebe zu dem Kind.
Isabelle de Montsalvy starb einen Tag nach Saint-Michael, ohne zu leiden und ohne Todeskampf, fast friedlich. Am Vorabend ihres Todes hatte sie noch eine letzte Freude: Ihr Enkelsohn empfing zum erstenmal die Vasallenhuldigung.
In seiner Eigenschaft als Amtmann und in Übereinstimmung mit den Notabeln von Montsalvy hatte Saturnin entschieden, daß das Kind an seinem Namenstag offiziell als Herr der kleinen Stadt anerkannt werden sollte. Da nun der König den Montsalvys alle Titel und Güter zurückgegeben hatte, schien das Datum des 29. Septembers dem ausgezeichneten Mann für eine solche Feierlichkeit besonders geeignet, um so mehr, als es mit dem Fest der Schäfer zusammenfiel, zu dem sich jedes Jahr zur gleichen Zeit die Hüter der Schafe aus der ganzen Gegend auf der Ebene von Montsalvy versammelten.
An diesem Tag hatte man auf dem Dorfplatz, vor der Kirchentür, einen von einem Baldachin in den Farben der Familie geschützten Herrenstand errichtet, und nach der von Abt Bernard zelebrierten feierlichen Messe ließen Michel und seine Mutter sich dort nieder, um die Huldigung ihrer Lehnsleute entgegenzunehmen, die für diese Gelegenheit ihre schönsten Kleider angezogen hatten. Saturnin, in feinem braunem Tuch, eine Silberkette um den Hals, hatte auf einem Kissen die Weizenähren der Felder und die Trauben der Weinspaliere dargereicht. Er hatte eine schöne Rede gehalten, vielleicht etwas zu breit, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, die aber dennoch jedermann für vortrefflich hielt; dann waren nacheinander alle Bewohner von Montsalvy, alle Bauern der umliegenden Höfe vor der Herrenbank vorbeigezogen und hatten Michel das Händchen geküßt. Das Kind lachte vor Freude, glücklich über den schönen weißen Samtanzug, den Sara ihm zurechtgeschneidert hatte, sich aber sichtlich viel mehr für die Kette aus Gold und Topasen interessierend, die seine Mutter ihm um den Hals gelegt hatte. Die Zeremonie war, um die Wahrheit zu sagen, für einen kleinen Herrn, der noch nicht zwei Jahre alt war, ein wenig lang. Aber die Tänze der Schäfer und die Zweikämpfe, die sie sich darauf mit bloßen Händen lieferten, entfesselten seine Begeisterung. Trotz aller Bemühungen Cathérines, ihn halbwegs still zu halten, kletterte Michel auf seinen Armstuhl und zappelte wie ein kleiner Teufel in einem Weihwasserkessel. Ganz in seiner Nähe lag seine Großmutter, die man auf einer Trage hergebracht und unter ein Zeltdach gestellt hatte, damit sie bei dem Fest anwesend sein konnte, und betrachtete ihn bewundernd …
Der Tag endete mit einem großen Freudenfeuer, das von Michel persönlich auf der Ebene angezündet worden war. Natürlich hatte ihm Cathérine das Händchen geführt. Während sodann Jungen und Mädchen auf dem noch grünen Gras muntere Reigen tanzten, brachte man den erschöpften neuen Herrn zu Bett, der übrigens, den blonden Kopf an Saras Schulter gekuschelt, schon schlief.
Die ganze Nacht hörte Cathérine ihre Leibeigenen singen und tanzen, glücklich über ihre Freude, die ihr großes Leid offenbar nicht trüben konnte. Sie hatte sich während des Tages bemüht, ihre tiefe Trauer zu verbergen, um ihnen nicht zu zeigen, wie grausam sie dieses Fest berührte. Der Herrschaftsantritt Michels stieß seinen Vater in die Vergangenheit zurück, diesen Vater, von dem seit anderthalb Monaten niemand mehr etwas wußte …
Doch am anderen Morgen wurden die guten Leute von Montsalvy, die sich in ihrer Freude und Lebenslust sehr spät schlafen gelegt hatten, vom schauerlichen Geläut der Totenglocke geweckt und erfuhren so, daß ihre alte Burgfrau verschieden war.
Als Sara am Morgen ihr eine Schale Milch bringen wollte, fand sie sie tot in ihrem Bett. Isabelle lag ausgestreckt da, die Augen geschlossen, die Hände über dem Rosenkranz gefaltet, und ein Sonnenstrahl, der über ihren blassen Händen flimmerte, ließ den Smaragd der Königin Yolande funkeln. Zuerst war Sara einen Augenblick auf der Schwelle der Kammer stehengeblieben, verblüfft über die außergewöhnliche Schönheit der Toten. Die verwüstenden Spuren der Krankheit waren verschwunden, und das Gesicht, wie Milch und Blut, wirkte entspannt und unendlich viel jünger als am Abend zuvor. Ihr weißes Haar umrahmte es mit zwei dicken Zöpfen, und ihre Ähnlichkeit mit ihren Söhnen war wieder auffallend.
Sara hatte sich bekreuzigt, dann war sie, die Schale Milch an der Tür abstellend, bei Cathérine eingetreten, die erst am frühen Morgen eingeschlafen war. Sie hatte sie sanft gerüttelt, und als die junge Frau sich mit einem nervösen Zucken aufgerichtet hatte und sie mit der verstörten Miene jemandes, den man brüsk weckt, ansah, hatte sie gemurmelt:
»Dame Isabelle hat aufgehört zu leiden, Cathérine … Du mußt aufstehen! Ich werde den Abt benachrichtigen. Wecke inzwischen Michel im Zimmer nebenan, und übergib ihn Donatienne. Der Tod ist kein Anblick für ein Kind!«
Cathérine hatte gehorcht wie eine Schlafwandlerin. Seit ihrer Rückkehr erwartete sie dieses Ende. Sie wußte, daß die alte Dame es als Erlösung herbeisehnte, und ihre Vernunft flüsterte ihr ein, daß sie nicht betrübt zu sein brauchte, wenn Isabelle endlich Frieden gefunden hatte. Doch die Vernunft vermochte nichts gegen den plötzlichen Schmerz, der sie durchdrang … Sie entdeckte, daß Isabelles Anwesenheit ihr viel kostbarer gewesen war, als sie glaubte. Solange die Mutter Arnauds gelebt hatte, hatte Cathérine jemand gehabt, mit dem sie über ihn sprechen konnte, jemand, der ihn besser kannte als sie selbst, dessen Erinnerungen unerschöpflich waren. Und nun, da auch diese sanfte Stimme verstummt war, wurde die Einsamkeit der Hinterbliebenen noch größer … Arnaud war verschwunden, Gauthier hatte sich seit einem Monat ins Unbekannte gestürzt und jetzt … Isabelle …
Nachdem sie einen Augenblick später mit Saras Hilfe der Verstorbenen das letzte Kleid angelegt hatte, blieben beide am Fußende des Bettes stehen, auf dem sie ruhte, in das fromme Gewand der Klarissen gekleidet, denn Isabelle hatte vor langer Zeit den Wunsch geäußert, darin ihren letzten Schlaf zu schlafen. Die Strenge der weiten schwarzen Gewänder verlieh ihr eine außerordentliche Majestät, und unter ihren bläulichen Lidern schienen die Augen sich gleich öffnen zu wollen.
Ganz sanft hatte Cathérine vom Finger Isabelles den gravierten Smaragd gestreift, dessen profane Herrlichkeit mit dem klösterlichen Kleid nicht zu vereinbaren war. Dann hatte sie mit Sara die Tote lange betrachtet, ehe sie zu den ersten Gebeten niederknieten, genau in dem Augenblick, in dem der Abt eintrat, von zwei Geistlichen begleitet, die das Weihrauchfaß und den Weihwasserkessel trugen.
Die darauffolgenden drei Tage vergingen der jungen Frau wie ein schauerlicher Traum. Die Leiche wurde im Chor der Kirche aufgebahrt und von zwei Mönchen bewacht. Cathérine, Sara und Donatienne lösten sich auf dem Kissen zu Füßen des Katafalkes ab. Für Cathérine hatten diese Stunden der Wache in der stillen Kirche etwas Unwirkliches. Die Mönche, die neben der Bahre standen, die Kapuzen tief ins Gesicht herabgezogen und die Hände in ihren weiten Ärmeln vergraben, kamen Cathérine wie Geister vor, und das zitternde Licht der dicken gelben Wachskerzen verlieh ihrer Unbeweglichkeit etwas Erschreckendes. Um dem Schrecken zu entrinnen, den sie empfand, zwang sich Cathérine zu beten, aber die Worte wollten nicht kommen … Sie wußte nicht mehr, wie sie sich an Gott wenden sollte. Sie fand es viel leichter, sich ganz einfach an die Verstorbene zu wenden.
»Mutter«, flüsterte sie ganz leise, »da, wo Ihr jetzt weilt, muß alles viel einfacher, viel leichter sein! … Helft mir! … Macht, daß er wiederkommt oder daß er wenigstens erfährt, daß ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben! Mich verzehrt mein Kummer!«
Aber das wächserne Gesicht blieb unbeweglich, und das halbe Lächeln der geschlossenen Lippen hütete sein Geheimnis. Cathérines Herz wurde immer schwerer, je mehr die Zeit verging.
Am Abend des dritten Tages wurde die Leiche Isabelle de Ventadours, Dame von Montsalvy, in Anwesenheit der ganzen Bevölkerung ins Grab hinabgelassen. Hinter dem hölzernen Gitter ihrer Einzäunung sangen die kräftigen Stimmen der Mönche der Abtei das Miserere. Und unter ihren Trauerschleiern, die an diesem Abend eine neue und doppelte Bedeutung annahmen, sah Cathérine unter den Steinfliesen der Kirche die zerbrechliche Gestalt derjenigen verschwinden, die vor fünfunddreißig Jahren dem Mann das Leben geschenkt hatte, den sie anbetete …
Beim Verlassen der geweihten Stätte kreuzte sich der Blick der jungen Frau mit dem des Abtes, der die Totenmesse gelesen hatte. Sie sah in ihm gleichermaßen eine Frage und eine Bitte, wandte aber den Kopf ab, als wollte sie einer Antwort ausweichen. Wozu? Der Tod Isabelles befreite sie nicht. Die kleinen Hände Michels hielten sie fest an ihrem Platz. Und sie hatte keinen Grund, ihn zu verlassen, nachdem Gauthier sich zur Verfolgung Arnauds aufgemacht hatte. Solange er ihr keine Nachricht gab, mußte sie hierbleiben und warten … warten!
Der Herbst ließ das Gebirge in allen seinen Gold- und Purpurfarben leuchten. Die Umgebung Montsalvys bedeckte sich mit gelbroter Pracht, während am Himmel die niedrighängenden Wolken immer grauer wurden und die Schwalben in schnellen, schwarzen Zügen gen Süden flogen. Cathérine folgte ihnen mit den Blicken von der Höhe der Klostertürme aus, bis sie verschwunden waren. Doch bei jedem über ihrem Kopf dahinziehenden Schwarm fühlte sich die junge Frau etwas trauriger, ein wenig entmutigter. Sie beneidete von ganzem Herzen die sorglosen Vögel, begierig nur nach der Sonne, die in die Länder zogen, in die sie ihnen so gern gefolgt wäre!
Nie waren die Tage so langsam, so eintönig vergangen. Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es erlaubte, ging Cathérine mit Sara und Michel zum Südportal, wo Mönche und Bauern mit der Ausschachtung des Unterbaues für das neue Schloß begonnen hatten. Auf den Rat des Abtes hatte man beschlossen, die Festung, wo sie früher stand, an den Abhängen des Berges Arbre, nicht wieder aufzubauen, sondern dicht an dem Portal von Montsalvy, wo Schloß und Dorf sich gegenseitig die wirksamste Hilfe geben könnten. Die Verwüstungen durch den alten Praktikus Valette waren noch allen in nachdrücklicher Erinnerung.
Die beiden Frauen und das Kind verbrachten immer ein Weilchen auf der Baustelle und gingen dann weiter, um den Holzhauern bei der Arbeit zuzusehen. Tatsächlich mußte man, nachdem die englische Bedrohung nachließ, im Wald das Land zurückerobern, das man in den Zeiten der großen Not hatte verwildern lassen. Das Unterholz, das so viele Male als Zuflucht gedient hatte, war hochgeschossen und fast undurchdringlich. Man mußte es roden, um Weizen oder Viehfutter zu säen. Aber die Augen Cathérines schweiften immer über die Reihe der dunklen Bäume hinweg, in die weiten blauen Fernen, durch die Arnaud gekommen sein mußte. Dann, die kleine Hand Michels fest in der ihren haltend, ging sie langsamen Schrittes wieder ins Haus zurück.
Und dann, eines Nachts, wurde der Wind zum Sturm und entblätterte die Bäume. Noch eine Nacht, und der Schnee bedeckte das Land. Die Wolken hingen so niedrig, daß sie sich mit der Erde zu vereinen schienen, und die eisigen Frühnebel brauchten lange, um sich aufzulösen. Es war Winter, und Montsalvy legte sich schlafen. Die Arbeit auf der Baustelle des Schlosses ruhte, jedermann schloß sich in die Wärme seines Hauses ein. Cathérine und Sara machten es wie die anderen. Das von der Klosterglocke geregelte Leben verlief in einer hoffnungslosen Monotonie, in der Cathérines Schmerz trotz allem einschlief. Die Tage folgten einander, einer wie der andere. Man saß in der Kaminecke und sah Michel beim Spielen auf einer Decke zu. Das Land war unwandelbar weiß geworden, und Cathérine begann zu zweifeln, ob es in Zukunft noch andere Tage geben würde. Ob der Frühling überhaupt je wiederkäme?
Trotzdem zwang sich die junge Frau, jeden Tag auszugehen. Sie zog sich Überschuhe an, hüllte sich in einen großen Mantel mit Kapuze und verließ das Kloster zu einem Spaziergang, immer dem gleichen … Sie ging bis hinter das Südtor, wenn auch nicht zu dem Zwecke, die Baustelle ihres künftigen Wohnsitzes unter dem Schnee zu betrachten. Sie setzte sich auf einen alten Grenzstein, wo sie lange blieb, unempfindlich gegen Windstöße und den wirbelnden Schnee, und die aus dem Tal des Lot heraufführende Straße beobachtete, mit zäher Hoffnung darauf wartend, endlich eine bekannte Silhouette auftauchen zu sehen. Es war so lange her, daß Gauthier aufgebrochen war! … Weihnachten würden es drei Monate sein! Und niemand war bislang mit der geringsten Nachricht gekommen. Es war, als ob er sich in dieser grenzenlosen Weite aufgelöst hätte … Wenn der Tag sich seinem Ende neigte – die Wintertage sind so kurz! –, kehrte Cathérine langsam nach Hause zurück, das Herz ein wenig schwerer und bekümmerter, ein wenig ärmer an Hoffnung.
Weihnachten ging vorüber, ohne ihr Frieden zu bringen. Ihr Geist schweifte unaufhörlich den Abwesenden nach. Zuerst und vor allem Arnaud! Ohne Zweifel hatte er das Land Galicia erreicht. Aber war ihm vom Himmel die erbetene Heilung zuteil geworden? Und Gauthier? Hatte er den Flüchtigen einholen können? Waren sie in dieser Minute zusammen, in der ihr Geist sie vereint sah? So viele Fragen, die, da sie unbeantwortet bleiben mußten, quälend wurden.
»Wenn der Frühling kommt«, nahm Cathérine sich vor, »und ich bis dahin keine Nachricht erhalten habe, breche ich auch auf … Ich werde sie suchen gehen.«
»Wenn sie zurückkehren, dann im Frühling, nicht früher!« entgegnete Sara eines Tages, als die junge Frau aus Versehen laut gedacht hatte. »Wer würde es sich einfallen lassen, über die Berge zu ziehen, wenn der Schnee die Wege unpassierbar gemacht hat? Der Winter richtet unübersteigbare Schranken auf, die selbst der festeste Wille, selbst die zäheste Liebe nicht überwinden können! Du mußt abwarten!«
»Abwarten! Abwarten! … Immer abwarten! Ich habe es satt, dieses Warten ohne Ende!« hatte Cathérine darauf gerufen. »Bin ich denn verdammt, mein Leben in einer Erwartung ohne Ende verrinnen zu sehen?«
Auf diese Fragen zog Sara es vor, nicht zu antworten. Es war besser, die Unterhaltung abzubrechen oder von anderen Dingen zu sprechen, denn wenn man versuchte, mit Cathérine zu rechten, führte es nur dazu, daß sie sich noch mehr in ihrem Kummer vergrub. Die Zigeunerin glaubte nicht an die Möglichkeit einer Heilung Arnauds. Sie hatte noch nie davon gehört, daß die Lepra, wenn sie jemanden einmal befallen hatte, ihn je wieder losließ. Es war sogar erstaunlich, daß Saint-Méen de Jaleyrac, der heilige Spezialist der furchtbaren Krankheit, immer noch Patienten hatte. Offensichtlich war der Ruf San Jagos von Compostela groß, aber Saras Christentum war noch zu stark vom Heidentum gefärbt, als daß sie großes Vertrauen darin hätte. Im Gegenteil, sie war überzeugt, daß man, wenn nicht ein verhängnisvoller Zufall eintrat, früher oder später Nachricht von Gauthier bekommen würde. Das hinderte sie nicht zu seufzen, wenn sie Cathérines kleine, schwarze und zerbrechliche Silhouette in den Schnee hinausgehen sah, um zu lauern, ob er nicht auf der Talstraße auftauchte.
Eines Abends im Februar, nachdem die junge Frau ihren Beobachtungsposten eingenommen hatte, nach einer durch den Frost erzwungenen beschwerlichen Zeit des Klosterlebens, schien es ihr plötzlich, als könnte sie einen dunklen Punkt auf dem weißen Weg erkennen, einen Punkt, der unter den hohen schwarzen Tannen langsam größer wurde. Sofort stand sie auf, mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem … Es war bestimmt ein Mann, der aus dem Tal herauskam … Sie konnte einen Streifen des großen Mantels, der ihn einhüllte, im Wind flattern sehen. Er ging mühselig zu Fuß, den Rücken unter dem Nordwind gebeugt … Unwillkürlich machte sie ein paar Schritte ihm entgegen, aber als sie am Rand der Bäume angekommen war, blieb sie enttäuscht stehen. Das war nicht Gauthier … noch viel weniger Arnaud. Der Mann, den sie jetzt leicht ausmachen konnte, war von kleinem Wuchs, offenbar schmal und sehr braun. Einen Augenblick glaubte sie, es sei Fortunat, aber diese Hoffnung zerrann sofort. Der Reisende war ihr vollkommen unbekannt!
Er trug einen grünen Hut, dessen vorn heruntergeklappter Rand hinten hochgeschlagen war und eine Feder trug, die fast nur noch aus dem Kiel bestand, aber das braune Gesicht darunter hatte lebhafte und fröhliche Augen, und der große, geschwungene Mund lächelte, als er die weibliche Silhouette am Wegrand entdeckte. Cathérine konnte sehen, daß sein Rücken unter dem Mantel durch einen ovalen Gegenstand, den er auf der Schulter tragen mußte, entstellt war.
»Ein Hausierer«, dachte Cathérine, »oder ein Minnesänger …«
Sie entschied sich für den Minnesänger, als er ganz nahe herangekommen war. Unter dem schwarzen Mantel war seine Kleidung grün und rot, lebhaft und lustig, wenn auch strapaziert. Der Mann zog den verblaßten Hut, um sie zu grüßen.
»Frau«, sagte er mit einem fremden Akzent, »was für eine Burg ist das, bitte?«
»Montsalvy! Wollt Ihr dahin, Sire Minnesänger?«
»Dahin will ich noch heute abend! Ma, per la Madona! Wenn alle Bäuerinnen so schön sind wie Ihr, dann ist dies das Paradiso, dieses Montsalvy!«
»O nein, das ist nicht das Paradies«, erwiderte Cathérine, durch den Akzent des Jungen belustigt. »Und wenn Ihr den Anblick eines Schlosses erwartet, Sire Minnesänger, dann habt Ihr Euch getäuscht. Das Schloß Montsalvy existiert nicht mehr. Ihr werdet nur eine alte Abtei, wo man sehr wenig Liebeslieder singt, vorfinden.«
»Ich weiß!« sagte der Minnesänger. »Aber wenn es kein Schloß gibt, dann gibt es immer noch die Schloßfrau. Kennt ihr die Dame de Montsalvy? Es ist die schönste Dame des Erdkreises, nach allem, was man mir gesagt hat … aber ich glaube, sie wird Euch schwerlich übertreffen!«
»Ihr werdet trotzdem enttäuscht sein«, erwiderte Cathérine. »Ich bin die Dame de Montsalvy.«
Das Lächeln schwand aus dem fröhlichen Gesicht des Reisenden. Erneut hob er seinen grünen Filzhut und kniete im Schnee nieder.
»Hochedle und gnädigste Dame, verzeiht dem Unwissenden seine Vertraulichkeit …«
»Ihr konntet das nicht wissen. Die Schloßfrauen eilen selten in einem solchen Wetter auf die Straßen, besonders nicht allein!«
Wie um ihr recht zu geben, fegte ein plötzlicher Windstoß den Hut des Minnesängers davon und zwang Cathérine, sich an einen Baumstamm zu klammern.
»Bleiben wir nicht hier«, sagte sie, »es ist ein abscheuliches Wetter, und die Nacht bricht an. Das Schloß ist zerstört, aber das Gästehaus des Klosters, in dem ich wohne, kann Euch aufnehmen. Wie kommt es, daß Ihr mich kennt?«
Der Minnesänger hatte sich erhoben und klopfte sich mechanisch seine mageren Knie ab. Eine sorgenvolle Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, und sein Mund fand das fröhliche Lächeln von vorhin nicht wieder.
»Ein Mann, den ich in den Hochbergen des Südens getroffen habe, hat mir von Euch gesprochen, edle Dame … Er war sehr groß und stark! Ein wahrer Riese! Er hat mir gesagt, er heiße Gauthier Malencontre …«
Cathérine stieß einen Freudenschrei aus und packte, ohne sich um das Zeremoniell zu kümmern, den Minnesänger am Arm, um ihn schnell mitzuziehen.
»Gauthier schickt Euch? Oh, seid gesegnet, wer immer ihr seid! Wie geht es ihm? Wo war er, als Ihr ihm begegnet seid?«
Eiligst stieg sie, den Minnesänger hinter sich herziehend, der plötzlich sehr unruhig zu werden schien, zum Dorf hinauf, ging durchs Tor und traf dabei auf Saturnin, der einen Fensterladen seines Hauses ausbesserte:
»Dieser Mann hat Gauthier gesehen. Er hat Nachrichten!«
Mit einem freudigen Ausruf schloß der alte Amtmann sich ihnen an.
Der Minnesänger betrachtete sie mit einer Art Entsetzen.
»Verzeihung, edle Dame«, ächzte er, »Ihr habt mir ja noch nicht einmal Zeit gelassen, Euch meinen Namen zu nennen und …«
»Dann nennt ihn mir«, erwiderte Cathérine fröhlich. »Aber für mich heißt Ihr Gauthier …«
Der Mann schüttelte mißbilligend und überwältigt den Kopf.
»Ich heiße Guido Cigala … Ich stamme aus Florenz, der schönen Stadt, aber zur Vergebung meiner zahlreichen Sünden wollte ich in Galicia an der Gruft des Apostels beten …
Dame!« bat er flehentlich, »freut Euch nicht zu sehr, und bereitet mir keinen so schönen Empfang. Die Nachrichten, die ich bringe, sind nicht gut!«
Cathérine und Saturnin blieben wie festgewurzelt mitten auf der Straße stehen. Das freudige Rot, das Cathérine ins Gesicht gestiegen war, machte einer tragischen Blässe Platz.
»Ach?« sagte sie nur. Ihr Blick ging vom Minnesänger zu Saturnin, unruhig, fast flehend. Aber dann fing sie sich wieder, straffte sich.
»Gut oder schlecht, Ihr braucht trotzdem Ruhe und Erfrischung. Der Empfang bleibt derselbe, Sire Minnesänger. Sagt mir nur, wie es Gauthier geht?«
Guido Cigala senkte den Kopf wie ein Schuldiger.
»Dame«, murmelte er, »ich glaube, er ist tot!«
»Tot?!«
Derselbe Schrei entwich den Lippen Cathérines und Saturnins, aber es war der alte Mann, der ihren gemeinsamen Gedanken aussprach:
»Das ist nicht möglich! Gauthier kann nicht sterben!«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich sicher sei«, sagte Cigala verlegen, »ich habe gesagt, ich glaubte es.«
»Ihr werdet es uns erzählen! Gehen wir hinein!«
Im Gästehaus kümmerte Sara sich um den Ankömmling, wusch ihm die wunden Füße, stärkte ihn mit einer warmen Suppe, mit Brot und Käse und einem Becher Wein und schickte ihn dann in den großen Saal, wo Cathérine ihn mit Saturnin und Donatienne erwartete. Die Gesetze der Gastfreundschaft gingen vor ihrer Ungeduld. Sie lächelte traurig, als sie sah, daß der Minnesänger seine Harfe in der Hand trug.
»Es ist schon lange her, daß hier ein Lied gesungen wurde«, sagte sie leise. »Und mir steht der Sinn nicht danach, mir eines anzuhören!«
»Die Musik ist gut für die Seele, besonders wenn sie wund ist«, sagte Guido und legte sein Instrument auf eine Bank. »Doch zuerst werde ich Eure Fragen beantworten.«
»Wann habt Ihr Gauthier gesehen und wo?«
»Es war auf dem Paß von Ibañeta, ein gutes Stück vor dem Hospiz von Roncevaux. Ich war in eine Schlucht gefallen, und dieser Gauthier ist mir zu Hilfe gekommen. Wir haben die Nacht zusammen in einer Bergschutzhütte verbracht. Ich habe ihm erzählt, daß ich in mein Land zurückkehre, aber in jedem Schloß, das ich unterwegs träfe, haltmachen würde. Er hat mich gefragt, ob ich hier vorbeikommen könne, um Euch Nachrichten zu bringen. Natürlich habe ich es ihm versprochen. Nach dem Dienst, den er mir erwiesen hatte, konnte ich ihm nichts verweigern. Und dann, was macht unsereins schon etwas mehr oder weniger Wegstrecke aus? … Dann hat er mir eine Botschaft mitgegeben.«
»Welche Botschaft?« fragte Cathérine, sich zu dem jungen Mann vorbeugend.
»Er hat gesagt: ›Sagt Dame Cathérine, daß die weiße Stute mir nicht mehr weit voraus ist. Morgen hoffe ich sie einzuholen …‹«
»Ist das alles …?«
»Das war alles … Damit will ich sagen: Er hat mir nichts weiter mehr anvertraut, aber es hat sich einiges ereignet. Am anderen Morgen haben wir uns getrennt. Er mußte den Weg einschlagen, den ich gekommen war, und ich bin nach Roncevaux weitergegangen, doch der Weg, dem ich folgte, stieg an, und ich habe Euren Freund noch lange sehen können, edle Dame. Ruhig verfolgte er seinen Weg, das Pferd ging im Schritt. Und genau in dem Augenblick, wo er im Begriff stand, meinen Augen zu entschwinden, ereignete sich das Drama … Ich muß noch hinzufügen, daß die Bevölkerung dieses Landes wild und roh ist, es wimmelt dort von Straßenräubern. Mich haben sie nicht angegriffen, weil sie mich ohne Zweifel für ein zu miserables Wild hielten. Aber der große Reisende war gut angezogen und gut beritten … Von weitem habe ich sie plötzlich zwischen den Felsen auftauchen und ihn wie ein Wespenschwarm umschwirren sehen. Er hat sich großartig verteidigt, aber sie waren in der Überzahl … Ich habe ihn unter ihren Streichen fallen sehen, und dann, während einer sein Pferd wegführte und ein anderer das Gepäck fortnahm, haben drei Männer ihn ausgezogen und ihn in eine dieser grundlosen Schluchten geworfen, deren Anblick allein einem schon Schrecken einjagt … Er war tot, ganz sicher, oder der Sturz hat ihn vollends erledigt. Aber beschwören kann ich seinen Tod nicht!«
»Und«, empörte sich Saturnin, »Ihr seid nicht wieder zurückgegangen? Ihr habt nicht herauszufinden versucht, ob der, der Euch zu Hilfe geeilt war, noch lebte oder ob er wirklich tot war?«
Der Minnesänger schüttelte den Kopf, hob die Schultern und spreizte die Hände in einer ohnmächtigen Bewegung.
»Die Banditen mußten in der Nähe ihren Schlupfwinkel gehabt haben, denn sie blieben da, warteten zweifellos noch auf andere Reisende … Was hätte ich ausrichten können, ich, schwach und allein, gegen diese Wilden? Und dann, der Abgrund war fürchterlich. Wie sollte ich da hinuntersteigen? Dame«, fügte er hinzu, sich flehentlich an Cathérine wendend, »ich bitte Euch, mir gnädigst zu glauben, daß ich, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, Eurem Freund oder Eurem Diener, ich weiß nicht, was er war, zu helfen, es getan hätte, selbst unter Lebensgefahr. Guido Cigala ist kein Feigling … Das müßt Ihr mir glauben!«
»Aber ich glaube Euch, Sire Minnesänger, ich glaube Euch«, entgegnete Cathérine überdrüssig. »Ihr konntet nichts tun, das habe ich wohl verstanden … Doch verzeiht mir, wenn ich mich vor Euch dem Schmerz hingebe. Seht, Gauthier war mein Diener, aber sein Leben war mir kostbarer als das eines vertrauten Freundes, und der Gedanke, daß er nicht mehr ist …«
Die Erregung schnitt ihr das Wort ab. Die Tränen verdunkelten ihre Augen, und die Kehle schnürte sich ihr zusammen, daß sie kein Wort mehr herausbrachte. Überstürzt den Saal verlassend, eilte sie in ihr Zimmer, ließ sich auf ihr Bett fallen und gab sich schluchzend ihrem Schmerz hin. Diesmal war alles vorbei, endgültig vorbei! Sie hatte alles verloren, denn mit Gauthiers Tod schwand auch die Hoffnung, Arnaud wiederzufinden. Geheilt oder nicht, ihr Gatte würde nie erfahren, daß sie ihm treu blieb und daß ihre Liebe für ihn tiefer war als je … Jetzt war er so vollkommen für sie verschwunden, wie wenn die Platte des Grabes sich über ihm geschlossen hätte. Für Cathérine war dies der letzte Schlag …
Lange weinte sie, ohne zu bemerken, daß Sara eingetreten war und vor ihr stand, stumm und ohnmächtig diesmal, sie in ihrem großen Schmerz zu trösten. Nach langen Minuten wagte Sara einzuwenden:
»Vielleicht hat der Minnesänger schlecht gesehen … Vielleicht ist Gauthier doch nicht tot.«
»Wie sollte er dem Tod entronnen sein?« fragte die junge Frau mit einem nervösen Schlucken. »Und wenn er noch nicht tot war, dann muß er kurz danach gestorben sein …«
Schweigen trat zwischen den beiden Frauen ein. Von weitem, im großen Saal, hörte man die leichten Akkorde der Viola, die für einige Diener, für Donatienne und Saturnin und auch für gewisse Notabeln von Montsalvy aufspielte, die um die Gunst gebeten hatten, den wandernden Sänger zu hören, ein Genuß, der ihnen schon lange nicht mehr vergönnt gewesen war … Die weiche und volltönende Stimme des Florentiners drang in die stille Zelle, in der die beiden Frauen sich gegenübersaßen, ohne ein Wort zu sprechen. Guido sang ein altes Zweireimgedicht von der Liebe des Ritters Tristan und der Königin Isolde:
»Isolde, meine Dame, Isolde, meine Kleine, für Euch in den Tod, für Euch mein Leben …«
Cathérine unterdrückte ein Schluchzen. Das Klagelied des Minnesängers da draußen rief Erinnerungen in ihr wach; sie schien die heiße, leidenschaftliche Stimme Arnauds noch zu hören, der ihr ins Ohr flüsterte: »Cathérine … Cathérine, meine Kleine …« Und der Jammer, der sie durchbohrte, war so stechend, daß sie die Zähne zusammenbeißen mußte, um den Schmerzensschrei zurückzuhalten, der in ihr aufstieg. Wenn sie ihn in ihrem irdischen Leben nicht wiedersehen sollte, dann wäre es viel besser, diese Welt sofort zu verlassen, statt eine Ewigkeit zu leiden … Einen Augenblick schloß sie die Augen, rang die Hände und preßte die Finger zusammen, um sich wieder in Gewalt zu bekommen, und als sie die Augen aufschlug, war es nur, um Sara einen entschlossenen Blick zuzuwerfen.
»Sara«, sagte sie so ruhig, daß die Zigeunerin zusammenzuckte, »ich gehe! Nachdem Gauthier tot ist, muß ich mich auf die Suche nach meinem Gatten machen.«
»Auf die Suche machen? Aber wo?«
»Da, wo ich ihn bestimmt vermute: in Compostela in Galicia. Es ist unmöglich, daß ich dort nicht erfahre, was aus ihm geworden ist. Und unterwegs werde ich versuchen, die Leiche des armen Gauthier zu finden, damit er wenigstens an einem angemessenen Ort ruht. Der Gedanke, daß er zu dieser Stunde und so lange schon ein Raub der Todesvögel ist, ist mir unerträglich.«
»Aber der Weg ist lang, gefährlich … Wie willst du das schaffen, armes Ding? Wie soll dir gelingen, woran Gauthier gescheitert ist?«
»Das heilige Osterfest ist nicht mehr sehr fern. Herkömmlicherweise bricht eine Pilgergruppe vom Berg in Velay auf, um die Gruft von San Jago aufzusuchen. Ich werde mit ihnen gehen. Auf diese Weise verringern sich die Gefahren der Reise, und ich werde nicht allein sein!«
»Und ich?« wandte Sara sofort empört ein. »Gehe ich nicht mit dir?«
Cathérine schüttelte den Kopf. Sie stand auf, legte ihrer alten Freundin beide Hände auf die Schultern und sah sie zärtlich an.
»Nein, Sara … Diesmal gehe ich allein … Zum erstenmal, wirklich zum erstenmal – denn unser Zerwürfnis in Chinon zählt nicht – werde ich ohne dich gehen! Aber nur, weil du über das Kostbarste, das ich auf Erden habe … über meinen kleinen Michel wachen mußt! Wenn auch du gingest, wer würde sich dann um ihn kümmern? Donatienne ist zu alt, und Saturnin ist nicht jünger. Sie werden dir zwar eine große Hilfe sein, aber dir vertraue ich meinen Sohn an. Du bist so sehr wie ich, Sara, daß ich ihn bei dir so glücklich weiß, so gut versorgt, als wäre ich selbst da. Du wirst mein Gedanke, meine Hände, meine Lippen in einem sein. Du wirst zu ihm von mir, von seinem Vater sprechen. Und wenn Gott wollte, daß ich nicht wiederkehre …«
»Schweig!« rief Sara. »Ich verbiete dir, so etwas zu sagen. Das … das tut mir so weh! …«
Jetzt hatte sie Tränen in den Augen. Cathérine in ihrem Kummer umarmte sie warm.
»Sich auf die Zukunft vorzubereiten hat noch niemanden umgebracht, meine gute Sara. Wenn ich nicht zurückkehre, wirst du Boten an Xaintrailles und Bernard d'Armagnac schicken, daß sie die Vormundschaft über den letzten Montsalvy übernehmen und sich um seine Zukunft kümmern. Aber«, fügte sie mit einem mutigen Lächeln hinzu, »ich hoffe doch, daß ich zurückkehre.«
Wütend wischte Sara sich die Tränen ab, löste sich dann von Cathérine und trat einige Schritte zurück.
»Gut«, schimpfte sie. »Lassen wir es gelten! Ich bleibe, und du gehst. Und wie wirst du es anstellen, Montsalvy zu verlassen? Glaubst du, der Abt wird dich jetzt leichter gehen lassen als im September?«
»Er wird es nicht erfahren. Seit langem habe ich das Gelübde getan, auf den Berg zu gehen und Unserer Lieben Frau den verfluchten Diamanten anzubieten, den ich immer noch in meinem Besitz habe. Ich muß mich von ihm trennen … Und zwar zu jedem Preis, und je früher, desto besser! Sieh, wie das Unglück sich an mich heftet! Gauthier, mein Abgesandter, meine einzige Hoffnung, Gauthier, der Unverwüstliche, ist unterwegs umgekommen. Mein Schicksal wird verflucht sein, solange ich den Stein besitze. Der Abt weiß, wie sehr ich wünsche, dieses Gelübde zu erfüllen. Er wird mich gehen lassen. Das Osterfest ist eine gute Zeit, um Unsere Liebe Frau zu feiern. Er wird meinen Wunsch ganz natürlich finden.«
»Du hast auch für alles eine Antwort!« sagte Sara mit ein wenig Bitterkeit. »Und ich kann kaum glauben, daß dieser Plan erst entstand, nachdem dieser verfluchte Minnesänger angekommen ist …«
»Nein«, gab Cathérine zu. »Ich habe schon lange daran gedacht. Aber du, wirst du tun, worum ich dich bitte?«
Sara zuckte die Schultern und machte sich daran, das Bett aufzuschlagen, in das sie gleich die mit Kohlenglut gefüllte Wärmpfanne legen würde, um die Laken anzuwärmen.
»Was ist das für eine Frage! Es wäre wahrhaftig das erstemal, daß ich dir etwas verweigerte. Und außerdem gibt es gar keine andere Wahl! … Gott weiß, was mich das kostet; trotzdem …«
Als Sara die Tür öffnete, um mit ihrer Wärmpfanne in die Küche zu gehen, drang die Stimme Guido Cigalas in die kleine Kammer. Er sang jetzt ein altes Lied des Troubadours Arnaud Daniel, und die Worte des alten Laienbruders trafen die beiden Frauen derart, daß sie einen Augenblick unbeweglich stehenblieben und sich wortlos ansahen.
»Eher verkauft sich das Gold so billig wie Eisen, als daß Arnaud seine Herzliebste vergißt …«
Cathérine war plötzlich wie vom Blitz getroffen. Sie war blaß geworden, bis zu den Lippen, aber in ihren dunklen Augen blitzten Sterne, die funkelnden Sterne der Hoffnung. Die Stimme des Minnesängers antwortete auf geheimnisvolle Weise auf Fragen, die sie sich nicht mehr zu stellen wagte. Sara drückte die Wärmpfanne leidenschaftlich ans Herz.
»Ich möchte bloß wissen, wer uns diesen verdammten Sänger schickt? Der Teufel! Oder der liebe Gott? Auf jeden Fall hat er eine Stimme, die mir sehr dem Schicksal zu ähneln scheint …«
Cathérine hatte richtig geschätzt, als sie annahm, daß der Abt von Montsalvy sie nicht hindern würde, sich zum Osterfest auf den Berg von Velay zu begeben. Er begnügte sich lediglich damit, ihr als Begleitung Bruder Eusebius, den Pförtner des Klosters, anzubieten, denn es schickte sich nicht, daß eine Edeldame sich allein auf die Straßen begab. Die Gesellschaft eines Mönches würde Gefahren, sowohl irdische wie geistige, von ihr fernhalten.
»Bruder Eusebius ist ein sanfter Mann von friedlicher Lebensart«, sagte der Abt, »aber er wird Euch nicht weniger wirksamen Schutz gewähren.«
Um die Wahrheit zu sagen, war Cathérine von der Begleitung des würdigen Pförtners gar nicht entzückt. Seine runde, rosige Gestalt schien ihr zu arglos, und sie hatte gelernt, allem zu mißtrauen. Sie fragte sich, ob der Abt Bernard, indem er ihn ihr als Leibwächter mitgab, ihr nicht auch eine Art Spion an die Seite stellte, der ein neues Problem aufwerfen würde: Wie, einmal auf dem Berg angelangt, könnte sie sich von dem heiligen Mann befreien und ihn überreden, ohne sie nach Montsalvy zurückzukehren?
Aber die Schwierigkeiten ihres vergangenen Lebens hatten die junge Frau gelehrt, daß jeder Tag seine eigenen Probleme hatte und daß es nichts nützte, sich im voraus Sorgen zu machen. Zu gegebener Zeit würde sie ein Mittel finden, ihrem Schutzengel zu entwischen. Und sie dachte nur noch an diese große Reise, die sie mit unendlich mehr Liebe als Hoffnung antreten würde.
Mit der Fastenzeit brach auch die weiße Kruste, die das Land bedeckte, wie von einem Kanonenschlag auf. Schnee und Glatteis schmolzen zu einer großen Zahl dünner Bäche, die nach allen Richtungen flossen und das Hochplateau und die Gebirgsschluchten wie ein Schweif aus Silberfäden durchzogen. Die Erde trat zuerst wieder als schwarze Flecken, dann als große Flächen zutage, die zaghaft grünten. Ein wenig Blau zerriß das ewige Öde Grau des Himmels, und Cathérine dachte, die Zeit sei jetzt gekommen, sich auf den Weg zu machen.
Mittwoch nach dem Passionssonntag verließen Cathérine und Bruder Eusebius Montsalvy, beide auf Maultieren, die der Abt ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Das Wetter war mild, leicht regnerisch, und die Wolken eilten, vom Südwind getrieben, schnell am Himmel dahin. Dem Wind, der, nach Saturnin, »den Schafen die Drehkrankheit gab …«
Der Abschied zwischen Cathérine und Sara war schnell gewesen. Die eine wie die andere vermied einstimmig die Rührseligkeit, die mutlos macht und den Willen schwächt. Außerdem hätte ein herzzerreißender Abschied gewiß den Argwohn des Abtes Bernard erregt. Man weinte nicht wegen einer vierzehntägigen Trennung …
Das Schlimmste war der Abschied von Michel. Mit vor zurückgehaltenen Tränen schweren Augen konnte Cathérine sich nicht genugtun, ihren kleinen Knaben zu umarmen. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Arme sich nie mehr öffnen könnten, um ihn loszulassen. Sara mußte ihn hochheben und ihn in die Obhut Donatiennes geben. Von der Bewegung seiner Mutter überwältigt, fing das Kind auch, ohne zu wissen, warum, zu weinen an.
»Wann werde ich ihn wiedersehen?« murmelte Cathérine, die sich mit einemmal furchtbar elend fühlte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte in ihrem großen Kummer das ganze verrückte Unternehmen aufgegeben.
»Wenn du willst«, sagte Sara seelenruhig, »wird dich nichts hindern zurückzukehren, falls du dein Ziel nicht erreichst. Und ich flehe dich an, Cathérine, versuche Gott nicht! Überschätze deine Kräfte nicht. Es gibt Fälle, wo es besser ist, sich in sein Schicksal zu fügen, auch wenn es grausam ist. Bedenke, daß nichts, obgleich ich hier bin, eine Mutter ersetzen kann! – Wenn die Hindernisse zu groß sind, komm zurück, ich beschwöre dich! … Und um der Liebe Gottes willen …«
»Um der Liebe Gottes willen«, schnitt Cathérine ihr das Wort, unter Tränen lächelnd, ab, »sag nichts weiter! Sonst habe ich in fünf Minuten nicht den geringsten Mut mehr.«
Doch als die Pforten der Abtei sich vor den Hufen ihres Maultiers öffneten, empfand Cathérine ein außerordentliches Freiheitsgefühl, eine Art Rausch. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was sie in den kommenden Tagen erwartete. Ihr Wille mußte über alle Hindernisse und Fallen triumphieren. Sie fühlte sich stärker, jünger und tapferer als je …
An ihrer Kehle, in einem Lederbeutelchen, das sie mit einem Band um den Hals befestigt hatte, trug sie den schwarzen Diamanten! Er hatte in ihren Augen fast jeden Wert verloren, mit einer Ausnahme! Er war der Schlüssel, der ihr das weite Land öffnete! Wenn sie ihn der Jungfrau vom Berge anbot, so hieß das gleichzeitig freie Bahn auf dem langen Weg, der sie vielleicht zu ihrem Gatten führte.
Als sie die Mauern von Montsalvy hinter sich gelassen hatte, warf Cathérine sich den großen, weiten Mantel über die Schultern, mit der uralten Geste des Hausierers, der sein schweres Los auf sich nimmt. Dann hob sie den Kopf. Ungerührt von dem sie noch lange begleitenden Klang der Glocken, die Augen fest auf das noch kurze Grün des Weges geheftet, ritt sie dahin, ohne Schwäche und ohne Tränen.
Le Poy-en-Velay! Eine Stadt, die sich wie ein Strom, riesig und vielfarbig, um den Berg herumwand, mit einer großen, von Kuppeln und Türmen gekrönten romanischen Kirche. Als Cathérine und Bruder Eusebius ankamen, hielten sie einen Augenblick an, um das unglaubliche Bild zu betrachten, das sich ihnen bot. Die erstaunten Augen der jungen Frau schweiften von dem heiligen Hügel, dem alten Berg Anis, der sich von dem fernen Blau des gewellten Landes abhob, zu dem riesigen, ihm benachbarten Felsen und weiter zu der seltsam vulkanischen Spitze von Saint-Michel d'Aiguillie, steil wie ein Finger zum Himmel aufragend und die kleine Kapelle fest in sich verankernd.
Alles in dieser fremden Stadt schien für den Dienst an Gott gemacht zu sein, alles kam von ihm oder kehrte zu ihm zurück …
Aber je mehr Tore sie durchritten und je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto mehr verwunderte die Reisenden die Farbenpracht der Straßen und ihr Gedränge, überall sah man nur Fahnen, Lilienbanner, mit Seidentüchern geschmückte Fenster … überall war das königliche Wappen Frankreichs zur Schau gestellt, und mit einer gewissen Verblüffung sah Cathérine plötzlich vor sich einen Trupp lärmender schottischer Armbrustschützen mit ihren Waffen vorbeiziehen.
»Die Stadt feiert ein Fest!« erklärte Bruder Eusebius, der sonst während eines ganzen Tages keine zehn Worte sprach. »Wir müssen herausbekommen, warum.«
Cathérine hatte sich in seiner Gesellschaft aufs Schweigen verlegt. Sie hielt es für überflüssig zu antworten, rief aber einen kleinen Jungen an, der mit seinem Krug einem nahen Brunnen zustrebte, um Wasser zu schöpfen.
»Warum diese Fahnen, diese Behänge, das ganze Gedränge?«
Der Junge hob sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht, in dem zwei haselnußbraune Augen fröhlich blitzten, zu der jungen Frau und zog höflich die ausgefranste grüne Mütze.
»Unser Herr König ist vorgestern mit der Frau Königin und dem ganzen Hof in die Stadt eingezogen, um zu Unserer Lieben Frau zu beten und Ostern zu feiern und dann nach Vienne zu gehen, wo die Stände sich versammeln … Wenn Ihr ein Logis sucht, werdet Ihr's schwer haben. Alle Herbergen sind voll, denn zu allem hin heißt es, daß Monseigneur der Konnetabel heute hier eintreffen soll.«
»Der König und der Konnetabel?« fragte Cathérine erstaunt. »Aber sie sind doch verfeindet.«
»Genau! Unser Herr hat die Kathedrale erwählt, um ihn da wieder in Gnaden zu empfangen. Sie werden heute nacht zusammen den Abend des Passahfestes begehen …«
»Versammeln sich die Pilger nicht hier, die bald nach Compostela aufbrechen werden?«
»Doch, gnädige Dame! Das Städtische Hospital neben der Kathedrale ist voll von ihnen. Ihr müßt Euch beeilen, wenn Ihr Euch ihnen noch zugesellen wollt.«
Das Kind zeigte Cathérine noch den Weg zum Hospital. Es war ganz einfach: Es genügte, die lange, lange Straße weiterzureiten, die vom Panessacturm, in dessen Nähe sie sich befanden, nach Notre-Dame hinaufführte und schließlich in einer Treppe endete, einer Treppe, die unter dem Portalvorbau mündete. Ehe er seine Gesprächspartnerin verließ, fügte der Junge noch hinzu:
»Alle Pilger versorgen sich bei Meister Croizat, gleich neben dem Städtischen Hospital. Dort gibt es die haltbarsten Kleider für die große Reise und …«
»Ich danke dir«, unterbrach Cathérine, als sie das Auge des Bruders Eusebius, das gewöhnlich ohne jeden Ausdruck war, mit Neugier auf sich ruhen sah. »Wir werden uns ein Logis suchen.«
»Gott helfe Euch, eins zu finden! Aber Ihr habt keine Chance. Selbst das Palais des Bischofs, Monseigneurs Guillaume de Chalençon, ist zum Platzen voll. Der König hält dort Hof.«
Der Lausejunge rannte davon. Cathérine überlegte einen Augenblick. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Morgen nach dem Hochamt brachen die Pilger auf, und sie wollte mit ihnen gehen. Sie ließ sich von ihrem Maultier gleiten und wandte sich an Bruder Eusebius, der gelassen ihre Entscheidung erwartete.
»Nehmt die Tiere, mein Bruder, und geht ohne mich zum Städtischen Hospital. Dort fragt, ob man uns freundlicherweise ein Logis geben wolle. Hier habt Ihr Gold, um unsere Zeche zu bezahlen. Was mich betrifft, möchte ich sofort zur Kathedrale hinaufsteigen, zum Ziel unserer Pilgerfahrt. Ich habe Eile, Unserer Lieben Frau zu überreichen, was ich für sie bei mir trage, und es schickt sich nicht, daß ich mich dem heiligen Ort beritten nähere. Geht also ohne mich. Ich werde Euch später wieder treffen.«
Der würdige Bruder Pförtner von Montsalvy begnügte sich, durch ein Zeichen des Kopfes anzudeuten, daß er verstanden habe, nahm die Zügel ihres Maultiers und ritt ruhig seines Weges.
Langsam ging Cathérine die beflaggte Straße mit den zahlreichen Schildern hinauf. Händler mit Devotionalien wechselten mit Herbergen ab, mit Garküchen, mit Verkaufsbuden aller Art, und auf den Steinstufen vor ihren Türen saßen Frauen, vor sich mit Fäden bespannte Kissen, und ließen in ihren flinken Fingern eine Menge kleiner Spindeln hüpfen … Einen Augenblick blieb die Reisende vor einer dieser Spitzenklöpplerinnen stehen, die jung und hübsch war und ihr, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, freundlich zulächelte.
Sie wäre keine echte Frau gewesen, wenn die zierlichen Wunder, die unter den Feenfingern entstanden, nicht ihr Interesse erregt hätten. Doch eine Büßerprozession zog, mit voller Stimme Litaneien singend, von der Kathedrale herunter, und Cathérine, an ihr Gelübde erinnert, machte sich wieder an ihren Aufstieg. Und je weiter sie ging, desto mehr vergaß sie allmählich ihre Umgebung.
Auf den Stufen der riesigen Treppe, die sich tief im Schatten der hohen romanischen Bogen verlor, staffelten sich die Menschen und stiegen mühsam auf Knien die seit Jahrhunderten durch Inbrunst abgetretenen Stufen hinauf. Das Gemurmel der Anrufungen umgab Cathérine wie Bienensummen, aber sie hörte es gar nicht. Mit erhobenem Haupt sah sie die hohe, vielfarbige Fassade, auf der fremde arabische Muster die fernen Länder, die geheimnisvollen Kunsthandwerker aus uralter Zeit in Erinnerung riefen. Sie wollte nicht niederknien, nicht jetzt! Aufrecht ging sie dem Hochaltar zu, wie sie sich aufrecht der Gruft des Apostels nähern würde. Der Schatten des Portalvorbaus verschlang sie. Bettler, echte oder falsche Krüppel schleppten sich dahin, in monotonem Singsang um Almosen bittend. Andere umlagerten den uralten Stein des Fiebers, wo sich jeden Freitag die Kranken einfanden, lauthals verkündend, erst am Abend vor Karfreitag habe ein Lahmer den Gebrauch seiner Beine wiedererlangt. Aber Cathérine schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.
Ihr Blick war auf eine Stufe gerichtet, auf der Höhe der großen vergoldeten Pforten der Hochaltarstätte gelegen. Einige lateinisch geschriebene Worte waren da zu lesen: »Wenn du die Sünde nicht fürchtest, so fürchte diese Schwelle, denn die Himmelskönigin will Diener ohne Fehl.« Näherte sie sich wirklich ohne Sünde, sie, die um den Preis einer Lüge ihre Freiheit erringen wollte? Sie blieb einen Augenblick bewegungslos stehen, die Inschrift betrachtend, das Herz von plötzlicher Bangigkeit bedrückt. Doch ihr Elan war zu groß, als daß sie sich durch solche Bedenken hätte hemmen lassen. Sie durchschritt die Pforten und setzte ihren Aufstieg im tiefen Dunkel der Kirche fort. Die Stufen stiegen zu einer Art Tunnel an, in dessen Hintergrund die Kerzen bis zum Chor des Hochaltars schimmerten. Oben war es wie die leuchtende Herrlichkeit der Morgenstunde am Ende einer schwarzen Nacht. Ein ernster Gesang, unheimlich und monoton, erfüllte das Steinschiff.
Als sie endlich aus dem Dunkel trat, glaubte Cathérine, diese Welt verlassen zu haben, so fremd war der Dekor. Auf einem zwischen zwei Säulen aus blutrotem Porphyr errichteten Altar, mit einer Vielzahl von Kerzen und Lampen aus rotem Glas umgeben, sah die Schwarze Jungfrau sie aus Emailaugen an …
Der Chor war leer, aber an den Wänden schienen hierarchische und byzantinischen Fresken entnommene Personen in dem zitternden Licht der kurzen Flammen wieder Leben anzunehmen. Eine abergläubische Furcht bemächtigte sich Cathérines, die alte Angst vor Himmel und Hölle, die immer im Grunde der Herzen der Männer und Frauen dieses eisernen Jahrhunderts schlummerte. Langsam beugte sie die Knie und ließ sich auf die Stufen des Altars fallen, durch das fremde Standbild fasziniert.
Klein, aufrecht auf ihrem mit Edelsteinen besetzten goldenen Mantel sitzend, hatte die Schwarze Jungfrau das hierarchische und erschreckende Aussehen eines barbarischen Idols. Es hieß, die Kreuzfahrer hätten sie einst aus dem Heiligen Land mitgebracht und sie sei so alt wie die Welt … Ihr schwarzes, plumpes Gesicht mit dem starren Ausdruck schimmerte unter der durch eine Taube verzierten Goldkrone. Nur die zu weißen Augen aus Email schienen von unruhigem Leben beseelt, und Cathérine begann, unter ihrem Blick zu zittern, von der barbarischen Majestät des Standbilds erdrückt.
Der unheimliche Gesang hatte aufgehört. Stille hüllte die Kirche jetzt ein, die nur durch das leichte Flackern der Kerzen gestört wurde. Langsam nahm Cathérine den Lederbeutel vom Hals, zog den Diamanten heraus und reichte ihn auf ihren beiden zusammengelegten Handflächen der Jungfrau. Die uralte Geste des Opfers ließ den verfluchten Stein voll blutigen Feuers funkeln. Noch nie hatte er so geblitzt wie in diesem Sanktuarium, in dem sich die Größe Gottes entfaltete. Auf Cathérines Händen war er wie eine schwarze, der Gottheit gebotene Todessonne.
»Allmächtige Jungfrau«, hauchte die junge Frau, »nehmt diesen Stein des Schmerzes und des Blutes an! Nehmt ihn zu Euch, auf daß ihn der Dämon, der ihm innewohnt, auf immer verlasse, nehmt ihn, auf daß das Unglück sich endlich von uns wende … und das Glück wieder in Montsalvy einkehre! Auf daß ich meinen Gatten wiederfinde!«
Sanft legte sie den Stein zu Füßen des Standbildes und warf sich dann nieder. All ihre Angst war verflogen, doch sie wurde von einer neuen Erregung ergriffen.
»Gebt ihn mir zurück!« flehte sie schmerzlich. »Gebt ihn mir, barmherzige Jungfrau! … Selbst wenn ich noch viel leiden muß, wenn ich mich Tag und Nacht abmühen muß … Macht, daß ich ihn am Ende des Weges endlich finde! Erlaubt wenigstens, daß ich ihn wiedersehe … ein Mal, ein einziges Mal … auf daß ich ihm sagen kann, daß ich ihn liebe, daß ich nie aufgehört habe, ihm zu gehören, und daß niemand … je … seinen Platz einnehmen wird! Habt Mitleid … o habt Mitleid! Laßt mich ihn wiederfinden … Danach könnt Ihr mit mir machen, was Ihr wollt!«
Sie barg das Gesicht in den Händen, die bald von ihren Tränen benetzt wurden, und blieb so einen langen Augenblick, für ihr Kind und Sara betend, still weinend und unbewußt eine Antwort auf ihre heiße Bitte erwartend. Und plötzlich hörte sie:
»Frau … habt Vertrauen! Wenn Euer Glaube groß ist, werdet Ihr erhört werden.«
Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein Mönch in einer langen weißen Kutte, den grauen Kopf und sein von Milde strahlendes Gesicht ihr zuneigend. Von dieser weißen Gestalt ging ein solcher Friede aus, daß Cathérine überwältigt vor ihm auf den Knien blieb, die Hände gefaltet wie vor einer Erscheinung. Der Mönch streckte seine blasse Hand nach dem neben dem Goldmantel der Jungfrau blitzenden Stein aus, berührte ihn aber nicht.
»Dieses fabelhafte Juwel, woher habt Ihr es?«
»Es gehörte meinem verstorbenen Gatten, dem Finanzminister von Burgund.«
»Ihr seid Witwe?«
»Ich war es nicht mehr. Aber der Mann, den ich geheiratet habe, ist, von der Lepra heimgesucht, nach Compostela aufgebrochen, um seine Heilung zu erflehen, und ich möchte auch dorthin gehen, um ihn wiederzufinden!«
»Habt Ihr Euch einen Platz unter den Pilgern besorgt? Ihr braucht einen Beichtzettel und die Genehmigung des Leiters der Fahrenden Ritter Gottes. Sie brechen morgen auf.«
»Ich weiß … aber ich bin soeben erst angekommen. Glaubt Ihr, mein Vater, daß es zu spät ist?« fragte Cathérine mit plötzlicher Angst.
Ein gütiges Lächeln erhellte das Gesicht des weißen Mönches.
»Ihr habt den sehnlichen Wunsch zu gehen, nicht wahr?«
»Ich wünsche es mehr als alles in der Welt.«
»Also kommt! Ich werde Euch die Beichte abnehmen und Euch dann einen Zettel für den Prior des Städtischen Hospitals mitgeben.«
»Habt Ihr denn die Macht, mir noch so spät Einlaß zu verschaffen?«
»Es gibt keine festgesetzte Stunde, in der man sich Gott nähern kann! Und ich bin Guillaume de Chalençon, Bischof dieser Stadt. Kommt, meine Tochter.«
Das Herz von wunderbarer Hoffnung durchdrungen, folgte Cathérine der weißen Gestalt des Prälaten.
Als Cathérine die Kirche verließ, schien sie förmlich zu schweben. Sie hatte das Gefühl, daß alles gut werden würde, daß ihre Hoffnungen ihre ganze Kraft wiederfänden, daß nichts mehr unmöglich sein würde.
Man brauchte nur Mut zu haben, und Mut hatte sie von jetzt an übergenug.
Am Eingang des Städtischen Hospitals, dessen hohes, spitzbogiges Portal, von zwei Steinlöwen bewacht, sich auf die Stufen der Kathedrale öffnete, fand sie Bruder Eusebius wartend vor, der, auf einem Eckstein sitzend, still den Rosenkranz betete. Als er sie bemerkte, sah er sie unglücklich an.
»Dame Cathérine, es gibt keinen Platz in den Schlafsälen. Die Pilger schlafen im Hof, und ich habe nicht einmal einen Strohsack für Euch auftreiben können. Ich kann ja immer in einem Kloster Unterkunft bekommen, aber Ihr?«
»Ich? Das ist unwichtig. Ich werde auch im Hof schlafen, mit den anderen. Übrigens, Bruder Eusebius, es ist Zeit, daß ich Euch zu dieser Stunde die Wahrheit gestehe. Ich werde nicht mit Euch nach Montsalvy zurückkehren. Morgen werde ich mit den anderen Pilgern nach Compostela aufbrechen … Nichts kann mich daran hindern. Aber ich möchte Euch wegen des Ärgers, den ich Euch verursachen werde, um Verzeihung bitten. Der Herr Abt …«
Ein breites Lächeln hellte das runde Gesicht des kleinen Mönchs auf. Unter seiner Kutte zog er eine Pergamentrolle hervor und gab sie Cathérine.
»Unser Sehr Ehrwürdiger Vater Abt«, unterbrach er, »hat mich beauftragt, Euch dies zu überreichen, Dame Cathérine. Aber ich sollte es Euch erst geben, nachdem Ihr Euer Gelübde erfüllt habt. Es ist erfüllt, nicht wahr?«
»Es ist erfüllt!«
»Also, hier!«
Mit zögernder Hand nahm Cathérine die Rolle, brach das Siegel auf und entfaltete sie.
Sie enthielt nur wenige Worte, aber während sie las, stieg ihr die Freudenröte ins Gesicht.
»Geht in Frieden«, hatte Bernard de Calmont geschrieben. »Und Gott begleite Euch! Ich werde über das Kind und Montsalvy wachen …«
Der Blick, den sie dem Bruder Pförtner zuwarf, war glückstrahlend. In ihrer Begeisterung küßte sie die Unterschrift des Briefes, bevor sie ihn in ihren Almosenbeutel steckte, dann streckte sie ihrem Gefährten die Hand hin.
»Hier trennen wir uns nun. Kehrt nach Montsalvy zurück, Bruder Eusebius, und sagt dem Sehr Ehrwürdigen Abt, daß ich mich schäme, ihm nicht genügend Vertrauen geschenkt zu haben, aber daß ich ihm danke. Bringt ihm die Maultiere zurück, ich brauche sie nicht. Ich werde meinen Weg wie die anderen zu Fuß zurücklegen.«
Dann wandte sie sich um und ging schnell davon, leicht wie ein befreiter Vogel, zur anderen Seite der Straße, wo ein schönes Schild hing, das einen Pilger mit einem großen Hut, den Stab in der Hand, zeigte und allen verkündete, daß für ›Die Straße nach Compostela‹ Meister Croizat eine Ausstattungsboutique für die fromme Reise unterhalte.
Die zum Aufbruch Gerüsteten zählten an die fünfzig, Männer und Frauen, aus der Auvergne, der Franche-Comté und sogar aus Deutschland. Sie gruppierten sich nach Herkunft oder geistiger Verwandtschaft, doch einige blieben für sich, zogen ihre Einsamkeit und ihre eigene Gesellschaft vor.
Inmitten ihrer neuen Gefährten wohnte Cathérine dem österlichen Hochamt bei. Sie sah nur einige Schritte von sich entfernt König Karl VII. vorübergehen und den hohen Sessel einnehmen, der für ihn im Chor aufgestellt war. Neben ihm erkannte sie die mächtige Gestalt Arthur de Richemonts. Der Konnetabel von Frankreich nahm an diesem Ostertag seinen Rang und sein Amt offiziell wieder ein. Zwischen seinen kräftigen Händen sah die junge Frau den großen blauen, mit goldenen Lilien verzierten Degen blitzen.
Sie sah auch die Königin Marie, und im Gefolge Richemonts entdeckte sie die hohe Gestalt Tristan l'Hermites … Tristan, ihr letzter Freund!
Die Versuchung war groß, die schweigenden Reihen, die sie umgaben, zu durchbrechen, zu ihm zu gehen … Es wäre gut, seine Freudenrufe zu hören, alte Erinnerungen aus vergangenen Tagen wachzurufen …
Aber sie unterdrückte ihre Regung. Nein … sie gehörte nicht mehr zu dieser glänzenden, farbigen, prunkvollen Welt. Zwischen ihr und dieser Welt stand jetzt das Versprechen vom Abend zuvor, die weiße Kutte dieses Bischofs, der da unten im erleuchteten Chor die Messe in vollem Ornat zelebrierte. Die unsichtbare Schranke, die sie von diesem Hof trennte, zu dem sie von Rechts wegen noch gehörte, wollte Cathérine nicht durchbrechen. Die Zukunft lag woanders, und weit davon entfernt, sich zu zeigen, machte sie sich ganz klein inmitten ihrer Nachbarn, zwischen einem riesigen, angegrauten und bärtigen Burschen, der mit einer Stimme wie eine große Orgel sang, und einer hageren, blassen Frau, deren fanatischer Blick am schimmernden Altar hing. Als sie sie betrachtete, schwankte Cathérine zwischen Mitleid und Abscheu, aber sie bezweifelte, ob diese Frau, die offensichtlich krank war und von Zeit zu Zeit einen trockenen, dumpfen Husten hören ließ, die Anstrengungen der Wallfahrt aushalten könnte.
Was sie betraf, wer hätte denn die Gräfin de Montsalvy, die schöne Witwe von Chinon, die von Pierre de Brézé angebetet worden war, wer hätte sie in dieser Frau, die wie alle ihre Gefährten gekleidet war, erkannt? Ein grobes graues Kleid aus dickem Wollstoff über einem Linnenhemd, feste Stiefel, ein weiter, jedem Wind und Wetter gewachsener Mantel und über dem dünnen, feinen Kopftuch, das ihr Gesicht umschloß, ein großer schwarzer Filzhut, dessen Krempe vorn durch eine Muschelspange aus Zinn aufgebogen wurde. Im Almosenbeutel an ihrem Gürtel hatte sie Gold und natürlich Arnauds Dolch, ihren treuen Kameraden in schweren Tagen und auf gefährlichen Reisen. Schließlich hielt sie in der rechten Hand das Sinnbild des Pilgers, den berühmten Pilgerstab, den langen Stock, an dessen Spitze ein runder Kürbis hing … Nein, niemand hätte sie in diesem Aufzug erkannt, und Cathérine freute sich darüber. Sie war nur eine Pilgerin unter anderen Pilgern …
Die Zeremonie ging ihrem Ende zu. Die ernste Stimme des Bischofs hatte seine guten Reisewünsche an die Aufbrechenden ausgesprochen. Jetzt segnete er die Pilgerstäbe, die ihm alle mit derselben Bewegung entgegenstreckten. Die Priester, die, das große Kreuz der Prozession vorantragend, dem Zug das Geleit bis zu den Stadttoren geben wollten, setzten sich bereits in Bewegung. Cathérine warf noch einen letzten Blick auf den Chor, schloß in diesen Blick auch den König, den Konnetabel, den von Bewaffneten bewachten glänzenden Hof ein. Sie schienen sich bereits in die Zeit, in die nebelhafte Welt der Wunder zurückzuziehen. Ganz oben, alles beherrschend, konnte sie Garins verfluchten Diamanten am goldenen Stirnband der starren kleinen Jungfrau im goldenen Mantel schwarze Funken sprühen sehen. Die großen Portale öffneten sich ins Freie, auf einen blaßblauen Himmel, über den die Wolken eilten …
Auf der Schwelle hob Cathérine die Brust und holte tief Atem. Sie hatte das Gefühl, daß diese Pforten sich ins Unendliche öffneten, auf eine Hoffnung, so groß wie die ganze weite Welt …
Hinter den Priestern und Mönchen stürzten die Pilger, Freudenrufe ausstoßend, die abschüssige Straße hinunter. Auf beiden Seiten drückten sich die guten Leute an die Häuser, um sie vorbeigehen zu sehen. Einige riefen ihnen gute Wünsche zu, andere sagten einem Freund, einem Verwandten ein letztes Lebewohl.
Nachdem die Granitwälle, auf denen die königlichen Lilienbanner knatterten, durchschritten waren, trennte sich die letzte Eskorte von den Pilgern. Vor der Kolonne wand sich ein steiler Weg einen Berghang hinauf, der wie die Himmelsleiter aussah. An der Spitze stimmte der Führer der Pilger, ein kräftiger Bursche mit feurigen Augen, mit kraftvoller Stimme das alte Marschlied an, das schon so viele durch zu lange Wegstrecken Entmutigte wiederaufgerichtet hatte, den fremden Gesang in alter Sprache, der einen so guten Takt für den Marschtritt abgab:
»E ul treia! (Und weiter!) E sus eia! (Und noch mal!) Deus aîa nos! (Gott hilft uns!)«
Das einfache, rhythmische Lied hob den Marschtritt gut hervor. Es pflanzte sich durch die Reihen der Pilger wie ein Lauffeuer fort. Cathérine stimmte es wie die anderen an. Ihr Herz war leicht, ihre Seele in Frieden, ihre Energie stärker als je. Hinter ihr, in der Stadt, die schon langsam verschwand, läuteten die Glocken mit voller Kraft. Ihr Siegesklang löschte die grausame Erinnerung an die Totenglocke von Carlat aus, die so lange in ihrem Herzen widergehallt hatte. Am Ende dieses vor ihr liegenden Weges war Cathérine gewiß, durch einen ebenso großen Glauben über sich selbst erhoben wie jener, der einst die Kreuzfahrer zur Eroberung des Heiligen Landes getrieben hatte, daß sie Arnaud antreffen würde! Und wenn sie bis ans Ende der Welt gehen müßte, um ihn zu finden, und sei es auch nur, um mit ihm zu sterben, würde sie bis dorthin gehen …
Oben, nach dem beschwerlichen Aufstieg, empfing ein scharfer, schneidender Wind und feiner, kalter Regen, der in die Gesichter peitschte, die Pilger beim Betreten des Plateaus. Cathérine senkte den Kopf, um sich zu schützen, und ging, auf ihren Stab gestützt, dem Wind entgegen. Aber weil sie den Elementen nicht das letzte Wort in diesem ersten Handgemenge lassen wollte, sang sie lauter als je. Dieser Wind, das war der Südwind. Er war vor ihr durch die unbekannten Lande gefegt, in die sie, Tag um Tag, weiter vordringen würde, um endlich ihre verlorene Liebe wiederzufinden … Er war ihr Freund!