Der Nebel wurde von Augenblick zu Augenblick dichter und undurchdringlicher. Seine grauen Schwaden hüllten den erschöpften Pilgertrupp wie ein feuchtes Leichentuch ein … Wie lange war man so herumgezogen in dieser grasreichen, von Sümpfen und stillen grünen Teichen durchzogenen Einsamkeit? Stunden um Stunden! Doch nichts deutete daraufhin, daß das Marschziel nahe war. Der Wind hatte sich erhoben, heulte aus allen Richtungen des Hochplateaus und zerriß für Momente den Nebel, der sich sofort wieder schloß, dichter und schwerer.
Cathérine ging inmitten der anderen. Mit rundem Rücken, den Kopf unter dem großen, vom Wind heruntergedrückten Hut gesenkt, hielt sie, so gut sie konnte, die Schöße ihres Umhangs fest, den die Windstöße aufblähten, und stützte sich dabei mit aller Kraft auf ihren Stab, um besser gegen den Wind ankämpfen zu können. Seit fünf Stunden, seit dem Aufbruch von Le Puy, hatte sie die unschätzbare Hilfe kennengelernt, die dieser lange Stab gewährte, wenn die Müdigkeit einen schwer bedrückte. Um so mehr, als sie mit dem linken Arm eine ihrer Gefährtinnen, Gillette de Vauchelles, stützte, jene Frau, die ihr mit ihrer niedergeschlagenen Miene und dem unaufhörlichen Husten schon in der Ostermesse aufgefallen war. Es war eine Witwe in den vierziger Jahren, aus guter Familie und sehr gebildet, deren ernstes Gesicht jedoch unheilbare Traurigkeit verriet. Sie war sanft, melancholisch und tief religiös. Als Cathérine sah, wie sie sich, kurzatmig durch die dünne Höhenluft, auf dem Weg dahinquälte, hatte sie nicht umhin gekonnt, ihr ihre Hilfe anzubieten. Zuerst hatte Gillette abgelehnt.
»Ich würde Euch zur Last fallen, meine Schwester! Ihr habt genug Mühe, selbst vorwärts zu kommen.«
Das stimmte. Die Last des Tages war schwer genug für ihre Schultern, und zu allem anderen machten ihr auch noch ihre vom groben Leder der engen Stiefel wund geriebenen Füße zu schaffen. Aber sie fühlte den Drang, ihrer Gefährtin beizustehen. Sie lächelte sie freundlich an.
»Bei mir geht alles gut! Und zu zweit erträgt sich's besser!« Sich gegenseitig stützend, waren sie den beschwerlichen Weg gegangen, der im Laufe der verrinnenden Stunden immer anstrengender wurde. In den ersten Tagesstunden hatte man die Scheunen von Malbouzon verlassen, um die nur etwas mehr als zwei Meilen entfernte Priorei von Nasbinals zu erreichen, aber plötzlich hatte sich Nebel erhoben, und bald war man um die Erkenntnis nicht mehr herumgekommen, daß der Pfad, dem man folgte, weder der beste noch der richtige war. Nirgends waren die kleinen Steinpyramiden zu sehen, die ihn markierten. Worauf der Leiter der Pilger seine Gefährten um sich versammelt hatte.
»Wir müssen diesem Weg folgen, wohin er uns auch führt«, hatte er gesagt. »Wenn wir von ihm abweichen, laufen wir Gefahr, im Kreis herumzuirren. Er wird uns schon irgendwo hinführen, und auf jeden Fall ist es das beste, uns der Gnade Gottes anzuvertrauen!«
Zustimmendes Gemurmel hatte ihm geantwortet. Man hatte die Worte des Führers den Schweizern und Deutschen, die in der Nachhut marschierten und von denen übrigens mehrere beritten waren, übersetzt. Keiner von ihnen hatte Einwände erhoben, so groß war bereits der Einfluß dieses Mannes auf seinen bunt zusammengewürfelten Trupp. Er mochte ungefähr fünfundvierzig sein, aber Cathérine wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Seinen eigenen Äußerungen hatte sie entnommen, daß er Gerbert Bohat hieß und einer der reicheren Bürger von Clermont war, aber er entsprach ganz und gar nicht diesem Bilde. Groß und mager, sah er wie ein Asket aus. Und doch schien sein gequältes Gesicht das Brandmal aller menschlichen Leidenschaften zu tragen. Der gewohnheitsmäßige Ausdruck seiner grauen Augen war herrisch, doch dann und wann hatte Cathérine eine der Furcht nahekommende Unruhe in ihnen aufzucken sehen. Sein Blick war eisig, und wenn er auch unzweifelhaft Eigenschaften der Menschenführung offenbarte, hatte Cathérine nicht weniger den bestimmten Eindruck, daß Gerbert Bohat die Frauen verabscheute. Der Ton, in dem er sie ansprach, war kalt, kaum höflich, während er sich den männlichen Pilgern gegenüber durchaus freundlich zeigte. Doch als die Stunde des Gebets anbrach, entdeckte Cathérine, daß die Seele dieses Mannes sich entflammen konnte …
Seitdem Gerbert seinen Trupp verpflichtet hatte, diesen unbekannten Weg weiterzuverfolgen, war man unablässig marschiert. Einen Augenblick hatten sie einen Anhaltspunkt zu finden geglaubt, als sie auf eine einen Sturzbach überspannende Brücke aus der Römerzeit stießen.
»Das ist der Bès«, hatte Gerbert gesagt, »und dies ist die Brücke von Marchastel. Wir müssen geradeaus weiter. Wir werden nicht in Nasbinals Rast machen, sondern im Hospiz von Aubrac. Mut!«
Das Wort hatte alle aufgemuntert. Ein Mann, der die Pilgerreise schon einmal unternommen hatte, erklärte, es sei viel besser, ins Hospiz als nach Nasbinals zu gehen. Das einsame Hospiz würde die müden Reisenden aufnehmen können. Man hatte sich singend wieder in Marsch gesetzt. Aber der Nebel hatte das Land allmählich wieder überzogen, die Stimmen erstarben auf den Lippen, die nach trockener Luft verlangten. Von neuem war der Weg dem Zufall ausgeliefert.
Mitunter ließ ein Riß in der Nebelwand die Falle eines Torfstichs, den Spalt einer Schlucht oder die graue Wölbung eines Hügels erkennen, aber meist tappte man im Dunkeln, die Augen auf den Boden geheftet, um den Weg auszumachen. Und jetzt brach die Nacht herein, die die Gefahr noch vervielfachen würde. Sollte man hier, in der freien Wildnis, anhalten und im eisigen Wind kampieren, in den sich schon einige winzige Schneeflocken mischten? In den allerletzten Märztagen sind Frost und Schnee in den trostlosen Weiten des Aubrac nichts Seltenes. Trotz allem, trotz des scheußlichen Wetters und der schmerzenden Füße, ließ Cathérine den Mut nicht sinken. Um Arnaud zu finden, war sie bereit, noch zehnmal mehr zu ertragen.
Plötzlich strauchelte Gillette de Vauchelles über einen Stein. Sie fiel so heftig nach vorn, daß sie Cathérine mitriß. Eine Verwirrung in der Marschkolonne war die Folge, und sofort eilte Gerbert Bohat zu den beiden Frauen.
»Was ist hier los? Könnt Ihr nicht auf Eure Füße aufpassen?«
Der Ton war barsch, ohne jede Duldsamkeit. Cathérine antwortete ebenso scharf. Bereits ermüdet, war sie nicht geneigt, die schlechte Laune des Clermontesers zu ertragen.
»Meine Gefährtin ist erschöpft! Dieser Weg nimmt ja kein Ende! Wenn man ihn überhaupt einen Weg nennen kann! Und dieser Nebel …«
Der schmale Mund Gerberts verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln.
»Es sind erst fünf Tage, daß wir aufgebrochen sind! Wenn diese Frau krank ist, hätte sie zu Hause bleiben sollen! Eine Pilgerfahrt ist keine Vergnügungsreise! Gott will …«
»Gott will«, unterbrach Cathérine ihn trocken, »daß man sich seinen Mitmenschen mitfühlend und ihrer Not gegenüber hilfreich erweist! Es ist recht einfach, diese lange Bußfahrt zu unternehmen, wenn man bei vollen Kräften ist. Statt Eurer Vorwürfe, Messire, solltet Ihr lieber Eure Hilfe anbieten!«
»Frau«, erwiderte Gerbert, »niemand hier hat Euch um Eure Meinung befragt. Ich habe meine Aufgabe, die mir genügt: Ich habe diesen Trupp zum Heiligen Grab des Apostels zu führen! Jeder beliebige unserer Gefährten kann Euch helfen.«
»Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß ich Euch mit ›Messire‹ angesprochen habe? Ich bin es nicht gewohnt, mit ›Frau‹ angeredet zu werden! Ich habe einen Namen. Ich bin Cathérine de Montsalvy!«
»Vor allem habt Ihr einen unerträglichen Hochmut! Wir sind hier nur eine Versammlung von Sündern und Sünderinnen auf dem Weg zum Buße tun …«
Der gleichermaßen verächtliche wie predigende Ton des Clermontesers löste bei Cathérine den mit Mühe zurückgehaltenen Zornausbruch aus.
»Ihr habt es gerade nötig, vom Hochmut anderer zu reden, ›Bruder‹«, entgegnete Cathérine, absichtlich das Wort Bruder benutzend. »Das ist ein Thema, das Ihr offenbar ausgezeichnet kennt … nach der Wärme Eurer Nächstenliebe zu schließen!«
In den grauen Augen Gerberts blitzte ein Zornesfunkeln auf. Sein Blick und der Catherines maßen sich herausfordernd, aber die junge Frau schlug die Augen nicht nieder. Sie empfand eine Art wilder Freude angesichts der sichtbaren Wut des Mannes. Er mußte ein für allemal begreifen, daß sie nie und nimmer bereit sein würde, sich seinem Gesetz zu unterwerfen … Dies sagte Catherines veilchenblauer Blick ganz deutlich. Gerbert täuschte sich keineswegs darüber.
Mit einer instinktiven Bewegung hob er den mit einem dicken Stab bewaffneten Arm. Schnell warf sich einer der Pilger dazwischen, packte den erhobenen Arm und drückte ihn herunter.
»Aber, aber, Bruder! Mäßigt Euch! Vergeßt nicht, daß Ihr es mit einer Frau zu tun habt, nicht mit einem Diener. Mein Gott, was für ungehobelte Manieren ihr in eurer wilden Auvergne habt!« sagte der Neuankömmling mit spöttischem Unterton. »Wäre es nicht besser, wenn Ihr versuchtet, uns aus diesem Nebel herauszuführen, der uns in Mark und Knochen dringt? Der Ort hier scheint mir schlecht geeignet für einen solchen Streit, und ich würde der Dame Cathérine lieber helfen, unsere Schwester zum nächsten Wegziel zu bringen … wenn es überhaupt eins gibt!«
»Im Hospiz wird sie die Pflege erhalten, die sie braucht«, murmelte Gerbert, zu seinem Platz an der Spitze der Kolonne zurückkehrend.
»Wenn ich die Dächer sehe, werde ich an dieses Hospiz glauben!« meinte Catherines Verteidiger, während er ihr half, die arme Gillette aufzurichten, deren Knie vor Erschöpfung einknickten. »Man müßte diese Frau tragen …«, fügte er hinzu, während er sich suchend umsah. Cathérine lächelte ihm zustimmend zu. Sie hatte ihn vorher noch nicht bemerkt und wunderte sich über sein für einen Pilger ungewohntes Aussehen. Er war ein junger Mann, schlank und von mittlerer Größe, mit braunem Haar, dessen Gesicht in nichts der Vorstellung glich, die man sich im allgemeinen von einem frommen Pilger machte. Nichts an diesem Gesicht, das alles in allem außerordentlich ausdrucksvoll wirkte, schien im Gleichgewicht zu sein. Dicke, fleischige Lippen, auf die eine lange und kräftige, in der Mitte eingeknickte Nase herabstieß, kleine blaue, unter den Brauen tief eingegrabene Augen, ein eckiges, eigensinniges Kinn, eine Unzahl frühzeitig entwickelte Falten. Die Züge waren grob, doch die Physiognomie wirkte beweglich, der lebhafte Blick verriet Intelligenz, die spöttischen Fältchen in seinen Mundwinkeln ließen auf einen unwiderstehlichen Hang zur Ironie schließen.
Als er sich der stummen Musterung durch Cathérine bewußt wurde, lächelte er auf eine seltsame Weise, die seine Lippen zurückzog und den Mund bis zu den Ohren spaltete; er nahm den großen Pilgerhut ab, dessen Krempe er auf burschikose Art hochgeschlagen trug, und fegte damit über den Boden.
»Josse Rallard, schöne Dame, zu Diensten! Ich bin Pariser, Kavalier und Abenteurer, und wenn ich nach Galicia gehe, so ebenso, um ein Gelübde zu erfüllen wie um die Vergebung meiner zahlreichen Sünden zu erlangen! Holla! Ihr da, wer hilft mir, diese Frau zum Hospiz zu tragen?«
Unter den Umstehenden meldete sich keiner. Offensichtlich hatten die Pilger genug an ihrer eigenen Mühsal. Alle waren müde und vor Kälte erstarrt. Einige zitterten im schneidenden Wind der Hochebene. Keiner hatte den Mut, auch noch diese zusätzliche Last zu tragen. Cathérine kamen sie wie eine Herde verängstigter Schafe vor, und sie konnte sich eines Gefühls der Verachtung nicht erwehren. War das die gegenseitige Hilfsbereitschaft, die unter den Pilgern herrschen sollte? Schon setzte sich, von Gerbert Bohat angetrieben, der Pilgertrupp wieder in Marsch, als Josse, die Reihen der ihn Umgebenden auseinanderschiebend, einem Mann mittlerer Größe auf die Schulter klopfte, der unter seinem Hut den Rücken rund machte.
»Allons, Kamerad! Kommt, legt mit Hand an! Hat man je solche frommen Leute gesehen wie euch, meine Brüder! Was, kein Freiwilliger? Ihr, Kamerad, werdet Euch doch nicht weigern.«
»Ich bin nicht Euer Kamerad!« brummte der andere, wagte aber nicht, sich zu sträuben. Von Josse ins Schlepptau genommen, trat er zu Cathérine, die immer noch Gillette stützte, aber es war deutlich zu sehen, daß er nicht gerade begeistert war. Josse indessen lachte schallend über sein langes Gesicht.
»Na also! Sind wir nicht alle beide Pariser? Der Hochmut ist eine fürchterliche Sünde, besonders bei einem Pilger, Bruder! Dame Cathérine, darf ich Euch Messire Colin des Epinettes vorstellen? Er ist ein hervorragender Jurist und ein Mann von großem Wissen, den hier wiederzutreffen ich sehr glücklich war. Nun, Bruder, packt Madame von dieser Seite, ich werde sie von der anderen packen. Es ist nicht schicklich, daß Dame Cathérine sich anstrengt, wenn wir da sind!«
Beim Anblick der wütenden Miene des ›hervorragenden Juristen‹ bekam Cathérine plötzlich Lust zu lachen, so daß sie ihre Müdigkeit einen Augenblick vergaß. Sie hätte schwören können, ihn brummen zu hören:
»Hol dich der Teufel! Dich und dein Schandmaul!«
Doch Colin hatte sich kaum den einen Arm Gillettes um den Hals gelegt, als Josse dasselbe mit dem anderen tat. So gestützt, berührte die arme Frau praktisch nicht mehr den Boden. Cathérine belud sich mit ihrem Stab und ihrem sehr schmalen Bettelsack. Man setzte sich wieder in Marsch, aber der Aufenthalt hatte die Zungen gelöst. Jetzt beklagten sich die Pilger über die Länge der Strecke und die Dunkelheit, die sie umgab. Einige fürchteten die verräterischen Torfstiche und flehten den heiligen Jakob an, sie in dieser ersten Gefahr zu beschützen.
»Schweigt!« rief irgendwo im Nebel vor Cathérine die herrische Stimme Gerberts. »Oder singt!«
»Wir haben nicht den Mut!« erwiderte jemand. »Warum nicht zugeben, daß wir verloren sind?«
»Weil wir's nicht sind!« erwiderte der Führer. »Das Hospiz kann nicht mehr weit sein …«
Cathérine öffnete schon den Mund, um ebenfalls ihre Zweifel zu äußern, doch wie um dem Clermonteser recht zu geben, drang der dünne, zarte Klang einer Glocke durch den Nebel. Bohart stieß einen Triumphschrei aus. »Die Glocke der Verlorenen! Wir sind auf dem richtigen Weg. Vorwärts!«
Seinen Stab wie eine Standarte emporhebend, stürzte er in die Richtung, aus der der Ton kam. Der ermattete Trupp setzte sich hinter ihm in Bewegung.
»Hoffen wir, daß er so etwas wie Richtungsgefühl hat«, murmelte Josse. »Nichts ist täuschender als Nebel!«
Cathérine sagte nichts darauf. Sie fror und war schrecklich müde. Aber die Rufe der Glocke wurden immer deutlicher. Bald blinkte ein schwaches gelbes Licht in der Dunkelheit. Gerbert begrüßte es wie einen persönlichen Sieg.
»Dieses Feuer da zünden die Mönche auf der Spitze des Glockenturms an. Wir kommen hin.«
Der Nebel teilte sich plötzlich, und Cathérine sah mit Erleichterung eine Masse gedrungener Gebäude vor sich auftauchen. Mit schwarzen Firsten in den Himmel ragend, schienen ein riesiger, uralter Turm, ein mächtiger, viereckiger Glockenturm, auf dem das Feuer brannte, und ein von gewaltigen Strebepfeilern gestütztes Kirchenschiff den ganzen Komplex großer Gebäude mit seinen spärlichen Fenstern zu bewachen. Das Hospiz der Einsamkeit, wie es im letzten Winkel des weiten Plateaus stand, glich ganz einer Festung. Die neu belebten Pilger stießen Freudenschreie aus, die den Ton der Glocke, deren Schläge jetzt direkt über ihren Köpfen zu hören waren, fast übertönten. Das Portal öffnete sich knarrend und gab drei Mönchen mit Fackeln den Weg frei, die den Ankömmlingen entgegeneilten.
»Wir sind Reisige Gottes!« rief Gerbert mit starker Stimme. »Wir bitten um Asyl!«
»Tretet ein, Brüder, das Asyl ist euch gewährt …«
Als wäre nur die Ankunft der Pilger abgewartet worden, fing es plötzlich heftig an zu schneien, und die Flocken bedeckten die festgetretene Erde des weiten Hofs, in dem ihnen der starke Geruch von Schafen in die Nase stieg. Cathérine lehnte sich erschöpft an eine Wand. Zweifellos würde ein gemeinsamer Schlafsaal sie und ihre Reisegefährtinnen aufnehmen, aber an diesem Abend verlangte es sie danach, ohne daß sie eigentlich recht wußte, warum, einen Augenblick mit sich allein zu sein. Vielleicht, weil diese seltsame Reise sie trotz ihres Mutes in Verwirrung brachte. Sie fühlte sich inmitten dieser Leute entwurzelt, fremd gegenüber ihrem Trachten, ihren Gelübden. Was sie alle wünschten, war, sich zu heiligen, indem sie zum Grab des Apostels pilgerten, es war eine Art Versicherung bei Lebzeiten auf einen guten Platz im Paradies. Sie aber? Gewiß, sie wünschte, von Gott das Ende ihres Leidensweges zu erlangen, die Heilung ihres vielgeliebten Gatten, aber besonders, »ihn« wiederzusehen, seine Liebe wiederzugewinnen, seine Küsse, seine Leidenschaft, alles, was die lebendige Wirklichkeit Arnauds ausmachte. Sie strebte nicht nach hoher Vergeistigung, sondern nach irdischer Liebe, nach Sinnenlust, ohne die sie nicht den Mut zum Leben hatte.
»Wir werden uns jetzt trennen«, sagte die kurz angebundene Stimme Gerberts. »Hier sind die Barmherzigen Schwestern, die sich um die Frauen kümmern werden. Die Männer folgen mir!«
Tatsächlich traten eben aus einem der Gebäude vier Nonnen, die wie die Mönche die schwarze Kutte des Augustinerordens trugen, für sie nur durch ein weißes Kopftuch aufgehellt.
Josse Rallard und Colin des Epinettes übergaben ihnen die arme, halb bewußtlose Gillette, und Cathérine trat hinzu. »Meine Gefährtin ist erschöpft«, sagte sie. »Sie braucht Pflege und viel Ruhe. Habt Ihr kein Zimmer, wo ich mich um sie kümmern könnte?«
Die Barmherzige Schwester sah Cathérine ärgerlich an. Sie war eins jener drallen, kräftigen Landmädchen, die vor keinem Mann und keinem Tier Angst haben.
Sie machte sich daran, Gillette auf eine Trage zu legen, die eine Schwester geholt hatte, bedeutete der besagten Schwester, am einen Ende anzufassen, packte das andere und ließ sich erst dann herab, der jungen Frau zu antworten.
»Wir haben nur zwei. Sie sind von einer Edeldame und ihren Frauen besetzt. Diese Dame ist vor zehn Tagen mit einem gebrochenen Bein hier angekommen. Wegen des Unfalls ist sie noch hier.«
»Ich verstehe sehr wohl. Aber könnte sie ihre Frauen nicht in den gemeinsamen Schlafsaal schicken und das eine der beiden Zimmer abtreten?«
Schwester Leonarde gab sich keine Mühe, eine Grimasse zu unterdrücken, die vielleicht ein spöttisches Lächeln war, und hob die kräftigen Schultern.
»Persönlich würde ich's nicht wagen, sie darum zu bitten. Sie ist … sagen wir, keine sehr fügsame Natur! Offenbar ist sie eine sehr große Dame.«
»Dabei seht Ihr mir nicht so aus, als ob Ihr leicht zu beeindrucken seid, Schwester«, bemerkte Cathérine. »Aber wenn diese Dame Euch Angst einjagt, dann will ich mich gern der Sache annehmen.«
»Sie jagt mir keine Angst ein«, entgegnete Schwester Leonarde. »Ich habe nur Angst vor ihrem Geschrei, unsere Mutter Oberin ebenfalls. Unser Herr hat diese Dame mit einer schrecklichen Stimme ausgestattet!«
Während sie sprach, war die Trage, der Cathérine folgte, durch die kleine, niedrige Pforte getragen worden, die den Eingang zum Haus der Barmherzigen Schwestern bildete. Die anderen Frauen des Pilgerzugs schlossen sich an. Man befand sich in einer riesigen, mit großen Steinfliesen ausgelegten Küche, in der der Geruch von brennendem Holz sich mit dem von saurer Milch mischte. Zwiebelkränze und geräucherte Fleischstücke hingen unter dem niedrigen schwarzen Gewölbe. Käse trockneten in weidengeflochtenen Körben, und vor dem gewaltigen Kamin machten sich zwei Laienschwestern mit hochgekrempelten Ärmeln an einem großen schwarzen Kochtopf zu schaffen, in dem eine dicke Kohlsuppe kochte.
Die Trage wurde vor dem Feuer niedergestellt, und Schwester Leonarde beugte sich über die Kranke.
»Sie ist sehr bleich«, sagte sie. »Ich werde ihr ein herzstärkendes Mittel geben. Inzwischen wird man ihr ein Bett zurechtmachen …«
»Wo kann ich diese Dame finden?« fragte Cathérine, die an ihrer Idee festhielt. »Ich möchte mit ihr sprechen … Ich bin auch eine Edeldame.«
Diesmal konnte Schwester Leonarde sich nicht enthalten zu lachen.
»Ich hab's schon gemerkt!« sagte sie. »Nur an Eurer Halsstarrigkeit. Ich werde selbst mit ihr reden … aber die Antwort kenne ich im voraus. Kümmert Euch um diese Unglückliche!« Die Barmherzige Schwester entfernte sich in den hinteren Teil des Raums. Cathérine beugte sich über Gillette, die nach und nach wieder zu sich kam, aber sie besann sich eines anderen und machte drei Schritte in die Richtung, in die Schwester Leonarde gegangen war. Sie zögerte noch, Gillette allein zurückzulassen, als eine der Frauen auf sie zutrat.
»Ich werde auf unsere Gefährtin aufpassen«, sagte sie. »Geht ruhig, und kümmert Euch um das.«
Cathérine lächelte ihr dankbar zu und stürzte sich auf die Spur der Nonne. Sie bemerkte sie vor sich am Ende eines eisigen, feuchten Gangs, wo sie eben an eine Tür klopfte und dann verschwand. Die Dame mit dem gebrochenen Bein hatte in der Tat eine kräftige Stimme, denn als Cathérine vor der Tür stehenblieb, hörte sie sie schreien.
»Ich brauche die Pflege meiner Frauen, Schwester! Ihr verlangt doch nicht etwa, daß ich sie in den Saal schicke, am anderen Ende des Gebäudes! Zum Teufel, ein Bett ist immer noch ein Bett, ob es in dem einen oder anderen Zimmer steht!«
Schwester Leonarde erwiderte etwas, was Cathérine nicht verstand, vielleicht, weil sie dem Gedanken nachhing, ob sie diese Stimme nicht schon irgendwo gehört hatte. Jedenfalls kam sie ihr merkwürdig bekannt vor, wie sie jetzt nach Herzenslust fluchte.
»Himmeldonnerwetter, Schwester! Es ist ein für allemal klar: Ich behalte meine Zimmer.«
Ein Impuls, den sie nicht beherrschen konnte, trieb Cathérine vorwärts. Sie öffnete die Tür, trat ins Zimmer, das klein und niedrig war und in dem ein großes Bett mit zurückgeschlagenen Vorhängen und ein kegelförmiger Kamin fast den gesamten Raum einnahmen. Aber nachdem sie über die Schwelle getreten war, blieb sie verblüfft wie festgenagelt stehen …
Auf dem Bett sitzend, von einer Unmenge Kissen gestützt, blitzte eine große, starke Frau Schwester Leonarde wütend an, die im Vergleich zu der imposanten Person völlig unscheinbar aussah. Das dichte weiße Haar der Dame zeigte noch einige rote Locken, und ihr vom Zorn belebter Teint war von schönstem Ziegelrot. Decken häuften sich über ihr. Eine Art roter, mit Fuchsfell gefütterter Umhang bedeckte ihre Schultern, aber eine bewundernswert weiße, in drohender Geste auf die Schwester gerichtete Hand sah aus dem weiten Ärmel hervor.
Das Knarren der Tür beim Öffnen hatte die Aufmerksamkeit der Dame abgelenkt, die, als sie eine weibliche Silhouette im Schatten des Rahmens entdeckte, ihre Wut auf diese richtete.
»Was soll das? Tritt man bei mir ein wie in eine Mühle? Wer ist die da?«
Fast erstickend vor Erregung, zwischen Lachlust und Tränen schwankend, trat Cathérine vor, bis der Widerschein des Kaminfeuers auf sie fiel.
»Ich bin's nur, Dame Ermengarde! Habt Ihr mich vergessen?«
Vor Verblüffung verschlug es der alten Dame die Sprache, ihre Augen wurden kugelrund, die Arme fielen herab, ihr Mund öffnete sich, ohne daß ein Ton herauskam, und sie wurde so bleich, daß Cathérine Angst bekam.
»Erkennt Ihr mich denn nicht, Ermengarde?« fragte sie bang. »Man könnte meinen, ich hätte Euch Angst eingejagt. Ich bin's, ich …«
»Cathérine! Cathérine! Meine Kleine!«
Ihr Stimmaufwand ließ Schwester Leonarde zusammenfahren. Im nächsten Augenblick mußte die Barmherzige Schwester sich auf ihren hitzigen Gast stürzen, denn Ermengarde de Châteauvillain wollte sich, ihren Unfall vergessend, aus dem Bett schwingen, um ihrer Freundin entgegenzueilen.
»Euer Bein, Frau Gräfin!«
»Zum Teufel mit meinem Bein! Laßt mich! Himmeldonnerwetter! Cathérine! … Das ist doch nicht möglich! … Das ist zu schön, um wahr zu sein!«
Sie zappelte unter den Händen der Schwester, aber schon hatte Cathérine sich auf sie geworfen und drückte sie nieder. Die beiden Frauen umarmten sich leidenschaftlich. Freudentränen waren in die Augen der Jüngeren getreten.
»Ihr habt recht, es ist zu schön! … Es ist ein Wunder! Oh, Ermengarde, es ist so gut, Euch wiederzusehen, so gut … Aber wie kommt Ihr hierher?«
»Und Ihr?«
Ermengarde schob Cathérine sanft zurück und betrachtete sie prüfend.
»Ihr habt Euch nicht verändert … oder nur ganz wenig! Ihr seid immer noch so schön, vielleicht noch schöner? Trotzdem, anders … vielleicht weniger auffallend, aber um wieviel ergreifender! Ich würde sagen: geläutert, vergeistigt! … Zum Teufel, wenn man bedenkt, daß Ihr in einer Boutique auf die Welt gekommen seid!«
»Frau Gräfin«, mischte Schwester Leonarde sich nun mit festem Ton ein, »ich möchte Euch bitten, jede Erwähnung des Herrn Satan in diesen geheiligten Mauern zu unterlassen! Ihr ruft ihn ununterbrochen an!«
Ermengarde wandte sich ihr zu und betrachtete sie mit einem Erstaunen, das nicht gekünstelt war.
»Seid Ihr immer noch da? O ja … stimmt, Eure Zimmerangelegenheit. Gut, quartiert diese faulen Menschen von nebenan aus, schickt sie in den Gemeinschaftssaal, und bringt Eure Kranke an ihrer Stelle unter. Da ich nun Madame de Brazey habe, brauche ich niemand mehr! Und wir haben viel zu besprechen!«
Die so hochfahrend entlassene Schwester kniff die Lippen zusammen, verneigte sich jedoch und ging wortlos hinaus. Die hinter ihr zuschlagende Tür gab genugsam ihr Mißvergnügen kund. Die Gräfin blickte ihr nach, zuckte mit den Schultern und rückte dann schwerfällig auf dem unter ihrem Gewicht ächzenden Bett zur Seite, um ihrer Freundin Platz zu machen.
»Setzt Euch hierher, meine Kleine, und unterhalten wir uns! Wie lange ist es her, seit Ihr mich verlassen habt, um die Stadt Orleans im Sturm zu nehmen?«
»Fünf Jahre«, sagte Cathérine. »Schon fünf Jahre! Wie schnell die Zeit vergeht!«
»Fünf Jahre«, entgegnete Ermengarde, »versuche ich schon vergeblich herauszufinden, was aus einer gewissen Dame de Brazey geworden ist. Das letztemal, als ich Nachricht von Euch hatte, wart Ihr in Loches, Edeldame bei Königin Yolande. Schämt Ihr Euch gar nicht?«
»Doch«, gab Cathérine zu, »aber die Tage sind verronnen, ohne daß ich es merkte. Und dann, liebe Ermengarde, müßt Ihr Euch abgewöhnen, mich Brazey zu nennen. Das ist nicht mehr mein Name …«
»Welcher dann?«
»Der allerschönste: Montsalvy!« erwiderte die junge Frau mit so viel Stolz, daß die alte Gräfin sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.
»Ihr habt also gewonnen? Irgendwie habt Ihr mich schon immer in Erstaunen versetzt, Cathérine! Welche alchimistischen Kunststückchen habt Ihr angewandt, um eine Verbindung mit dem unzugänglichen Messire Arnaud zustande zu bringen?« Das beim Namen ihres Gatten sich zeigende Lächeln Catherines verschwand, und eine schmerzliche Falte grub sich um ihren zarten Mund.
Sie wandte die Augen ab.
»Das ist eine lange Geschichte …«, murmelte sie. »Eine grausame Geschichte …«
Die Dame de Châteauvillain verharrte einen Augenblick in Schweigen. Sie betrachtete ihre Freundin, bewegt von deren Schmerz, den Cathérine zum erstenmal hatte sehen lassen und dessen Tiefe sie instinktiv erfaßte. Sie wußte nicht, wie sie die Zwiesprache weiterführen sollte, da sie fürchtete, Cathérine zu verletzen. Nach einem Augenblick sagte sie mit bei ihr ungewohnter Zartheit:
»Ruft eine meiner Frauen. Sie wird Euch helfen, Eure durchnäßten Kleider auszuziehen, wird sie trocknen lassen und Euch andere besorgen … ein wenig zu große, aber warme. Man wird uns das Souper aufs Zimmer bringen, und Ihr erzählt mir alles. Ihr scheint erschöpft …«
»Das bin ich wahrhaftig!« gab Cathérine mit einem schwachen Lächeln zu. »Aber vorher muß ich mich noch um eine meiner Gefährtinnen kümmern, diejenige, die so dringend ein Zimmer brauchte.«
»Ich werde Anweisung geben …«
»Nein«, unterbrach Cathérine. »Ich muß selbst gehen. Aber ich bin gleich wieder zurück.«
Sie trat im selben Augenblick in den Gang hinaus, in dem man Gillette in das benachbarte Zimmer brachte, das von den beiden Kammerfrauen Ermengardes frei gemacht worden war. Die Frau, die Cathérine versprochen hatte, auf die Kranke aufzupassen, war auch da … Sie lächelte die junge Frau an.
»Es heißt, Ihr habt eine alte Freundin in diesem Haus wiedergetroffen«, sagte sie. »Wenn Ihr wollt, werde ich mich heute nacht um unsere Gefährtin kümmern. Sie ist weder anspruchsvoll noch aufsässig.«
»Das möchte ich nicht«, sagte Cathérine. »Auch Ihr braucht Ruhe!«
Die andere lachte.
»Ach, ich bin kräftiger, als es den Anschein hat! Ich kann überall schlafen, auf Steinen, im Regen, ja sogar im Stehen!«
Cathérine betrachtete sie interessiert. Es war eine junge Frau in den Dreißigern, klein, braun und schmal, aber ihre von Wind und Sonne gebräunte Haut strömte Gesundheit aus, ein Eindruck, der noch durch die festen weißen Zähne betont wurde. Sie war ärmlich, aber anständig angezogen. Und was ihr Gesicht betraf, so verliehen die leichte Stubsnase und der große, lebhafte Mund ihm eine Art Lustigkeit, die der jungen Frau gefiel.
»Wie heißt Ihr?« fragte sie freundlich.
»Margot! Aber man nennt mich Margot la Déroule … Ich … ich bin nicht sehr achtbar!« fügte sie mit einer bescheidenen Offenheit hinzu, die Cathérine rührte.
»Ach was!« sagte sie. »Die Pilger sind alle Brüder und Schwestern. Ihr seid soviel wert wie jeder von uns … Aber vielen Dank für Eure Hilfe! Ich werde im benachbarten Zimmer sein. Ruft, wenn Ihr mich braucht.«
»Seid beruhigt«, versicherte Margot, »ich werde mir schon allein helfen können. Übrigens, die arme Gillette braucht vor allem eine gute Suppe und einen langen Schlaf … obgleich unser Chef daran denkt, sie sich vom Hals zu schaffen!«
»Was hat er zu ihr gesagt?«
»Daß er sie morgen nicht mit uns weiterziehen lassen werde, weil er keine Kranken bis nach Compostela mitschleppen wolle.«
Cathérine runzelte die Stirn. Dieser Gerbert schien entschlossen, allen seinen Willen aufzuzwingen, aber sie nahm sich schon vor, dies nicht zu dulden. »Das werden wir ja sehen!« sagte sie. »Morgen ist auch noch ein Tag. Und ich werde diese Frage mit ihm regeln. Wenn unsere Schwester nicht hierzubleiben wünscht, wird sie mit uns aufbrechen!«
Sie warf Margot noch ein letztes Lächeln zu, die sie bewundernd ansah, und trat wieder in Ermengardes Zimmer.
Es war schon spät in der Nacht, als Cathérine zu sprechen aufhörte, aber im romanischen Hof des Hospizes läutete noch immer die Glocke der Verlorenen, Catherines Erzählung gleichsam einen seltsamen Kontrapunkt gebend, der die tragische Seite ihres Berichts unterstrich. Diesen Bericht hatte Ermengarde sich von Anfang bis Ende wortlos angehört, doch als Cathérine schwieg, stieß die alte Dame einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
»Wenn eine andere als Ihr mir diese Geschichte erzählte, würde ich nicht die Hälfte glauben«, sagte sie. »Aber es scheint, daß Ihr für ein außergewöhnliches Schicksal geschaffen und auf die Welt gekommen seid. Und ich halte Euch für fähig, die schlimmsten Abenteuer zu bestehen. Schließlich, Euch im Pilgermantel wiederzutreffen ist nicht nur eine einfache Anekdote! … Also, Ihr seid auf dem Weg nach Compostela? Wenn Ihr Euren Gatten dort aber nicht findet?«
»Dann werde ich weiterziehen. Bis ans Ende der Welt, wenn nötig, denn ich werde weder rasten noch ruhen, bis ich ihn gefunden habe.«
»Und wenn er keine Heilung erlangt hat und die Verwüstungen der Lepra deutlich zu sehen sind?«
»Dann werde ich trotzdem an seiner Seite bleiben. Wenn ich ihn erst einmal gefunden habe, wird nichts und niemand mich mehr von ihm trennen können! Ihr wißt ja, Ermengarde, daß er schon immer mein einziger Lebensinhalt war.«
»Ach, das weiß ich nur zu gut! Seitdem ich mit ansehe, wie Ihr Euch in die fürchterlichsten Sackgassen verrennt und in die blutigsten Mißgeschicke stürzt, frage ich mich, ob man dem Himmel wirklich danken soll, daß er Euch Arnaud über den Weg geführt hat.«
»Der Himmel konnte mir kein wundervolleres Geschenk machen!« rief Cathérine mit solcher Begeisterung, daß Ermengarde die Brauen hob und in lässigem Ton bemerkte:
»Wenn man bedenkt, daß ihr ein Reich regieren könntet! Wißt Ihr, daß Herzog Philippe Euch nie vergessen hat?«
Cathérine wechselte die Farbe und zog sich brüsk von ihrer Freundin zurück. Diese Erinnerung an vergangene Tage war ihr peinlich.
»Ermengarde«, sagte sie ruhig, »wenn ihr wollt, daß wir Freundinnen bleiben, dann sprecht mir nie mehr von Herzog Philippe! Diesen ganzen Abschnitt meines Lebens möchte ich vergessen.«
»Da müßt Ihr aber ein verflucht willfähriges Gedächtnis haben! Das dürfte nicht leicht sein!«
»Vielleicht! Aber …« Catherines Ton wurde plötzlich milder. Sie rückte wieder dicht neben Ermengarde, die immer noch auf ihrem Bett kauerte, und sagte freundlich:
»Erzählt mir lieber von den Meinen, von meiner Mutter und meinem Onkel Mathieu, von denen ich so lange keine Nachricht mehr habe! Wenn Ihr welche habt.«
»Natürlich habe ich«, brummte Ermengarde. »Beiden geht es gut, aber sie ertragen es weniger gut als Ihr, ohne Nachricht gelassen zu werden. Das letztemal, als ich nach Marsannay ging, traf ich sie recht gealtert an. Aber ihre Gesundheit ist gut.«
»Mein … Verschwinden hat ihnen hoffentlich keinen Ärger bereitet?« fragte Cathérine mit leiser Verlegenheit.
»Es wird langsam Zeit, daß Ihr Euch Gedanken darüber macht!« bemerkte die alte Dame mit einem Lächeln im Mundwinkel. »Nein, beruhigt Euch«, fügte sie eiligst hinzu, als sie sah, daß Catherines Gesicht sich verdüsterte, »es ist ihnen nichts Unangenehmes zugestoßen. Der Herzog ist trotz allem noch nicht so tief gesunken, um sie seine Liebesenttäuschungen büßen zu lassen. Ich würde sogar glauben … er hofft im Gegenteil, daß der Wunsch, sie wiederzusehen, Euch eines Tages in seine Dienste zurückführen wird. Folglich wird er nicht die Gemeinheit begehen, sie des Landes zu verweisen, nur um sie nicht mehr sehen zu müssen. Meiner Meinung nach wünscht er, Euch zu zeigen, was für eine großmütige Seele er besitzt! Auch das Vermögen Eures Onkels floriert ganz hübsch. Von dem der Châteauvillain würde ich nicht dasselbe sagen!«
»Was meint Ihr damit?«
»Daß auch ich eine Art Verbannte bin. Seht her, mein Herz, ich habe einen Sohn, der mir ähnelt. Er besitzt genügend englisches Blut, um sich in seiner französischen Haut nicht wohl zu fühlen. Also hat er die junge Isabelle de La Trémoille, die Schwester Eures Freundes, des Exgroßkämmerers, geheiratet.«
»Ich hoffe nur, daß sie ihm nicht gleicht!« rief Cathérine entsetzt.
»Durchaus nicht: Sie ist charmant! Mein Sohn hat dem Herzog von Bedford den Hosenbandorden zurückgeschickt und ist in offene Revolte gegen unseren teuren Herzog getreten. Ergebnis: Die herzoglichen Truppen belagern unser Schloß Grancey, und was mich betrifft, so habe ich mir gedacht, es wäre langsam an der Zeit, ein wenig auf Reisen zu gehen. Ich hätte eine abscheuliche Geisel abgegeben. Daher kommt es, daß Ihr mich auf den Landstraßen findet, auf dem Weg nach Compostela und zu meinem Seelenheil, über das ich mir ernstlich Gedanken mache. Aber ich segne diesen verfluchten Unfall, der mir ein Bein kaputtgemacht und mich hier aufgehalten hat. Ohne diesen Unfall wäre ich schon weit und hätte Euch nicht getroffen …«
»Leider«, seufzte Cathérine, »werden wir uns von neuem aus den Augen verlieren. Sicherlich wird Euer Bein Euch noch mehrere Tage hier festhalten, und ich muß morgen mit meinen Gefährten weiterziehen!«
Die natürliche, gesunde Gesichtsfarbe der Dame de Châteauvillain wurde dunkelrot.
»Glaubt das nur nicht, meine Schöne! Ich habe Euch wiedergefunden und werde Euch nicht verlassen. Ich ziehe mit Euch. Meine Leute werden mich auf einer Bahre tragen, wenn ich mich nicht auf dem Pferd halten kann, aber ich werde keine Minute länger als Ihr hierbleiben. Und wie wär's, wenn Ihr jetzt ein wenig schlafen würdet? Es ist spät, und Ihr müßt müde sein. Legt Euch neben mich, es ist Platz für zwei!«
Ohne sich weiter bitten zu lassen, legte Cathérine sich neben ihrer Freundin zur Ruhe. Der Gedanke, daß sie mit und neben Ermengarde aufbrechen würde, der Gedanke an deren gesunde, moralische Haltung erfüllte sie gleichzeitig mit Freude und Vertrauen in die Zukunft.
Die alte Dame war unzerstörbar. Schon einmal, nach dem Tode des kleinen Philippe, hatte Cathérine geglaubt, sie sei am Ende. Sie war gramgebeugt, war plötzlich gealtert. Ihre Seele hatte sich auf den Tod vorbereitet … und jetzt traf sie sie auf den großen Landstraßen wieder, vitaler und bissiger denn je! Gewiß würde der Weg mit Ermengarde leichter und viel angenehmer sein.
Das Feuer im Kamin brannte herunter. Die Gräfin hatte die Kerze ausgeblasen, und Schatten hatten das kleine Zimmer überflutet. Cathérine konnte nicht umhin zu lächeln, als sie daran dachte, was für ein Gesicht Gerbert Bohat machen würde, wenn er am Morgen die imposante Dame auf ihrer Trage sähe und erführe, daß er sie in Zukunft seinen Pilgern hinzuzählen mußte. Seine Reaktion wäre es zweifellos wert, gesehen zu werden.
»Woran denkt Ihr?« fragte Ermengardes Stimme plötzlich. »Ihr schlaft noch nicht, ich fühl's!«
»An Euch, Ermengarde, und an mich! Ich habe Glück gehabt, Euch am Anfang dieser langen Reise getroffen zu haben!«
»Glück? Ich habe Glück gehabt, meine Liebe! Seit Monaten, ach, was sage ich, seit Jahren langweile ich mich zu Tode! Dank Euch wird mein Leben, hoffe ich, etwas pittoresker und unterhaltsamer werden. Und verdammt noch mal, das habe ich auch nötig! Ich bin schon völlig verblödet, Gott verzeihe mir! Und ich fühle mich jetzt gesünder.«
Und wie zum Beweis dieser wunderbaren plötzlichen Genesung schlief Ermengarde unverzüglich ein und fing an, so herzhaft zu schnarchen, daß sie das melancholische Gebimmel der Glocke übertönte.
In der alten romanischen Kapelle des Hospizes sprachen die gedämpften Stimmen der Pilger dem Pater Abt die Worte des rituellen Gebetes der Reisigen nach.
»Gott, der du Abraham aus seinem Lande gehen ließest und ihn auf seinen Wanderungen heil und gesund erhalten hast, gewähre deinen Kindern denselben Schutz. Stehe uns bei in der Gefahr, und lindere unseren beschwerlichen Marsch. Sei uns Schatten gegen die Sonne, Mantel gegen Regen und Wind. Trage uns in unserer Müdigkeit, und verteidige uns in jeder Gefahr. Sei der Stab, der uns vor dem Fallen bewahrt, und der Hafen, der die Schiffbrüchigen aufnimmt …«
Aber Catherines Stimme mischte sich nicht unter die anderen. Im Geist ließ sie die heftigen Worte noch einmal an sich vorüberziehen, die zwischen ihr und Gerbert Bohat kurz vor Eintritt in die Kapelle zur Messe und Predigt, die dem Aufbruch vorangingen, gewechselt worden waren. Als der Clermonteser die junge Frau unter dem Portalvorbau auftauchen sah, die noch sehr bleiche Gillette de Vauchelles am Arm, war er blaß vor Zorn geworden. Er war derart aufbrausend auf die beiden Frauen zugeeilt, daß er Ermengarde, die, auf zwei Krücken gestützt, direkt hinter ihnen ging, nicht sofort bemerkte.
»Diese Frau ist nicht fähig, die Reise fortzusetzen«, hatte er barsch gesagt. »Natürlich kann sie die Messe hören, aber wir werden sie in der Obhut der Barmherzigen Schwestern zurücklassen.«
Cathérine hatte sich vorgenommen, freundlich und geduldig zu bleib en, um Gerbert zu besänftigen, aber es wurde ihr schnell klar, daß ihre Geduld nicht von langer Dauer sein würde.
»Wer hat das bestimmt?« fragte sie in ungewöhnlich freundlichem Ton.
»Ich!«
»Und mit welcher Berechtigung, bitte?«
»Ich bin der Führer dieses Pilgerzuges. Ich habe zu entscheiden!«
»Ich glaube, da irrt Ihr Euch. Beim Aufbruch von Le Puy seid Ihr vom Bischof als unser Reiseleiter ausgewählt worden, um an der Spitze unseres Trupps zu gehen, weil Ihr ihm als besonnener Mann erschienen seid und diesen Weg schon einmal zurückgelegt habt. Aber Ihr seid nicht unser ›Führer‹ in dem von Euch verstandenen Sinn.«
»Was heißt das?«
»Ihr seid ebensowenig Hauptmann, wie wir Soldaten sind. Begnügt Euch, ›mein Bruder‹, uns die Straßen entlangzuführen, und befaßt Euch nicht weiter mit uns! Dame Gillette wünscht die Reise fortzusetzen, und sie wird sie fortsetzen!«
Ein Zornesfunkeln, das Cathérine bereits zu erkennen gelernt hatte, blitzte gefährlich in den grauen Augen des Mannes auf. Er trat einen Schritt auf die junge Frau zu.
»Ihr wagt es, meiner Autorität zu trotzen?« rief er mit bebender Stimme.
Cathérine hielt seinem Blick ohne Wimperzucken stand und warf ihm sogar ein kaltes Lächeln zu.
»Ich trotze ihr nicht, ich weigere mich lediglich, sie anzuerkennen, so wie Ihr sie uns aufzwingen wollt. Im übrigen, beruhigt Euch, Dame Gillette wird Euch keinerlei Mühe machen. Sie wird den Weg zu Pferd fortsetzen.«
»Zu Pferd? Wo glaubt Ihr wohl, ein Pferd auftreiben zu können?«
Ermengarde, die dem Gespräch bis dahin mit Interesse gefolgt war, fand es jetzt an der Zeit, sich einzumischen. Sie humpelte zu Gerbert heran.
»Ich habe Pferde, denkt Euch, und ich werde ihr eins geben! Habt Ihr etwas dagegen?«
Diese Einmischung paßte dem Clermonteser ganz offensichtlich nicht. Er runzelte die Stirn und blickte die alte Dame mit unmißverständlicher Verachtung an:
»Wer ist die da?« fragte er. »Woher kommt Ihr, gute Frau?«
Das bekam ihm schlecht. Die Edle von Châteauvillain wurde plötzlich puterrot. Fest auf ihre Krücken gestützt, richtete sie sich zu ihrer vollen Höhe auf, was ihr Gesicht fast auf gleiche Höhe mit dem Bohats brachte. »Euch, mein Junge, müßte man fragen, woher Ihr kommt, daß Ihr Euch so flegelhaft benehmt! Himmelkreuzdonnerwetter! Ihr seid wahrhaftig der erste, der es gewagt hat, mich ›gute Frau‹ zu nennen, und ich rate Euch, es nicht noch einmal zu tun, wenn Ihr nicht wollt, daß meine Männer Euch Höflichkeit beibringen. Trotzdem, da ich die Absicht habe, mich Euch anzuschließen, um den Weg mit meiner Freundin, der Gräfin de Be… de Montsalvy, zurückzulegen, willige ich ein, Euch zu sagen, daß ich Ermengarde heiße, Dame und Gräfin de Châteauvillain im Lande Burgund, und daß selbst Herzog Philippe seine Worte wägt, wenn er mit mir spricht! Noch etwas?«
Gerbert Bohat zögerte, mit sichtlicher Mühe eine unverschämte Bemerkung zurückhaltend, aber der herrische Ton der alten Dame verfehlte trotz allem seine Wirkung nicht.
Er öffnete den Mund, schloß ihn wieder, hob die Schultern und sagte schließlich:
»Ich habe nicht die Macht, sosehr ich es wünschte, Euch zu hindern, Euch uns anzuschließen, auch nicht, diese Frau mitzunehmen, da Ihr Euch um ihre Beförderung kümmert.«
»Danke, Bruder«, sagte Gillette freundlich und mit einem schwachen Lächeln. »Seht, ich muß zum Grab des heiligen Jakob pilgern, es ist nötig … damit mein Sohn seine Gesundheit wiedererlange.«
Cathérine, deren scharfe Augen nicht von dem Gesicht Bohats wichen, hatte den Eindruck, daß sein Zorn verebbte. Etwas, das an Bedauern gemahnte, war in seinen Augen zu lesen. Er wandte den Kopf ab.
»Macht, was Ihr wollt!« sagte er barsch. »Dankt mir nicht!« Er entfernte sich, aber im Vorbeigehen fing Cathérine den Blick auf, den er ihr zuwarf. Von nun an war dieser Mann ihr Feind, dessen war sie sicher. Was sie aber nicht verstehen konnte, war der sonderbare Ausdruck in seinem Blick, als er sie angesehen hatte. Hinter der kalten Wut und der Rachsucht lag noch etwas. Und dieses Etwas war, hätte Cathérine schwören können, Angst.
An all dies dachte sie in der eiskalten Kapelle, inmitten des Lärms der schlecht aufeinander abgestimmten Stimmen, die feierlich ihr Gottvertrauen bekundeten. Was war an ihr, das einem so selbstsicheren Mann wie Gerbert Bohat Furcht einflößen konnte? … Da es auf diese Frage im Augenblick keine Antwort gab, beschloß die junge Frau, das Nachdenken darüber auf später zu vertagen. Übrigens würde ihr die große Menschenkenntnis Ermengardes bei Gelegenheit vielleicht noch nützlich sein können.
Mechanisch verließ sie die Kirche wie die anderen, empfing wie die anderen das Stück Brot, das der Pater für die Verpflegung an der Pforte des Hospizes den Scheidenden reichte, und nahm ihren Platz inmitten ihrer Gefährten wieder ein. Sie hatte das Pferd, das Ermengarde ihr anbot, abgelehnt. Ihre Füße, deren einer eine große, jetzt aufgegangene Blase hatte, waren von Schwester Leonarde geschickt verbunden worden, und sie fühlte sich fähig zu marschieren.
»Ich werde Euch um Hilfe bitten, wenn ich nicht mehr weiter kann«, sagte sie zu Ermengarde, die zwei Barmherzige Schwestern auf ein großes, ebenso rotes Pferd wie sie selbst hoben. Zwei andere hatten Gillette auf einen lammfrommen Zelter gesetzt, der bislang eine der Frauen der Edlen getragen hatte. Die beiden Kammerzofen, die mit vier Bewaffneten das gesamte Gefolge der Dame Ermengarde bildeten, begnügten sich mit einem gemeinsamen Pferd und hatten sich in der Nachhut unter einige Berittene des Trupps eingereiht.
Das Portal öffnete sich wieder vor der ausgeruhten Kolonne. Der Schnee und der Nebel des vergangenen Tages waren nur noch eine Erinnerung. Die Sonne schien am blauen, völlig wolkenlosen Himmel, und die Frische der morgendlichen Stunde ließ trotz allem eine schöne und milde Reise erhoffen. Kaum hatten sie die Mauern des alten Hospizes hinter sich, wurde der Weg breit und steinig und senkte sich auf die Sohle einer mit frischem Gras bewachsenen Mulde, erster Absatz vor dem tiefen Tal des Lot, aus dem dichter bläulicher Nebel aufstieg. Josse Rallard und Colin des Epinettes marschierten wie auf Verabredung zu beiden Seiten Catherines. Der letztere schien seine mißmutige Miene von tags zuvor abgelegt zu haben. Er betrachtete die an diesem klaren Morgen so freundliche Landschaft mit einem zufriedenen Lächeln.
»Die Natur!« schwärmte er Cathérine vor. »Welche Pracht! Wie kann man nur in unseren stinkenden Städten wohnen, wenn man soviel Frische, Sauberkeit und Freiheit um sich hat!«
»Besonders, wenn es in besagten Städten so viele unmögliche Frauen gibt!« meinte Josse mit einem liebenswürdig-boshaften Lächeln zu seinem Gefährten hinüber. Aber der Bürger aus Paris schien den Einwurf nicht sonderlich zu schätzen, denn er machte plötzlich ein saures Gesicht, hob die Schultern und schritt ein wenig voran. Cathérine warf ihrem Nachbarn einen fragenden Blick zu. »Warum ist er böse?« fragte sie. »Habt Ihr etwas Unangenehmes zu ihm gesagt?«
Josse brach in Lachen aus, zwinkerte der jungen Frau zu und hob munter seinen Bettelsack auf die Schulter.
»Wenn Ihr Euch mit dem ausgezeichneten Colin gutstellen wollt«, flüsterte er, »dann vermeidet vor allem, über Frauen im allgemeinen und die seine im besonderen mit ihm zu sprechen.«
»Warum denn?«
»Weil es die schrecklichste Xanthippe ist, die der Teufel jemals auf die Erde gebracht hat, und wenn unser würdiger Freund, der nichts von einem fahrenden Ritter oder einem Paladin an sich hat, sich in die Abenteuer einer Pilgerfahrt gestürzt hat, dann einzig und allein, um ihr zu entwischen. Er besitzt alles: Gesundheit, Vermögen, Achtbarkeit. Aber leider auch die Dame Aubierge, und um von ihr entfernt zu leben, glaube ich, wäre er fähig, bis in den ägyptischen Sudan zu laufen! Ich bin sicher, daß er, wenn er die Wahl zwischen Sklavenketten und seinem Sessel in der Rue des Haudriettes hätte, die Ketten vorzöge!«
»So steht es also?« rief Cathérine erschrocken. »Streitet sie sich so mit ihm?«
»Noch schlimmer!« erwiderte Josse betrübt. »Sie prügelt ihn windelweich!«
Nachdem er dies gesagt und Gerbert Bohat an der Spitze des Zuges eine Litanei angestimmt hatte, um den Rhythmus des Marsches anzugeben, begann Josse ein Trinklied zu trällern, das den Vorzug hatte, unendlich lustiger zu sein.
Man legte in zwei Tagen die schwierige Strecke zurück, die durch das Tal des Lot und die steilen Schluchten des Doudou von Aubracin die heilige Stadt Conques führte. Zwanzig Wegstunden waren es, unterbrochen nur von einer kurzen Nacht in Espalion in der uralten Kommandantur der Tempelritter, wo andere Mönchssoldaten, die Barmherzigen Brüder von Sankt Johann aus Jerusalem, ihr Bestes taten, die Pilger zu laben und zu stärken. Gerbert Bohat schien von einer Art Wut besessen zu sein und wollte nichts von Klagen noch von den Schmerzen seines Trupps hören.
Für Cathérine waren diese beiden Tage ein Stück Hölle gewesen. Ihr verletzter Fuß machte ihr schwer zu schaffen, aber sie hatte sich hartnäckig geweigert, ein Pferd zu besteigen. Wenn sie diese Reise nicht wie die Bedürftigsten der Pilger zurücklegte und als Buße ansah, würde Gott, so schien es ihr, sich nicht erweichen lassen. Und ihre Leiden litt sie für Arnaud, damit der Herr ihr seine Heilung gewähre und ihr erlaube, ihn wiederzusehen. Für dieses Glück wäre sie mit Freuden auf glühenden Kohlen gelaufen …
Nichtsdestoweniger hätte sie sich ohne die Hilfe eines alten Ordensmannes von Sankt Johann, der ihre zarten, geschwollenen, blutenden Füße beim Zeremoniell der Fußwaschung gewahrte, das die Mönche kniend für die Pilger absolvierten, und sie mitleidig pflegte, gezwungen gesehen, ihre Reise hier zu beenden oder sich beritten zu machen. Der Mönchssoldat hatte die wunden Füße mit einer Salbe aus Kerzentalg, Olivenöl und Weingeist bestrichen, die Wunder gewirkt hatte.
»Das ist ein altes Reiterrezept«, hatte er der jungen Frau lächelnd anvertraut. »Unsere jungen Ordensritter, die noch eine weiße Haut und ein zu zartes Gesäß für die langen Ritte haben, machen großen Gebrauch davon.« Er hatte ihr sogar etwas davon in einem Töpfchen mitgegeben, und das Heilmittel hatte sich als unfehlbar erwiesen. Trotz allem befand sich Cathérine am Rand einer Ohnmacht, als das mit seiner riesigen Abtei an den Hängen des schmalen Tals von Ouche klebende kleine Dorf im Abend auftauchte. Sie hatte nur einen gleichgültigen Blick für die bewundernswerte Basilika, vor der ihre Gefährten vor Begeisterung auf die Knie gefallen waren.
»Ihr seid völlig erschöpft!« hatte Ermengarde gewettert. »Versucht gar nicht erst, den anderen in die Abtei zu folgen, die übrigens bis unters Dach voll ist. Es gibt hier, wie man mir versichert hat, eine gute Herberge, und ich habe die Absicht, mich dorthin zu begeben.«
Cathérine hatte aus Furcht vor den verächtlichen Bemerkungen Gerberts gezögert, aber der Leiter der Pilger hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
»Quartiert Euch ein, wo Ihr könnt! Die Abtei ist bereits voll, und ich weiß nicht, wohin ich meinen Trupp führen soll. Jeder soll sich einrichten, wie er kann, in einer Scheune oder bei einem Dorfbewohner. Handelt ganz nach Belieben. Vergeßt aber die feierliche Messe, die folgende Prozession und die verschiedenen Gottesdienste nicht.«
»Um wieviel Uhr werden wir denn weiterziehen?« fragte Cathérine ungeduldig.
»Erst übermorgen! Ihr scheint nicht zu ahnen, daß wir uns an einem der wichtigsten Orte unseres Glaubens befinden, meine Schwester. Er verdient es wohl, daß man einen Tag hier verweilt!«
Nach diesen Worten hatte er kurz gegrüßt, sich auf dem Absatz umgewandt und in Richtung des Abteiportals entfernt, ohne auf Catherines Einwände zu hören. Trotz der Strapazen des langen Weges hatte sie schneller vorwärts kommen und nur die kürzesten Rastpausen auf der Strecke einlegen wollen, die ihr geliebter Mann zurückgelegt hatte. Einen ganzen Tag hier zu verbringen schien ihr eine entsetzliche Zeitvergeudung, selbst wenn dieser Tag sie wieder zu Kräften kommen ließe.
»Was für verlorene Zeit!« murmelte sie und bot Ermengarde, deren Frauen ihr nicht ohne Mühe vom Pferd halfen, ihren Arm. Die Edle von Châteauvillain, durch die vielen im Sattel verbrachten Stunden ebenfalls ermüdet, war steif wie ein Brett. Aber sie hatte nichts von ihrem Temperament verloren.
»Wetten wir, daß ich weiß, was Ihr denkt, meine Kleine?« sagte sie fröhlich, Cathérine zum Tor einer großen Herberge ziehend, deren die Mauern abstützende Strebepfeiler ihr etwas Festungsähnliches gaben.
»Sagt's ruhig!«
»Ihr würdet viel darum geben, Euch morgen früh auf ein Pferd schwingen, alle unsere salbadernden Betbrüder sitzenlassen und mit Windeseile in die Stadt Galicia galoppieren zu können, wo Euch, wie Ihr glaubt, etwas erwartet.«
Cathérine versuchte nicht einmal zu leugnen. Sie lächelte nur müde.
»Es ist wahr, Ermengarde! Die Langsamkeit dieses Marschs bringt mich noch um. Bedenkt nur, wir sind hier so nahe bei Montsalvy, daß es mir eine Leichtigkeit wäre, hinzugehen und meinen Sohn zu umarmen! Aber ich bin zu einer Pilgerfahrt aufgebrochen und werde Gott nicht bemogeln! Wenn unterwegs nicht etwas eintritt, was mich überzeugt, daß ich Arnaud auf eine andere Weise suchen muß, werde ich mit meinen Gefährten die Reise bis zum Ziel fortsetzen. Und dann ist es natürlich gut, wenn man zusammenbleibt. Der Weg ist gefährlich, es wimmelt von Banditen. Es ist besser, wenn man stark ist. Mit Euren Frauen und Euren Bewaffneten wären wir nur sieben. Vorausgesetzt, wir halten bis zum Ende durch, da einer Eurer Soldaten schon geflohen ist.«
Das stimmte. Am frühen Morgen, als man die Kommandantur von Espalion verlassen hatte, bestand Ermengardes Eskorte nur noch aus drei Mann: Der vierte fehlte. Doch zur großen Überraschung Catherines hatte die alte Dame keinerlei Ärger gezeigt. Sie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
»Die Burgunder lieben das Reisen nicht! Und die Vorstellung, nach Spanien zu reisen, paßte Saulgeon gar nicht. Er muß es vorgezogen haben, zurückzureiten!«
Diese unerwartete Philosophie hatte Cathérine zu denken gegeben. Sie kannte Ermengarde und die unbeugsame Festigkeit, mit der sie ihre Leute führte, zu gut, um ihre jetzige Haltung nicht eigenartig zu finden. Oder sollte die furchtbare alte Dame sich in dieser Hinsicht geändert haben?
In der Herberge Sainte-Foy wurde die Dame de Châteauvillain mit allen ihrem Rang gebührenden Ehren empfangen. Ermengarde verstand es übrigens ausgezeichnet, sich bedienen zu lassen. Das Haus war voll besetzt, aber sie bekam trotzdem zwei Zimmer: eins für Cathérine und sich selbst, das andere für ihre Kammerzofe und Gillette de Vauchelles, die sie kurzerhand unter ihre Fittiche genommen hatte. Die Reisenden vertilgten ihr Abendessen schnell und schweigend. Alle waren müde, aber während Ermengarde, kaum ins Zimmer getreten, sich niederlegte und einschlief, hielt Cathérine sich trotz ihrer Müdigkeit am Fenster auf, das auf den kleinen Platz hinausging. Und außerdem war der Schlaf an diesem Abend weniger wichtig, da man noch einen Tag hierbleiben würde.
Auf dem kleinen steinernen Vorsprung in der Fensterecke sitzend, ließ Cathérine den Blick über das fremde und pittoreske Bild draußen wandern. Komödianten, wie sie oft in den Städten der großen Pilgerfahrt erschienen, hatten sich vor der Kirche eingefunden und gaben ihre Vorstellung vor einer Versammlung von Dorfbewohnern und Pilgern, die mangels Unterkunft sich auf dem Vorplatz niedergelegt hatten. Es waren Musikanten, Viola- und Lautenspieler, Harfenisten und Flötisten. Ein magerer Junge, in ein halb grünes, halb gelbes Kostüm gekleidet, jonglierte mit brennenden Fackeln. Am Fuße eines der beiden romanischen Türme der Vorderfront sitzend, hatte ein Erzähler derber Schnurren in buntem Flitter einen Kreis von Jungen und Mädchen um sich versammelt. Schließlich tanzte zum Klang der Musik ein grellrot gekleidetes, schmales Mädchen mit bloßen Füßen vor der hohen fahlen Steinfassade, von der herab Christus in seiner Majestät seine segnende Hand über die Menschheit hob. Die Flammen der Fackeln belebten wie in einem Theater die Figuren des gewaltigen, in das Giebelfeld eingehauenen Letzten Gerichts, das wie eine Seite des Evangeliums koloriert und vergoldet war. Die Erwählten schienen im Begriff, sich in die himmlischen Regionen zu erheben, und die Verdammten verzerrten in der Höllenpein unter dem Gelächter der Teufel schmerzlich die Gesichter.
Der Zauber dieser Kulisse wirkte auf Cathérine. Sie dachte, daß sie genau an diesem Ort auf den Weg stieß, den Arnaud und nach ihm Gauthier gegangen waren. Einer wie der andere, der Reiter mit der schwarzen Maske, den mageren Knappen an der Seite, und der große blonde Normanne, mußten ihren Fuß vor dieses edle Portal gesetzt und sich einen Augenblick unter die Menge gemischt haben, die zu dieser Stunde unter den Sternen träumte … Cathérine brauchte nur für einen Moment die Augen zu schließen, um sie vor sich heraufzubeschwören, den flüchtigen Leprakranken und den Sohn der Wälder des Nordens. Wo waren sie um diese Stunde? Was war ihnen zugestoßen, und welche Spur würde sie finden, sie, die sich mit den schwachen Kräften einer Frau auf die Suche nach ihnen gemacht hatte? Denn ebensowenig, wie sie glauben konnte, daß Arnaud auf immer für sie verloren war, gab sie sich mit dem Gedanken zufrieden, daß Gauthier tot sein sollte. Der Riese hatte etwas Unzerstörbares an sich. Der Tod konnte ihn nicht so niedergestreckt haben, in voller Jugend, auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Erst in vielen Jahren würde er ihn in seine Gewalt bekommen, wenn sein Diener, das Alter, seine gemeine Arbeit an dem granitenen Körper verrichtet hätte.
Plötzlich wurde Cathérine in ihren Gedanken unterbrochen. In der Menge, die den Gauklern zusah, erkannte sie Gerbert Bohat. Er näherte sich der roten Tänzerin. Das Mädchen hielt keuchend inne, um der Menge ein Tamburin entgegenzustrecken, als der Clermonteser es ansprach. Trotz der, wenn auch geringen, Entfernung konnte Cathérine mühelos den Sinn ihres Gesprächs verstehen. Die Hand Gerberts wies sogleich schroff auf das Kleid des Mädchens, das eng anlag und sehr dekolletiert war, und dann auf Christus im Giebelfeld, und sein wütendes Gesicht war eindeutig. Er mußte die Tänzerin mit Vorwürfen überschütten, daß sie es wagte, in dieser dreisten Kleidung vor einer Kirche eine Vorstellung zu geben. Und tatsächlich schien die große schwarzgekleidete Gestalt vor ihr der jungen Frau Angst zu machen. Sie hob den Arm, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Doch bald konnte Cathérine sich eines undeutlichen Unruhegefühls nicht erwehren. Der puritanische Wutausbruch Gerberts schien nicht nach dem Geschmack der Schar junger Bauern zu sein, die noch einen Augenblick zuvor dem Erzähler gelauscht hatten. Sie sahen nichts Unrechtes darin, daß man vor der Kirche tanzte, und begannen, die Tänzerin zu verteidigen. Einer von ihnen, ein kräftiger Bursche, dessen Körperbau Cathérine ein wenig an Gauthier erinnerte, packte Gerbert sogar am Rockkragen, während drei andere eine drohende Haltung gegen ihn einnahmen und die hitzigen Stimmen der Mädchen ihn beschimpften … Im nächsten Augenblick würde Gerbert Bohat mißhandelt werden.
Cathérine hätte nicht sagen können, was sie augenblicklich zum Handeln trieb. Sie hatte wahrhaftig keinerlei Sympathien für diesen Mann, den sie für hart, hochfahrend und erbarmungslos hielt. Vielleicht fügte sie sich der einfachen Tatsache, daß sie ihn brauchte, um nach Galicia zu gelangen. Jedenfalls verließ sie eiligst das Zimmer, lief in den Hof hinunter, wo Ermengardes Männer noch einen letzten Becher Wein vor dem Schlafengehen tranken, und sprach den Sergeanten an.
»Schnell!« befahl sie. »Befreit den Führer der Pilger. Sonst wird er von der Menge zusammengeschlagen!«
Die Männer griffen nach ihren Waffen und eilten hinaus. Sie folgte ihnen, ohne eigentlich zu wissen, warum, denn die Soldaten brauchten sie ja nicht. Vielleicht nur, um zu sehen, wie Gerbert sich verhalten würde. Tatsächlich war alles schnell erledigt. Die drei Burschen hatten breite Schultern, fürchterliche Fäuste, von langen Kriegsjahren gezeichnete Gesichter und blitzende Waffen. Die Menge öffnete sich vor ihnen wie das Meer vor dem Bug eines Schiffes, und Cathérine, in ihrem Kielwasser, befand sich im Nu neben Gerbert unter dem Portalvorbau. Die Menge knurrte zwar, wich aber wie ein bissiger, mit der Peitsche bedrohter Hund zurück und zerstreute sich, zu den Gauklern zurückkehrend, die ihre Kunststücke einen Augenblick unterbrochen hatten.
»Ihr seid außer Gefahr, Messire«, sagte Sergeant Béraud zu Gerbert. »Legt Euch jetzt schlafen, und laßt diesen Leuten ihr Vergnügen. Sie tun nichts Schlechtes.« Dann wandte er sich an Cathérine: »Dame, wir haben nach Eurem Wunsch gehandelt. Begleiten wir Euch nun in die Herberge zurück?«
»Geht ohne mich!« antwortete die junge Frau. »Ich bin noch nicht müde.«
»Wenn ich richtig verstanden habe, verdanke ich Euch dieses Einschreiten?« fragte Bohat schroff, während die Bewaffneten sich entfernten. »Habe ich Euch etwa um Hilfe gebeten?«
»Dafür seid Ihr viel zu hochmütig! Ich glaube im Gegenteil, daß Ihr Euch mit Vergnügen hättet verprügeln lassen. Aber ich habe Euch in Schwierigkeiten gesehen und gedacht …«
»Wenn die Frauen sich schon aufs Denken verlegen!« seufzte Bohat in so verächtlichem Ton, daß Cathérine von Zorn überwältigt wurde. Dieser Mann war nicht nur sonderbar, er war ganz offen widerwärtig. Und sie scheute sich auch nicht, es ihm zu sagen.
»Ich gestehe, daß sie oft Dummheiten begehen, besonders, wenn sie sich einmischen, um das Leben eines bemerkenswerten männlichen Intellekts zu retten. Tatsächlich, Messire, bitte ich Euch, mein Bedauern und meine Entschuldigung entgegenzunehmen. Es wäre viel besser gewesen, wenn ich friedlich am Fenster geblieben wäre und zugesehen hätte, wie Ihr Euch am Kirchenportal aufführtet, wonach ich mich in der Gewißheit, daß Ihr zum Heil des christlichen Glaubens gestorben seid, hätte beruhigt schlafen legen sollen, nicht, ohne einige Vaterunser für die Ruhe Eurer großen Seele gebetet zu haben! Aber, da das Übel nun einmal geschehen ist, erlaubt, daß ich Euch verlasse! Gute Nacht, Messire Gerbert!«
Schon drehte sie sich auf dem Absatz herum, als er sie zurückhielt.
Dieser sarkastische Ausbruch hatte ihn verblüfft, und als Cathérine sich zu ihm zurückwandte, konnte sie keine Spur von Zorn auf seinem Gesicht entdecken.
»Wollt Ihr mir verzeihen, Dame Cathérine?« sagte er mit tonloser Stimme. »Es ist wahr, daß diese armen Leute mir ohne Euer Dazwischentreten das Leben genommen hätten. Und daß ich Euch dafür danken müßte. Aber«, fügte er heftig und mit belegter Stimme hinzu, »es kommt mich schwer an, einer Frau zu danken, um so mehr, als das Leben mir eine unerträgliche Last ist! Wenn ich Gott nicht fürchtete, hätte ich schon lange mit meinem Leben Schluß gemacht.«
»Andere Leute zu benutzen, um Euch zu beseitigen, ist nur eine Finte, mit der Gott sich nicht hinters Licht führen ließe. Ich füge hinzu, daß in diesem Fall das Verbrechen doppelt groß wäre, denn zu Eurer geheimen Absicht käme noch das Unrecht, das Ihr, statt es selbst zu begehen, von Unschuldigen verlangt hättet. Was Euren Dank betrifft, haltet Euch nicht für verpflichtet. Ich hätte dasselbe für jeden anderen getan!«
Gerbert antwortete nicht, aber als Cathérine einige Schritte auf die Herberge zu machte, trat er neben sie, sich leicht zu ihr hinunterbeugend. Er schien sie plötzlich auf keinen Fall verlassen zu wollen, und Cathérine versuchte gar nicht erst, sich diese neue Marotte zu erklären. Da er aber Schweigen bewahrte, fragte sie ihn schließlich:
»Ihr haßt die Frauen, nicht wahr?«
»Mit aller Kraft, von ganzer Seele … Sie sind die unaufhörliche Falle, in der sich der Mann verfängt.«
»Warum dieser Haß? Was haben sie Euch denn getan? Habt Ihr keine Mutter gehabt?«
»Das ist die einzige reine Frau, die ich gekannt habe. Alle anderen waren nichts als schmutzig, unzüchtig und falsch.«
Cathérine hätte durch dieses brutale Urteil verletzt sein können. Trotzdem empfand sie nur eine Art Mitleid, weil sie hinter Gerberts Zorn ein Leiden vermutete, das sich nicht definieren ließ.
»Habt Ihr sie schon immer verabscheut?« fragte sie. »Oder …« Er ließ sie nicht ausreden.
»Oder habt Ihr sie zu sehr geliebt? Ich glaube, daß es in Wahrheit so ist. Weil ich schon immer den verfluchten Geschmack der Frau im Blut gehabt habe, weil sie schon immer mein Feind war! Ich hasse sie!«
Der Widerschein einer Kerze, die noch auf dem Ladentisch eines Händlers mit Heiligenbildern brannte, huschte einen Augenblick über das Gesicht und die Hände des großen Pilgers, deren eine seinen schwarzen Mantel hielt. Seine Züge waren vom Feuer düsterer Leidenschaft durchglüht, und die freie Hand zitterte. Das Verlangen, ihn herauszufordern, bewegte Cathérine stehenzubleiben.
»Schaut mich an!« befahl sie. »Und sagt mir, ob Ihr glaubt, daß ich wirklich nur schmutzig, unzüchtig und falsch bin!«
Sie hatte sich bewegungslos ins gelbe Licht der Kerze gestellt, bot dem flackernden Blick des Mannes ihr reines Gesicht, das, von der den ganzen Tag getragenen Kapuze befreit, von einer dunkelgoldenen Aureole umgeben war, über die fahlrote Lichtreflexe glitten. Dichte Locken hingen fast bis auf die Schultern, ein kleiner Ersatz für den schon zweimal geopferten königlichen Schmuck von einst. Mit leisem Lächeln betrachtete sie ihren Gefährten, der plötzlich bleich geworden war. Er schien sich in eine Statue verwandelt zu haben, aber in eine Statue mit flammendem Blick.
»Alons, Messire Gerbert, antwortet mir!«
Da machte er eine ausholende Bewegung, als wollte er eine teuflische Vision verjagen, und wich in den Schatten der Abteimauer zurück.
»Ihr seid zu schön, um nicht ein Dämon zu sein, der gekommen ist, mich zu versuchen! Aber Ihr werdet nichts bei mir ausrichten, hört Ihr? Nichts werdet Ihr ausrichten! Hebe dich hinweg von mir, Satan!«
Von heiliger Furcht ergriffen, wollte er fliehen. Cathérine begriff, daß man diesem Mann nie beikommen konnte, daß er bis in den Geist befallen war. Eine Art Krankheit. Sie hob die Schultern, und ihr Lächeln schwand.
»Sagt keine solchen Albernheiten«, entgegnete sie gelassen. »Ich habe nichts Dämonisches an mir! Ihr sucht den Seelenfrieden, ich suche etwas anderes … Doch dieses Etwas mir zu geben, liegt nicht in Eurer Macht, in keines Mannes Macht übrigens … mit einer einzigen Ausnahme.«
Wider seinen Willen wagte Gerbert Bohat zu fragen:
»Wer ist dieser Mann?«
»Ich glaube«, sagte Cathérine kurz, »daß Euch dies nichts angeht! Guten Abend, Messire Gerbert!«
Und diesmal entfernte sie sich in Richtung der Herberge, ohne daß er versuchte, sie zurückzuhalten. Die Nacht war still, und die Geräusche der kleinen Stadt verstummten eins nach dem anderen. Irgendwo läutete eine Glocke. Ein Hund bellte. Cathérine fühlte sich jetzt müde und irgendwie entmutigt. Sie hatte gehofft, die Spannung zwischen ihr und Gerbert lösen zu können, aber sie begriff, daß dies niemals möglich sein würde. Dieser Mann beherbergte ein Geheimnis, das sie anscheinend nicht zu durchdringen vermochte. Und alle Versuche, die sie unternehmen könnte, um ihn wieder menschlich zu machen, würden ihr nichts nützen. Was hatte es also für einen Sinn, es zu versuchen?
Der folgende Tag schien Cathérine endlos. Sie verwandte ein gut Teil davon, ihren verletzten Fuß zu pflegen, aber sie mußte auch an den vorgeschriebenen Gottesdiensten teilnehmen. Doch sie war zu sehr von ihrer Ungeduld durchdrungen, als daß sie hätte ruhig beten können … Endlose Minuten hatte sie sinniert, während in den Weihrauchwolken gleich einer phantastischen Erscheinung die barbarische und prunkvolle Goldstatue von Sainte-Foy schimmerte, die mit Edelsteinen bestückt war, zahlreicher als eine Wiese im Frühling mit Blumen. Es war eine seltsame Figur, ziemlich furchterregend mit ihrem massigen Gesicht und ihren starren Augen, und Cathérine betrachtete sie mit einer Art Angst, sah sich außerstande, in ihr das Bildnis einer kleinen dreizehnjährigen Heiligen zu sehen, die einstmals durch ihren Glauben zur Märtyrerin geworden war. Vielmehr sah sie darin eine Art furchtbares Idol, dessen starrer, geweiteter Blick sie bedrückte.
Indessen hieß es, sie habe die Macht, Gefangene zu befreien. Eisen, Ketten, Fesseln und Halseisen waren hinter ihr aufgehäuft, rührende Zeugen der Dankbarkeit. Doch trotz allem fühlte sich Cathérine in dieser düsteren Kirche, inmitten der Betenden, Gefangene einer ungeduldigen Liebe, aus der sie nichts befreien konnte, nahe dem Ersticken.
Da sie auf den Knien bleiben mußte, begannen ihre Beine zu kribbeln, und dies erinnerte sie an die unendlich langen Gebete, die sie einst an der Seite ihrer Schwester Loyse in Notre-Dame von Dijon ertragen hatte. Sie erhob sich, wandte den Kopf und traf auf den Blick Gerbert Bohats, der sie anstarrte. Er wandte sofort die Augen ab, aber sie hatte genügend Zeit gehabt, den seltsamen, zugleich harten und furchtsamen Ausdruck zu bemerken, den sie schon einmal an ihm beobachtet hatte. Wider ihren Willen seufzte Cathérine gelangweilt.
»Man darf ihm nicht zürnen«, flüsterte die leise Stimme Gillettes neben ihr. »Gerbert ist ein unglücklicher Mensch.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Ich weiß es nicht, ich fühle es … Er leidet grausam, daher ist er so hart.«
Trotz ihres Mutes und ihres guten Willens konnte Cathérine sich nicht entschließen, der langen Prozession zu folgen, die sich anschickte, die Statue der Heiligen und die ganze Stadt bis zu den seit langer Zeit des Regens beraubten Feldern zu führen. Sie ging zur Herberge und zu Ermengarde zurück, die das Bett nicht verlassen hatte. Die Edle sah sie mit einem Lächeln im Mundwinkel eintreten.
»Nun, Cathérine, habt Ihr noch nicht genug Vaterunser gebetet? Wann werdet Ihr endlich vernünftig sein und meinen Rat und mein Pferd annehmen? Habt Ihr wirklich Lust, mit diesem ganzen Trupp weiterzureisen, obwohl wir viel schneller vorwärts kommen könnten?«
Cathérine preßte die Lippen zusammen und warf, während sie ihren Mantel ablegte, ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. »Kommt nicht mehr darauf zurück, Ermengarde. Ich habe Euch bereits meine Gründe genannt. Die Strecke ist gefährlich, man muß in großer Zahl sein, um sich die Straßenräuber vom Halse halten zu können.«
Die alte Dame reckte sich, gähnte unmäßig und seufzte dann: »Und ich bin nach wie vor der Meinung, daß gute, schnelle Pferde mehr wert sind als schlappe Füße, wenn man Straßenräubern entwischen will. Im übrigen sage ich Euch voraus, wenn wir so weitermachen, werdet Ihr auf dem schnellsten Wege verrückt … und ich auch.«
Im Grunde gab Cathérine Ermengarde recht, wollte es aber nicht zugeben. Sie war überzeugt, daß Gott es ihr übelnehmen würde, wenn sie ihren Weg nicht bis zum Ende mit den Pilgern zurücklegte, denen sie sich angeschlossen hatte. Er würde sie dafür bestrafen, indem er sie hinderte, Arnaud wiederzufinden. Aber seit langem schon wußte die Dame de Châteauvillain in dem hübschen, ausdrucksvollen Gesicht ihrer Freundin zu lesen. Sie murmelte:
»Nun, Cathérine, traut Gott ein wenig Großmut zu, und haltet ihn nicht für einen schäbigen Krämer, der sich nur an feste Geschäftsabmachungen hält. Was haltet Ihr von seiner Barmherzigkeit?«
»Ich halte sehr viel von ihr, Ermengarde, aber wir ziehen mit den anderen weiter!«
Sie hatte fest gesprochen, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Auch Ermengarde täuschte sich darüber nicht. Ein entmutigter Seufzer war ihre einzige Antwort.
Die Prozession von Sainte-Foy mußte wirksam gewesen sein, denn als die Pilger sich am nächsten Tag in der Frühe von neuem auf den Weg machten und Conques, die gewohnheitsmäßigen frommen Lieder singend, verließen, goß es wie mit Kübeln. Cathérine hatte ihren Platz zwischen Josse Rallard und Colin des Epinettes wieder eingenommen. Mutig schritt sie dahin und versagte es sich, zur Nachhut zurückzublicken, wo Ermengarde und ihr berittener Trupp reisten. Es war der Gräfin gelungen, Gott allein wußte, wie, sich während des Aufenthalts zwei neue Pferde zu beschaffen, deren eines die eine Kammerfrau trug, während das andere frei nebenhertrottete, von Sergeant Béraud am Zügel geführt. Cathérine war sich nicht im unklaren, daß dieses Tier für sie bestimmt war, aber sie wollte es nicht wissen.
Der Weg stieg mühselig am Hang des Hügels an, um wieder ins Tal des Lot zu führen und von da Figeac zu erreichen. Und der Regen diente zu nichts. Er verwüstete die Landschaft, zerschlug die zarten, eben erblühenden Rosen des Heidelands, verschreckte das kleinste Blatt, füllte die Augen und wurde von dem groben Wollstoff der Pilgerkleidung aufgesogen. Bald fein und sprühend, bald von jähen Windstößen gepeitscht, breitete er über das düstere Land eine furchtbare Traurigkeit, schwer wie die Welt, die Catherines Herz zu bedrücken schien. Niemand dachte an diesem Morgen mehr daran zu singen. An der Spitze marschierte Gerbert mit rundem Rücken, den Kopf zwischen die Schultern geduckt, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Als man die Höhe des Hanges erreichte, waren plötzlich Rufe hinter der Kolonne zu vernehmen.
»Haltet an! … Um der Liebe Gottes willen, haltet an!«
Diesmal wandte Gerbert sich um und alle anderen mit ihm. Weiter unten am Hang taten drei atemlose Mönche ihr Bestes, sie einzuholen. Mitunter strauchelte einer von ihnen in einem Loch oder über einen Stein, aber sie riefen unaufhörlich und schwenkten heftig die Arme.
»Was ist da los?« murmelte Colin mürrisch. »Haben wir etwas vergessen, oder wollen diese frommen Leute sich uns anschließen?«
»Das würde mich wundern«, erwiderte Josse Rallard, der die drei Mönche mit Stirnrunzeln herankommen sah. »Sie tragen nichts bei sich, nicht einmal Pilger Stäbe.«
»Dann wollen sie sich vermutlich unseren Gebeten am Heiligen Grab des Apostels empfehlen«, entgegnete Colin salbungsvoll. Aber sein Gefährte sah ihn so scharf an, daß er nicht wagte, in seinen Vermutungen weiterzugehen. Übrigens lief Gerbert Bohat die ganze Länge der Kolonne zurück, den Ankömmlingen entgegen. Sie trafen ziemlich in der Nähe Catherines und ihrer Gefährten zusammen, so daß der jungen Frau nichts von ihrer Unterhaltung entging. Außerdem brüllten die drei Mönche trotz ihrer Kurzatmigkeit, daß die Felsen barsten.
»Man hat uns bestohlen! Fünf große Rubine sind vom Mantel der heiligen Foy entwendet worden!«
Ein Unmuts- und Zorngeschrei begrüßte diese Nachricht, aber Gerbert erwiderte sofort schlagfertig und aggressiv:
»Das ist eine scheußliche Freveltat, aber ich sehe nicht ein, weshalb ihr uns so eilig gefolgt seid, um uns das mitzuteilen. Ihr nehmt doch nicht etwa an, daß einer von uns der Dieb ist? Ihr seid fromme Leute, aber wir, wir sind die fahrenden Ritter Gottes!«
Der größte Mönch wischte mit verlegener Miene über sein großes rosiges Gesicht, über das der Regen in kleinen Rinnsalen herunterrann, und machte eine ohnmächtige Geste.
»Die schwarzen Schafe des Teufels verbergen sich manchmal zwischen den Besten unter uns. Und die Tatsache, daß man einem Pilgerzug angehört, ist noch längst keine Garantie für Frömmigkeit. Es gibt Beispiele …«
»Wir waren nicht die einzigen in Conques gestern … oder wann immer der Diebstahl begangen wurde. Ich bewundere Eure christliche Nächstenliebe, die sich zuerst gegen arme Pilger wendet, ohne an dieses Pack von Possenreißern und Gauklern zu denken, die sich neulich abends vor Eurer Kirche zur Schau stellten.«
Cathérine unterdrückte ein Lächeln.
Offenbar hatte Gerbert sein Abenteuer von vorgestern abend immer noch nicht verwunden. Aber der Mönch schien noch unglücklicher zu werden.
»Die Gaukler sind gestern morgen weitergezogen, wie ihr wissen dürftet, und gestern, während der Prozession, ist die Statue am hellichten Tage intakt gezeigt worden. Kein Stein fehlte.«
»Seid Ihr dessen ganz sicher?«
»Mich und meine hier anwesenden Brüder hatte der Hochehrwürdige Abt beauftragt, uns von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen, bevor wir sie wieder in ihre Nische zurückstellten. Ich kann Euch versichern, daß nicht der kleinste Edelstein fehlte. Heute morgen fehlten fünf große Rubine … und ihr seid die einzigen Fremden gewesen, die die letzte Nacht in unserer Stadt verbrachten!«
Schweigen trat nach dieser Bekundung ein. Jeder hielt den Atem an, wohl fühlend, daß die Beweisführung der Mönche unangreifbar war. Gerbert indessen weigerte sich, sich geschlagen zu geben, und Cathérine bewunderte in diesem Augenblick den Mut und die Hartnäckigkeit, mit der er seine Welt verteidigte.
»Das beweist noch lange nicht, daß wir schuldig sind! Conques ist eine heilige Stadt, aber sie ist immerhin eine Stadt, von Menschen bevölkert, unter denen das Schlechte sehr wohl untertauchen kann.«
»Wir kennen unsere eigenen schwarzen Schafe, und der Hochehrwürdige Abt beschäftigt sich mit ihnen seit heute morgen. Mein Bruder, es wäre soviel einfacher, den Beweis zu liefern, daß keiner von euch die gestohlenen Steine bei sich hat!«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Daß wir nur zu dritt sind, aber wenn ihr euch durchsuchen lassen wolltet, würden wir euch nicht lange aufhalten.«
»Bei diesem Regen?« erwiderte Gerbert verächtlich. »Und wie wollt Ihr die Frauen durchsuchen?«
»Zwei unserer Schwestern folgen uns auf dem Fuße. Da sind sie übrigens«, sagte der Mönch, der entschieden auf alles eine Antwort hatte. »Und gleich hinter dieser Wegbiegung gibt's eine kleine Kapelle, wo wir uns einrichten können. Ich bitte Euch darum, mein Bruder. Es geht um den Ruhm von Sainte-Foy und die Ehre Gottes!«
Sich auf die Zehenspitzen reckend, sah Cathérine tatsächlich zwei Nonnen den Weg heraufkommen, ebenso außer Atem wie ihre Gefährten und ebenso durchnäßt wie alle anderen. Gerbert antwortete nicht sofort: Er überlegte, und obwohl in der jungen Frau Empörung bei dem Gedanken kochte, daß man eine Heilige beraubt hatte, teilte sie die Gefühle des Chefs. Diese Leibesvisitation mußte ihm zutiefst zuwider sein. Und außerdem mußte ihn, genau wie Cathérine, dieser neuerliche Zeitverlust erzürnen … Im nächsten Moment blickte er sich im Kreise um.
»Was haltet ihr davon, Brüder? Seid ihr einverstanden, euch dieser … unangenehmen Formalität zu unterwerfen?«
»Die Pilgerschaft erlegt uns Demut auf«, meinte Colin zerknirscht. »Diese Demut wird gut für uns sein, und der heilige Jakob wird sie der Zahl unserer Verdienste hinzufügen.«
»Das ist klar!« fuhr Cathérine ungeduldig dazwischen. »Aber beeilen wir uns. Wir haben schon genug Zeit verloren!«
Der Trupp wandte sich zu der kleinen Kapelle aus Stein, die in einiger Entfernung, genau auf dem Gipfelpunkt des Hügels, am Wegrand errichtet war. Von dort aus war die ganze Gegend um Conques zu sehen, aber niemand dachte daran, sie zu bewundern. Man mußte im Regen warten.
»Reisen in großen Gruppen sind wahrhaftig eine reizende Angelegenheit«, sagte Ermengarde, die sich zu Cathérine gesellte. »Diese tapferen Mönche schließen das Gatter und überwachen uns, als wären wir eine Herde räudiger Schafe. Und wenn sie glauben, daß ich mich durchsuchen lasse …«
»Es wird besser sein, liebe Freundin! Wenn nicht, wird der Verdacht auf Euch gelenkt, und in der Stimmung, in der sich unsere Gefährten befinden, wären sie imstande, Euch übel mitzuspielen! Oh! Was seid Ihr doch ungeschickt, Bruder!«
Die letzten Worte waren an Josse gerichtet, der, über einen Stein stolpernd, sie derart grob anstieß, daß sich beide auf der Böschung kniend wiederfanden.
»Ich bin untröstlich«, sagte der Pariser mit verzerrtem Gesicht, »aber dieser verdammte Weg hat mehr Löcher als die Kutte eines Bettelmönchs. Hab' ich Euch weh getan?«
Voll Besorgnis half er ihr aufstehen und wischte mit der Hand die Schmutzflecken von Mantel und Kapuze der jungen Frau. Er sah so unglücklich aus, daß sie nicht das Herz hatte, ihm Vorwürfe zu machen.
»Es ist nichts!« sagte sie, ihn freundlich anlächelnd. »Wir werden noch anderes zu spüren bekommen!«
Dann setzte sie sich mit Ermengarde auf einen Felsbrocken unter dem Schutzdach der kleinen Kapelle, in welche die Nonnen soeben eingetreten waren. Man hatte beschlossen, die Frauen zuerst hineingehen zu lassen, damit die frommen Schwestern so schnell wie möglich in ihr Kloster zurückkehren konnten. Aber einige Männer, voran Gerbert, unterzogen sich freiwillig draußen der peinlichen Untersuchung. Glücklicherweise ließ der Regen einen Augenblick nach.
»Dieses Land ist schön!« sagte Cathérine, auf den zu ihren Füßen liegenden grau-grün-blauen Talkessel weisend.
»Das Land ist schön«, entgegnete Ermengarde spöttisch, »aber mir wär's lieber, wenn wir es schon weit hinter uns hätten! Ah, da kommen meine Frauen heraus. Gehen wir hinein! Helft mir!« Einander stützend, traten die beiden Freundinnen in die Kapelle. Drinnen war es kalt, feucht, es herrschte ein ekelerregender Schimmelgeruch, und die alte Dame fror trotz ihrer warmen Kleidung.
»Macht schnell, ihr zwei!« herrschte sie die beiden Nonnen an. »Und habt keine Angst, ich habe noch nie jemand gefressen«, fügte sie witzelnd hinzu, als sie ihre verstörten Mienen sah. Sie waren beide jung und von dieser großen, starken Frau sichtlich beeindruckt, die mit solcher Selbstsicherheit sprach. Das hinderte sie jedoch nicht, sich mit minutiöser Genauigkeit der Durchsuchung hinzugeben, der Ermengarde sich mit einem ungeduldigen Aufstampfen unterwarf. Darauf wandte die Ältere der beiden sich an Cathérine, die darauf wartete, an die Reihe zu kommen. »Nun zu Euch, meine Schwester!« sagte sie, indem sie zu ihr trat. »Zuerst reicht mir diesen Almosenbeutel an Eurem Gürtel.«
Wortlos nahm Cathérine die große Tasche aus dickem Leder ab, in der sie ihren Rosenkranz, etwas Gold, den langen Dolch, den sie immer bei sich trug, und den gravierten Smaragd der Königin Yolande verstaut hatte. Die gewollte Einfachheit ihrer Pilgerausstattung gestattete ihr nicht, ein Schmuckstück dieses Werts am Finger zu tragen, andererseits wollte sie sich auch nicht von ihm trennen. Um so weniger, als sie auf dem Weg zu den spanischen Landen war, aus denen die Herrscherin stammte und in denen ihr Wappen eine Hilfe bedeuten konnte, wie Yolande ihr selbst gesagt hatte.
Die Nonne leerte den Beutel auf den schmalen steinernen Altartisch aus, und als sie den Dolch sah, warf sie Cathérine einen schrägen Blick zu.
»Ein merkwürdiger Gegenstand für eine Frau, die nichts anderes als ihr Gebet zur Verteidigung haben soll.«
»Dieser Dolch gehört meinem Gatten!« erwiderte die junge Frau trocken. »Ich trenne mich nie von ihm, und ich habe gelernt, mich gegen Straßenräuber zu verteidigen!«
»Die davon zweifellos sehr beeindruckt sein würden!« meinte die Schwester, auf den Ring deutend. Cathérine geriet in Wut. Ton und Benehmen dieser Frau mißfielen ihr. Sie konnte sich nicht enthalten, ihr eins drauf zugeben.
»Königin Yolande, Herzogin von Anjou und Mutter unserer Königin, hat ihn mir selbst geschenkt. Habt Ihr dagegen etwas einzuwenden? Ich bin …«
»Eine große Dame zweifellos«, unterbrach die andere mit spöttischem Lächeln. »Das ahnt man gleich, wenn man diese Dinge sieht. Aber was habt Ihr dazu zu sagen … edle Dame?«
Unter den verblüfften Augen Catherines hatte sie ein kleines Linnentuch auseinandergefaltet, das die junge Frau noch nicht bemerkt hatte. Und auf seiner zweifelhaften Weiße funkelten in herrlichem Dunkelrot wunderbar die fünf Rubine von Sainte-Foy …
»Was ist das?« rief Cathérine. »Ich habe sie noch nie gesehen. Ermengarde!«
»Das ist Hexerei!« rief die dicke Dame. »Wie sind diese Steine hierhergekommen? Es muß …«
»Hexerei oder nicht, wir behalten sie!« sagte die Schwester. »Und Ihr werdet Euch für diesen Diebstahl verantworten müssen.«
Mit einer Hand packte sie Cathérine am Arm und zog sie hinaus. Dabei rief sie:
»Meine Brüder! Halt! Wir haben die Rubine! Und hier ist die Diebin!«
Mit einer schroffen Bewegung riß Cathérine, rot vor Zorn und Scham angesichts all der Augenpaare, die plötzlich auf sie gerichtet waren, ihren Arm aus der harten Hand der Nonne.
»Das ist nicht wahr! Ich habe nichts genommen! … Diese Steine haben sich, ich weiß nicht, wie, in meinem Almosenbeutel gefunden … Sie müssen hineingesteckt worden sein.«
Das Zorngemurmel der Pilger schnitt ihr die Rede ab. Sie begriff mit Schrecken, daß sie ihr nicht glaubten. Durch den Regen, die Verspätung, die Anklage, die auf ihnen lastete, wütend gemacht, waren alle diese braven Leute bereit, sich in Wölfe zu verwandeln. Panik stieg in Cathérine auf. Da stand sie inmitten des drohenden Kreises, der sich um sie geschlossen hatte, mit dieser haßerfüllten Frau, die an ihrer Seite kreischte, sie müsse sie nach Conques zurückschaffen, sie der Gerechtigkeit des Abtes ausliefern, sie ins Gefängnis …
Die Schwester kam nicht weiter in ihrem Gezeter. Ermengarde, die zu ihr hingehumpelt war, hatte sie am Arm gepackt und schüttelte sie wie einen Pflaumenbaum.
»Hört auf zu keifen!« herrschte sie sie an. »ihr seid vollkommen verrückt! Eine Edeldame des Diebstahls bezichtigen! … Wißt Ihr eigentlich, von wem Ihr sprecht?«
»Von einer Diebin!« kreischte die andere außer sich. »Von einer Unzüchtigen, die einen Dolch mit dem Ertrag eines weiteren Diebstahls bei sich versteckt. Denn dieser Ring, von dem sie zu behaupten wagt, er sei ihr von Königin Yolande geschenkt worden …«
Das war genug. Die schöne Hand Ermengardes hatte sich gehoben und war mit aller Kraft auf ihrer Wange gelandet. Der Abdruck der fünf Finger war deutlich und rot darauf zu sehen. »Das, um Euch Höflichkeit und Bescheidenheit beizubringen, meine ›Schwester‹!« rief sie, mit Nachdruck jedes Wort betonend. »Wahrhaftiger Gott, wenn alle Klöster mit solchen Xanthippen wie Euch bevölkert sind, dann hat Gott mit ihrer Gründung kein Glück gehabt!« Dann, die Stimme erhebend, donnerte sie: »Hallo, Béraud und ihr anderen! Zu den Waffen!«
Ehe die verblüfften Pilger auch nur daran gedacht hatten, sie zu hindern, waren die drei Burgunder mit ihren Pferden in die Mitte des Kreises geprescht, den die Kapelle abschloß, und nahmen vor den drei Frauen Aufstellung. Bedächtig zog Béraud seinen langen Degen, während seine Männer die großen Bogen aus Eibenholz, die sie über den Schultern trugen, herunterrissen und schon Pfeile auflegten. In tiefer Stille verfolgten die Pilger diese drohenden Vorbereitungen. Ermengarde gestattete sich ein breites Lächeln.
»Der erste, der sich rührt, wird keine drei Schritte machen!« sagte sie barsch. Dann, den Ton ändernd und plötzlich freundlich: »Da die Kräfte jetzt im Gleichgewicht sind, können wir uns unterhalten.«
Trotz der Drohung trat Gerbert Bohat zwei Schritte vor. Einer der Männer spannte seinen Bogen, aber die Gräfin hielt seine Hand zurück, während der Anführer der Pilger die seine hob.
»Kann ich sprechen?«
»Sprecht, Messire Bohat!«
»Ist es richtig, daß die Rubine bei dieser …«
Das Wort, das er nicht auszusprechen wagte, brachte Cathérine nichtsdestoweniger in Rage.
»Bei mir! Jawohl, mein Bruder!« rief sie. »Aber vor Gott und beim Heil meiner Seele schwöre ich, daß ich nicht weiß, wie sie dahin gekommen sind!«
»Geschwätz!« rief die Nonne.
»Ah, ich werde noch böse!« brummte Ermengarde. »Haltet den Mund, frommes Mädchen, oder ich stehe für nichts mehr ein. Fahrt fort, Messire Bohat!«
Gerbert trat noch etwas näher, senkte aber die Stimme nicht.
»Auf der einen Seite ist da der Beweis … die offenkundige Straftat, und auf der anderen nur das Wort dieser Frau …«
»Mein Bruder«, warf Ermengarde ungeduldig ein, »wenn Ihr Euch in den Kopf gesetzt habt, Dame Cathérine als Schuldige zu behandeln, werde ich Euch das Wort entziehen. Dürfte ich erfahren, was Ihr zu tun beabsichtigt?«
Der harte Blick des Clermontesers milderte sich nicht. Er richtete sich voll Verachtung auf Cathérine, die vor Wut schäumte, und kehrte dann zu ihrer Freundin zurück.
»Das einzig Angemessene: Dame Cathérine den frommen Mönchen übergeben, die sie nach Conques bringen, wo die Gerichtsbarkeit des Abtes …«
»Wo sie von der Menge zerrissen wird, bevor sie überhaupt zur Abtei gelangt! Nein, Messire, sie wird nicht nach Conques zurückkehren. Euch genügt ihr Wort vielleicht nicht, aber mir ist es mehr als genug, denn ich kenne sie. Außerdem hört gut zu: Ihr habt eure Rubine wieder, das ist sehr schön. Nehmt sie mit, ihr Herren Mönche, gebt sie eurer Heiligen zurück … mit diesem da, um euch für eure Mühe zu bezahlen!« Während sie sprach, warf sie dem ihr am nächsten stehenden der Mönche eine ziemlich pralle Börse zu, die der Ordensmann flugs auffing. »Was uns betrifft, so laßt uns in Frieden ziehen!«
»Und wenn nicht?« fragte Gerbert hochmütig.
»Wenn nicht«, entgegnete Ermengarde ruhig, »werden wir uns einen Weg durch eure Reihen bahnen!«
»Ihr seid nicht viele!«
»Vielleicht. Aber wir haben die Waffen … und den Mut! Jeder einzelne meiner Männer ist zehn von euch wert. Also ist das Spiel gleich. Es ist möglich, daß wir den kürzeren ziehen, ich glaube es aber nicht. Auf jeden Fall würde unser Tod Euch zu teuer zu stehen kommen. Nicht viele von euch, fromme Leute, würden unversehrt ihren Weg nach Compostela fortsetzen können! Cathérine, bittet unsere gute Schwester, Euch Euer Eigentum zurückzugeben.«
»Niemals«, rief die Nonne, entschlossen, nicht die Waffen zu strecken. »Dieses Kleinod rührt sicher von einem Diebstahl her! Es muß ebenfalls dem Pater Abt ausgehändigt werden.« Mit einem überdrüssigen Seufzer entriß die Gräfin ihr den Almosenbeutel, überzeugte sich, daß nichts fehlte, und reichte alles wortlos Cathérine. Dann drehte sie sich zu einer ihrer Frauen um und befahl:
»Amielle! Die Pferde! Ihr werdet Dame Gillette de Vauchelles das lassen, welches sie reitet.«
Aber die Angesprochene trat entschlossen vor und stellte sich neben Cathérine. »Ich gehe mit Euch! Ich glaube an die Schuldlosigkeit Dame Catherines. Man hat nicht ihre Güte, wenn man vom Wege abgekommen ist!«
»Und ich auch, ich glaube auch daran!« rief nun auch Margot la Déroule. »Ich möchte Euch folgen! Außerdem braucht mich Dame Gillette.«
Ermengarde de Châteauvillain lachte.
»Paßt auf, Messire Bohat, es wird nicht lange dauern, und Ihr habt niemand mehr um Euch.«
»Das würde mich erstaunen! Die anständigen Leute haben keine Lust, ihren Weg mit einer suspekten Frau fortzusetzen, die uns nur Unglück bringen könnte. Geht! Da es nun einmal nicht möglich ist, die Schuldige ohne Blutvergießen der Gerechtigkeit zuzuführen, wollen wir euch nicht mehr sehen!«
Er stand aufrecht vor der dichten Front der Pilger, die sich gegenseitig wegzudrängen schienen, um aus der unmittelbaren Nähe der Verdächtigen zu kommen. Einige bekreuzigten sich … Cathérine hätte vor Wut weinen können. Und als sie Gerbert ansah, der, sehr korrekt in seiner dunklen Kleidung, den dicken Stab in der Hand, mit verachtungsvoller Geste auf sie wies, hätte sie am liebsten geheult. Sie brannte vor Scham. Und als Ermengarde sie mit einer Handbewegung einlud, das frei gebliebene Pferd zu besteigen, rief sie:
»Wie kann ich aufbrechen, ohne meine Schuldlosigkeit bewiesen zu haben, ohne …«
»Wenn Ihr die geringste Chance hättet, den Beweis anzutreten, würde ich Euch raten, nach Conques zurückzukehren«, entgegnete Ermengarde. »Aber diese Leute würden Euch keine Zeit dazu lassen. Es sind nur Fanatiker ohne eigenes Urteil. Was Euch betrifft, meine Liebe, wenn man den Namen trägt, den Ihr tragt, braucht man sich dem Urteil von Bauernlümmeln nicht zu unterwerfen! In den Sattel!«
Gebändigt und etwas beruhigt durch die Verachtung, die zumindest ebenso deutlich wie die Gerberts in der Stimme der alten Dame vibrierte, setzte sie die Fußspitze auf die ihr von Béraud gebotene Hand und schwang sich in den Sattel … Die Menge wich vor dem kleinen Trupp zurück, der durch Gillette vergrößert wurde, hinter der sich Margot, glücklich wie ein junges Mädchen, auf die Kruppe geschwungen hatte … Furcht und Mißbilligung zeichneten alle Gesichter, was bei der Dame Châteauvillain nur ein verächtliches Schulterzucken hervorrief. Doch als Cathérine an Gerbert Bohat vorbeiritt, hielt sie ihr Pferd an und sagte von oben herab:
»Ihr habt mich verdammt, ohne mich anzuhören, Messire Bohat. Für Euch, der Ihr schon immer gegen mich eingenommen wart, konnte ich nur schuldig sein. Ist das Eure Gerechtigkeit und Rechtlichkeit? Wenn ich bei meinem Seelenheil schwöre, daß ich diese Steine nie berührt habe, könnt Ihr mir dann glauben? Der erste beste könnte Euch sagen, daß ich vor der Prozession nach Hause gegangen bin und die Herberge nicht mehr verlassen habe …«
»Was verliert Ihr Eure Zeit, mit Leuten zu diskutieren, die dickschädeliger als rote Esel sind?« rief Ermengarde ungeduldig.
Inzwischen hatte Gerbert die Augen zu der jungen Frau gehoben und murmelte mit tonloser Stimme:
»Vielleicht hattet Ihr einen Komplicen! Wenn Ihr unschuldig seid, geht in Frieden, aber ich halte das nicht für möglich. Was mich betrifft …«
»Was Euch betrifft, seid Ihr nur zu glücklich, mich unter diesem Vorwand zu hindern, weiter mit Euch zu reisen, nicht wahr?«
»Ja«, gab er freimütig zu. »Ich bin glücklich! In Eurer Nähe kann kein Mann ernstlich an sein Seelenheil denken. Ihr seid eine gefährliche Frau. Es ist gut, daß Ihr uns verlaßt.«
Cathérine konnte ein bitteres Lachen nicht zurückhalten.
»Vielen Dank für das Kompliment. Setzt Euren frommen Weg also ruhig fort, Messire Bohat, aber wißt, daß die für einen Augenblick abgewendeten Gefahren wiederkommen können, wenn man nicht in sich selbst die Kraft findet, sie zu beseitigen, irgend etwas sagt mir, daß wir uns wiedersehen werden. Und sei es in Compostela!«
Diesmal antwortete Gerbert nicht. Aber er bekreuzigte sich so überstürzt und mit so echtem Schreck, daß Cathérine ihm trotz ihres Zorns ins Gesicht lachen mußte. Ermengarde, inzwischen ungeduldig geworden, hatte Catherines Zügel ergriffen und zog sie unwiderstehlich auf den Weg.
»Das genügt, meine Liebe. Kommt jetzt!«
Cathérine folgte gehorsam ihrer Freundin und setzte sich, ihr Pferd anspornend, in Trab, um über die kleine Ebene zu sprengen, die sich vor ihr dehnte, bevor sie von neuem ins Tal des Lot abfiel. Der Regen hatte wieder eingesetzt, aber sachte, langsam, wie schweren Herzens, zu unauffällig, um wirklich beschwerlich zu sein. Cathérine betrachtete mit einer Art von Begeisterung den freien, offenen Raum vor sich. Die Lust überkam sie, ihrem Pferd die Sporen zu geben, es in Galopp zu setzen, um den vertrauten Rausch des Wettlaufs mit dem Wind wieder zu erleben, aber das Gewicht und das noch kranke Bein Ermengardes gestatteten diese Gangart nicht. Sie mußte sich noch ziemlich lange damit begnügen, in gemäßigtem Trott dahinzureiten.
Hinter den Reitern erscholl ein Lied, dessen Echo ihnen vom Südwind zugetragen wurde:
»Maria, Stern des Meeres, klarer als die Sonne, auf diesem finsteren Weg führe uns: Ave Maria …«
Cathérine preßte die Zähne zusammen, drückte instinktiv ihrem Pferd die Knie in die Flanken. Sie hatte den absurden Eindruck, daß dieses Lied sie auf seine Weise noch mehr außerhalb des frommen Haufens stellte. War es, um sich vor der Behexung zu schützen, deren sie sie für fähig hielten, daß die Pilger so leidenschaftlich Unsere Liebe Frau anriefen?
Allmählich, je mehr sie sich entfernten, wurde auch der Gesang schwächer und verstummte schließlich ganz. Ermengarde hatte ihr Pferd angetrieben, um wieder neben Cathérine an der Spitze zu reiten. Die beiden Frauen ritten einen Augenblick schweigend dahin. Doch plötzlich bemerkte Cathérine, die ihre Demütigung wortlos verdaute, daß ein breites Lächeln die imposanten Gesichtszüge ihrer Gefährtin überzog. Sie fühlte, daß Ermengarde die Freude des Triumphs in vollen Zügen genoß, und rief wütend: »Ihr seid zufrieden, scheint mir? Jetzt habt Ihr mich da, wo Ihr mich haben wolltet! … Es fehlt nicht viel, und ich würde glauben, daß Ihr die Steine in meinen Almosenbeutel gesteckt habt.«
Die Edle ärgerte sich nicht über den scharfen Ton der jungen Frau. Sie begnügte sich damit zu erklären:
»Glaubt mir, ich bedaure, in dieser Hinsicht nicht genügend Phantasie und Geschicklichkeit zu haben, sonst hätte ich dieses Mittel sehr wohl anwenden können. Hört, Cathérine, regt Euch doch nicht so auf. Ihr werdet schneller nach Spanien kommen, ohne daß Gott Euch Vorwürfe machen kann, da Ihr nun einmal da seid. Und was die Gefahren betrifft, die uns erwarten, so glaube ich, daß wir durchaus imstande sind, mit ihnen fertig zu werden. Und da … seht, wie der Himmel sich vor uns aufgeklärt hat. Die Wolken scheinen von unserer Reiseroute fortzuziehen. Kommt Euch das nicht wie ein gutes Vorzeichen vor?«
Trotz ihrer schlechten Laune konnte Cathérine ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken.
»Ich erinnere mich«, sagte sie, »daß Ihr es immer verstanden habt, meine liebe Ermengarde, den Himmel zu Eurem Bundesgenossen zu machen … oder es zumindest so einzurichten, daß alle Welt es glaubt. Trotzdem möchte ich gern wissen, wie diese verdammten Rubine in meinen Beutel gekommen sind und wer sie gestohlen haben kann!«
Die Antwort auf diese Frage sollte noch an diesem Abend erfolgen, nachdem Cathérine und ihre Gefährten erschöpft und außer Atem vom schnellen Ritt die Etappe Figeac erreicht hatten, wo sie in der größten Herberge der Stadt, gegenüber dem Amtsgericht und dem alten ›Ostal de la Moneda‹, der königlichen Münze, Wohnung nahmen. Mehr von dem Abenteuer am Morgen ermüdet als vom Ritt, der tatsächlich nur einen ziemlich kurzen Teil des Tages eingenommen hatte, ließen Cathérine und Ermengarde die vier Frauen in die Kirche zum Abendgottesdienst gehen, während sie selbst im Hof der Herberge unter den Ästen einer großen Platane, durch die die prächtig roten Strahlen eines völlig unerwarteten Sonnenuntergangs sickerten, frische Luft schnappten. Nicht weniger unerwartet war der Mann, der sich Cathérine näherte, sich ungestüm auf die Knie fallen ließ und ihre Verzeihung erflehte.
»Ich habe die Rubine gestohlen«, erklärte Josse Rallard mit deutlicher, aber wegen der im Hintergrund des Hofes mit vollen Wäschekörben vorübergehenden Dienstboten nicht zu lauter Stimme. »Und ich bin es auch gewesen, der vorgab zu stolpern und sie in Euren Almosenbeutel gleiten ließ, als wir zusammen hinfielen. Ich bin gekommen, Euch um Verzeihung zu bitten!«
Während Cathérine den todmüden, staubbedeckten Mann, der demütig vor ihr kniete, sprachlos ansah, machte Ermengarde eine heroische Anstrengung, sich von der Bank zu erheben, auf der sie saß, und ihre Krücken zu ergreifen. Als es ihr nicht gelang, brüllte sie:
»Und du kommst hierher, um uns das so ohne weiteres zu erzählen? … Ohne rot zu werden? Mein Junge, ich werde dich sofort dem Gericht übergeben, das sicher einen Strick für dich zur Verfügung haben wird. Holla, ihr da!«
Cathérine legte ihr die Hand auf den Arm und hieß sie schweigen. Ihre blauen Augen begegneten dem seltsam grünlichen Blick des Mannes, musterten sein Gesicht mit den wunderlich aus Brutalität und Zartheit gemischten Zügen.
»Einen Augenblick! Zuerst will ich, daß er mir zwei Fragen beantwortet.«
»Fragt!« sagte Josse. »Ich werde antworten.«
»Erstens: Warum habt Ihr das getan?«
»Was? Den Diebstahl? Dame«, sagte er mit einem Schulterzucken, »ich muß Euch alles gestehen. Ich bin nur auf die große Reise nach Galicia gegangen, um einige Entfernung zwischen mich und den Herrn Henker zu bringen, der mich in Paris mit einem langen und festen Strick erwartet. Der ›Hof der Wunder‹ ist mein Wohnsitz, aber ich wagte ihn nicht mehr zu verlassen, weil ich ein wenig zu bekannt war. Also beschloß ich, mich in der Welt umzusehen … Gewiß, ich hatte mir keine Sorgen über meine Lage gemacht. Ich wußte, daß mir ein paar günstige Gelegenheiten über den Weg laufen würden … Und als ich diese Statue aus Gold sah, über und über mit Edelsteinen bedeckt, hab' ich mir gedacht, wenn ich ein paar klaute, würde das gar nicht auffallen und ich wäre auf meine alten Tage gesichert. Versuchung, was wollt Ihr?«
»Das ist möglich, aber nachdem Ihr Eure Missetat begangen hattet, warum habt Ihr mich dann damit belastet?« rief Cathérine. »Warum habt Ihr zugelassen, daß man mich anklagte? Ihr wußtet doch, daß ich den Tod riskierte.«
Josse schüttelte heftig den Kopf und war gar nicht beunruhigt.
»Nein. Ihr riskiertet viel weniger als ich. Ich bin ein armer Teufel und Landstreicher … Ihr, Ihr seid eine große Dame. Man hängt nicht so ohne weiteres eine große Dame. Und dann war da noch Eure Freundin. Die edle Dame war zu Eurer Verteidigung da … und die Bewaffneten. Ich wußte, daß sie Haare auf den Zähnen hatte. Während niemand meine Partei ergriffen hätte. Man hätte mich kurzerhand am nächsten Baum aufgeknüpft. Ich habe Angst gehabt … schreckliche Angst, die mir den Magen umdrehte. Ich glaubte, man würde den Diebstahl nicht sofort bemerken, würde die frommen Pilger nicht verdächtigen, und daß wir zumindest genügend Zeit haben würden, ein gut Stück Weges hinter uns zu bringen. Als ich die Mönche ankommen sah, wußte ich, daß ich verloren war. Also …«
»Also habt Ihr mir Eure Beute anvertraut«, beendete Cathérine ruhig den Satz. »Und wenn man mir trotz allem übel mitgespielt hätte?«
»Ich schwöre bei Gott, an den zu glauben ich nie aufgehört habe, daß ich mich gestellt hätte. Und wenn man mir nicht geglaubt hätte, hätte ich mich bis zum Tod für Euch geschlagen!«
Cathérine schwieg einen Augenblick und dachte über die Worte nach, die er soeben mit unerwartetem Ernst gesprochen hatte. Schließlich fuhr sie fort: »Jetzt die zweite Frage. Warum seid Ihr zu uns gestoßen? Warum kommt Ihr hierher, um Eure Schuld einzugestehen? Ich bin frei und in Sicherheit, und Ihr wart es auch. Indem Ihr hierherkommt, stellt Ihr alles wieder in Frage. Ihr wißt nicht, wie ich darauf reagieren und ob ich Euch nicht ausliefern werde.«
»Es war ein Risiko, das ich eingehen mußte«, entgegnete Josse, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. »Aber bei diesen blutdürstigen Psalmensängern wollte ich nicht mehr bleiben. Ich hatte genug von Gerbert Bohat und Messire Colin. In dem Augenblick, in dem Ihr nicht mehr da wart, hatte ich kein Interesse mehr an der Reise und …«
»Und du hast dir gesagt«, meinte Ermengarde höhnisch, »wenn das mit den Rubinen nicht geklappt hat, könntest du dir vielleicht den Smaragd der Königin schnappen. Denn du läßt dir bestimmt kein X für ein U vormachen, nicht wahr?«
Doch wieder hielt es Josse nicht für der Mühe wert, ihr zu antworten. Den Blick Catherines immer noch aushaltend, sagte er: »Wenn Ihr das denkt, Dame Cathérine, liefert mich ohne Zögern aus. Was ich Euch sagen wollte, ist dies: Ich habe Euch unrecht getan, um mein Leben zu retten, aber ich bedaure es sehr. Um es wiedergutzumachen, bin ich gekommen, Euch meine Dienste anzubieten. Wenn Ihr es gestattet, werde ich Euch folgen, Euch verteidigen … Ich bin zwar ein Landstreicher, aber ich bin tapfer und weiß mit dem Degen wie ein Standesherr umzugehen. Auf dem Weg, den Ihr verfolgt, braucht man immer einen tapferen Arm. Wollt Ihr mir also, zuerst, verzeihen und mich dann in Eure Dienste nehmen? Bei meinem Seelenheil schwöre ich, daß ich Euch treu dienen werde …«
Wieder folgte Schweigen. Josse, immer noch auf den Knien, rührte sich nicht, wartete auf Catherines Antwort. Diese, weit davon entfernt, zornig zu sein, fühlte sich durch diesen sonderbaren Jungen merkwürdig gerührt, der flagrante Unredlichkeit mit einer seltsamen Würde und unleugbarem Charme verband. Die verblüffendsten Dinge klangen von seinen Lippen ganz natürlich. Trotzdem glitt ihr Blick, bevor sie antwortete, zu Ermengarde hinüber, die mit zusammengepreßten Lippen ebenfalls schwieg, aber es war ein Schweigen von schlechter Vorbedeutung. »Was ratet Ihr mir, liebe Freundin?«
Die Edle zuckte aufbrausend mit den Schultern.
»Was soll ich Euch raten? Ihr scheint mit denselben Talenten begabt zu sein wie die Zauberin Circe. Sie verwandelte die Männer in Schweine. Offenbar macht Ihr's umgekehrt. Handelt, wie es Euch beliebt, aber ich kenne Eure Antwort schon.«
Während sie noch sprach, hatte Ermengarde endlich ihre Krücken gepackt, sich, Catherines hilfreiche Hand ablehnend, daran geklammert und war nach einer anerkennenswerten Anstrengung aufgestanden. Und als Cathérine erschrocken, fürchtend, sie habe sie beleidigt, fragte:
»Wohin geht Ihr, Ermengarde? Ich bitte Euch, nehmt mir nicht übel, was ich Euch sagen werde, aber …«
»Wo soll ich hingehen?« brummte die alte Dame. »Ich werde Béraud anweisen, ein wenig in der Stadt herumzubummeln, um noch ein Pferd für uns aufzutreiben. Dieser Junge hat vielleicht schnelle Beine, aber doch nicht schnell genug, um uns zu Fuß nach Galicia zu folgen!«
Worauf Ermengarde, mehr schlecht als recht auf ihre Krücken gestützt, einem hochbordigen Schiff mit starker Schlagseite ähnelnd, majestätisch den Hof der Herberge verließ.
Vierzehn Tage später überquerten Cathérine und ihre Eskorte, am Fuß der Pyrenäen angekommen, den Sturzbach Oloron auf der uralten befestigten Brücke von Sauveterre. Die Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen, denn in den durchquerten Ländern, die zum größten Teil der mächtigen Familie der Armagnac gehörten, waren die Engländer kaum zu fürchten. Die befestigten Plätze, die sie noch in ihrer Gewalt hatten, lagen vorwiegend in Guyenne, und wenig erpicht, sich mit dem Grafen Jean IV. von Armagnac anzulegen, dessen Politik ihnen gegenüber sich seit einiger Zeit merkwürdig geschmeidig zeigte, hüteten sie sich wohl, auf seine Gebiete überzugreifen.
Über Cahors, Moissac, Lectoure, Condom, Eauze, Aire-sur-1'-Adour und Orthez hatten Cathérine, Ermengarde und ihre Leute endlich die Berge erreicht, die sie von Spanien trennten. Aber Catherines Geduld war am Ende. Seit man sich von den Pilgern Gerbert Bohats getrennt hatte, schien Ermengarde es auf einmal nicht mehr eilig zu haben, ihren Bestimmungsort zu erreichen. Sie, die noch am Tage vor ihrer Abreise Catherines Ungeduld angespornt und ihr überzeugend demonstriert hatte, warum es von Vorteil sei, die zu langsame Kolonne der Pilger hinter sich zu lassen – jetzt schien sie auf einmal ein boshaftes Vergnügen daran zu haben, ihren Marsch zu verzögern! …
Anfänglich hatte Cathérine keinen Verdacht geschöpft. Man hatte einen Tag in Figeac bleiben müssen, um Josse Rallard ein Pferd zu besorgen. Auch in Cahors hatte man zwei Nächte verbracht: Es war ein Sonntag, und Ermengarde versicherte, daß es kein Glück bringe, auf den Pilgerwegen den Tag des Herrn nicht zu achten. Das konnte man akzeptieren, und aus Freundschaft hatte Cathérine ihre Ungeduld gezügelt.
Als sich die Edle jedoch in Condom aufhalten wollte, um an einem Fest teilzunehmen, hatte die junge Frau sich nicht enthalten können zu protestieren.
»Vergeßt Ihr, daß ich diese Reise nicht zum Vergnügen mache und daß Feste mir völlig unwichtig sind? Ihr kennt meine Eile, nach Galicia zu kommen, Ermengarde. Wie kommt Ihr dazu, mir von lokalen Festen zu sprechen?«
Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, hatte Ermengarde, nie um eine Antwort verlegen, eingewandt, daß eine zu starke geistige Anspannung für das reibungslose Funktionieren des Körpers ungünstig sei und daß es heilsam sei, selbst in Eile, sich etwas Zeit zu lassen. Natürlich hatte Cathérine nichts davon hören wollen.
»In diesem Falle hätte ich lieber mein Gelübde halten und bei Gerbert Bohat bleiben sollen!«
»Ihr vergeßt, daß es nicht von Eurem Willen abhing, bei den Pilgern zu bleiben, meine Liebe!«
Cathérine hatte ihre Freundin neugierig angesehen.
»Ich verstehe Euch nicht, Ermengarde. Ihr schient begierig, mir zu helfen, und jetzt könnte man annehmen, daß Ihr Eure Meinung geändert habt!«
»Eben weil ich Euch helfen will, predige ich Euch Mäßigung. Wer weiß, ob Euch nicht noch grausame Enttäuschungen bevorstehen? In diesem Fall kommen sie immer noch früh genug!«
Diesmal hatte Cathérine nichts geantwortet. Die Worte ihrer Freundin entsprachen zu sehr ihren eigenen Ängsten, um nicht ein empfindliches Echo zurückzulassen. Dieses Unternehmen war wahnsinnig, sie wußte es wohl, und es war nicht das erstemal, daß sie sich vor Augen hielt, wie gering ihre Chancen waren, Arnaud zu finden. Oft, in der Nacht, in der tiefen Dunkelheit, in den dunklen und drückenden Stunden, in denen die verzehnfachten Ängste einen nicht schlafen lassen und das Herz klopft, ohne daß man es beruhigen kann, lag sie wach auf dem Rücken, die großen Augen aufgerissen, und versuchte, ihre Vernunft zum Schweigen zu bringen, die ihr riet, nach Montsalvy zu ihrem Kind zurückzukehren und dort mutig ein vollkommen Michel gewidmetes Leben zu beginnen. Mitunter war sie bereit nachzugeben, doch wenn der anbrechende Morgen die deprimierenden Gespenster verjagte, hing Cathérine nur noch verbissener der Verfolgung ihres Traumes nach: Arnaud wiederzusehen, und sei es auch nur einen Augenblick, einmal noch mit ihm zu sprechen. Dann …
Doch sie konnte sich immer weniger des unerfreulichen Eindrucks erwehren, daß sie bei ihrer Freundin statt Ermutigung, die sie so dringend brauchte, nur noch Skepsis und vorsichtige Ratschläge fand. Ermengarde, wie sie sehr wohl wußte, hatte Arnaud nie gemocht. Sie schätzte an ihm die alte Familie, die Tapferkeit und Begabung des Kriegsmannes, aber sie war von jeher überzeugt, daß Cathérine an seiner Seite nur Leid und Enttäuschung finden könnte.
An diesem Morgen jedoch, während die Hufe ihres Pferdes auf den Steinen der alten Brücke widerhallten, war nur Platz für Hoffnung im Herzen Catherines. Taub gegen das Donnern des schäumenden Sturzbachs, dessen weiße Wasser unter ihr rauschten, betrachtete sie mit größter Verblüffung die riesigen Berge, deren scharfgezackte Gipfel von blitzenden Schneehauben bedeckt waren. Für das Kind des flachen Landes, das sie war und das als Berge nur die sanften Hügel der Auvergne gekannt hatte, bildete diese gigantische Kulisse eine ebenso furchteinflößende wie erhebende Schranke, über die kein Weg zu führen schien. Sie konnte sich nicht enthalten, laut zu denken:
»Nie werden wir diese Berge überwinden …«
»Ihr werdet sehen, daß wir's können, Dame Cathérine«, entgegnete Josse Rallard. Treu seiner Gewohnheit, die er seit dem Aufbruch aus Figeac angenommen hatte, ritt er stets auf der Höhe der Kruppe ihres Pferdes. »Der Weg zeigt sich, je weiter man ihn verfolgt.«
»Aber«, fügte sie traurig hinzu, »wer nicht mehr weitergehen kann oder sich in diesem schrecklichen Land verirrt, kann nicht auf Rettung hoffen …« Plötzlich mußte sie an Gauthier denken, dessen mächtige Gestalt, die bis dahin unverwüstlich zu sein schien, die hohen Berge verschlungen hatten. Bis zu diesem Moment hatte Cathérine gehofft, ihn wiederzufinden, aber dies nur, weil sie die echten Berge nicht kannte. Wie konnte man solchen Riesen ihre Beute entreißen? …
Ohne ihre Gedanken zu kennen, warf Josse ihr einen neugierigen und unruhigen Blick zu.
Aber dunkel ahnend, daß sie des Trostes bedurfte, erwiderte er fröhlich.
»Warum dann? Wißt Ihr nicht, daß dieses Land das Land der Wunder ist?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
Ermengarde einen kurzen Blick zuwerfend, die mit ihren Leuten etwas zurückgeblieben war und die Brückengebühren bezahlte, deutete Josse auf die schäumenden Wasser des Sturzbachs:
»Seht Euch dieses Flüßchen an, Dame Cathérine. Es sieht aus, als hätte man nicht die geringste Chance, lebend davonzukommen, wenn man es wagte, sich hineinzustürzen. Nun, vor drei Jahrhunderten ließ der König von Navarra seine junge Schwester Sancie de Béarn, die des Versuchs angeklagt war, ihr Kind zu töten, mit gefesselten Füßen und Händen in diesen Sturzbach werfen. Falls sie lebend wieder herauskäme, sollte ihre Unschuld erwiesen sein …«
»Gottesgericht?« rief Cathérine, mit Entsetzen auf das schäumende Wasser blickend.
»Ja, ein Gottesgericht! Die junge Gräfin war zart, ohne Kräfte und schwer gefesselt. Man warf sie von der Höhe dieser Brücke hinunter, und keiner der Mitwirkenden hätte einen Sou für ihr Leben gegeben. Trotzdem spülte sie das Wasser sicher und gesund ans Ufer. Natürlich haben die Leute von einem Wunder gesprochen, aber ich glaube, daß sich dieses Wunder jederzeit wiederholen könnte. Es genügt, daß Gott es will, Dame Cathérine. Was bedeuten also schon die Berge, die tosenden Elemente oder selbst die unerbittliche Zeit? Es genügt zu glauben …«
Cathérine antwortete nicht, aber der Dankesblick, den sie ihrem improvisierten Knappen zuwarf, bewies ihm, daß er genau getroffen und soeben einen Teil seiner Dankesschuld abgetragen hatte. Mit großer Ruhe sah sie, wie die Strahlen der Sonne die weißen Gletscher entflammten.
Sie ritt einen Augenblick dahin, ohne zu sprechen, die Augen auf die wunderbare rosige Feuersbrunst gerichtet, die sich da oben, ganz nahe dem Himmel, zeigte, mit ihren Gedanken völlig abwesend.
Josse hatte seinen Platz hinter ihr wieder eingenommen, aber plötzlich hörte sie ihn hüsteln, richtete sich auf und warf einen etwas verwirrten Blick zu ihrem Knappen zurück.
»Was ist denn?«
»Wir sollten vielleicht auf die Dame de Châteauvillain warten. Sie ist immer noch auf der Brücke.«
Cathérine hielt ihr Pferd an und drehte sich um. Tatsächlich schien Ermengarde sich noch angelegentlich mit dem die Wache befehligenden Sergeanten zu unterhalten. Cathérine hob die Schultern.
»Was macht sie denn da? Wenn das so weitergeht, werden wir Ostabat heute abend nicht mehr erreichen.«
»Wenn es nur von Dame Ermengarde abhinge«, bemerkte Josse ruhig, »würden wir es nicht einmal morgen abend erreichen.«
Cathérine hob die Brauen und warf ihm einen erstaunten Blick zu:
»Ich verstehe nicht! Erklärt Euch!«
»Ich möchte sagen, daß die edle Dame ihr möglichstes tut, um unsere Reise zu verlangsamen. Es ist ganz einfach: Sie erwartet jemand.«
»Jemand? Und wen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht diesen Sergeanten, der uns nach Aubrac so abrupt verlassen hat. Habt Ihr nicht bemerkt, Dame Cathérine, daß Eure Freundin oft zurückblickt?«
Die junge Frau begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Tatsächlich hatte sie mehr als einmal Ermengardes Treiben beobachtet. Nicht nur, daß sie keinerlei Eile hatte, nach Galicia zu kommen, sondern sie warf von Zeit zu Zeit auch besorgte Blicke hinter sich. Zornröte stieg Cathérine in die Wangen. So würde sie jedenfalls nicht mehr länger mit sich umspringen lassen, was immer für gute Gründe Ermengarde auch haben mochte. Auf der Brücke palaverte die Gräfin noch immer. Cathérine trieb ihr Pferd an:
»Vorwärts, Josse! Sie wird uns schon einholen! Ich jedenfalls habe beschlossen, noch heute abend in Ostabat zu sein. Um so schlimmer, wenn wir Madame de Châteauvillain hinter uns lassen. Ich weigere mich, noch mehr Zeit zu verlieren!«
Der große Mund Josses verzog sich bis zu den Ohren in einem stummen Feixen, während er sein Pferd in die Spur der jungen Frau lenkte.
Halb Feste, halb Hospiz, hatte die uralte Umspannstation Ostabat viel von ihrem ursprünglichen Wohlstand verloren. Die Zeiten waren schwer, da war besonders der seit Jahren wütende Krieg, der das Königreich Frankreich verwüstete – dies alles hatte die Pilgerfahrten gedrosselt. Die guten Leute zögerten um so mehr, sich auf die Landstraßen zu wagen, als die Truppen, sowohl englische wie französische, sich mit den Straßenräubern verbanden, was die gewöhnlichen Gefahren der großen Überlandwege noch um vieles erhöhte. Man mußte schon in großer Not oder bar jeder irdischen Güter sein, um sich auf eine solche Reise einzulassen, von der es oft keine Rückkehr gab. Und die großen Menschenmassen, die das alte, am Knotenpunkt dreier großer Straßen aus der Auvergne, aus Burgund und der Ile de France gelegene Hospiz hatte vorüberwandern sehen, schmolzen zu einigen durch das, was sie auf dem Weg gesehen hatten, bereits eingeschüchterten Gruppen zusammen, die außerdem die Gefahren der nahen Berge fürchteten, unter denen die berüchtigten baskischen Banditen nicht die geringste waren, ganz zu schweigen von den beunruhigenden, heimlichen Grenzführern, die ihre Dienste nur anboten, um den allzu vertrauensseligen Reisenden noch besser ausplündern zu können. Mehr als ein Raubritter hatte seinen befestigten Turm am Hang des großen Gebirges. Er diente diesen Galgenstricken als Schlupfwinkel.
Mit etwas Glück, hatte Ermengarde zu Cathérine gesagt, würden sie das Hospiz für sich allein haben und es sich dort bequem machen können. Doch als die junge Frau, von Josse gefolgt, durch das Tor ritt, sah sie mit Erstaunen im Hof einen ziemlich starken Pferdetrupp, um den sich emsig gut gekleidete Knechte kümmerten. Es standen auch Packesel herum, und um ein Feuer, dessen Flammen die Dämmerung erhellten, saßen etwa zehn Soldaten und ruhten sich aus, während ein riesiges Stück Fleisch darüber briet. Alles in allem das übliche Gefolge eines großen Herrn auf der Reise! Die Tür des Hospizes stand weit offen, und man sah die Kanoniker hin und her gehen, zweifellos, um den hervorragenden Gast zu bedienen, und ein mächtiges Feuer knatterte im Kamin.
»Es scheint, daß wir keine Einsamkeit zu fürchten haben werden«, murmelte Cathérine verdrießlich. »Ob man wenigstens eine Zelle für uns frei haben wird?«
Josse hatte keine Zeit zu antworten. Schon trat ein Klosterbruder auf die junge Frau zu.
»Der Friede des Herrn sei mit Euch, meine Schwester! Was können wir für Euch tun?«
»Uns Unterkunft und etwas zu essen geben«, antwortete Cathérine. »Aber wir sind mehr als zwei. Der Rest unseres Trupps folgt uns, und ich fürchte …«
Der alte Mann lächelte, so daß sein Gesicht sich in Falten legte: »Wegen dieses Herrn, der soeben angekommen ist, befürchtet nichts. Das Haus ist groß und steht Euch offen. Wollt Ihr absteigen? Ein Bruder wird sich um Eure Pferde kümmern.«
Doch Cathérine hörte ihn schon nicht mehr. Sie hatte eben auf der Schwelle des Pferdestalls einen Offizier bemerkt, der der Anführer der Soldaten sein mußte und, noch in voller Bewaffnung, über seinem Küraß einen Wappenmantel trug. Und trotz der zunehmenden Dämmerung war keine Täuschung möglich: Das auf der dicken Seide des Mantels zur Schau getragene Wappen kannte Cathérine nur zu gut. Es war das Wappen des Herzogs von Burgund!
Sie spürte, wie sie blaß wurde, und die Gedanken wirbelten wie rasend in ihrem Kopf. Aber es war doch nicht möglich, daß Herzog Philippe hier war! Dieses Gefolge konnte der Troß eines Herrn sein, trotzdem war es zu klein für den Großherzog des Westens! … Andererseits waren es eindeutig die Lilien, die herzoglichen Riegel und das Emblem des Goldenen Vlieses … dieses Goldenen Vlieses, das einst in Erinnerung an sie geschaffen worden war!
Ihre niedergeschlagene Miene und starre Haltung fielen dem Mönch auf, der sanft die Zügel des Pferdes schüttelte.
»Meine Tochter! Fehlt Euch etwas? Ist Euch nicht wohl?«
Ohne sich zu rühren, die Augen nach wie vor auf das beunruhigende Wappen gerichtet, fragte Cathérine:
»Dieser Herr, der hier angekommen ist … wer ist es?«
»Ein persönlicher Abgesandter Seiner Gnaden des Herzog Philippe von Burgund.«
»Ein Abgesandter? Wohin? In welches Land?«
»Wie soll ich das wissen? Ohne Zweifel zum Herrscher von Kastilien oder zum König von Aragon, wenn es sich nicht um den König von Navarra handelt. Aber Ihr seid sehr nervös, meine Tochter. Kommt! Die Ruhe wird Euch guttun.«
Etwas beruhigt, entschloß sich Cathérine abzusteigen, und zwar in genau dem Augenblick, in dem Ermengarde und der Rest des Trupps in den Hof des Hospizes sprengten. Hochrot, mit zusammengekniffenen Lippen und blitzenden Augen, stellte Ermengarde Cathérine wütend zur Rede.
»Na, meine Kleine, was wird hier gespielt? Seit Stunden galoppieren wir hinter Euch her, ohne Euch einholen zu können!«
»Ich habe es satt, die Zeit zu vertrödeln, Ermengarde!« gab die junge Frau trocken zurück. »Es gibt auf Eurem Weg zu viele Leute, mit denen Ihr Euch zu unterhalten beliebt. Ich fürchtete, heute abend dieses Haus nicht mehr zu erreichen, und bin vorausgeritten.«
»Trotzdem scheint es mir …«, begann die Gräfin. Aber die Worte erstarben ihr auf den Lippen, während ihre grauen Augen aufleuchteten. Auch sie hatte soeben das Wappen des Offiziers erkannt. Ein breites Lächeln glitt über ihre vom Schatten eines Schnurrbarts bedeckten Lippen.
»Es sieht so aus, als ob wir hier Gesellschaft hätten?« sagte sie mit einer Begeisterung, die Cathérine nicht entging. »Freunde, ohne Zweifel!«
Cathérine lächelte kalt.
»Freunde? Trotzdem würde ich Euch raten, zu fliehen und dem Herrn mit diesem Wappen aus dem Weg zu gehen, liebe Freundin. Vergeßt Ihr, daß Ihr geächtet seid und daß es um Eure Beziehungen zu Herzog Philippe mehr als schlecht steht?«
»Bah!« sagte Ermengarde mit schöner Unbekümmertheit. »Hier sind wir weit von Brügge und Dijon entfernt. Außerdem habe ich noch einige treue Freunde aus der Umgebung Seiner Gnaden des Herrn Philippe behalten! Und ich war, wie Ihr wißt, noch nie feige. Ich sehe den Dingen gern ins Gesicht!«
Und den Saum ihrer purpurroten Samtrobe hebend und ihre in festen Schuhen steckenden Füße zeigend, ging die Dame de Châteauvillain auf die Tür zu, vor der der Offizier immer noch stand und dieser imposanten Person entgegensah, die ihm allem Anschein nach gar nicht imponierte. Sie sprach ihn an: »Sag mir, Freund, wer ist dein Herr?«
»Gesandter Seiner Gnaden des Herzogs Philippe von Burgund, Grafen von Flandern, von …«
»Erspare uns die Titel des Herzogs, ich kenne sie besser als du, sonst stehen wir hier bei Sonnenaufgang noch herum! Sag mir indessen, wer ist dieser Gesandte?«
»Wer seid Ihr denn, daß Ihr mich solches fragt, Dame?« Der Gräfin blieb keine Zeit, ihrem Zorn Luft zu machen. Eine schmale, aber feste Hand hatte den Offizier beiseite geschoben, während ein noch junger, einfach, aber elegant in Wildleder gekleideter Mann auf der Schwelle erschien. Sein unbedeckter Kopf zeigte kurzes blondes, stark mit Grau durchsetztes Haar, per Widerschein des Feuers glitt über ein schmales Gesicht, dessen Lippen so dünn waren, daß sie wie versiegelt schienen. Eine lange, gerade Nase beherrschte sie. Der eisige Blick der leicht hervortretenden blauen Augen umfing die wütende Edle, und jäh veränderte sich sein Ausdruck: Ein Lächeln entspannte die regelmäßigen Züge, während die Augen freudig aufleuchteten.
»Meine teure Gräfin! Ich hatte schon gefürchtet, Euch zu verfehlen und …«
Eine versteckte, befehlende Bewegung der alten Dame schnitt ihm das Wort ab, aber es war schon zu spät: Cathérine hatte den ungeschickten Satz nicht nur gehört, sondern auch die Geste gesehen. Sie trat aus dem Schatten hervor und ging auf ihre Freundin zu:
»Und mich, Jan«, sagte sie kalt, »habt Ihr auch gefürchtet, mich zu verfehlen?«
Der Maler Jan van Eyck, Kammerdiener des Herzogs Philippe von Burgund und geheimer Gesandter bei vielen Gelegenheiten, gab sich nicht die Mühe zu heucheln. Die Freude auf seinem Gesicht war echt und ehrlich. Mit Schwung trat er vor und streckte der schmalen Gestalt die Hände entgegen.
»Cathérine! … Ihr? Seid Ihr's wirklich? Oder träume ich?« Er war so offensichtlich glücklich, daß die junge Frau ihre Verdrießlichkeit ein wenig schmelzen fühlte. Sie waren gute Freunde gewesen, damals, als sie gleichzeitig über den Hof von Burgund und das Herz des Herzogs herrschte. Mehr als einmal hatte sie diesem großen Künstler Modell gestanden, dessen Genie sie leidenschaftlich bewunderte und dessen treue Freundschaft sie schätzte.
Jan war sogar ein wenig in sie verliebt gewesen und hatte dies auch nie verborgen. Cathérine konnte sich also eines Gefühls der Freude nicht erwehren. Eines Gefühls, wie man es empfindet, wenn man einen alten Freund wiedertrifft, den man seit langem aus den Augen verloren hat. Sie hatte nur gute Erinnerungen an ihn, und die langen Sitzungen, die sie vor seiner Staffelei verbracht hatte, waren Stunden des Friedens und des Wohlbefindens gewesen, mit Ausnahme der letzten vielleicht. An jenem Tag hatte sie Kenntnis von der Krankheit des Kindes erhalten, das sie von Herzog Philippe gehabt hatte und das Ermengarde de Châteauvillain pflegte. Sie hatte beschlossen, Brügge zu verlassen, um nie mehr zurückzukehren, denn Jan van Eyck brach auch nach Portugal auf, wo er für den Herzog um die Hand der Prinzessin Isabelle anhalten sollte. Und dann hatte das Leben Cathérine ohne Unterlaß in seinem Stürmen fortgerissen. Sechs Jahre hatte sie van Eyck nicht wiedergesehen … Spontan legte sie ihre Hände in die ihr entgegengestreckten:
»Jawohl, ich bin's, mein Freund … und ich freue mich sehr, Euch wiederzusehen! Was macht Ihr so weit von Burgund? Ich glaubte zu verstehen, daß Ihr ein Rendezvous mit Dame Ermengarde hattet?«
Während sie sprach, warf sie einen Seitenblick auf ihre Freundin und sah, daß diese leicht errötete. Aber van Eyck schien von ihren Worten nicht sonderlich bewegt zu sein.
»Rendezvous ist zuviel gesagt! Ich wußte, daß Dame Ermengarde nach Compostela in Galicia reiste, und da mein Auftrag mich auf denselben Weg führte, hoffte ich, mit ihr zusammen zu reisen.«
»Schickt Euch der Herzog denn zu dem Hochheiligen Herrn Jakob?« fragte Cathérine mit einer Ironie, die dem Künstler nicht entging.
»Nun«, meinte er lächelnd. »Ihr wißt doch, daß meine Missionen stets geheim sind. Ich habe nicht das Recht, darüber zu sprechen. Aber gehen wir hinein. Die Nacht ist hereingebrochen, und es wird frisch am Fuß dieser Berge!«
Von dem unter den alten Gewölben des Gemeinschaftsraums verbrachten Abend, in dem sich seit Jahrhunderten vom Glauben durchdrungene Menschenmengen versammelten, behielt Cathérine ein seltsames Gefühl der Unwirklichkeit und Unsicherheit zurück. Am großen Tisch zwischen Ermengarde und Jan sitzend, hörte sie ihrer Unterhaltung zu, ohne sich allzusehr einzumischen. Weshalb auch? Die Angelegenheiten Burgunds, über die sie sprachen, waren ihr so fremd geworden, daß sie nicht die geringste Spur von Interesse mehr in ihr erregten. Selbst der herzogliche Erbe, der junge Charles, Graf von Charoláis, den die Herzogin Isabelle vor einigen Monaten zur Welt gebracht hatte und den die beiden Burgunder offenbar leidenschaftlich liebten, schien sie aus ihrer Gleichgültigkeit nicht herausreißen zu können. Hier handelte es sich für sie um eine tote Welt für alle Zeiten.
Doch wenn sie auch ihrem Gespräch wenig Aufmerksamkeit schenkte, beobachtete sie ihre beiden Gefährten nichtsdestoweniger mit scharfen Augen. Soeben noch, als sie die ihr zugewiesene Zelle verließ, um in den großen Saal zu gehen, hatte sie Josse vorgefunden, der unbeweglich in der fast völligen Dunkelheit des Kreuzganges auf sie wartete. Als sie ihn aus dem Schatten hatte treten sehen, war sie zusammengezuckt, aber er hatte sofort den Finger auf die Lippen gelegt. Dann hatte er leise gesagt: »Dieser neu angekommene Herr aus Burgund … ihn hat die edle Dame erwartet!«
»Woher wißt Ihr das?«
»Ich habe sie soeben im Grasgarten gehört. Nehmt Euch in acht! Er ist Euretwegen gekommen!«
Er hatte keine Zeit, ihr mehr zu sagen, denn jetzt kam auch Ermengarde, von Gillette und Margot begleitet, die von ihrer mächtigen Persönlichkeit fasziniert schien. Cathérine hatte die weiteren Erklärungen auf später vertagt. Josse übrigens war wieder wie ein echter Geist in den Schatten getaucht. Daran dachte sie bei dem frugalen Mahl aus Kichererbsen, Milch und Äpfeln, während ihr Blick von dem langen, ruhigen Gesicht van Eycks zu dem munteren, lebhaften Ermengardes schweifte. Diese war so fröhlich, wie sie seit vielen Tagen nicht gewesen war, und Cathérine sagte sich, daß Josse sehr wohl recht haben könnte: Sie hatte den Maler erwartet. Andererseits, welchen Zusammenhang konnte dieses Treffen mit ihr, Cathérine, haben? Sie war nicht die Frau, die eine so erregende Frage lange ohne Beantwortung ließ, und als nach beendeter Mahlzeit Ermengarde, sich reckend und fürchterlich gähnend, aufstand, beschloß sie, zum Angriff überzugehen. Schließlich war der Maler bis zum Beweis des Gegenteils ihr Freund. Es würde seine Sache sein, den Beweis zu liefern!
Als die dicke Gräfin sich anschickte, den Raum zu verlassen, und van Eyck einen Kerzenhalter ergriff, um sie zu begleiten, hielt Cathérine ihn zurück:
»Jan! Ich möchte Euch gern sprechen!«
»Hier?« fragte er, einen unruhigen Blick auf eine Gruppe von Bergbewohnern werfend, die, um eine Schüssel Kichererbsen auf dem Boden sitzend, gemächlich in einer Ecke des Saales aß.
»Warum nicht? Diese Leute kennen unsere Sprache nicht. Es sind Basken. Schaut Euch ihre wilden Augen und ihre dunklen Gesichter an. Sie schenken uns überhaupt keine Aufmerksamkeit. Und dann«, fügte sie mit leisem Lächeln hinzu, »was läßt Euch glauben, daß die zwischen uns getauschten Worte von der Art sind, die den erstbesten interessieren könnten?«
»Ein Gesandter mißtraut immer … das ist sein Beruf!« erwiderte van Eyck mit einem Lächeln, das dem Catherines seltsam verwandt war. »Aber Ihr habt recht, wir können sprechen. Worüber?«
Cathérine antwortete nicht sofort. Sie ging langsam zu dem roh gebauten Kamin, in dem das Feuer allmählich herunterbrannte, stützte den Arm auf den Sims und legte ihre Stirn darauf. So ließ sie einen Augenblick die ganze Wärme durch alle Glieder ihres Körpers dringen. Sie liebte das Feuer wegen der merkwürdigen Zweiheit, die es in sich barg und die es je nach Umständen zum besten Freund oder zum schlimmsten Feind des Menschen machen konnte. Das Feuer, das erstarrtes Fleisch wiedererwärmte, das Brot bäckt und den Weg in der dunkelsten Nacht erhellt, das Feuer, das zerstört und verwüstet, das foltert und ausrottet! … Als Cathérine spürte, daß sie würde kämpfen müssen, war sie froh, das Feuer neben sich zu haben.
Van Eyck respektierte ihr Schweigen. Sein Künstlerauge war im übrigen von der schmalen Silhouette gefangen, die sich vom rötlichglühenden Hintergrund abhob. Der Fall der Robe paßte sich den Kurven ihres Körpers mit anatomischer Genauigkeit an. Das feine Profil schien aus Gold gemeißelt, und die langen Wimpern, welche die blauen Augen bedeckten, warfen einen erregenden Schatten. Und der Maler sagte sich erschauernd, daß diese Frau noch nie so schön gewesen war! Leben und Leiden hatten ihr die äußerste Frische der ersten Jugend geraubt, hatten sie aber geläutert. Ihre Schönheit war menschlicher und gleichzeitig reservierter geworden. Sie hatte den reinen Glanz eines himmlischen Geschöpfes, trotzdem war der sinnliche Zauber, den sie ausstrahlte, fast unerträglich.
Wenn der Herzog sie wiedersieht, dachte van Eyck, wird er sich ihr zu Füßen werfen wie ein Sklave … oder er wird sie umbringen! Aber er wagte nicht, seine eigenen Gefühle weiter zu analysieren. Im Wirrwarr seiner Gedanken trat nur eines klar hervor: der herrische, wütende Wunsch, diese quälende Schönheit noch ein einziges Mal auf einem Bild festzuhalten! Er entdeckte, daß sein letztes Werk, das Doppelporträt eines jungen Bürgers namens Arnolfini und seiner jungen Frau, auf das er mit Recht stolz war, ihm jetzt neben dem Porträt, das er von der neuen Cathérine malen könnte, schal vorkam. Und er war so völlig in seine Gedanken versunken, daß die Stimme der jungen Frau ihn zusammenfahren ließ: »Jan«, sagte sie leise, »warum seid Ihr gekommen?« Sie sah ihn nicht an, erriet trotzdem den Einwand, den er hervorsprudeln würde. »Nein«, fügte sie lebhaft hinzu, »gebt Euch nicht die Mühe zu lügen! Ich weiß sehr wohl Bescheid! Ich weiß, daß Ermengarde Euch erwartete, und ebenfalls, daß ich in diesem Rendezvous eine Bedeutung für mich zu sehen habe. Ich möchte wissen, welche?«
Sie gab ihre nachdenkliche Haltung auf, wandte sich um und blickte ihm ins Gesicht. Ihre großen, fragenden Augen lagen auf ihm. Wieder fühlte der Künstler, wie ihn soviel Anmut erzittern ließ.
»Dame Ermengarde hat nicht mich im besonderen erwartet, Cathérine, sondern einen Boten aus Burgund. Der Zufall wollte es, daß ich es war …«
»Der Zufall? Glaubt Ihr, ich hätte alle Gewohnheiten des Herzogs Philippe vergessen? Ihr seid sein geheimer Lieblingsgesandter … nicht irgendein Bote! Was habt Ihr der Gräfin gesagt?«
»Nichts!«
»Nichts?«
Van Eyck lächelte belustigt und fuhr fort: »Nein, nichts, meine schöne Freundin! Ich habe ihr nichts zu sagen.«
»Hättet Ihr mir etwas zu sagen … mir?«
»Vielleicht! Aber ich werde es Euch nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil die Stunde dazu noch nicht reif ist!«
Als die zarten Augenbrauen der jungen Frau sich zusammenzogen, trat der Maler auf sie zu und ergriff ihre Hände.
»Cathérine! Ich bin immer Euer Freund gewesen … und ich hätte leidenschaftlich gewünscht, mehr zu sein! Ich schwöre Euch bei meiner Ehre als Edelmann, daß ich immer der Eurige bin und daß ich Euch um nichts in der Welt etwas Böses antun würde. Könnt Ihr mir nicht vertrauen?«
»Vertrauen? Das ist alles so sonderbar, so verworren! Wie hat man in … Burgund erfahren, daß ich mit der Dame de Châteauvillain zusammen reise? Hat der Astrologe des Herzogs es in den Sternen gelesen?«
Diesmal brach der Maler in Lachen aus.
»Daran glaubt Ihr doch nicht – und mit Recht! Dame Ermengarde hat die Nachricht überbringen lassen. Ein von ihr geschickter Bote …«
Ein Zornesausruf schnitt ihm das Wort ab:
»Sie? Sie hat es gewagt? … Und sie nennt sich meine Freundin?«
»Sie ist Eure Freundin, Cathérine, aber sie ist nur Eure Freundin … nicht die des Mannes, dessen Namen Ihr tragt. Seht, sie glaubt ehrlich, und sie hat es immer geglaubt, daß Ihr einen falschen Weg einschlugt, daß Ihr niemals das Glück in der Richtung finden könntet, die Ihr gewählt habt. Es scheint, gesteht es, daß das Schicksal ihr immer recht gegeben hat …«
»Es ist nicht ihre Sache, das zu beurteilen! Es gibt etwas, was sie nie verstehen wird: die Liebe, die ich für meinen Gatten hege! Ich weiß wohl, daß man am Hofe Herzog Philippes mit dem Wort Liebe sehr verschiedenartige Gefühle bezeichnet, unter denen das Verlangen den größten Platz einnimmt. Aber für mich ist meine Liebe etwas Unvergleichliches. Arnaud und ich bilden eine Einheit, ein einziges Fleisch und Blut! Ich leide seine Schmerzen mit, und wenn man mich in Stücke schnitte, würde jedes einzelne dieser Stücke noch hinausschreien, daß ich Arnaud liebe … Aber weder Ermengarde noch der Herzog können solche Gefühle begreifen!«
»Glaubt Ihr? Bei Dame Ermengarde könnte es so sein. Sie ist einzigartig mütterlich und liebt Euch wie ihre eigene Tochter. Was Euch Unbehagen einflößt, ist, daß sie Herzog Philippe gegenüber ein ähnliches Gefühl hegt. Sie hat ihn nie mit ihrer Kritik und mit den bittersten Wahrheiten verschont, aber sie liebt ihn wie eine Mutter, und sie zermartert sich das Herz, weil sie geächtet ist, da ihr Sohn die Waffen gegen Philippe ergriffen hat. Sie hat geglaubt, ihm Freude zu bereiten, indem sie ihm Nachricht von Euch gab. Eben auch eine Art, ihm zu beweisen, daß sie ihn noch zärtlich liebt! Was ihn betrifft …«
Eine Zornesregung ließ Cathérine erstarren. Sie hob scharf den blonden Kopf und sagte:
»Wer erlaubt Euch zu glauben, daß ich die geringste Lust habe, davon zu hören?«
Van Eyck überging die Unterbrechung. Er wandte die Augen ab, ging ein paar Schritte zurück und sagte tonlos:
»Eure Flucht hat ihn aufgewühlt, Cathérine … und ich weiß, daß er daran noch leidet! Nein«, schnitt er ihr seinerseits das Wort ab, »sagt nichts mehr, da ich nichts hinzuzufügen hätte. Vergeßt alles, was Euch Sorgen macht, und denkt lediglich an eines: Ich bin nur Euer Freund, und in dieser Eigenschaft werde ich Euch morgen folgen. Seht sonst nichts darin! Ich wünsche Euch eine gute Nacht, schöne Cathérine!«
Und bevor die junge Frau eine Bewegung machen konnte, um ihn zurückzuhalten, öffnete er die Tür und verschwand.
Von den zur Hälfte geschleiften Wällen von St-Jean-Pied-de-Port an stieg die alte römische Landstraße ununterbrochen gute acht Meilen lang zum Paß von Bentarté hinauf. Der Weg war schmal, schwierig, schlüpfrig durch Reste alter Steinplatten, die ihn noch bedeckten und auf denen die kalte Höhenluft eine schwache Eisschicht gebildet hatte. Er war auch holprig und wand sich steil durch eine Landschaft, die dürrer und trockener wurde, bis sie sich im Himmel zu verlieren schien. Doch Cathérine und ihre Gefährten hatten auf den ihnen in Saint-Jean gegebenen Rat hin diesen Weg dem viel leichteren des Val Carlos vorgezogen, um zu vermeiden, in Gefechte verwickelt zu werden. Ein Raubritter, Vivien d'Aigremont, beherrschte den Weg durch das Tal mit seinen wilden Banden aus Basken und Navarresern. Gewiß, die die Dame de Châteauvillain eskortierenden Soldaten zusammen mit der Eskorte Jan van Eycks waren stark, gut bewaffnet und konnten den Ritt der Reisenden ohne allzuviel Gefahren sichern. Aber nach dem, was man von der sturen Brutalität und primitiven Wildheit der Leute d'Aigremonts gehört hatte, hatte man es mit nicht zu unterschätzenden Feinden zu tun, die obendrein noch an Zahl weit überlegen waren. Es war daher besser, den Höhenweg zu nehmen.
Je weiter man anstieg, desto kälter wurde es. Ein beißender Wind wehte ununterbrochen gegen die Ausläufer der Pyrenäen und jagte und trieb eisige Nebelschwaden hin und her, die manchmal Felsen in allernächster Nähe den Blicken entzogen. Seit dem Aufbruch am frühen Morgen sprach niemand. Man mußte genau aufpassen, wohin man seinen Fuß setzte, denn es hatte sich als nötig erwiesen, abzusteigen und die Pferde am Zügel zu führen, damit sie nicht stürzten. Und die lange, schweigsame Reihe, die sich im trüben grauen Licht am Berghang entlangzog, hatte etwas Geisterhaftes an sich. Selbst die feucht gewordenen Waffen waren glanzlos. Hinter sich hörte Cathérine Ermengarde schimpfen, die, von Gillette de Vauchelles und Margot la Déroule gestützt, nur mühsam vorwärts kam.
»Dreckwetter und Drecksland! Konnten wir nicht den Weg da unten nehmen wie Kaiser Karl der Große? Die Straßenräuber scheinen mir weniger zu fürchten zu sein als dieser Weg, der gerade gut genug für Bergziegen ist! In meinem Alter muß ich zwischen Felsen herumgaloppieren wie ein alter Klepper! Wenn so etwas einen Sinn haben soll …«
Die junge Frau konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie wandte sich halb um und sagte:
»Nun, Ermengarde, brummt nicht herum! Ihr habt es doch selbst so gewollt!«
Sie hatte der alten Dame keinen Ton von ihrer Unterhaltung mit van Eyck gesagt! Was konnte es schon nützen? Ermengarde hätte nicht verstanden, daß Cathérine ihre Handlungsweise als eine Art Verrat auffaßte. Sie hatte in gutem Glauben gehandelt, hatte Catherines Bestes im Sinn gehabt. Und schließlich waren der Maler und seine starke Eskorte ein guter Beistand für den kleinen Trupp in diesen schwierigen Landen. Und endlich, was immer die geheimnisvolle Botschaft sein mochte, die van Eyck ihr mitzuteilen hätte, »wenn die Zeit reif sein würde«, wußte sie nur zu gut, daß er keinerlei Macht über sie besäße, falls er versuchte, sie von ihrem Ziel abzubringen. Trotzdem, die Verschwiegenheit, die van Eyck ihr gegenüber bewahrte, irritierte sie und reizte ihre Neugier. Warum diese fast offizielle Reise, dieser Rang eines Gesandten, diese Bewaffneten, wenn es sich nur um eine Botschaft handelte? Aber Cathérine kannte Jan gut genug, um zu wissen, daß er erst sprechen würde, wenn seine Stunde gekommen war. Es war das beste zu warten … Und wenn sie seit dem Morgen schweigend dahinritt, von einer Traurigkeit übermannt, von der sie sich nicht lösen konnte; wenn sie die schwindelnd hohe Landschaft durchforschte, die flüchtig erblickten Abgründe zwischen den weißen Gipfeln, war es nicht seinetwegen, sondern weil sie an Gauthier dachte … Dies hier war die Kulisse seines Verschwindens, eine Kulisse, die ganz diesem Riesen angepaßt war, den sie für unzerstörbar gehalten hatte! Aber welcher Mann von Fleisch und Blut konnte es mit diesen Riesen aus Fels und Eis aufnehmen? Nie hätte Cathérine sich vorgestellt, daß es ein solches Land geben könne. Und sie wurde sich jetzt klar, daß sie bis zu dieser Minute gegen jede Vernunft, gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft hatte, ihr treuer Diener sei als Sieger aus diesem letzten Kampf hervorgegangen und sie werde ihn irgendwo, wunderbarerweise bewahrt, wiederfinden. Bis hierher hatte sie kommen müssen, um zu begreifen, daß es kein Wunder geben würde!
… Während sie sich den schwierigen Weg entlangschleppte, das Pferd hinter sich, dachte Cathérine nicht daran, was sie selbst zu ertragen hatte. Statt dessen schien es ihr, als sähe sie durch den dichten Nebel die massige, kraftvolle Gestalt ihres Gefährten in grausamen Stunden auftauchen, sein vertrautes Lächeln und seine grauen Augen, die die ganze blinde Wildheit der alten nordischen Götter und allen Freimut eines Kindes enthalten konnten. Schmerzend zog sich ihre Kehle zusammen, und sie mußte einen Moment die Augen schließen, die voll Tränen waren. Und dann entfernte sich der Schatten des guten Riesen und vereinte sich in Catherines gepeinigtem Herzen mit der hochmütigen Gestalt Arnauds. Die Sehnsucht wurde einen Augenblick lang so grausam-schmerzlich, daß die junge Frau sich am liebsten zwischen den vereisten Steinen des Weges niedergelegt und den Tod erwartet hätte … Einzig der Stolz und ein Wille, der über ihre Entmutigung triumphierte, hielten sie aufrecht und ließen sie weitertrotten, vorwärts, vorwärts, ohne daß auch nur einer ihrer Gefährten das Drama, das sich in ihr abspielte, ahnen konnte …
Als man auf dem Paß von Bentarté anlangte, begann der Tag sich seinem Ende zuzuneigen. Der Wind blies in so heftigen Stößen, daß die Reisenden nur gebeugt vorwärts kamen. Der Anstieg war beendet, und nun mußte man dem sich über gezackte Kamme hinziehenden Gratweg folgen … Der Himmel lag so tief, daß Cathérine das Gefühl hatte, sie könne ihn berühren, wenn sie nur die Hand ausstreckte.
Hinter ihr sagte jemand:
»Bei klarem Wetter kann man das Meer und die Grenzen der drei Königreiche Frankreich, Kastilien und Aragon sehen.«
Aber das interessierte die junge Frau nicht, die die Ermüdung schwer zu bedrücken begann.
Es gab an diesem verlassenen Ort Hunderte roher Holzkreuze, von den vor ihnen durchgekommenen Pilgern dort aufgestellt, und Cathérine betrachtete sie mit Schaudern: Es kam ihr vor, als wanderte sie inmitten eines Friedhofs!
Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, ihre Füße schmerzten, und ihr ganzer Körper zitterte vor Kälte. Die Hoffnung, Arnaud wiederzusehen, mußte schon sehr groß in ihr sein, um so viel Leiden zu ertragen.
Der Rest des Weges bis zum Paß von Ibañeta weiter unten und dann bis zum Rasthaus von Roncevaux war für sie ein Leidensweg, den die anbrechende Nacht noch verschlimmerte. Als man endlich in Sicht der berühmten, von Erzbischof Sanche de la Rose und König Alfons dem Eroberer erbauten Zufluchtsstätte war, ging der Mond auf und übergoß mit seinem kalten Licht die Häusergruppe mit ihren sehr niedrigen Dächern, ihren dicken, durch kräftige Stützbögen versteiften Mauern, die sich am Fuße der Ausläufer des Ibañetapasses hinstreckte. Das Ganze wurde von einem viereckigen Turm beherrscht, und der Weg durchquerte unter einem Gewölbe das alte Kloster. Der Rauhreif bestäubte alles, gab allen Dingen eine unwirkliche Schönheit, doch Cathérine, am Ende ihrer Kräfte angelangt, war dafür völlig unempfindlich. Sie sah nur eines: Unter dem Gewölbe bewegten sich Laternen, von menschlichen Händen getragen, und diese Laternen bedeuteten Leben, Wärme … Die Zähne zusammenpressend, machte sie eine letzte Anstrengung, um vollends zum Hospiz zu gelangen, doch als sie einmal da war, ließ sie sich auf einen Pferdetritt sinken, unfähig, auch nur noch einen Schritt zu tun.
Van Eyck und Josse Rallard, die ihre Erschöpfung schließlich bemerkten, trugen die fast Ohnmächtige ins Innere.
Lange schon hatte man Dame Ermengarde, die man wie ein Paket quer über ihr Pferd hatte hieven müssen, nicht mehr schimpfen hören.
Auf den Steinen des riesigen Feuerherdes im Pilgersaal sitzend, die Beine in ein Ziegenfell gehüllt und einen Napf heißer Suppe in den Händen, nahm Cathérine langsam wieder Farbe an und begann für ihre Umgebung Interesse zu zeigen. Viel Volk war da unter den niedrigen, rußgeschwärzten Gewölben versammelt: aus Galicia zurückkehrende Pilger, die Mäntel mit sinnbildlichen Muschelschalen geschmückt, in den Augen den Stolz derer, die ihr Gelübde erfüllt haben; Maultiertreiber, die die Nacht mit ihren Gefahren gezwungen hatte, in der Zufluchtsstätte Rast zu machen; navarresische Bauern in schwarzen, oft zerrissenen Röcken, die schmutzbedeckten Beine und Füße in Felle gewickelt, die Zehen frei; Söldner in zerbeulten Kürassen. Durch diese Menge, die die Müdigkeit schweigsam machte, glitten die schwarzen Kutten der gastgebenden Mönche, die Stelle des Herzens mit einem Kreuz gekennzeichnet, dessen Spitze gebogen und dessen Fuß scharf wie ein Degen war, Symbol ihres gleichzeitig religiösen wie militärischen Charakters. Denn sehr oft mußten die Augustinerpatres den Degen ziehen, um den Räubern der Berge ihre Opfer zu entreißen.
Sie verteilten an alle Brot und Suppe, ohne sich bei dem eleganten Gesandten des Großherzogs des Westens länger aufzuhalten als bei dem geringsten Navarreser. Cathérine schienen ihre rauhen Gesichter aus dem Granit der Berge herausgehauen zu sein und durchaus nicht den runden, wohlgenährten Physiognomien der meisten Mönche im Lande der Ebene zu ähneln … Neben ihr, den Rücken an einen Pfeiler des Kamins gelehnt, saß schnarchend Ermengarde. Die anderen, zum Umfallen müde, aßen oder schliefen schon auf dem Boden. Von weitem, in den Bergen, hörte man die Wölfe heulen …
Plötzlich öffnete sich die Tür und ließ einen kalten Windstoß herein. Zwei Mönche, die Köpfe durch große Hüte geschützt, die sie tief über ihre Kapuzen gedrückt hatten, traten mit einer Tragbahre ein, auf der eine in Decken gewickelte menschliche Gestalt ausgestreckt lag. Die Tür schlug hinter ihnen wieder zu. Einige Köpfe hoben sich bei ihrem Eintritt, fielen aber bald wieder zurück: Ein Kranker oder Verletzter, sogar ein Toter, waren übliche Dinge in diesen mitleidslosen Gebieten. Die Mönche bahnten sich einen Weg zum Feuerherd.
»Er hat sich verirrt!« sagte einer der beiden zum Prior, der zu ihnen trat. »Wir haben ihn in der Nähe der Rolandspalte gefunden.«
»Tot?«
»Nein. Aber sehr schwach! Und in traurigem Zustand! Er muß auf Briganten gestoßen sein, die ihm die Sachen vom Leibe gerissen und ihn übel zugerichtet haben! Aber Gott sei Dank haben sie ihm das Leben gelassen.«
Während er sprach, setzten sie die Bahre vor dem Feuerherd ab. Um ihnen Platz zu machen, drückte Cathérine sich an Ermengarde, dabei mechanisch einen Blick auf den Verwundeten werfend, von dem die Mönche die Decke abnahmen. Doch plötzlich fuhr sie zusammen, stand sofort auf und beugte sich über den bewußtlosen Mann, blickte forschend in die abgezehrten Züge, legte eine Hand über ihre Augen, weil sie an eine durch die Müdigkeit hervorgerufene Sinnestäuschung glaubte. Aber hier war kein Zweifel möglich.
»Fortunat!« flüsterte sie erstickt. »Fortunat! Mein Gott!«
Eine Stoßkraft, viel stärker als ihre Müdigkeit, zog sie zu der Tragbahre, zu diesem Gespenst, dem ersten seit langem in ihrer Nacht aufblitzenden Hoffnungsschimmer. Dieser Mann wußte, wo Arnaud war … und vielleicht würde er sterben, ohne es ihr gesagt zu haben!
Einer der Mönche sah sie neugierig an.
»Ihr kennt diesen Mann, meine Schwester?«
»Ja … Oh, Seigneur! Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen! Er war der Knappe meines Gatten … und hier finde ich ihn wieder, allein, krank … Was ist aus seinem Herrn geworden?«
»Da müßt Ihr schon noch etwas warten, um ihn zu befragen. Zuerst werden wir ihm ein stärkendes Mittel verabreichen, ihn wiederbeleben, ihn aufwärmen und ihm etwas zu essen geben. Laßt uns nur machen!«
Schweren Herzens trat Cathérine beiseite und nahm ihren Platz am Feuerherd wieder ein. Jan van Eyck, der die Szene verfolgt hatte, trat zu ihr und ergriff ihre Hand. Sie war eiskalt … Der Maler merkte, daß die junge Frau zitterte.
»Friert Ihr?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf. Außerdem bewiesen ihre blitzenden Augen und die vor Erregung rot gewordenen Wangen, daß sie nicht log. Ihre Nerven waren so gespannt, daß sie den Blick nicht von diesem mageren, reglosen Körper wenden konnte, den die Mönche kräftig abrieben, während der Prior ein Fläschchen an seine blassen Lippen hielt.
»Wenn sie sich nur beeilen, mein Gott!« betete Cathérine im Inneren. »Sehen sie nicht, daß ich noch sterbe?«
Doch die energische Behandlung, die man Fortunat zuteil werden ließ, begann zu wirken. Etwas Blut stieg wieder in seine aschfahlen Wangen, seine Lippen bewegten sich, und bald öffnete er auch die Augen, die sich klar auf die ihn Umsorgenden richteten. Der Prior lächelte ihm zu:
»Fühlt Ihr Euch besser?«
»Ja … es geht besser! Ich komme von weit her, nicht wahr?«
»Ziemlich weit! Die Räuber haben Euch angegriffen, denke ich, und Euch zum Sterben liegengelassen?«
Fortunat schnitt eine fürchterliche Grimasse, die noch fürchterlicher wurde, als er versuchte, sich aufzurichten.
»Diese Rohlinge haben wie die Besessenen auf mich eingeschlagen. Ich glaubte, mir wären alle Knochen zerbrochen … Oh, ich bin wie gerädert!«
»Das geht schnell vorbei. Ihr werdet eine gute Suppe bekommen, und eine Salbe wird Eure Schmerzen lindern …«
Als der Prior sich wieder aufrichtete, traf sein Blick den Catherines. Sie glaubte, ein Zeichen darin zu lesen, und unfähig, ihre Ungeduld noch länger zu zügeln, trat sie vor. Wieder beugte der Prior sich über Fortunat:
»Mein Sohn, hier ist jemand, der Euch dringend zu sprechen wünscht.«
»Wer?« Der Gaskogner wandte den Kopf und hob ihn ein wenig. Plötzlich erkannte er Cathérine und richtete sich mit einem Ruck auf einen Ellbogen auf, während sein mageres Gesicht sich purpurrot färbte.
»Ihr! … Ihr seid es? Das ist nicht möglich!«
In einer Anwandlung warf die junge Frau sich neben der Bahre auf die Knie.
»Fortunat! Ihr lebt, Gott sei's gelobt, aber wo ist Messire Arnaud?«
Instinktiv hatte sie die bittenden Hände auf des Knappen Arm gelegt, doch dieser stieß sie mit einer rohen Bewegung zurück, während ein Ausdruck teuflischer Freude das magere, bärtige Gesicht des Gaskogners verzerrte.
»Wollt Ihr das wissen? Was kann Euch das schon bedeuten?«
»Was mir … das bedeuten kann? Aber …«
»Was schiert Euch Messire Arnaud? Ihr habt ihn verraten, verlassen! Was tut Ihr hier? Hat Euer neuer Gatte, der schöne blonde Herr, Euch schon satt, daß Ihr wieder auf die Landstraßen zurückgekehrt seid, um neue Abenteuer zu suchen? In diesem Falle geschieht es Euch ganz recht!«
Ein doppelter Ausruf des Zorns erklang über Catherines Kopf, die verblüfft und verständnislos das ihr zugekehrte, von Haß verzerrte Gesicht des Gaskogners betrachtete.
Der Prior und Jan van Eyck, gleichermaßen entrüstet, protestierten bereits:
»Mein Sohn, Ihr vergeßt Euch! Was ist das für eine Sprache?« rief der eine.
»Dieser Mann ist verrückt geworden!« sagte der andere. »Ich werde dafür sorgen, daß er seine Beleidigungen zurücknimmt!«
Cathérine erhob sich rasch und hielt Jan zurück, der schon den Dolch aus dem Gürtel riß.
»Laßt das«, sagte sie fest. »Das geht nur mich an! Mischt Euch nicht ein.«
Aber der spöttische Blick Fortunats heftete sich auf den zornbleichen Maler.
»Noch ein treuer Herzensritter, wie ich sehe! Euer neuer Geliebter, Dame Cathérine?«
»Schluß jetzt mit den Beleidigungen!« sagte sie schroff. »Mein Vater und Ihr, Messire van Eyck, wolltet Euch bitte zurückziehen. Ich wiederhole, dies betrifft allein mich!«
Des in ihr aufsteigenden Zorns wurde sie durch Willensanstrengung Herr. Um sie rotteten sich die Pilger, die Französisch verstanden, zusammen, doch der Prior tat alles, sie zu entfernen. Sie wandte sich zur Bahre zurück, blieb vor dem ausgestreckten Mann stehen und kreuzte die Arme:
»Ihr haßt mich also, Fortunat? Das ist aber neu.«
»Meint Ihr?« fragte er, ihr einen bösen Blick zuwerfend. »Für mich ist das keine Neuigkeit! Schon seit vielen Monaten hasse ich Euch! Seit dem verfluchten Tag, an dem Ihr Euren Gatten, den Ihr zu lieben vorgabt, mit dem Mönch habt ziehen lassen!«
»Ich habe seinen Befehlen gehorcht! Er wollte es so!«
»Wenn Ihr ihn geliebt hättet, hättet Ihr ihn mit Gewalt zurückgehalten! Wenn Ihr ihn geliebt hättet, hättet Ihr ihn in ein einsam liegendes Gehöft gebracht, hättet ihn gepflegt und wäret an seiner Krankheit gestorben …«
»Abgesehen davon, daß ich Euch nicht das Recht zugestehe, über mein Verhalten zu urteilen, sei Gott mein Zeuge, daß ich, hatte ich nach meinem Belieben handeln können, nichts sehnlicher gewünscht hätte! Aber ich habe einen Sohn! Und sein Vater verlangte, daß ich mich ihm widme!«
»Vielleicht. Aber in diesem Fall hättet Ihr nicht zum Hof zu reisen brauchen. Oder seid Ihr auch in Ausführung der Befehle Eures Gatten in die tröstlichen Arme des Herrn de Brézé geeilt, den Ihr schicktet, um Dame Isabelle das Herz zu brechen … und das Messire Arnauds, und den Ihr schließlich geheiratet habt?«
»Das stimmt nicht! Ich bin nach wie vor die Dame de Montsalvy und verbiete jedem, daran zu zweifeln, daß Messire de Brézé seine Wünsche mit der Wirklichkeit verwechselte. Habt Ihr mir noch etwas vorzuwerfen?«
Ohne daß die beiden Gegner es gewahr wurden, hatten sich ihre Stimmen gehoben, und ihre Auseinandersetzung nahm die Heftigkeit und Schärfe eines Wortstreits an. Als der Prior sah, daß alle Köpfe Cathérine zugewandt waren, wollte er einschreiten.
»Meine Tochter! Vielleicht zieht Ihr es vor, diesen Streit in Ruhe auszutragen! Ich werde Euch in den Stiftssaal führen lassen, Euch und diesen Mann …«
Aber sie lehnte mit einer stolzen Geste ab.
»Unnütz, mein Vater! Was ich zu sagen habe, kann alle Welt hören, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen! Also, Fortunat«, begann sie wieder, »ich warte! Was habt Ihr noch zu sagen?«
Tonlos, aber mit einem Ausdruck angestauten Hasses zischte der Knappe Arnauds:
»Was er alles Euretwegen ertragen hat! Wißt Ihr denn, daß es ein einziger Leidensweg für ihn war seit dem Tage, an dem Ihr ihn zurückgewiesen habt? Diese Tage ohne Hoffnung, diese Nächte ohne ein Lächeln, mit dem schrecklichen Gedanken, daß er ein lebender Toter sei! Ich weiß es, weil ich ihn liebte! All die Wochen suchte ich ihn. Er war mein Herr, der beste, tapferste und treueste der Ritter!«
»Wer sagt etwas anderes? Glaubt Ihr, Ihr könnt mich die Tugenden des Mannes lehren, den ich liebe?«
»Den Ihr liebt?« entgegnete Fortunat höhnisch. »Unter anderen! Ich habe ihn geliebt, mit Ergebenheit, mit Achtung, mit allem, was gut in mir ist!«
»Ich liebe ihn also nicht? Weshalb bin ich denn hier? Habt Ihr noch nicht begriffen, daß ich ihn suche?«
»Ihr sucht ihn?«
Jäh unterbrach sich Fortunat. Er maß Cathérine mit boshafter Freude und brach plötzlich in Lachen aus, in ein verächtliches, wildes Lachen, das der jungen Frau mehr noch als seine Beleidigungen den ganzen Haß, den der Gaskogner für sie empfand, verriet.
»Na gut, sucht nur, schöne Dame! Für Euch ist er verloren … verloren für immer! Versteht Ihr? Verloren!«
Er hatte das Wort hinausgeschrien, als fürchtete er, Cathérine habe dessen ganze verzweifelte Tragweite nicht erfaßt. Aber es war unnötig. Cathérine hatte verstanden. Sie wankte unter der Brutalität des Schlages, fand indessen genug Kraft, die Hand Jans zurückzuweisen, der sie stützen wollte.
»Er … ist tot!« sagte sie mit gebrochener Stimme.
Doch wieder brach Fortunat in Gelächter aus:
»Tot? Nie im Leben! Aber glücklich, von Euch befreit, geheilt …«
»Geheilt? Mein Gott! Der heilige Jakob hat ein Wunder getan!«
Jetzt hatte sie das Wort hinausgestoßen, mit einer Inbrunst, die der Gaskogner jedoch umgehend zerstörte. Er zuckte unehrerbietig mit den Schultern, was beim Prior ein Stirnrunzeln hervorrief.
»Es hat kein Wunder gegeben, und wenn ich den heiligen Herrn Jakob auch verehre, so muß ich doch bestätigen, daß er Messire Arnauds Gebete nicht erhört hat. Warum sollte er auch, nebenbei bemerkt? Messire Arnaud war nicht leprakrank!«
»Nicht … leprakrank?« stammelte Cathérine. »Aber …«
»Ihr habt Euch geirrt, wie übrigens jedermann … Das kann Euch niemand zum Vorwurf machen. Als wir Compostela verließen, hielt Messire Arnaud sich noch immer für leprakrank. Er war entsetzlich enttäuscht … verzweifelt … Er wollte sterben, aber er wollte nicht für nichts sterben. ›Die Mauren haben immer noch das Königreich Granada in Besitz, und die Ritter von Kastilien stehen in dauerndem Kampf mit ihnen‹, hat er zu mir gesagt. ›Dorthin werde ich reiten! Gott, der mir die Heilung verweigerte, wird mir wenigstens die Gunst erweisen, im Kampf gegen die Ungläubigen zu fallen!‹ Also sind wir nach Süden aufgebrochen. Wir haben die Berge, die ausgetrockneten, wüsten Ländereien durchquert und kamen in eine Stadt namens Toledo … Und dort hat sich alles geändert!«
Er nahm sich Zeit, als versuchte er, eine besonders angenehme Erinnerung genauestens wiederzugeben. Sein entzücktes Lächeln steigerte Catherines nervöse Bangigkeit bis zum äußersten.
»Was alles?« fragte sie barsch. »Los! Sprich!«
»Das möchtet Ihr so schnell wie möglich wissen, was? Trotzdem wär's besser, ich schwör's Euch, wenn Ihr es nicht so eilig hättet. Tatsächlich … aber ich möchte Euch auch gern so schnell wie möglich besiegt sehen. Also hört zu: Als wir in dieser Stadt auf dem Hügel ankamen, trafen wir auf das Gefolge eines Botschafters des Königs von Granada, Gesandten bei König Johannes von Kastilien, der sich in sein Land zurückbegab …«
»Mein Gott! Mein Gatte ist in die Hände der Ungläubigen gefallen! Und du wagst es, dich darüber zu freuen?«
»Es gibt verschiedene Arten, in jemandes Hände zu fallen«, bemerkte Fortunat hinterlistig. »Diejenige, die Messire Arnaud zustieß, hatte jedenfalls nichts Unangenehmes an sich …« Jäh setzte der Gaskogner sich auf, warf Cathérine einen flammenden Blick zu und fuhr mit triumphierendem Unterton fort: »Der Botschafter war eine Frau, Dame Cathérine, eine Prinzessin, die Schwester des Königs von Granada … und sie ist schöner als der Tag! Noch nie haben meine Augen ein blendenderes Geschöpf gesehen! Übrigens, auch Messire Arnauds Augen nicht!«
»Was willst du damit sagen? Erkläre dich!« befahl Cathérine, deren Mund plötzlich trocken wurde.
»Versteht Ihr nicht? Warum sollte Messire Arnaud die Liebe der schönsten aller Prinzessinnen zurückweisen, wenn seine eigene Frau ihn wegen eines anderen verlassen hatte? Er war frei, denke ich mir, frei, um so mehr, als die Dankbarkeit sich zur Bewunderung gesellte.«
»Die Dankbarkeit?«
»Es hat den maurischen Arzt der Prinzessin drei Tage gekostet, Messire Arnaud zu heilen! Er hatte nicht Lepra, wie ich Euch schon sagte, sondern eine andere Krankheit, durchaus heilbar, deren barbarischen Namen ich vergessen habe! Es stimmt zwar, daß sie dieser schrecklichen Geißel ähnelt … Aber jetzt ist Messire Arnaud geheilt, glücklich … und Ihr habt ihn für immer verloren!«
Es folgte Stille, eine schreckliche, tiefe Stille, als versuchten alle diese Leute, von denen der größte Teil sie nicht kannte, Catherines Herz schlagen zu hören … Sie hatte sich nicht gerührt, hatte kein Wort gesagt … Sie spürte, wie das Leid, die Eifersucht sich langsam, heimtückisch in ihre Seele schlichen … Sie hatte das Gefühl, in einem Alptraum befangen zu sein, aus dem sie nicht erwachen zu können schien. Ein Bild nahm in ihrer Phantasie Gestalt an, ein unerträgliches Bild: Arnaud in den Armen einer anderen Frau! … Am liebsten hätte sie laut aufgeschrieen, hätte gebrüllt, um den gräßlichen Schmerz der Eifersucht, der sie durchfuhr, zu lindern. Wie ein gesundes Tier, das eine Krankheit befällt, wurde sie durch diesen neuen Schmerz entwaffnet. Sie fühlte sich versucht, die Augen zu schließen, aber der Stolz hielt sie zurück. Sie warf dem Gaskogner einen scharfen Blick zu und sagte grollend: »Du lügst! … Wie kannst du annehmen, daß ich dir glaube? Mein Gatte ist ein Christ, ein Ritter … Niemals würde er seinem Glauben, seinem Land, seinem König für eine Ungläubige untreu werden! Und ich bin so dumm, dir zuzuhören, du gemeiner Lügner!«
Sie drückte die Fäuste in die Falten ihres Kleides, hielt sich nur mit Mühe im Zaum. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte in dieses von Abneigung verzerrte, ihr trotzende Gesicht geschlagen … Fortunat hingegen war von ihrem Zorn anscheinend durchaus nicht beeindruckt. Es schien sogar, als delektierte er sich daran. »Ich lüge? … Ihr wagt zu sagen, ich lüge?« Langsam, die kleinen schwarzen Augen fest auf Cathérine gerichtet, hob der Gaskogner die Hand und sprach feierlich: »Ich schwöre beim Heil meiner unsterblichen Seele, daß Messire Arnaud zu dieser nämlichen Stunde Liebe und Freuden in den Palästen von Granada genießt! Ich schwöre, daß …«
»Genug!« erklang plötzlich hinter Cathérine die barsche Stimme Ermengardes. »Gott liebt es nicht, daß ein Schwur zur Kränkung dient! Du hast dein Gift jetzt verspritzt, das genügt, mein Junge! … Sag mir trotzdem noch eins: Wie kommt es, daß du hier bist, du, der treue Diener? Warum ziehst du auf den Landstraßen umher, auf die Gefahr hin, dein Leben zu verlieren, obwohl du doch ebenfalls dein Glück bei irgendeiner maurischen Schönen finden könntest! Hat deine Prinzessin keine Kammerzofe, die schön genug ist, dich zu fesseln? Warum bist du nicht bei deinem Herrn geblieben, um die Freuden der Liebe mit ihm zu teilen?«
Die furchteinflößende rote Silhouette der Edlen und ihr herrischer Ton schüchterten den Knappen ein. Sie erinnerte an einen Fels … Der Gaskogner sah aus, als wollte er sich verkriechen. Er senkte den Kopf:
»Messire Arnaud hat es so gewollt! Er hat mich zu seiner Mutter gesandt, von der er wußte, daß sie litt. Ich sollte ihr die gute Nachricht von der Heilung überbringen, ihr sagen …«
»Daß ihr Sohn, ein Hauptmann des Königs, ein Christ, seine Pflicht und seinen Eid wegen der schönen Augen einer Huri vergessen hat? Schöne Nachricht für eine Edeldame! Wie ich mir die Dame de Montsalvy vorstelle, dürfte sie derlei glatt umbringen!«
»Dame Isabelle ist tot«, sagte Cathérine ernst. »Keine Nachricht kann sie mehr erreichen! Und dein Auftrag ist erfüllt, Fortunat! Du kannst nach Belieben nach Frankreich oder zu deinem Herrn zurückkehren.«
Ein Ausdruck grausamer Neugier erschien auf dem mageren Gesicht des Gaskogners.
»Und Ihr, Dame Cathérine«, fragte er begierig, »was werdet Ihr tun? Ich kann mir nicht denken, daß Ihr beabsichtigt, Euren Gatten zurückzufordern. Ihr würdet nicht einmal zu ihm vordringen … Christliche Frauen sind dort unten versklavt und arbeiten unter der Peitsche, oder man wirft sie den Soldaten hin, damit sie sich mit ihnen vergnügen … sofern man sie nicht unter schrecklichen Foltern sterben läßt! Glaubt mir, für Euch ist ein gutes Kloster das beste und …«
Der Satz erstickte in einem fürchterlichen Gurgeln. Die schöne, kräftige Hand Ermengardes hatte Fortunat am Hals gepackt und ihm den Atem abgeschnürt.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst schweigen!« brummte die Edle. »Und ich sage nie etwas zweimal.«
Cathérine, die all das nichts mehr anging, hatte ihn keiner Antwort gewürdigt. Sie drehte sich um, umfing mit einem einzigen mutigen Blick alle ihr ängstlich zugewandten Gesichter und ging dann langsam zur Tür. Die schwarzen Falten ihres Kleides fegten über das auf den Fliesen ausgestreute Stroh. Jan van Eyck wollte ihr folgen. Er rief:
»Cathérine! Wohin geht Ihr?«
Sie wandte sich mit einem schwachen Lächeln um.
»Ich muß einen Augenblick allein sein, mein Freund … Ich glaube, Ihr versteht das? Ich gehe nur in die Kapelle … Laßt mich!«
Sie verließ den Saal, durchschritt den Hof und das Gewölbe, das den Weg überspannte. Sie wollte sich in die dem heiligen Jakob gewidmete Kapelle begeben, die auf der anderen Seite lag. Vor dem Abendbrot hatte man ihr die große Kirche des Klosters gezeigt, aber sie hatte zuviel Gold und Edelsteine an den majestätischen Jungfrauen gefunden, zu viele befremdende Gegenstände um die liegende Steinstatue des Königs Sancho des Starken, die alles andere erdrückte. Sie wollte einen friedlichen, kleinen Ort, wo sie sich und Gott wiederfinden konnte. Die Kapelle neben einem niedrigen Grabgewölbe, in dem unterwegs gestorbene Pilger begraben lagen, schien ihr genau der richtige Ort.
Außer dem Standbild des heiligen Reisigen, vor dem eine Öllampe brannte, gab es nur einen steinernen Altar und abgetretene Fliesen. Es war kalt und feucht, aber Cathérine war jenseits aller körperlichen Empfindungen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, gestorben zu sein … Da Arnaud sie verraten hatte, gab es keinen Grund mehr für ihr Herz zu schlagen! … Für eine unbekannte Frau hatte der Mann, den sie über alles liebte, mit einem Schlag die Bande zwischen ihnen zerrissen. Und Cathérine fand, daß ein Teil von ihr, der beste, wesentliche, abgetrennt war, fand sich allein inmitten einer endlosen Wüste. Ihre Hände waren leer, ihr Herz war leer, ihr Leben zerstört.
Schwer sank sie auf dem kalten Stein in die Knie und vergrub das Gesicht in ihren zitternden Händen.
»Warum?« stammelte sie. »Warum?«
So blieb sie lange, völlig erschöpft, ohne zu denken, ohne zu beten, ohne selbst die Kälte zu spüren, die ihren Körper durchdrang. Nicht einmal Tränen hatte sie. In dieser schwarzen, eisigen Kapelle fühlte sie sich wie in einer Gruft, die sie nicht mehr verlassen wollte. Unfähig, nachzudenken, wälzte sie nur immer wieder diesen einzigen, quälenden Gedanken im Kopf: ›Er‹ hatte sie einer anderen wegen vergessen … Nachdem er ihr geschworen hatte, sie bis zum letzten Atemzug zu lieben, hatte er einer Feindin seiner Rasse, seines Gottes die Arme geöffnet … und sagte ihr jetzt zweifellos dieselben zärtlichen Worte, die Cathérine einst bebend von ihm gehört hatte … Würde sie sich jemals von diesem Gedanken lösen, dieses Bild aus ihrem Geist verbannen können? Würde sie nicht daran sterben? So versunken war sie in ihren Schmerz, daß sie die beiden festen Hände kaum fühlte, die sie hochzogen und ihr dann einen Mantel über die frierenden Schultern legten.
»Kommt, Cathérine«, sagte die kernige Stimme Jan van Eycks. »Bleibt nicht hier! Ihr werdet Euch noch den Tod holen!«
Sie sah ihn verstört an.
»Den Tod? … Aber Jan, ich bin tot! … Man hat mich getötet!«
»Redet keinen Unsinn! Kommt!«
Er drängte sie zum Ausgang, doch als sie in dem alten, von einer in die Mauer eingelassenen Fackel erleuchteten Kreuzgang angekommen war, schob sie die stützenden Hände von sich und lehnte sich an die Mauer. Der mit Wucht in den Durchgang fegende Wind zerzauste ihr das Haar, aber seine heftigen Stöße taten ihr gut. »Laßt mich, Jan, ich … ich muß Atem holen!«
»Atmet nur! Aber hört mich an, Cathérine … Ich ahne, wie Ihr leidet, aber ich verbiete Euch zu sagen, Ihr seid tot, Euer Leben sei beendet! Nicht alle Männer vergessen so leicht. Es gibt welche, die unvorstellbar lieben können.«
»Wenn Arnaud mich vergessen konnte, wer wird mir sonst treu bleiben?«
Ohne zu antworten, schnürte der Maler den Kragen seines Wamses auf und zog ein gefaltetes und versiegeltes Pergament heraus, das er der jungen Frau hinhielt:
»Da! Lest! … Ich glaube, die Stunde ist gekommen, meinen Auftrag zu erfüllen! Lest! Diese Fackel gibt genügend Licht … Lest! Ihr müßt! Es ist wichtig …«
Er schob das Pergament in die eisigen Hände der jungen Frau. Einen Augenblick drehte sie es hin und her. Es war mit schwarzem Wachs gesiegelt, in das ein fünffaches Lilienwappen eingedrückt war.
»Öffnet!« flüsterte Jan.
Sie gehorchte fast mechanisch, näherte die Augen dem Blatt, um die wenigen Worte der sehr kurzen Botschaft zu entziffern. Wie ein Kind buchstabierte sie:
»Die Sehnsucht nach Dir läßt mir weder Rast noch Ruh. Komm zurück, meine süße Liebe, und ich werde Dich um Verzeihung bitten! … Philippe …«
Cathérine hob den Kopf und traf auf den ängstlichen Blick des Malers. Mit leiser, inbrünstig überredender Stimme murmelte er: »Der hat Euch nicht vergessen, Cathérine … Ihr habt ihn verlassen, verhöhnt, beleidigt! Trotzdem liebt er Euch! Wenn man seinen unbändigen Stolz kennt, dann versteht man, was es ihn gekostet hat, diesen Brief zu schreiben, nicht wahr? Kommt mit mir zurück, Cathérine! Laßt mich Euch zu ihm zurückführen. Er hat Euch so viel Liebe zu geben, daß ihr Euren Schmerz vergeßt! Ihr werdet wieder Königin sein … und mehr noch! Kommt.«
Er versuchte, sie mitzuziehen, aber sie sträubte sich. Sanft schüttelte sie den Kopf: »Nein, Jan! Ich werde Königin sein, sagt Ihr, und noch mehr? Vergeßt Ihr die Herzogin?«
»Monseigneur liebt nur Euch. Nachdem die Herzogin ihm einen Sohn geschenkt hat, hat sie ihre Pflicht getan. Er verlangt nichts mehr von ihr.«
»Mein Stolz würde mehr verlangen! Was immer Messire Arnauds Fehler sind, trage ich noch seinen Namen und könnte mit diesem Namen nicht wie eine Gefangene an den Hof des Feindes gehen.«
»Ihr seid längst nicht mehr mit der Politik vertraut. Alles arrangiert sich, Cathérine. Bald werden König Karl VII. und Herzog Philippe Frieden schließen, daran zweifelt niemand!«
»Vielleicht! Aber ich habe einen Sohn. Ich muß ihn erziehen, wie es seinem Rang gebührt. Er soll seine Mutter nicht als anerkannte Mätresse Herzog Philippes sehen! Ich werde ihm diese vergoldete Schande nicht antun!«
»Ihr steht noch unter dem soeben erlittenen Schock. Schlaft erst ein wenig, Cathérine. Morgen ist wieder ein Tag, und Ihr werdet klarer sehen. Und Ihr werdet verstehen, daß Ihr es Euch schuldig seid, endlich das glänzende Leben zu führen, das Ihr zurückgewiesen habt. Ihr werdet unabhängige Ländereien besitzen, ein Fürstentum! Euer Sohn wird mächtiger sein, als Ihr es Euch jemals träumen ließet … Hört mich an! Glaubt mir: Der Herzog liebt Euch mehr denn je!«
Die junge Frau preßte beide Hände über die Ohren und schüttelte schmerzlich den Kopf.
»Schweigt, Jan! Heute abend möchte ich nichts mehr hören! Ich werde hineingehen … ein wenig schlafen, wenn ich kann. Verzeiht mir … Ihr könnt mich nicht verstehen.«
Die Hand zurückstoßend, die sich ihr von neuem entgegenstrecke, kehrte sie in den großen Saal zurück. Dieser war halbdunkel. Nur die Glut des herabgebrannten Feuers erhellte die überall auf dem Boden ausgestreckten Körper der schlafenden Reisenden. Cathérine sah Josse, der zusammengerollt wie eine Katze neben dem Feuerherd schlief … Nur Ermengarde, etwas abseits sitzend, war noch wach …
Als sie Cathérine auftauchen sah, erhob sie sich, aber die junge Frau gab ihr ein Zeichen, sich nicht zu bemühen. Sie wollte sich nicht unter all diese Leute mischen. Mehr als je hatte sie den zwingenden Wunsch, allein zu sein. Nicht, um über den Brief nachzudenken, den sie vor ihre Füße hatte fallen lassen, auch nicht, um ihr Schicksal zu beklagen. Diesmal wollte sie nachdenken, wollte versuchen klarzusehen … Der Ruf Philippes sollte zumindest dazu dienen, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Zu dieser Stunde mußte der Kreuzgang leer sein. Trotz der dicken Mauern hörte man undeutlich die Stimmen der in der Kapelle singenden Barmherzigen Brüder … Den Mantel fest um sich wickelnd, stieß Cathérine die niedrige, auf den Wandelgang führende Pforte auf und trat unter die schweren Arkaden hinaus, deren gebrochene Bögen durch solide Strebepfeiler verstärkt waren, um die schneebedeckten Dächer zu stützen. Das grelle Mondlicht zeichnete die strenge Architektur des Klosters vor dem Hintergrund des winterlichen Gartens ab.
Langsam schritt sie weiter, stummer Schatten unter den Schlagschatten der Arkaden. Die Bewegung tat ihr gut. Es schien, daß sie sich wieder fing, je mehr der brennende Schmerz von vorhin allmählich dem Zorn wich … Nach einer Viertelstunde entdeckte Cathérine in sich einen wütenden, herrischen Wunsch nach Vergeltung! Fortunat hatte geglaubt, sie zerbrechen zu können, indem er ihr ihren liebeskranken Gatten zu Füßen einer anderen schilderte; hatte geglaubt, ihr Furcht einjagen zu können durch seine Beschreibung des Loses christlicher Frauen im maurischen Land! Aber er kannte sie nicht! Er wußte nicht, der Unglückliche, das Cathérine jederzeit zu allem bereit gewesen war, um das Ziel zu erreichen, das sie sich gesetzt hatte; bereit, die schlimmsten Gefahren auf sich zu nehmen, zu töten, wenn nötig, selbst sich zu verkaufen, wenn es keinen anderen Ausweg gab!
Nein, sie würde ihren Gatten dieser Frau nicht überlassen! Sie hatte sich, viel zu teuer, ein Recht auf ihn erworben! Was bedeuteten auf der Waage des Schicksals das Lächeln und die Küsse dieser Ungläubigen im Vergleich zu dem schweren Gewicht ihrer Tränen, ihrer Leiden? Und wenn Arnaud geglaubt hatte, sich für immer von ihr befreien zu können, dann irrte er sich. Er hielt sie für verheiratet, gewiß, aber war das ein Grund, sie weiterhin an seine Lepra glauben zu lassen? Er hatte nur an seine Mutter gedacht, nicht einmal an seinen Sohn, und hatte sich, Reisender ohne Gepäck, munter aufgemacht, der ersten besten seine Liebe anzubieten …
»Selbst wenn ich unter der Sklavenpeitsche arbeiten muß, selbst wenn ich gefoltert werde«, murmelte Cathérine mit knirschenden Zähnen, »werde ich dorthin reiten, werde ich ihn wiederfinden! … Ich werde ihm sagen, daß ich keinen anderen Herrn als ihn habe … daß ich immer und ewig seine Frau bin. Und dann werden wir einmal sehen, wer den Ausschlag geben wird, ich oder diese Mulattin!«
Je heftiger diese Gedanken wurden, desto mehr beschleunigte Cathérine ihre Schritte. So kam es, daß sie bald den Klostergang schneller durchmaß, als sie je einen Berg erstürmt hatte. Der Mantel flatterte wie ein schwarzer Schleier hinter ihr her. »Ich werde reiten! Ich werde nach Granada reiten!« sagte sie laut. »Ich möchte wissen, wer mich daran hindern könnte!«
»Psst! Dame Cathérine!« klang eine Stimme hinter einer Säule hervor. »Wenn Ihr nach Granada reiten wollt, braucht Ihr es nicht über alle Dächer zu schreien … und Ihr müßt Euch beeilen.«
Einen Finger auf die Lippen legend, tauchte Josses hagere Gestalt neben ihr auf. Er trug ein Bündel unter dem Arm und warf von Zeit zu Zeit einen Blick zurück. Cathérine sah ihn erstaunt an.
»Ich dachte, Ihr schlaft!« sagte sie.
»Das dachten andere auch! Dame Ermengarde und Euer Freund, der Herr Maler! Sie nahmen sich nicht vor mir in acht! Und obgleich sie leise sprachen, habe ich sie verstanden …«
»Was sagten sie?«
»Sie wollten Euch, sobald alles im Rasthaus schläft und Ihr selbst Euch zur Ruhe gelegt habt, gewaltsam nach Burgund entführen!«
»Was?« hauchte Cathérine verblüfft. »Sie wollen mich … gewaltsam … entführen? Das ist ja ungeheuerlich!«
»Nein«, entgegnete Josse und lächelte sein seltsames Lächeln bei geschlossenen Lippen. »Genaugenommen ist es sogar eine freundliche Geste! Zuerst glaubte ich, sie hätten böse Absichten … wollten Euch vielleicht töten, und beinahe hätte ich nicht weiter zugehört. Aber das ist es nicht. Sie wollen Euch entführen, um Euch vor Euch selbst zu retten, gegen Euren Willen. Sie kennen Euch gut und befürchten, daß Ihr beschließt, direkt nach Granada zu reisen, wo Euch ihrer Meinung nach nur ein schrecklicher Tod ereilen würde.«
»Sie brauchen nur mitzukommen«, gab Cathérine trocken zurück. »Das würde die Gefahr vermindern. Selbst ein maurischer Fürst dürfte es sich zweimal überlegen, bevor er einen Botschafter Burgunds massakrieren läßt …«
»Der übrigens nichts bei ihm zu suchen hätte! Ich glaube nicht, daß Euer Freund ohne Anweisung seines Herrn derlei riskieren würde. Nein, Dame Cathérine. Wenn Ihr nicht nach Dijon zurückkehren wollt, wenn Ihr ihnen entwischen wollt, dann müßt Ihr fliehen … und zwar schnell!«
Einen Augenblick musterte Cathérine die unregelmäßigen Züge ihres merkwürdigen Dieners. Mißtrauen schlich sich in ihre Gedanken. Diese Geschichte – sie konnte nicht daran glauben. Sie kannte Ermengarde und Jan schon zu lange, um für möglich zu halten, daß sie ihr Gewalt antun wollten. Und was diesen Burschen da vor ihr betraf, war er alles in allem ein nicht sehr achtbarer Landstreicher, und sie wußte herzlich wenig über ihn, außer daß er flinke Finger besaß und ein sehr dehnbares Gewissen. Sie sprach ihre Gedanken ohne Umschweife aus.
»Welchen Grund sollte ich haben, Euch zu glauben? Sie sind meine Freunde, alte und treue Freunde, während …«
»Während ich nur ein Straßendieb, ein kleiner Pariser Herumtreiber bin, der nichts taugt, nicht wahr? Hört zu, Dame Cathérine. Zweimal habt Ihr mich gerettet, das erstemal unbewußt, zugegeben, aber das zweitemal sehr bewußt. Ohne Euch wäre ich im Begriff, am Galgen des Abtes von Figeac zu verfaulen. Im Hof der Wunder, bei den Gaunern und Bettlern, sind das Dinge, die man nicht vergißt. Auch wir haben einen Ehrbegriff, auf unsere Art …«
Cathérine antwortete nicht sofort. Josse konnte den Widerhall nicht ahnen, den seine Worte in ihr weckten, konnte nicht wissen, daß auch sie einmal ihr Leben und ihre Sicherheit diesem selben Hof der Wunder verdankt hatte, von dem er sprach … Schließlich sagte sie:
»Und um Eure Schuld zu begleichen, drängt Ihr mich nun, mit Euch nach Granada aufzubrechen? Ihr wißt doch, daß ich dort Schlimmeres als den Tod riskiere.«
»Nun«, meinte Josse kalt, »wenn Ihr sterbt, dann nur, weil ich vor Euch tot sein werde! … Die Zeit eilt, Dame Cathérine, entscheidet Euch! Entweder glaubt Ihr mir, und wir brechen auf, oder Ihr glaubt mir nicht … und Ihr werdet ja sehen. Ich kenne Spanien ein wenig … war schon einmal da. Ich kenne auch die Sprache ein wenig. Ich kann Euch als Führer dienen!«
»Könntet Ihr mir auch nach Burgund folgen? Das wäre zweifellos angenehmer!«
»Ich glaube nicht. Diese Leute, die Euch vor Euch selbst retten wollen, erweisen Euch einen schlechten Dienst. Sie wissen nicht, daß Ihr nicht glücklich sein könntet mit einer Reue, mit dem Bedauern im Herzen, nicht ausgeführt zu haben, was Ihr Euch vornahmt! Ich ziehe vor, Euch in die Gefahr stürzen zu sehen und sie mit Euch zu teilen, weil Ihr wie ich seid! Ihr gebt nie auf. Und ich halte Euch für fähig, die größten Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden. Ich weiß sehr wohl, was wir riskieren werden, Ihr und ich: die Sklavenpeitsche, den Tod, die Folter – und für euch, da Ihr eine Frau seid, noch mehr … aber ich glaube, es lohnt sich, das Abenteuer zu wagen und zu erleben. Ihr findet vielleicht Euren Gatten wieder, und ich treffe vielleicht auf das Glück, das mir noch nicht hold war. Es heißt, das Königreich Granada sei reich … Also? … Reiten wir? Die Pferde sind gesattelt und warten unter dem Gewölbe!«
Eine leise Hoffnung richtete Cathérine auf! Allein dieser Bursche hatte die richtigen Worte gefunden, den Zuspruch, den sie brauchte. Er war tapfer, intelligent, gewandt … Er wollte ihr helfen! Nein! Sie würde sich nicht wie ein hübsches, mit Goldfäden umwickeltes Paket Philippe von Burgund ausliefern lassen, nur weil zwei wohlgesonnene Narren glaubten, dies sei das beste Mittel, ihr zum Glück zu verhelfen! Sie warf Josse einen funkelnden Blick zu.
»Reiten wir! Ich bin bereit …«, rief sie hingerissen.
»Einen Augenblick!« sagte er, ihr das Bündel reichend. »Hier sind Männerkleider, die ich einem Soldaten gestohlen habe. Zieht sie an, und packt die Euren ein. Wir werden sie mitnehmen. Aber macht schnell … So wird man uns schwerer verfolgen können!«
Begierig griff sie nach den Kleidern, befahl Josse, Wache zu stehen, trat hinter einen Strebepfeiler und zog sich um, ohne sich um die Kälte zu kümmern. Ein wunderbarer Tatendrang feuerte sie an … In dem Augenblick, in dem sie zum Kampf antrat, konnte sie ihren ganzen Kummer vergessen! Es würde noch Zeit genug sein, sich ihm zu überlassen, wenn sie scheiterte, aber diesen Gedanken wollte sie gar nicht erst in sich aufkommen lassen, keinen Augenblick!
Und plötzlich glaubte sie, aus dem Dunkel der Zeit eine dünne, lispelnde Stimme flüstern zu hören:
»Wenn du eines Tages einmal nicht mehr weiterweißt, komm zu mir. Vor meinem kleinen Haus am Rande des Genil blühen die Zitronen- und Mandelbäume von ganz allein, und die Rosenstöcke duften den größten Teil des Jahres. Du wirst meine Schwester sein, und ich werde dich die Weisheit des Islams lehren …«
Seltsamer, getreulicher Spiegel der Erinnerung! Der Eindruck war so deutlich, daß Cathérine plötzlich vor sich die zarte Gestalt eines jungen Mannes in einer weiten blauen Robe, mit einem absurd weißen Bart und einem gewaltigen orangefarbenen Turban in Form eines riesigen Kürbisses zu sehen glaubte. Sein Name kam ihr ganz natürlich von den Lippen:
»Abu! … Abu al-Khayr! … Abu, der Arzt!«
Sie mußte schon sehr tief in ihrem Schmerz befangen gewesen sein, daß sie nicht schon früher an ihn gedacht hatte. Abu, ihr alter Freund, lebte in Granada! Er war der Arzt und Freund des Sultans! Er würde schon wissen, was zu tun war, und würde ihr helfen, dessen war sie sicher!
Von plötzlicher Freude durchdrungen, zog Cathérine sich eiligst an, wickelte ihre Kleider zu einem Bündel zusammen, das sie unter den Arm nahm, und trat wieder zu Josse.
»Brechen wir auf«, sagte sie, »brechen wir schnell auf!«
Er sah sie an, verblüfft über ihre in so wenigen Augenblicken bewirkte Verwandlung, und konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Wahrhaftiger Gott! Dame Cathérine, ihr seht aus wie ein Kampfhahn!«
»Wir werden ja kämpfen, mein Freund, mit allen Waffen, mit allen Listen und Tücken, die sich uns bieten! ich will meinen Gatten dieser Frau entreißen, oder ich werde mein Leben verlieren! Zu Pferd!«
Wie Schatten glitten Cathérine und Josse aus dem Klostergang hinaus. Die einzige Gefahr bestand in der Durchquerung des großen Saals, aber das Feuer war schon heruntergebrannt. Es gab ausgedehnte dunkle Stellen … Während sie sich mit der Vorsicht einer Katze zwischen den ausgestreckten Körpern hindurchwand, warf Cathérine, durch ihre Verkleidung gut geschützt, einen Blick zum Feuerherd hinüber. Jan van Eyck stand aufrecht davor, das Gesicht zur Glut gewandt, und unterhielt sich leise, aber lebhaft mit Ermengarde. Wahrscheinlich besprachen sie ihren Plan … Cathérine konnte sich eines Lächelns nicht enthalten und sandte ihnen ein spöttisches, stummes Lebewohl hinüber.
Langsam gelangten die beiden Flüchtlinge zur Tür. Vorsichtig öffnete Josse sie halb. Aber das leise Geräusch des Öffnens wurde von dem tiefen Schnarchen der Navarreser, die ganz in der Nähe durcheinanderschliefen, überdeckt … Cathérine glitt hinaus, und Josse folgte ihr.
»Gerettet!« flüsterte er. »Kommt schnell!«
Er ergriff ihre Hand und zog sie aus dem Hospizbereich hinaus.
Unter dem Gewölbe des Torweges standen wartend zwei Pferde, gesattelt, die Hufe mit Lappen umwickelt. Freudig streckte Josse den Arm aus und wies zum Himmel, wo sich Wolken ballten. Der Mond war schon fast völlig aufgeschluckt. Das gefährliche, allzu helle Licht nahm von Minute zu Minute ab.
»Seht! Der Himmel ist mit uns! In den Sattel, aber paßt auf! Der Weg ist holprig und gefährlich!«
»Weniger gefährlich als die Menschen im allgemeinen und die Freunde im besonderen!« entgegnete Cathérine.
Einige Augenblicke später ritten Cathérine und ihr Gefährte im kleinen, vorsichtigen Trab auf der Straße nach Pamplona. Mit einer trotzigen Gebärde grüßte die junge Frau im Vorbeireiten den riesigen Felsen, den nach der Legende das Schwert des tapferen Roland von oben bis unten gespalten hatte. Roland hatte einen Berg entzweigehauen. Sie würde noch Besseres tun! …
Josse Rallard zügelte das Pferd und streckte den Arm aus. »Das ist Burgos«, sagte er, »und die Nacht bricht an. Bleiben wir hier?«
Mit gerunzelter Stirn blickte Cathérine einen Augenblick auf die zu ihren Füßen liegende Stadt. Nach der unendlichen Einsamkeit des rauhen, vom Frost verharschten, sturmgepeitschten Hochplateaus, nach den weiten Ebenen von verwaschenem Gelb war die Hauptstadt der Könige von Kastilien enttäuschend. Eine große graugelbe Stadt, von Wällen derselben Farbe eingeschlossen und dem drohenden Massiv einer Feste beherrscht. Nichts besonders Bemerkenswertes: … Doch, eines: ein riesiger Bau, von Gerüsten umgeben, aber kunstvoll wie eine Klöppelarbeit geformt, wie ein Juwel ziseliert, der im schwachen Abendlicht wie aus rotgelber Ambra wirkte, überragte die Stadt, als wollte er sie unter seine Fittiche nehmen – die Kathedrale. Am Fuße der Wälle, überdacht von den Doppelbögen einer Brücke, floß träge und schlammig ein Fluß. All dies machte einen düster-kalten und feuchten Eindruck. Cathérine wickelte ihren dicken Reitermantel fester um sich, hob die Schultern und seufzte:
»Irgendwo müssen wir bleiben! Gehen wir also!«
Schweigend setzten die beiden Reiter ihren Weg fort, den leicht abschüssigen Hang hinunter, erreichten die Brücke, an deren Ende sich zwischen zwei mit Schießscharten versehenen Rundtürmen das Tor Santa Maria öffnete. Es war Markttag. Daher war auch die Brücke überfüllt; Bauern mit ziegelroten Gesichtern und schwarzen Bärten, mit starken Backenknochen und niedrigen Stirnen, in Ziegen- oder Schafsfelle gekleidet; Frauen in roten oder grauen Wollkleidern, die oft auf ihren von einem Schal umhüllten Köpfen irdene Töpfe oder aus Weiden geflochtene Körbe trugen; zerlumpte Bettler, barfüßige kleine Jungen mit blitzenden Augen, vermischt mit der ganzen Kavallerie der Straßen Spaniens: Eseln, Maultieren, grob gezimmerten Fuhrwerken, von denen sich gelegentlich, mit Mühe im Gleichschritt gehalten, das edle Streitroß eines Hidalgos abhob.
Cathérine und ihr Gefährte stürzten sich tapfer in das Gedränge und ließen ihre Pferde im Schritt gehen. Das pittoreske Hin und Her dieser lärmenden bunten Menge nötigte Cathérine nicht einmal einen Blick ab, ebensowenig wie die am Flußufer knienden Frauen, die mit viel Geschrei und viel Gespritze die Schafswolle der Hochebenen im gelben Wasser des Arlanzón wuschen … Seit ihrer Flucht in dunkler Nacht aus dem Hospiz von Roncevaux hatte sich die junge Frau anscheinend nicht für die zurückgelegte Route interessiert, es sei denn als Maßstab für die Zahl der Meilen, die sie noch von Granada trennten. Sie hatte ihrem Pferd Flügel gewünscht, hatte gewünscht, daß es wie sie selbst aus Stahl bestünde, um niemals anhalten zu müssen. Aber sie hatte eben doch mit den Beinen ihres Rosses, mit der Müdigkeit ihres fraulichen Körpers rechnen müssen, obgleich jede verflossene Stunde eine Leidensstation für sie bedeutete.
Die durch die Erzählung Fortunats, durch den Verrat Arnauds angestachelte Eifersucht in ihr ließ ihr weder Rast noch Ruhe. Cathérine durchliefen abwechselnd Stimmungen der Wut und der Verzweiflung, die die Strapazen des Rittes verdoppelten und sie erschöpften. Sogar in den Nächten, während der wenigen Stunden, in denen sie sich der Ruhe widmen mußte, war sie oft aufgewacht, in Schweiß gebadet, und glaubte, das Echo der ausgetauschten Liebesworte aus weiter Ferne zu hören. Sie stand dann auf, suchte die frische Luft und lief umher, bis sich ihr erregtes Blut beruhigt hatte. Am anderen Morgen brach sie mit kalten Augen und zusammengekniffenem Mund wieder auf, ohne zurückzublicken …
Nicht ein einziges Mal hatte sie sich über diejenigen, die sie zurückgelassen hatte, oder über eine eventuelle Verfolgung Gedanken gemacht. Was interessierten sie Jan van Eyck, Herzog Philippe von Burgund oder selbst die ungeschickte und tapfere Ermengarde de Châteauvillain? Von jetzt an war ihre Welt durch sieben Buchstaben, die den Namen Granada bildeten, und Josse Rallard begrenzt, den fremden Knappen, der ihr sklavisch ergeben war. Er hatte ihr versprochen, sie ins Königreich der maurischen Sultane zu führen, er hielt Wort, ohne zu versuchen, den Wall des Schweigens zu durchbrechen, mit dem Cathérine sich umgab.
Nachdem sie die Porta Santa Maria durchritten hatten, befanden sich die beiden Reisenden auf einem mit großen, runden Kieseln gepflasterten und an drei Seiten von Häusern mit Arkaden eingesäumten Platz, während die vierte Seite von der Kathedrale eingenommen wurde. Auch hier wimmelte es von Volk, besonders um die großen Körbe der Bauern herum, die, auf dem Boden sitzend, die wenigen Erzeugnisse ihres Landes zum Verkauf anboten.
Ein Zug von Mönchen, die mit voller Stimme eine Litanei sangen, verschwand hinter einer Kirchenfahne her in die Kathedrale, und hier und da schlenderten in Gruppen zu zweien oder dreien Soldaten durch die Menge.
»Es gibt etwas weiter ein dem heiligen Lesmes geweihtes Pilgerhospiz«, sagte Josse, sich an Cathérine wendend. »Wollt Ihr dahin gehen?«
»Ich gehöre nicht mehr zu den Pilgern«, antwortete Cathérine trocken. »Und da sehe ich eine Herberge … gehen wir hin.«
Tatsächlich öffnete einige Schritte von den Reisenden entfernt die direkt an die Stadtmauer angelehnte Herberge zu den Drei Königen ihre niedrige Pforte unter einer schwarzen Holzarkade. Cathérine stieg ab und ging entschlossen darauf zu, hinter ihr Josse, der die beiden Pferde am Zügel führte.
Sie wollten gerade in die Herberge treten, als die Menge, bis dahin zwar lärmend, aber relativ friedlich, plötzlich wie mit einer einzigen Bewegung heulend dem Stadttor zustürmte. Es war ein so heftiger und wilder Ausbruch, daß er den Nebel der Gleichgültigkeit durchdrang, in den Cathérine sich hüllte.
»Was tun die da?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht! Ich glaube verstanden zu haben, daß sie irgend etwas entgegenstürzten, etwas, das sie erwarteten … Vielleicht dem König, der auf sein Schloß zurückkehrt …«
»Wenn es weiter nichts ist …«, seufzte Cathérine, die Pomp, selbst königlicher Pomp, noch weniger interessierte als alles übrige. Trotzdem betrat sie die Herberge nicht. Ja, sie ging langsam in Richtung der Porta Santa Maria zurück, aus der ein seltsamer Zug auftauchte, vor dem die Menge jetzt zurückflutete. Auf dem holprigen Pflaster schwankend, näherte sich langsam ein Bauernkarren inmitten einer Gruppe lanzenbewehrter Reiter. Auf diesem Karren war ein aus dicken Holzlatten gefertigter und mit festen Eisenbändern umgebener Käfig. Und in diesem Käfig war ein angeketteter Mann.
Man sah nur seinen unförmig zusammengekauerten Körper. Die Enge des Käfigs gestattete ihm nicht, aufrecht zu stehen. Er saß da, den Kopf in den auf die Knie gestützten Armen verborgen, zweifellos, um sich gegen die Wurfgeschosse aller Art abzuschirmen, die die Bevölkerung mit wütenden Schreien gegen ihn schleuderte. Kohlstrünke, Pferdeäpfel und vor allem Steine regneten ohne Unterlaß auf den Käfig hinunter, aber die Masse Mensch, denn der Mann mußte ziemlich groß sein, zuckte nicht. Er sah erdfarben aus, so schmutzig war er, und man konnte weder die wirkliche Farbe seines Haars noch die seiner Haut unterscheiden. Graue, schmutzige Lumpen bedeckten ihn, doch an seinem Kopf konnte man das dunkle Mal einer frischen Verwundung sehen.
Die Menge schrie immer lauter, und die Wachen mußten von ihren Lanzen Gebrauch machen, um sie zurückzudrängen, sonst hätte sie den Käfig gestürmt. Fasziniert betrachtete Cathérine diese aufrührerische Szene, ohne ihren Blick abwenden zu können. Mitleid für den Unglücklichen in seinem jammervollen Zustand, auf den die Plebs sich stürzte, stieg in ihr auf. »Mein Gott!« murmelte sie, laut denkend. »Was hat dieser Unglückliche getan?«
»Verschwendet Euer Mitleid nicht, mein junger Herr«, bemerkte neben ihr eine Stimme mit starkem, schwerfälligem Akzent. »Es handelt sich nur um einen der verfluchten Straßenräuber, die die Berge von Oca im Osten dieser Stadt unsicher machen … Es sind blutgierige Wölfe, die stehlen, plündern, verbrennen und ihre Gefangenen einem schrecklichen Tod ausliefern, wenn sie kein Lösegeld zahlen können.«
Überrascht wandte sich Cathérine um. Es war ein Mann in den Vierzigern mit offenem und energischem Gesicht, das von einem blonden Bart schmeichelnd eingerahmt wurde, und mit einem Paar blauer, ehrlicher Augen. Aber die Gestalt war kräftig und stolz. Man konnte die starken Muskeln unter dem Rock aus grober brauner Wolle ausmachen, der von dem feinen weißen Staub bedeckt war, der die Steinmetzen charakterisiert. Das offene Lächeln, das er ihr bot, gefiel Cathérine.
»Wie kommt es, daß Ihr unsere Sprache sprecht?« fragte sie. »Ich spreche sie ziemlich schlecht, verzeiht mir«, erwiderte der Mann lachend, »aber ich verstehe sie ganz gut. Ich heiße Hans von Köln und bin Baumeister der Kathedrale«, fügte er hinzu, indem er auf die Gerüste, die das Gebäude umgaben, deutete.
»Aus Köln?« fragte die junge Frau erstaunt. »Was hat Euch denn so weit von Eurem Land fortgeführt?«
»Der Erzbischof von Karthagena, den ich während des Konzils in Basel vor drei Jahren kennenlernte. Aber Ihr, Ihr seid auch nicht von hier …«
Eine leise Röte überflog Catherines Wangen. Sie war auf diese Frage nicht gefaßt und hatte keine Antwort darauf bereit.
»Ich … ich heiße Michel de Montsalvy«, entgegnete sie überstürzt, um mit ihrer männlichen Kleidung im Einklang zu bleiben. »Ich reise in Begleitung meines Knappen, um das Land kennenzulernen!«
»Es heißt, Reisen bilde die Jugend. Das beweist, daß Ihr nicht unverfroren oder noch sehr unschuldig seid, denn diese Gegend hat nichts Angenehmes an sich. Die Natur ist rauh, und die Menschen sind Halbwilde …«
Er unterbrach sich. Die Menge war plötzlich in tiefes Schweigen gefallen, so daß man das dumpfe Stöhnen des angeketteten Mannes hören konnte.
Ein Trupp Stadtknechte näherte sich, angeführt von einem ganz in Schwarz gekleideten Mann mit strenger Miene, der auf einem kräftigen Andalusier ritt. Im flackernden Licht der Fackeln nahmen die kalten Züge des Ankömmlings den Ausdruck unerbittlicher Härte an. Langsam ritt er inmitten der schweigenden Menge auf den Käfig zu.
»Das ist der Alkalde Don Martin Gomez Calvo!« flüsterte Hans ängstlich und respektvoll. »Ein schrecklicher Mann! Unter seiner hochmütigen Maske verbirgt er eine Wildheit, schlimmer noch als die der Banditen von Oca.«
Tatsächlich wich die Menge vor ihm mit einer Eile zur Seite, die ihre Furcht offenbarte. Die Stadtknechte seines Gefolges hatten es nicht nötig, ihre Waffen zu gebrauchen; das Volk schien so viel Entfernung zwischen sich und den gefährlichen Mann bringen zu wollen, wie es nur konnte.
Im Schritt ritt Don Martin um den Käfig herum, dann zog er seinen Degen und stach den Gefangenen mit der Spitze. Der Gefesselte hob den Kopf und zeigte sein von einem wirren Bart umgebenes Gesicht. Ohne eigentlich zu wissen, warum, überkam Cathérine ein Schaudern, und sie trat, magnetisch angezogen, einige Schritte vor.
In der Stille hörte man jetzt den Gefangenen klagen.
»Ich habe Durst!« stammelte er auf französisch. »Durst!«
Das letzte Wort hatte er hinausgeschrien, und dieser Schrei überdeckte den, der sich mit unwiderstehlicher Gewalt Catherines Kehle entrang.
»Gauthier!«
Sie hatte sofort die Stimme ihres verlorenen Freundes erkannt, und das dichte, wirre Haar konnte ihr seine Züge nicht mehr verbergen. Wahnsinnige Freude überkam sie, ließ sie sogar das tragische Los des Gefangenen vergessen. Sie wollte zu ihm, aber die schwere Hand des Baumeisters legte sich auf ihre Schulter und nagelte sie auf der Stelle fest.
»Haltet Euch ruhig, um Himmels willen! Seid Ihr verrückt?«
»Das ist kein Bandit! Es ist mein Freund … Laßt mich zufrieden!«
»Dame Cathérine! Ich flehe Euch an!« mischte sich Josse ein, sich ihrer anderen Schulter bemächtigend. Hans zuckte zusammen.
»Dame Cathérine?«
»Ja«, rief Cathérine wütend, »ich bin eine Frau … die Gräfin Montsalvy! Was hat das schon zu besagen?«
»Sehr viel! Es ändert alles!«
Und ohne viel Federlesens griff sich der Baumeister Cathérine wie ein einfaches Paket, nahm sie unter den Arm, legte ihr die große Hand auf den Mund, um die junge Frau am Schreien zu hindern, und beförderte sie so zu einem hinter dem Kreuzgang der Kathedrale gelegenen niedrigen Haus, dessen Tür er mit dem Fuß aufstieß.
»Folgt uns mit den Pferden!« hatte er Josse zugerufen, während er sich in die Menge stürzte. Man beachtete ihn gar nicht. Aller Blicke waren auf den Alkalden und den Gefangenen gerichtet. Während sie den Platz überquerte, hörte Cathérine den hohen Beamten mit hochmütiger Stimme Befehle geben, die sie aber nicht verstand. Sie war sich lediglich des zufriedenen Murmelns des Volkes und der fast wonnigen Seufzer bewußt, die sich allen entrangen … Die Völker aller Länder ähneln sich, und Cathérine erriet, daß der Alkalde ihnen ein besonderes Schauspiel versprochen haben mußte.
»Was hat er gesagt?« wollte sie fragen, aber Hans' Hand erstickte ihre Worte. Er ließ sie auch nicht los. Nachdem sie in den dunklen, geräumigen Flur getreten waren, wandte der Deutsche sich an Josse, der hinter ihm eintrat:
»Schließt die Tür!« befahl er. »Und kommt!«
Der Gang öffnete sich auf einen Innenhof, in dem Steinblöcke aufgehäuft waren, und unter einer gedeckten Galerie bemerkte man einige roh zugehauene Statuen von Heiligen. Ein an einem Holzpfeiler aufgehängter Feuertopf gab etwas Licht, dessen Schein bis zum Rande eines alten römischen Brunnens in der Mitte des Hofs reichte. Dort angekommen, zeigte Hans Josse einen anderen Pfeiler, an dem dieser die Pferde festbinden konnte, und stellte dann Cathérine ziemlich unsanft auf die Füße.
»So!« sagte er befriedigt. »Jetzt könnt Ihr schreien, soviel Ihr wollt!«
Halb erstickt und rot vor Zorn, wollte sie ihm wie eine fauchende Katze ins Gesicht springen, aber er packte sie an den Handgelenken und hielt sie ohne Gewalttätigkeit fest.
»Ich befehle Euch, mich gehenzulassen!« schrie sie. »Für wen haltet Ihr Euch? Wer oder was hat Euch erlaubt, mich derart zu behandeln?«
»Die einfache Tatsache, daß Ihr mir sympathisch seid! Junger Herr oder Dame Cathérine, wie Ihr wollt, wenn ich Euch hätte gewähren lassen, wärt Ihr zu dieser Stunde überwältigt, von einem Dutzend Stadtknechte umgeben, gefesselt, in diesem Zustand ins Gefängnis gebracht und dort der Willkür des Alkalden ausgeliefert! Was wärt Ihr dann Eurem Freund noch nütze?« Catherines Zorn verebbte in dem Maße, wie der Baumeister seine klugen Worte von sich gab. Trotzdem wollte sie sich nicht so schnell geschlagen geben.
»Es hätte keinen Grund gegeben, mich einzusperren. Ich bin eine Frau, wie man Euch sagte, ich bin keine Kastilianerin, sondern treue Untertanin König Karls von Frankreich und Edeldame der Königin Yolande, geboren in Aragon, obendrein …Da!« rief sie, in ihren Almosenbeutel greifend und den gravierten Smaragd der Königin herausziehend. »Hier ist der Ring, den sie mir geschenkt hat … Zweifelt Ihr immer noch? Der Alkalde könnte sich nicht weigern, mich anzuhören!«
»Und wenn Ihr die Königin Yolande in Person wäret, könntet Ihr nicht sicher sein, diesen Klauen lebend zu entrinnen, um so weniger, als die Familie Aragon in Kastilien schlecht angesehen ist! Dieser Mann ist ein wildes Tier! Wenn er eine Beute in den Krallen hat, läßt er sie niemals wieder frei! Und was das Juwel betrifft, so würde es nur seine Begehrlichkeit wecken. Don Martin würde sich seiner bemächtigen und Euch in ein stinkendes Loch werfen lassen, bis Euer Freund hingerichtet ist.«
»Das würde er nicht wagen! Ich bin von Adel und Ausländerin! Ich könnte mich beschweren …«
»Bei wem? König Johann und sein Hof sind in Toledo. Und selbst wenn sie hier wären, würde Euch das gar nichts nützen. Der Herrscher von Kastilien ist ein Waschlappen, den jede Entscheidung ermüdet. Nur einer könnte Euch ein günstiges Ohr leihen: der wahre Herr des Königreichs, der Konnetabel Alvaro de Luna!«
»Dann werde ich zu ihm gehen …«
Hans hob die Schultern, holte einen auf einem Hocker stehenden Krug Wein und füllte drei Becher, die er zum Brunnen brachte.
»Wie wollt Ihr das anstellen? Der Konnetabel führt an den Grenzen Granadas Krieg. Der Alkalde und der Erzbischof sind die Herren der Stadt.«
»Dann werde ich den Erzbischof aufsuchen … Sagtet Ihr mir nicht, er sei es gewesen, der Euch hierhergebracht habe?«
»O doch. Monseigneur Alonso ist ein gerechter und guter Mensch, aber leidenschaftlicher Haß bringt ihn in Gegensatz zu Don Martin. Es würde genügen, wenn er um die Begnadigung Eures Freundes bäte, damit der Alkalde sie verweigerte. Versteht: Der eine hat die bewaffnete Streitmacht, während der andere nur über Mönche gebietet. Don Martin weiß das genau … und mißbraucht diese Lage. Aber seht selbst … Zuvor trinkt jedoch ein wenig Wein. Ihr werdet es nötig haben.«
Die Sanftheit des Tons überraschte Cathérine. Sie hob die Augen, und ihr Blick kreuzte den dieses ruhigen Mannes, der ihr Wein anbot. Ein Unbekannter, der sich als Freund betrug – und instinktiv suchte sie nach dem Grund. Spontane Sympathie? Zweifellos, aber auch die Bewunderung, die sie in den Augen der Männer zu lesen gewohnt war. Sie kannte ihre Macht, und offenbar würde dieser hier ihr nicht entrinnen. Mechanisch führte Cathérine den Zinnbecher an die Lippen. Der herbe und starke Wein erwärmte sie und tat ihr gut. Sie leerte den Becher bis zur Neige und reichte ihn Hans zurück. »Also … was soll ich sehen?«
Sie folgte ihrem Gastgeber in einen niedrigen, feuer- und lichtlosen Raum, in dem Strohsäcke mit Decken in einer Reihe ausgebreitet lagen. Ein kleines, durch zwei dicke, kreuzweise angeordnete Stangen vergittertes Fenster ging auf den Platz hinaus. Der Raum war erfüllt von Schweiß- und Staubgeruch.
»Die Arbeiter, die ich mitbrachte, schlafen hier«, erklärte Hans. »Aber im Augenblick sind sie alle auf dem Platz … Schaut mal durchs Fenster!«
Draußen hatten Lärm und Gelächter wieder eingesetzt. Cathérine bückte sich. Was sie sah, entrang ihr einen Ruf der Verblüffung. An einer der mächtigen Hebewinden, die auf den Türmen der Kathedrale angebracht waren, um die Steine hinaufzuhieven, war der große Käfig an der Kirche hochgezogen worden und schwebte jetzt auf der Höhe der dritten Etage. Unten hatte sich die gaffende Menge versammelt und versuchte, den Gefangenen mit allem, was ihr in die Hände fiel, zu treffen … Cathérine wandte sich um und begegnete dem Blick des Baumeisters, der auf ihre Reaktion lauerte.
»Warum hat man ihn da hinaufgezogen?«
»Um die Menge zu belustigen. So wird sie bis zur Stunde der Einrichtung die Leiden des Gefangenen genießen können, denn, wohlverstanden, man wird ihm weder zu trinken noch zu essen geben …«
»Und … wann?«
»Die Hinrichtung? In acht Tagen!«
Cathérine stieß einen Entsetzensschrei aus, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»In acht Tagen? Aber bis dahin wird er längst tot sein …«
»Nein«, sagte hinter ihnen die rauhe Stimme Josses. »Der schwarzgekleidete Mann hat gesagt, der Bandit habe Bärenkräfte und halte es bis zur Hinrichtung, die ihm bevorstehe, gut aus …«
»Und wie wird diese Hinrichtung aussehen?« fragte Cathérine mit trockener Kehle.
»Warum sollen wir es ihr sagen?« wandte Hans ein. »Es wird genügen, wenn sie es am selben Tag erfährt.«
»Dame Cathérine kann den Dingen ins Auge sehen, Kamerad«, entgegnete Josse kühl. »Bilde dir nicht ein, daß du ihr etwas verbergen kannst!« Und sich an die junge Frau wendend: »In acht Tagen wird man ihn lebend abhäuten. Die Haut dieses außerordentlichen Mannes soll zur Bekleidung eines Standbildes Christi dienen. Den Rest wird man dann auf den Scheiterhaufen werfen.«
Vor Grauen sträubten sich Cathérine die Haare. Sie mußte sich an die Wand lehnen, so übel wurde ihr, und sie preßte die Hand auf den Magen. Elans wollte sie stützen, doch sie stieß ihn zurück.
»Nein, laßt. Es geht vorüber …«
»Hattest du es nötig, ihr das zu sagen?« brummte der Deutsche.
»Er hat recht getan … Josse kennt mich.«
Sie ließ sich auf einen der Strohsäcke fallen und stützte den Kopf in die Hände. Die erbarmungslose Epoche, in der sie lebte, die Schrecken des Krieges, die sie ohne Unterlaß erlebt hatte, waren ihr zu vertraut, als daß sie sich so leicht aufregte, aber das, was sie eben gehört hatte, überstieg jede Vorstellung.
»Sind diese Leute denn wahnsinnig? Oder bin ich's? … Kann man sich eine solche Barbarei überhaupt ausdenken?«
»Bei den Mauren, die Granada besetzt halten, kann man noch Schlimmeres sehen«, sagte Josse traurig. »Ich stelle fest, daß man in diesem Land noch blutgieriger ist als anderswo …« Cathérine hörte nicht mehr zu. Sie fragte, wie um die Bedeutung eines Christusbildes besser zu verstehen, ob eine solche Entweihung, eine solche Freveltat überhaupt möglich sei.
»Es gibt in der Kathedrale bereits eine Bildsäule dieser Art«, sagte der Baumeister ruhig. »Kommt jetzt! Bleibt nicht hier. Es ist kalt, und die Männer kommen bald zurück …«
Sanft nahm er sie am Arm, führte sie durch den Innenhof und in eine große Küche, die ganz hinten lag und die gesamte Länge des Hauses einnahm. Dort brannte ein Feuer unter einem rußigen schwarzen Kochtopf, dem ein höchst angenehmer Duft entströmte. Eine auf einem Hocker neben einem Faß sitzende alte Dienerin schlief tief, die Hände auf die Knie gelegt, mit geöffnetem Mund. Hans wies mit dem Kopf auf sie und hieß Cathérine, sich auf eine Bank zu setzen.
»Sie heißt Urraca. Und sie ist stocktaub! Wir können sprechen …« Er schüttelte die Alte, die die Augen aufschlug, sofort in einen Wortschwall ausbrach und, ohne die beiden Reisenden überhaupt zu beachten, sich daranmachte, den Topf auszuhaken, um ihn auf den Tisch zu stellen. Dann zog sie aus einer Truhe Näpfe aus Holz und füllte sie mit überraschender Schnelligkeit mit Suppe. Dies getan, kehrte sie wieder zu ihrem Hocker zurück, um zu schlafen. Hans gab Cathérine einen Napf in die Hände, bediente Josse und ließ sich mit dem seinen neben ihnen nieder.
»Eßt zuerst!« riet er, auf Catherines Napf deutend, die, von dem Gehörten überwältigt, keine Bewegung gemacht hatte. »Eßt! Danach werdet Ihr klarer sehen.«
Sie setzte den Napf mit der dicken Suppe aus Speck und Mehl an die Lippen, verbrannte sich und schnitt eine Grimasse. Das Gefäß auf den Tisch zurückstellend, betrachtete sie nacheinander ihre beiden Gefährten.
»Ich muß Gauthier retten! Ich könnte nicht mehr leben, wenn ich ihn auf diese schreckliche Weise zugrunde gehen ließe.« Ihre Worte fielen in das Schweigen. Hans fuhr ruhig fort zu essen, ohne zu antworten. Als er fertig war, schob er seinen Napf zurück, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und murmelte: »Dame, ich möchte Euch nicht widersprechen. Zweifellos war dieser Mann Euer Diener, Euer Freund vielleicht, aber die Zeit kann die Herzen verwandeln. Die Räuber von Oca sind furchtbare Geschöpfe, und dieser Mann war bei ihnen. Seine Seele wurde durch ähnliche Verbrechen, wie sie sie begingen, belastet. Warum wollt Ihr Euer Leben für einen dieser Verfluchten aufs Spiel setzen?«
»Ihr versteht das nicht! Ihr begreift nichts! Wie könntet Ihr auch? Kennt Ihr denn Gauthier? Wißt Ihr, was für ein Mensch er ist? Nehmt zur Kenntnis, Meister Hans: Es gibt im ganzen Königreich Frankreich niemand mit einem besseren Herzen, mit einer treueren Seele als ihn. Es sind erst einige Monate her, daß ich ihn verloren habe, und ich weiß, daß er sich weder für Gold, noch um seine Haut zu retten, in dieser Hinsicht geändert hat. Hört weiter, dann könnt Ihr urteilen!«
In wenigen einfachen Sätzen, ohne irgendwelche sensationellen Wirkungen erzielen zu wollen, schilderte sie dem Deutschen das Leben Gauthiers in ihrer Nähe, wie er sie beschützt, viele Male gerettet hatte, wie er aufgebrochen war, um Arnaud zu suchen, wie er schließlich in einer Schlucht der Pyrenäen verschwunden war. Hans hörte ihr wortlos zu.
»Versteht Ihr jetzt?« fragte sie schließlich. »Versteht Ihr, daß ich ihn unmöglich sterben lassen kann? Und ganz besonders nicht diesen schrecklichen Tod.«
Noch einen Augenblick schwieg Hans, seine Hände mit einer mechanischen Bewegung öffnend und schließend. Schließlich hob er den Kopf:
»Ich habe verstanden! Ich werde Euch unterstützen!«
»Warum solltet Ihr uns helfen?« fuhr Josse mit jäher Heftigkeit dazwischen. »Wir sind für Euch Unbekannte, und Ihr habt keinen Grund, Euer Leben für Unbekannte aufs Spiel zu setzen! Das Leben hat auch sein Gutes. Es muß Euch doch etwas daran liegen. Außer Ihr hofft, den Smaragd der Königin zu gewinnen …«
Hans stand so plötzlich auf, daß die Bank, auf der er gesessen hatte, mit lautem Krach hinter ihm umfiel. Er war hochrot geworden, und seine geballte Faust hob sich bis zu Josses Nase. »Sag das noch einmal, Freundchen, und ich schlage dich in Klumpen! Hans von Köln hat sich niemals für seine Dienste bezahlen lassen, merke dir das!«
Cathérine warf sich heftig zwischen die beiden Männer und zog mit ihrer kleinen Hand sanft die Josse bedrohende Faust zurück, die dieser übrigens völlig kaltblütig betrachtete.
»Verzeiht ihm, Meister Hans! Es ist heutzutage schwer, dem erstbesten Vertrauen zu schenken, aber ich glaube Euch. Es gibt zwei Augen, die sich nicht täuschen, und Ihr hättet nicht so gehandelt, wenn Ihr einen Hintergedanken gehabt hättet. Aber in gewissem Sinne hat Josse doch recht. Weshalb wollt Ihr Euer Leben für uns aufs Spiel setzen?«
Je länger die junge Frau sprach, desto mehr hatte Hans' Gesicht seine normale Farbe wieder angenommen. Als sie geendet hatte, widmete er seinem Gegner eine Grimasse, die zur Not als eine Art Lächeln gelten konnte. Dann zuckte er mit den Schultern und erwiderte:
»Wie soll ich das wissen? Sicherlich, weil Ihr mir gefallt, aber auch für mich selbst! Dieser Gefangene kommt aus dem Norden wie ich, wie Ihr. Und dann fängt er an, mich zu interessieren. Ich habe keine Lust, ihn von diesen blutrünstigen Tieren wie auf der Schlachtbank in Stücke schneiden zu lassen. Ich glaube, ich könnte danach nicht mehr ruhig schlafen. Und schließlich … hasse ich den Herrn Alkalden, der einem meiner Leute unter dem Vorwand, er habe gestohlen, die Hand hat abschlagen lassen. Mit Vergnügen würde ich ihm einen Streich spielen …«
Er ging in den Hintergrund des Raums, zog aus einer Ecke eine zusammengerollte Matratze und breitete sie nicht weit vom Feuer aus. »Legt Euch hier nieder und versucht, ein wenig zu schlafen«, sagte er, zu Cathérine gewandt. »In den dunklen Stunden nach Mitternacht werden wir auf die Türme steigen und versuchen, an den Käfig zu gelangen.«
»Glaubt Ihr, wir werden ihn befreien können?« fragte Cathérine mit hoffnungsvoll blitzenden Augen.
»Heute nacht? Das glaube ich nicht. Man muß sehen, wie das alles von oben aussieht, und man muß die Flucht auch vorbereiten. Aber vielleicht werden wir ihm etwas zu essen und zu trinken geben können!«
Die Stimme des Nachtwächters hatte schon geraume Zeit Mitternacht ausgerufen, als die Tür der Werkstatt sich geräuschlos öffnete, um drei Schatten, zwei große und einen kleinen, durchzulassen. Außer den am Fuße der Türme wachestehenden Soldaten war keine Menschenseele auf dem Platz. Nur eine Katze flitzte vor den nächtlichen Spaziergängern davon … Cathérine, Josse und Hans glitten in den Schatten des Kreuzgangs der Kathedrale in Richtung auf das Seitenportal del Sarmental, zu dessen kleiner Tür Hans einen Schlüssel besaß. Er baute nämlich eine Kapelle neben diesem Portal. Den Atem anhaltend, schritten sie langsam weiter, sorgfältig achtgebend, daß sie nicht über die Steine am Boden stolperten. Unter dem Arm trug Josse einen Krug Wasser, während Hans eine Speckseite und einen kleinen Laib Weißbrot bei sich hatte. Nur Cathérine trug nichts. Sie ging, die Augen auf den Boden geheftet, und wagte nicht, den Kopf zu dem dunklen Käfig zu heben, der sich in der klaren Nacht abzeichnete.
»Achtung!« warnte Hans, als sie das Portal über einen Treppengang erreichten. »Kein Geräusch in der Kirche. Sie hallt wie eine Trommel wider, und es sind immer zwei betende Mönche da. Sie lösen sich die ganze Nacht über ab. Gebt mir Eure Hand, Dame Cathérine, ich werde Euch führen.«
Sie schob ihre Hand in die rauhe Pranke des Baumeisters und ging folgsam mit, während Josse den Saum ihres Mantels ergriff. Die kleine, in das hohe Portal eingelassene Tür knarrte unter der vorsichtigen Hand Hans' nicht. Die drei bemerkten im Chor die beiden betenden Mönche, die auf den Fliesen knieten und deren Tonsuren das gelbe Licht einer einzigen Öllampe reflektierten. Man hörte nur das Murmeln der beiden Stimmen, die sich in einem monotonen Singsang antworteten.
Hans bekreuzigte sich schnell. Dann zog er seine Gefährten durch die Kapelle, die sich im dichten Schatten der Pfeiler öffnete. Sie glitten wie Geister zur Treppe des Turms. Aber dort war es stockfinster. Hans schloß die Tür und schlug dann Feuer. Fackeln lagen auf der Erde bereit.
Er zündete eine von ihnen an, hob sie über dem Kopf empor, um die Wendeltreppe zu beleuchten.
»ich werde sie wieder auslöschen, wenn wir oben angelangt sind!« sagte er. »Schnell jetzt …«
Einer hinter dem anderen, stiegen sie die schmale Treppe hinauf, tasteten sie sich nach oben. Als Hans die Fackel mit dem Fuß austrat, waren alle außer Atem, so schnell waren sie hinaufgestiegen. Die scharfe Luft schlug Cathérine ins Gesicht. Man trat ins Freie, doch obgleich die Nacht klar und sternenübersät war, brauchten sie einige Zeit, um ihre Augen daran zu gewöhnen.
»Paßt auf, daß Ihr nicht fallt«, warnte Hans. »Es liegen überall Steine und Bohlen herum.«
Man befand sich tatsächlich auf der Hauptbaustelle des Deutschen, der über den viereckigen Türmen mit Blumenzierat versehene Spitzendächer errichtete, die seiner Begabung alle Ehre machten. Die riesige Winde hob sich mit ihrem großen Eichenrad gegen den Himmel ab, und Cathérine betrachtete sie mit dem Entsetzen, das man gegenüber einem Folterwerkzeug empfindet.
Von der bedachten Hand Hans' geführt, kam sie bis zu dem durchbrochenen Geländer des Turms und beugte sich vor. An dem dicken Tau der Winde aufgehängt, pendelte ihr der Käfig sanft entgegen, genau unter ihr. Zwischen den Bohlen, aus denen er bestand, konnte sie den Gefangenen sehen. Mit erhobenem Kopf betrachtete er den Himmel, aber eine unaufhörliche Klage entrang sich seinen Lippen, so schwach, daß Cathérine vor Qual schauderte. Sie wandte Hans einen flehentlichen Blick zu.
»Man muß ihn hochziehen, ihn aus diesem Käfig herausholen, und das sofort! Er ist verwundet!«
»Ich weiß, aber es ist nicht möglich, ihn heute nacht hochzuziehen. Die Winde knarrt fürchterlich. Wenn ich versuchte, sie in Betrieb zu setzen, würde ich die Aufmerksamkeit der Soldaten wecken. Wir würden nicht weit kommen.«
»Könntet Ihr nicht dafür sorgen, daß sie nicht knarrt?«
»O ja. Man müßte sie einfetten und ölen, aber das kann man nicht in dunkler Nacht bewerkstelligen. Außerdem, wie ich Euch schon sagte, muß die Flucht dieses Mannes gut vorbereitet werden. Im Augenblick werden wir versuchen, ihm zu helfen. Ruft ihn an … aber leise. Wir dürfen die Soldaten nicht aufmerksam machen.«
An Josses Gürtel geklammert, beugte Cathérine sich vor, bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor, und rief leise:
»Gauthier! … Gauthier! … Ich bin's! Cathérine …«
Der Gefangene drehte langsam den Kopf zu ihr, aber nichts in seinem Verhalten deutete auf Überraschung hin.
»Ca…thé…rine?« sagte er mit einer Stimme, die aus einem Traum zu kommen schien. Und dann nach einem Augenblick, währenddessen die junge Frau ihre eigenen Herzschläge zählen konnte: »Ich habe Durst!«
Catherines Herz krampfte sich vor Kummer zusammen. War er bereits so schwach, daß die Worte ihn nicht mehr erreichten, daß er sie nicht mehr verstehen konnte? Sie unternahm noch einmal einen verzweifelten Versuch.
»Gauthier! Ich flehe dich an! Antworte mir! Sieh mich an! ich bin Cathérine de Montsalvy!«
»Wartet einen Augenblick«, flüsterte Hans, sie zurückziehend. »Geben wir ihm zuerst zu trinken. Dann werden wir sehen!«
Flink befestigte er den schmalen Hals des Krugs an einer langen Holzstange, die er über das Geländer schob und langsam in der, Käfig hinunterließ, bis der Krug die Hände des angebundenen Mannes berührte, der, die Augen noch immer erhoben, nichts zu sehen schien.
»Da, Freund!« befahl er. »Trinke!«
Die Berührung des irdenen Wassertopfes schien bei dem Gefangenen eine wahre Erschütterung hervorzurufen. Er ergriff ihn mit einem dumpfen Brummen und begann gierig zu trinken, in großen Schlucken, wie ein Tier an der Tränke. Der Krug wurde bis auf den letzten Tropfen geleert. Als nichts mehr drin war, ließ Gauthier ihn los und schien wieder in seine Erstarrung zurückzufallen. Cathérine murmelte bedrückt:
»Er erkennt mich nicht! Er scheint nur zu hören.«
»Das ist zweifellos das Fieber«, erwiderte Elans. »Er hat eine Kopfverwundung. Versuchen wir jetzt, ihn zu bewegen, etwas zu essen.«
Die kräftigende Nahrung hatte denselben Erfolg wie das frische Wasser, aber der Gefangene blieb gegenüber den Rufen und flehentlichen Bitten Catherines nicht weniger taub. Er hob die Augen zu ihr auf, sah sie an, als wäre sie durchsichtig, und wandte sich dann ab.
Von seinen Lippen drang eine Art monotonen Gesangs, langsam, undeutlich und unbewußt halb gesprochen, der Cathérine in Schrecken versetzte.
»Mein Gott! … Ist er wahnsinnig?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Hans ermutigend, »aber ich sagte Euch ja: Er muß im Delirium sein. Kommt, Dame Cathérine, im Augenblick könnt Ihr nichts mehr für ihn tun. Wir gehen jetzt zurück. Morgen, im Laufe des Tages, werde ich Mittel und Wege finden, die Winde zu schmieren, damit sie nicht mehr knarrt. Morgen nacht können wir ihn vielleicht hochziehen.«
»Aber werden wir es überhaupt fertigbringen, ihn aus der Stadt herauszuschmuggeln? Die Tore scheinen stark und gut bewacht.«
»Alles zu seiner Zeit! Auch da habe ich eine Idee …«
»Mit einem guten Seil«, meinte Josse, der seit dem Betreten der Kirche kein Wort gesprochen hatte, »kann man sich immer an einem Wall hinunterlassen.«
»Jawohl … schlimmstenfalls! Aber ich habe vielleicht einen besseren Gedanken. Ein Baumeister lernt vieles, einfach dadurch, daß der die Augen aufmacht. Also, jetzt müssen wir wieder hinunter.«
Nach einem letzten Blick auf den Mann im Käfig ließ Cathérine sich zur Treppe führen. Im dunklen Schiff der Kathedrale sprachen die Mönche immer noch ihre Gebete. Sie hatten nicht einmal geahnt, daß die drei vorübergegangen waren. Die Pforte schloß sich geräuschlos. Cathérine und die beiden Männer befanden sich abermals auf der Straße.
Als man die Werkstatt wieder erreicht hatte, erteilte Hans seinen Gästen einige Ermahnungen.
»Für jedermann hier werdet Ihr Verwandte von mir sein, die sich auf dem Weg nach Compostela befinden. Trotzdem vermeidet, Euch unter meine Arbeiter zu mischen. Einige stammen aus meinem Vaterland und würden sich wundern, daß Ihr unsere Sprache nicht kennt. Sonst könnt Ihr kommen und gehen, wie es Euch gutdünkt.«
»Vielen Dank«, entgegnete Cathérine, »aber ich habe keine Lust dazu. Der Anblick dieses scheußlichen Käfigs macht mich ganz krank. Ich werde zu Hause bleiben.«
»Ich nicht!« sagte Josse. »Wenn es eine Flucht vorzubereiten gilt, muß man Augen und Ohren offenhalten.«
Der darauffolgende Tag war entsetzlich für Cathérine. In das Haus eingeschlossen, zwang sie sich, nicht nach draußen zu blicken, um den kalten Regen nicht zu sehen, der den ganzen Tag über fiel, und die Haßschreie und Verwünschungen nicht hören zu müssen, die sich von Zeit zu Zeit erhoben und deren Ziel sie nur zu gut erriet. Sie blieb den ganzen Tag allein, sah man von der alten Urraca ab, einer Gefährtin, die nichts Tröstliches an sich hatte. Gelegentlich entrangen sich den eingefallenen Lippen der Frau Worte, die Cathérine nicht verstehen konnte.
Urraca ging in die Küche und kam wieder, sprach vor sich hin, wie dies bei Tauben häufig der Fall ist, und ging ihrer Arbeit mehr oder weniger mechanisch nach.
Zur Mahlzeit schob sie Cathérine einen Teller mit halbgaren Blätterteigkuchen und einen Krug klares Wasser hin, kehrte dann wieder auf ihren Hocker neben dem Faß zurück, von wo aus sie die junge Frau mit einer Aufmerksamkeit musterte, die diese zur Verzweiflung brachte. Cathérine drehte ihr schließlich den Rücken zu und setzte sich unter die Galerie des Innenhofs, um dort die Rückkehr der Männer zu erwarten. Josse war gleichzeitig mit Hans fortgegangen.
Er wollte einen Rundgang durch die Stadt machen, um sich zu informieren, wie er gesagt hatte.
Als er im Laufe des Nachmittags zurückkam, war sein Gesicht ernst. Auf Catherines angstvolle Fragen antwortete er zunächst nur mit einem Schulterzucken.
»Die Entführung wird nicht leicht sein«, sagte er schließlich. »Ich glaube sogar, daß es zu einem Aufruhr kommen könnte. Die Leute hier sind wie losgelassene wilde Tiere. Sie verabscheuen die Briganten von Oca derart, daß sie sich an dem Gedanken geradezu weiden, einen von ihnen hier gefangenzuhalten. Wenn man ihnen ihre Beute entreißt, werden sie alles kaputtschlagen!«
»Na und, sollen sie doch!« rief Cathérine. »Was macht mir das aus? Sind wir etwa aus diesem Land? Das einzig Wichtige ist das Leben Gauthiers …«
Josse warf ihr einen kurzen Blick von unten her zu.
»Liebt Ihr ihn so sehr?« fragte er mit einem leichten Anflug von Spott, der der jungen Frau nicht entging. Sie senkte ihren blauen Blick geradewegs in die Augen des ehemaligen Landstreichers und sagte hoheitsvoll:
»Gewiß, ich liebe ihn … ich liebe ihn, als wäre er mein Bruder … oder mehr. Er ist nur ein Bauer, aber sein Herz, seine Tapferkeit und Treue machen ihn würdiger, die goldenen Sporen zu tragen, als ein Adliger. Und wenn Ihr hofft, mich zu überreden, die Stadt zu verlassen und ihn diesen Tieren auszuliefern, dann habt Ihr Eure Mühe verschwendet. Und wenn ich mein Leben dabei verlieren sollte, werde ich versuchen, ihn zu retten.«
Josses Mund verzog sich zu einem stummen Lächeln, während ein Funkeln in seinen Augen tanzte.
»Und wer sagt das Gegenteil, Dame Cathérine? Ich habe lediglich bemerkt, daß es schwierig sein würde und daß wir einen Aufruhr riskieren, mehr nicht. Hört!«
Draußen erhob sich eine neue Salve von Schreien und Todesrufen in der Dämmerung des Abends.
»Der Alkalde hat die Wachen am Fuß des Turms verdoppeln lassen. Die Leute stehen, vom Regen durchweicht, in Massen auf dem Platz und heulen wie die Wölfe.«
»Die Wachen verdoppelt?« fragte Cathérine erbleichend.
»Die Wachen beunruhigen mich nicht«, wandte Hans ein, der völlig durchnäßt in diesem Augenblick eintrat, »sondern die Menge. Wenn der Regen sie nicht einmal verjagen kann, ist das Volk fähig, die ganze Nacht, die Nase in die Höhe gereckt, an Ort und Stelle zu bleiben. Und dann – können wir mit unserem Plan einpacken!«
Er schüttelte sich wie ein Hund, zuckte mit den Schultern, um das Wasser abzuschütteln. In dem Blick, den er Cathérine zuwarf, lag Mitgefühl. Die junge Frau war kreideweiß und machte sichtbare Anstrengungen, Ruhe zu bewahren. Einen Augenblick verharrte sie in Schweigen, während Hans seine Schuhe auszog, die völlig verdreckt waren. Schließlich fragte sie:
»Die Winde? Habt ihr Euch darum kümmern können?«
»O ja. Unter dem Vorwand, etwas funktioniere nicht, habe ich sie derart eingefettet, daß man sie braten lassen könnte. Aber das Hauptproblem sind all diese Leute, die da draußen gaffen und brüllen! So könnte man dem Gefangenen nicht einmal zu trinken und zu essen geben.«
»Sie müssen weg!« sagte Cathérine grollend zwischen den Zähnen. »Unbedingt!«
»Ja«, entgegnete Josse, »aber wie? Wenn der Regen nicht einmal ausreicht …«
In diesem Augenblick krachte ein solcher Donnerschlag, daß die drei Gefährten auffuhren. Gleichzeitig hätte man meinen können, der Himmel platze. Der Regen verwandelte sich zur Sintflut. Es goß wie aus Kübeln, so daß sich der Platz in wenigen Minuten leerte.
Die Menschen schützten sich, so gut sie konnten, gegen den Platzregen und stürmten fluchtartig in die Häuser zurück. Die Soldaten drückten sich instinktiv an die Wand der Kathedrale, ein notdürftiges Obdach suchend. Die Arbeiter stiegen von den Türmen herunter. Nur der Käfig blieb in Gewitter und Wind, der so heftig war, daß das hölzerne Gehäuse hin und her schaukelte.
Hinter dem kleinen Fenster des Raums zusammengedrängt, blickten Cathérine, Hans und Josse hinaus.
»Wenn das andauern würde …«, murmelte Cathérine. »Aber es ist ja nur ein Gewitter …«
»Es kommt vor, daß Gewitter andauern«, sagte Hans ermutigend. »Auf jeden Fall bricht die Nacht an … es wird ziemlich dunkel werden. Kommt, meine Leute nähern sich. Wir müssen etwas essen und ein wenig ruhen. Wir haben heute nacht noch einiges zu tun …«
Der Abend kam Cathérine noch länger vor als der Tag. Der Regen hielt an. Man hörte auf dem Dach sein unaufhörliches, wütendes Prasseln. Die Arbeiter hatten schweigend gegessen, dann ging einer nach dem anderen mit vor Müdigkeit hängenden Schultern zu seinem Lager. Nur zwei oder drei blieben zurück, um mit Hans Bier zu trinken, das aus dem großen Faß gezapft wurde.
Am Feuerherd Josse gegenübersitzend, der, die Kappe über die Augen gezogen und die Arme gekreuzt, zu schlafen schien, wartete Cathérine.
Auch sie hatte die Augen geschlossen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Alle drehten sich um den Mann, der da oben den entfesselten Elementen ausgeliefert war. Traurig dachte Cathérine, daß selbst der Himmel zum Leiden dessen beizutragen schien, der nicht an ihn glaubte. Dann ängstigte sie sich und wurde ungeduldig, indem sie sich die Aufgabe vergegenwärtigte, die sie in den nächsten Stunden erwartete. Würden sie ihre Sache zu einem guten Ende führen? Und wenn sie Gauthier erst aus dem scheußlichen Käfig befreit hatten, wie würden sie ihn aus der Stadt schaffen können? Machte sich der tapfere Hans die möglichen entsetzlichen Folgen einer Entführung klar? So viele Fragen, auf die Cathérine keine Antwort fand.
Schließlich zogen sich die letzten Männer zur Ruhe zurück, und das Feuer brannte nieder. Die alte Urraca war schon lange in irgendeinem Winkel verschwunden. Die Dunkelheit in der verräucherten Küche wurde tiefer. Das Haus füllte sich mit Schnarchgeräuschen; nur Cathérine behielt die Augen offen und hörte nichts als die schweren Schläge ihres Herzens. Sie hatte sich nicht einmal hinlegen wollen, und als sie im Dunkel die schweigende Gestalt des Baumeisters näher kommen sah, erhob sie sich sofort. Auch Josse stand gleichzeitig auf.
»Kommt!« flüsterte Hans. »Jetzt oder nie …«
Alle drei fanden sich wieder am Brunnen im Hof ein. Es regnete fast nicht mehr, aber es war stockfinster.
»Einen Augenblick«, sagte Hans leise. »Wir müssen einiges mitnehmen.« Er gab Cathérine ein in rauhen Stoff gewickeltes Paket, Josse einen schweren, dicken Leinenbeutel und belud sich selbst mit einem großen Sack, der ein ziemliches Gewicht zu haben schien.
»Was ist denn das alles?« fragte Cathérine ganz leise.
»Oben werdet Ihr verstehen. Kommt schnell!«
In der tiefen nächtlichen Dunkelheit schlugen sie denselben Weg ein wie in der vorhergegangenen Nacht. Man konnte keine drei Schritt weit sehen, und sie hielt sich an Hans' Gürtel fest, um nicht zu fallen. Unbehindert gelangten sie zum Portalvorbau und traten in die Kirche. Wie in der Nacht zuvor beteten zwei Mönche am Grabmal des Cid, doch Cathérine warf ihnen kaum einen Blick zu. Sie wurde derart von Ungeduld verzehrt, daß sie bereit war, jedes etwa auftauchende Hindernis über den Haufen zu rennen. Von Zeit zu Zeit tastete sie nach dem treuen Dolch in ihrem Gürtel, entschlossen, sich seiner zu bedienen, wenn es nötig werden sollte.
Auf dem Turm oben zwang sie der heftig fegende Sturm, sich zu ducken, aber ihre Augen hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre zweimal gefallen, als sie sich dem Geländer näherte. Der Käfig erschien nur als dunklerer Fleck in einem dunklen Meer. Die Dächer der Stadt und das umliegende Land verschwammen von oben aus gesehen ineinander.
»Man sieht ja nichts!« flüsterte sie. »Wie sollen wir da vorwärts kommen?«
»Ich sehe genug«, entgegnete Hans. »Das ist die Hauptsache. Achtung, Josse, ich werde jetzt den Käfig hochziehen …«
Die Ärmel hochkrempelnd, spuckte der Baumeister in die Hände und packte das riesige Windenrad, das Cathérine mit Entsetzen betrachtete, weil sie sich nicht denken konnte, daß ein einzelner Mann es in Bewegung setzen könnte.
»Ich werde Euch helfen!« erklärte sie.
»Nein … laßt! Es wird besser sein, Ihr seid Josse behilflich, den Käfig heranzuziehen, wenn er auf der Höhe der Plattform erscheint. Das wird nicht einfach sein … Und was diese Winde anlangt, seid beruhigt, ich kenne sie.«
Nachdem er tief Atem geholt hatte, begann Hans, sich auf die dicke Kurbel der Winde zu stemmen. Der Käfig schwankte, und dann fing er langsam, sehr langsam an, sich zu heben. Kein Geräusch war zu hören. Die Winde war gut eingeschmiert.
Im Käfig rührte sich nichts. Man konnte kaum die reglose Gestalt erkennen.
»Wen er nur nicht tot ist!« seufzte Cathérine, die diese Unbeweglichkeit erschreckte.
»Hoffentlich gelingt es Hans«, sagte Josse beunruhigt. »Das ganz allein hochzuziehen, erfordert Riesenkräfte!«
Die ungeheure Anstrengung des Baumeisters war an seinem kurzen, keuchenden Atem abzulesen. Bis in die letzte Fiber ihrer Haut spürte Cathérine den furchtbaren Kampf zwischen den Muskeln des Mannes und dem Gewicht des Käfigs. Dieser hob sich nur unmerklich.
»Mein Gott! Er wird es nie fertigbringen!« stöhnte Cathérine. Sie wollte sich gerade zu Hans hinstürzen, um ihm zu helfen, so gut sie konnte, als ihr der Atem stockte. Von der Treppe her tauchte ein Schatten auf. Sie hatte nicht mehr Zeit, zu schreien. Der Neuankömmling hatte drei Worte in einer ihr unbekannten Sprache gesagt und legte schon Hand an, Hans bei seiner Aufgabe zu helfen.
»Wer ist dieser Mann?« fragte Cathérine verblüfft.
»Habt keine Angst. Es ist Hatto, mein Vorarbeiter … Er hat erraten, was wir vorhaben, und will uns helfen.«
»Aus welchem Grunde?«
»Gottlieb, dem Don Martin die Hand hat abhacken lassen, ist sein Bruder. Man kann ihm vertrauen.«
»Da wir keine andere Wahl haben … ist jede Hilfe willkommen.«
»Wem sagt Ihr das? Ich habe geglaubt, es allein schaffen zu können. Aber dieser Käfig ist so schwer, daß er einem die Muskeln zerreißt.«
Ohne zu antworten und schaudernd über den Gedanken, den die letzten Worte Hans' bei ihr hervorriefen, trat Cathérine wieder zu Josse. Der Käfig hob sich jetzt schneller. Er erreichte den Rand der Plattform, ragte darüber hinaus … Mit einem Haken bewaffnet, haschte Josse nach einer der Querstangen und zog ihn zu sich heran.
»Vorsichtig …!« flüsterte Hans. »Vorsichtig! Es darf kein Geräusch entstehen.«
Das Manöver war schwierig, heikel. Cathérine hielt den Atem an und war trotz der nächtlichen Kälte schweißgebadet. Doch als nun auch sie den Querriegel des Käfigs packte, empfand sie ein lebhaftes Gefühl der Genugtuung. Einen Augenblick drehte sich das schreckliche Gefängnis einige Zentimeter über der Plattform, dann setzte es mit einer Langsamkeit, die Catherines Herz schneller schlagen ließ, endlich auf.
Die Männer an der Winde seufzten erleichtert.
Cathérine ahnte mehr, als daß sie's sah, wie sie sich mit dem Ärmel über die schweißnassen Stirnen wischten.
»Diese Nacht ist wirklich stockfinster!« brummte Hans. »Man kann fast nur tastend arbeiten … Findet ihr die Tür?«
»Ja«, flüsterte Josse. »Ich hab' sie vor mir!«
Der plumpe Eisenriegel, mit dem der Käfig verschlossen war, war wirklich so primitiv, daß er kein Problem bildete. Nachdem die Tür geöffnet war, schob sich Cathérine hinein und tastete mit ungeduldigen Händen nach der bewegungslosen, durchnäßten Gestalt im Innern.
»Er rührt sich nicht!« murmelte sie ängstlich. »Er muß tot sein …«
»Das werden wir sehen!« erwiderte Josse. »Tretet zur Seite, Dame Cathérine. Laßt uns machen …«
»Beeilt Euch!« brummte Hans. »Schaut Euch den Himmel an …«
Tatsächlich war ein leiser Schimmer hinter einer Wolkenbank aufgetaucht. Es war zwar nichts Bedeutendes, aber man konnte auf einmal etwas klarer sehen.
»Wenn einer der Wachtposten oder irgendein Bürger auf die Idee kommt, die Augen zu heben, und feststellt, daß der Käfig nicht mehr da ist, dann bekommen wir in wenigen Augenblicken die ganze Stadt auf den Hals! Und dann behüte uns Gott.«
»In allen Ländern der Welt«, entgegnete die junge Frau trocken, »ist eine Kirche eine Zufluchtsstätte …«
»Vielleicht in allen Ländern … aber hier bin ich nicht so sicher!«
Nicht ohne Mühe, aber mit unendlicher Behutsamkeit zogen die drei Männer den Gefangenen aus seinem Käfig. Er war tatsächlich vollkommen reglos. Man hörte ihn nicht einmal atmen. Rasch legte Cathérine ihm die Hand aufs Herz und zog sie gleich darauf mit einem erleichterten Seufzen wieder zurück.
»Er lebt!« hauchte sie. »Aber wie lange noch?«
»Schnell!« befahl Hans. »Zieht ihn aus!«
»Warum?«
»Das werdet Ihr gleich sehen. Um Himmels willen, beeilt Euch! Es wird immer heller.«
Wie zur Bestätigung seiner Worte hörte man unten auf dem Platz einen der Wachtposten husten. Dann das Geräusch einer auf Stein klirrenden Lanze. Die vier Komplicen erstarrten, die Herzschläge setzten aus, und sie warteten auf den Alarm, der unausbleiblich folgen mußte … Aber nichts kam! Vier Seufzer entrangen sich gleichzeitig den Lippen. Josse, Cathérine und Hatto machten sich daran, Gauthier auszuziehen, während Hans einen prallen Sack, den er mitgebracht hatte, öffnete. Er enthielt ein dickes, eiligst zusammengezimmertes Stück Holz, das ungefähr die Form eines zusammengekauerten Menschen hatte.
»Der Käfig muß immer besetzt erscheinen!« sagte Hans leise. »Wenn nicht, wird die Stadt morgen früh in Aufruhr geraten, und wir werden diesen Mann nie hinausbringen. Mit etwas Glück wird vor ein paar Tagen niemand den Ersatz bemerken.«
Cathérine hatte bereits begriffen, was der tapfere Deutsche vorhatte. Es war nicht schwer, Gauthier die Fetzen, die ihn bedeckten, abzunehmen. Schnell wurde der bewußtlose Körper in den Mantel gehüllt, den Cathérine mitgebracht hatte, während Hans seine künstliche Figur in den Käfig setzte und sie, so gut es ging, mit den Lumpen des Gefangenen und einigen Lappen von undefinierbarer Farbe, die er mitgebracht hatte, bedeckte. Eine Kugel aus Lehm, unter Lumpen verborgen, täuschte den auf die Arme gestützten Kopf vor. In der Dunkelheit der Nacht war die Illusion frappierend echt.
»Von den Türmen aus, am hellichten Tag gesehen, würde es einer genauen Prüfung vielleicht nicht standhalten«, meinte Hans. »Aber von unten gesehen, müßte es gehen.«
Die Hauptschwierigkeit waren die Ketten, mit denen der Gefangene gefesselt war. Hans hatte in dem Beutel, den er Josse anvertraut hatte, zwar Schlosserwerkzeug mitgenommen, aber es war nicht leicht, die Eisen abzunehmen, ohne Gauthier zu verletzen. Der geringste Schrei wäre verhängnisvoll. Als Hans den Handschellen mit einer Säge zu Leibe ging, hielt Cathérine den Atem an, denn es schien ihr, daß es fürchterlichen Lärm machen müsse, trotz der eingefetteten Lappen, mit denen sie umwickelt war. Aber der Baumeister bewies wirklich große Geschicklichkeit. Die Arbeit wurde so gut ausgeführt, daß der bewußtlose Mann nicht einmal einen Seufzer ausstieß.
Eiligst wurden die Eisen der plumpen Figur angelegt, und nachdem der Käfig wieder geschlossen war, bedienten Hans und Hatto erneut die Winde, während Cathérine und Josse dafür sorgten, daß er ohne Anprall hinuntergelassen werden konnte. Einige Minuten später hatte das scheußliche Folterinstrument seinen Platz am Turm wiedereingenommen.
Es war aber auch höchste Zeit!
Als hätte der Mond nur auf diesen Augenblick gewartet, trat er aus den Wolken hervor und warf sofort ein kaltes, hartes Licht auf die gesamte Landschaft. Gleichzeitig hörte man am Turm unten die Soldaten einige Worte in ihrer gutturalen Sprache wechseln. Cathérine sah Hans' Zähne blitzen und entnahm daraus, daß er grinste.
»Na also!« flüsterte er. »Der Himmel ist wahrhaftig auf unserer Seite. Jetzt gilt es, unseren Geretteten hinunterzutransportieren, was bei seinem Gewicht keine so leichte Sache sein wird. Die Turmtreppe ist steil, und es ist gut, daß Hatto uns zu Hilfe gekommen ist. Ihr, Dame Cathérine, werdet mit einer Fackel vorangehen, um uns zu leuchten. Gehen wir!«
Die drei Männer packten Gauthier, der eine bei den Füßen, die anderen beiden an den Schultern, während Cathérine sich beeilte, eine Fackel unter dem Schutzdach der Treppe anzuzünden. Dann setzte der Zug sich die Wendeltreppe hinab mit einer Langsamkeit in Bewegung, die verriet, wie anstrengend das war. Obgleich durch die Entbehrungen abgemagert, hatte Gauthier noch immer ein respektables Gewicht, und außerdem ließ sich der riesige Körper nicht leicht auf einer so schmalen Treppe tragen. Ängstlich ging Cathérine der Gruppe voraus, von Zeit zu Zeit einen forschenden Blick auf den Verwundeten werfend, ob sich unter dem Schmutz und dem struppigen Bart das geringste Lebenszeichen zeigte. Aber nichts, kein Zucken, kein Verziehen des Gesichts. Nur das erleichterte Aufseufzen der drei Männer war zu hören, da man unten angekommen war und die Aufgabe jetzt leichter wurde. Leichter vielleicht, aber auch gefährlicher. Wenn einer der Mönche im Gebet den Kopf wandte oder einer der Wachtposten draußen auf den Gedanken käme, in die Kirche zu treten, wären die vier Verschworenen verloren. Es wäre um sie alle geschehen!
Auf Samtfüßen, den keuchenden Atem angehalten, glitten Cathérine und ihre Gefährten langsam zum Portal. Sie hatten es beinahe erreicht, als Gauthier plötzlich ein Stöhnen ausstieß, das in der von dem monotonen Gemurmel der Mönche kaum unterbrochenen Stille in Catherines Ohren wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts klang. Die drei Männer hatten gerade noch Zeit, sich mit ihrer Last in den Schatten eines riesigen Pfeilers gegen das geschlossene Gitter einer Seitenkapelle zu drücken, während die junge Frau dem Verwundeten schnell die Hand auf den Mund preßte.
Die Angst, die die Flüchtlinge während der folgenden Minuten erfüllte, war entsetzlich. Cathérine fühlte ihr Herz in schweren Schlägen in der Brust klopfen. An ihrem Ohr nahm sie den keuchenden Atem Hans' wahr, gegen den sie sich preßte. Die beiden Mönche im Chor hatten ihr Gebet unterbrochen. Sie wandten die Köpfe nach der Seite, von der das Geräusch gekommen war. Cathérine sah das scharfe Profil des einen im Schein einer Kerzenflamme. Der andere machte sogar eine Bewegung, als wollte er aufstehen, aber sein Begleiter hielt ihn zurück.
»Es un gato!«[1] sagte er. Und ohne sich weiter zu beunruhigen, nahmen sie ihr Gebet wieder auf. Aber die Lage der kleinen Gruppe hatte sich durchaus nicht gebessert. Unter ihrer Hand spürte Cathérine, wie der Mund Gauthiers Leben gewann. Er versuchte, das Hindernis abzuschütteln. Und der zarte Knebel, den ihre Hand bildete, würde das Geräusch nicht ersticken, wenn er wieder stöhnen sollte.
»Wie kann man ihn zum Schweigen bringen?« flüsterte Cathérine bestürzt und preßte ihre Hand so stark, wie sie konnte, auf Gauthiers Mund. Ein schwaches Stöhnen entrang sich ihm wie Wasser unter einem Fels. Von neuem sahen sie sich verloren. Die Mönche würden wieder innehalten. Diesmal würden sie nachsehen …
»Wenn man sie totschlagen muß, dann schlagen wir sie tot«, flüsterte Josse unerschütterlich. »Aber hier müssen wir raus.« Plötzlich erklang in der Tiefe der Kirche das Geläute einer Glocke, dem unmittelbar der ernste, allmählich anschwellende unheimliche Gesang von etwa fünfzig Männerstimmen folgte. Cathérine fühlte, wie Hans vor Freude bebte. »Die Mönche«, sagte er. »Sie kommen uns mit ihrem Gesang zu Hilfe! Jetzt ist der Augenblick!«
Zusammen ergriffen die drei Männer Gauthier von neuem, hoben ihn auf, als wöge er überhaupt nichts, und schleppten ihn schnell an der Mauer entlang. Es war höchste Zeit. Gauthiers Stöhnen ließ nicht mehr nach. Aber die kräftigen Stimmen der heiligen Männer trugen den Gregorianischen Kirchengesang in die riesigen Gewölbe der Kirche und erfüllten sie mit einer strengen Harmonie, in der sich die Stimme des Verletzten verlor. Die Portale wurden fast im Laufschritt durchmessen. Es war wichtig, von der sich aus dem Kreuzgang nähernden Prozession nicht gesehen zu werden. Außer Atem, mit klopfenden Herzen fanden die vier Gefährten sich wieder unter dem Portalvorbau ein. Der Mond schien immer heller, aber entlang der Kathedralmauer zeichnete sich ein breiter, sehr schwarzer Schattenstreifen ab.
»Noch eine letzte Anstrengung«, keuchte Hans freudig, »und wir sind da. Vorwärts …«
Einige Augenblicke später schloß sich die niedrige Tür der Werkstatt geräuschlos hinter ihnen. Cathérine ließ sich erschöpft und überglücklich auf den Brunnenrand fallen. Unfähig, ihre überanstrengten Nerven noch länger im Zaum zu halten, brach sie danach in krampfhaftes Schluchzen aus.
Gelassen ließen Hans, Josse und Hatto Cathérine sich ausweinen. Sie trugen Gauthier unter den Schuppen, wo der Steinmetz seine Blöcke aus Sandstein und Travertin lagerte, legten ihn auf ein Bett aus Stroh, das Hatto schnell zusammengelesen hatte, und machten sich daran, ihn zu untersuchen. Cathérine, die sich plötzlich ihres Alleinseins bewußt wurde, hörte auf zu weinen, trocknete sich die Augen und gesellte sich zu ihren Gefährten. Die Tränen hatten ihr gutgetan. Sie fühlte sich außerordentlich entspannt und von ihrer körperlichen Ermüdung befreit. Es war wunderbar, Gauthier der Grausamkeit Don Martins entrissen zu wissen! Selbst wenn die Hälfte der Arbeit noch zu leisten war, selbst wenn er im Sterben lag …
Aber die Freude hielt nicht an, als sie den ersten Blick auf den großen, lang ausgestreckten Körper warf. Er war mager, furchtbar schmutzig, und wenn sich seine Augen manchmal öffneten, blieb ihr grauer Blick verschwommen, matt. Als sie sich auf die junge Frau richteten, wurden sie von keinem Schimmer der Überraschung oder des Erkennens erhellt.
Cathérine konnte sich noch so sehr über ihn beugen, ihn leise beim Namen rufen, der Normanne sah sie zwar an, blieb aber teilnahmslos.
»Ist er wahnsinnig geworden?« fragte die junge Frau besorgt, »Offenbar erinnert er sich an nichts. Er muß sehr krank sein! Warum hat man ihn dann hierhergetragen statt in die Küche?«
»Weil es bald Tag wird«, antwortete Hans. »Wenn Urraca aufsteht, darf sie ihn nicht vorfinden.«
»Was macht das schon aus? Sie ist ja taub!«
»Taub, ja, aber weder blind noch stumm und vielleicht auch nicht so dumm, wie sie scheint. Wir werden diesen Mann behandeln, ihn so gut wie möglich waschen, ihn angemessen kleiden, ihn stärken, soweit es uns irgendwie möglich ist! Dann wird es Tag sein. Dann müssen wir ihn unverzüglich aus der Stadt hinausschaffen.«
»Aber wie kann man ihn in diesem Zustand mitnehmen? Was macht man mit ihm unterwegs?«
»Die Mittel, ihn mitzunehmen, werde ich Euch geben«, entgegnete Hans ernst. »Danach, Dame Cathérine, wird es Eure Aufgabe sein, das Schicksal dieses Mannes zu bestimmen. Ich kann Euch weder folgen noch ihn hierbehalten. Es hieße meinen Kopf riskieren und den aller meiner Leute … Außerdem, wenn ich Euch geholfen habe, aus instinktiver Sympathie und aus Haß gegen Don Martin, bin ich doch nicht lebensmüde und habe auch nicht die Absicht, die Arbeit, die ich hier leiste, aufzugeben. Ich muß Euch sagen, daß Ihr nicht mehr mit mir rechnen könnt, wenn Ihr diese Stadt einmal verlassen habt. Ich bedaure das … aber ich kann's nicht ändern.«
Cathérine hatte den Worten Hans' aufmerksam zugehört. Ein wenig Scham und Verwirrung durchfuhren sie. Dieser Mann hatte ihr spontan geholfen, und im Grunde ihres Unterbewußtseins hatte sie beinah geglaubt, daß er ihr weiterhelfen werde. Aber sie besaß zu viel gesunden Menschenverstand, um sich nicht sogleich einzugestehen, daß er völlig recht hatte, daß sie nicht noch mehr von ihm verlangen konnte. Mit einem Lächeln streckte sie ihm die Hand hin.
»Ihr habt schon viel zuviel getan, mein Freund, und für alle diese zum Nutzen einer Unbekannten übernommenen Risiken bin ich Euch zutiefst und ehrlich verbunden. Und was mich betrifft, so seid beruhigt, ich habe den Problemen, die sich mir stellten, immer ins Auge sehen können. Ich werde mit dem da bestimmt zurechtkommen.«
»Und schließlich bin ich ja auch noch da«, brummte Josse in seiner lässigen Art. »Gehen wir zu den realistischen Dingen über. Ihr habt gesagt, Meister Hans, Ihr würdet uns die Mittel geben, ihn fortzuschaffen. Was für Mittel sind das?«
»Ein Fuhrwerk mit Steinen. Ich muß eine Ladung ins Hospiz des Königs neben dem Kloster Las Huelgas, eine halbe Meile vor der Stadt, fahren, um dort Reparaturen auszuführen. Wir brechen nach Öffnung der Stadttore auf. Euer Freund wird zwischen den Steinen versteckt werden. Die Lanzen der Wachen können nicht in der Ladung herumstochern. Wir werden Eure Pferde an den Wagen spannen, und im Kloster werde ich Euch einen anderen Wagen zum Transport dieses Mannes besorgen, wie ich mir auch andere Pferde besorge, um mein Fuhrwerk zurückzubringen. Das Folgende müßt Ihr der Gnade Gottes empfehlen.«
»So viel hätte ich gar nicht erhofft«, sagte Cathérine einfach. »Vielen Dank, Meister Hans!«
»Genug geredet. Beschäftigen wir uns jetzt mit ihm, und bereiten wir den Karren vor. Der Tag wird gleich anbrechen!«
Ohne noch ein Wort zu sprechen, machten sich alle vier an die Arbeit. Gauthier, von seinen Lumpen befreit, wurde gewaschen, mit ländlicher, aber anständiger und fester Kleidung versehen, die augenscheinlich aber zu kurz war, denn keiner der drei Männer hatte seine Maße. Auf seiner Kopfwunde, die man, so gut es eben ging, gesäubert hatte, hatten das Blut und die Haare eine dicke Kruste gebildet. Sie wurde in Ermangelung eines Besseren mit Hammelfett eingeschmiert. Man schnitt ihm die Haare und rasierte ihn, um ihn vollkommen unkenntlich zu machen. Er ließ alles wie ein Kind mit sich geschehen, stieß nur ab und zu einen kurzen Klagelaut aus. Aber gierig verschlang er die heiße Suppe, die vom Abend zuvor übriggeblieben war, und trank den Krug Wein aus, den Hans ihm anbot. Josse betrachtete ihn nachdenklich, während er trank.
»Er müßte noch viel mehr trinken«, bemerkte er. »Wenn er im Wagen schliefe, wäre es weniger gefährlich. Stellt Euch vor, die Wachen hörten seine unartikulierten Klagelaute!«
»Es ist unnötig, ihn betrunken zu machen«, sagte Hans. »Ich habe Mohnkörner zur Linderung von Schmerzen mit, für den Fall, daß meine Arbeiter sich auf dem Bau verletzen. Ich werde ihm jetzt gleich welche geben, in etwas Wein zerdrückt. Er wird wie ein Kind schlafen.«
Als sie ihre Pflegearbeit an Gauthier beendet hatten, war am Horizont ein weißer Streifen aufgetaucht und hatte die Nacht verdrängt. Kurz darauf erklangen die heiseren Stimmen der Hähne, die sich antworteten. Hans warf einen besorgten Blick zum Himmel.
»Machen wir jetzt das Fuhrwerk fertig«, sagte er. »Urraca wird bald aus ihrer Dachkammer herunterkommen.«
Schnell flößte er Gauthier den mit dem Schlafmittel vermischten Wein ein, wickelte ihn in eine Wagendecke und trug ihn zu dem in einer Remise neben dem Haus stehenden großen Karren. Dann fing er an, von Josse und Hatto unterstützt, Steinblöcke hinüberzutragen, die er so geschickt im Wagen verteilte, daß der Normanne durch sie verborgen wurde, ohne Gefahr zu laufen, verletzt zu werden. In die Lücken wurde Stroh gestopft.
Es war Zeit. Gauthier war gerade hinter seinem improvisierten Wall verschwunden, als die Hausbewohner erwachten. Die alte Urraca, die Schleiereulenaugen noch voll Schlaf, kam vorsichtig auf einer Art Leiter, die in den oberen Stock führte, herunter und begann, mit ihren ausgetretenen Latschen über den Hof und in die Küche zu laufen, Wasser aus dem Brunnen schöpfend, Holz aus dem Schuppen holend und in die Glut blasend, die sie am Abend zuvor sorgfältig mit Asche bedeckt hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Bald fing das Wasser im Kessel zu kochen an, während die Alte mit einem Messer, dessen Länge einen schaudern machte, dicke Scheiben Schwarzbrot abschnitt, die sie mit vom Küchenbalken losgehakten Zwiebeln auf den Tisch legte. Einer nach dem anderen, gähnend und sich reckend, kamen die Steinmetze von ihren Schlafstellen, wuschen sich prustend in einem Kübel kalten Wassers und kamen dann zum Tisch, um zu frühstücken. Cathérine, ebenfalls gähnend und sich reckend wie die anderen, hatte ihren Platz in der Kaminecke eingenommen, und dies nicht ohne Grund. Der frühe Morgen war sehr kalt, und sie war völlig durchfroren. Was Josse betraf, tat er so, als fiele es ihm schwer, richtig wach zu werden, und ging dann hinaus, um einen kleinen Rundgang über den Platz zu machen. Er wollte sehen, wie sich der neue Insasse des Käfigs im Tageslicht ausnahm. Hans blickte ihm mit einem besorgten Gefühl nach, beruhigte sich aber bald wieder. Das Augenblinzeln und Zungenschnalzen, mit denen Josse ihn bedachte, waren durchaus zufriedenstellend. Also wandte er sich an seine Arbeiter und begann, sie in ihrer Muttersprache anzureden. Cathérine erhaschte so nebenbei die Worte ›Las Huelgas‹ und verstand, daß der Baumeister ihnen ankündigte, er werde sich an diesem Tag in das berühmte Kloster begeben. Die Deutschen nickten zustimmend. Keiner sagte etwas. Einer nach dem anderen traten sie nach einem kurzen Gruß in Richtung der jungen Frau in die aufgehende Sonne hinaus und gingen mit hängenden Schultern, schon die ermüdende Tagesarbeit vor Augen, zu ihrer Baustelle. Hans warf Cathérine ein leises Lächeln zu.
»Eßt schnell etwas, und dann brechen wir auf. Die Stadttore werden geöffnet …« Tatsächlich hörte man das Fallgatter der ganz in der Nähe gelegenen Porta Santa Maria knarren, während die Stimmengeräusche, die Schreie und üblichen Rufe den Platz zu erfüllen begannen. Hans wandte sich zur Tür.
»Wo ist Josse?« fragte er. »Noch auf dem Platz?«
»Ich glaube … ja!«
»Ich hole ihn.«
Mechanisch mit ihren schönen Zähnen noch einen Brotkanten und eine Zwiebel kauend, folgte ihm Cathérine. Josse war nicht weit. Seine hagere Silhouette mit den in die Hüften gestemmten Armen hob sich einige Klafter vom Haus entfernt ab. Er schien von einem Spektakel fasziniert zu sein, das auch Hans und Cathérine sofort fesselte. Eine Reiterschar kam auf den Platz geprescht. Die junge Frau erkannte die Stadtknechte und mitten unter ihnen den andalusischen Renner und den schwarzen Federbusch Don Martin Gomez Calvos. Im selben Augenblick kam im Laufschritt ein Trupp Zimmerleute mit Balken und Bohlen, Leitern und Hämmern an. Ein riesiger Mann, in dunkles Purpur gekleidet, schien sie anzuführen.
»Der Scharfrichter!« stieß Hans erbleichend hervor. »Donnerwetter! Soll das etwa heißen, daß …«
Er beendete seinen Satz nicht. Was sich vor den entsetzten Augen Catherines abspielte, war nur zu klar. Mit teuflischer Schnelligkeit richteten die Zimmerleute ein niedriges Gerüst auf, angefeuert von den energischen Gesten des Scharfrichters und dem Peitschenknallen dreier plötzlich erschienener Aufseher.
»Es sind maurische Sklaven!« flüsterte Hans. »Wir müssen sofort fliehen. Seht, was Don Martin tut.«
Cathérine wandte den Kopf zu dem Alkalden. In Wahrheit bedurfte es keiner langen Prüfung, um zu verstehen, was er tat. Aufrecht im Steigbügel stehend, mit einem knochigen Finger zum Himmel, dann wieder auf den Boden weisend, gab er so klar, daß man seine Worte nicht zu übersetzen brauchte, den Befehl, den Käfig herunterzuholen.
In diesem Augenblick drehte Josse sich auf dem Absatz um und rannte zum Haus zurück. Er war leichenblaß.
»Alarm!« rief er. »Don Martin fürchtet, die schlechte Behandlung habe den Gefangenen zu sehr geschwächt. Er hat Befehl gegeben, die Hinrichtung vorzubereiten. Und er scheint es eilig zu haben!«
Tatsächlich tauchte ein neuer Trupp maurischer Sklaven mit gelben Turbanen auf, mit Holzkloben und Reisigbündeln beladen, die für den Scheiterhaufen des zuvor Abgehäuteten bestimmt waren.
Ohne zu antworten, packte Hans Cathérine und Josse am Arm und kehrte mit ihnen eiligst ins Haus zurück. Sie stürzten zum Wagen, an den Hatto gerade die Pferde geschirrt hatte. Hurtig kletterten die drei Gefährten auf das Fuhrwerk; Cathérine neben Hans, der die Zügel ergriff, und Josse hinten mit herunterhängenden Beinen, die Kappe über den Augen, in der Haltung eines gewissenhaften Arbeiters, der sich zu seiner Baustelle begibt, ohne sich um andere Dinge zu bekümmern. Die Peitsche knallte in den Händen Hans', und das Gespann durchfuhr die Bohlenschranke, die Hatto offenhielt. Man fuhr auf die Porta Santa Maria zu. Aber schon wurde es schwierig durchzukommen. Die Vorbereitungen für die Hinrichtung hatten die Bürger aus ihren Häusern gelockt. Sie drängten sich in dichten Scharen zusammen, stießen und schubsten sich, um in die vorderen Reihen zu kommen. Die Fenster öffneten sich fröhlich klappernd und rahmten Frauen mit blitzenden Augen ein. Man stieg auf die Dächer, die der Regen des vergangenen Abends und die Morgenkälte glatt und schlüpfrig gemacht hatten. Das Volk von Burgos bereitete sich fieberhaft auf ein besonderes Schauspiel vor!
Catherines Blick glitt angstvoll über das Gerüst, wo die Henker in diesem Augenblick einen mit Ketten versehenen Pfahl in Form eines Kreuzes auf dem schon fast aufgeschichteten Scheiterhaufen errichteten, und dann zum Turm hinauf, zum Käfig, der langsam heruntergelassen wurde. Er hatte bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Und das Fuhrwerk hatte immer größere Schwierigkeiten, vorwärts zu kommen.
»Paso!«,[2] brüllte Hans, aufrecht stehend und mit der Peitsche knallend. »Paso! …«
Aber die Menge, die immer dichter wurde, war von den Vorbereitungen der Hinrichtung zu sehr gefesselt, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Rufe trugen ihm höchstens einen verächtlichen Blick ein. Dieses Volk zog es vor, von den Hufen der Pferde niedergetreten zu werden, bevor es auch nur einen Daumenbreit von der Stelle wich. Der Deutsche wurde zornig.
»Cuidado!«,[3] befahl er, während die Peitsche einige rebellische Schultern streifte. Gleichzeitig zerrte er mit aller Kraft an den Zügeln und ließ die Pferde sich aufbäumen, deren ausschlagende Hufe mehrere Köpfe bedrohten. Diesmal wich die Menge, Schreckensschreie ausstoßend, zur Seite. Hans trieb seine Pferde dem Tor zu.
Und im selben Augenblick berührte der Käfig den Boden, und Don Martin brauchte nicht zweimal hinzusehen, um festzustellen, daß der Gefangene ihm entwischt war. Cathérine, die ihn beobachtete, sah ihn erbleichen. Er sprang vom Pferd und bellte Befehle. Die getäuschte, schon wütende Menge begann zu grollen wie das Meer beim Herannahen eines Sturms. Der Karren fuhr jetzt unter das Gewölbe des Stadttors. Knarrend senkte sich das Fallgatter vor dem Geschirr der Pferde. Don Martin hatte Befehl gegeben, die Tore zu schließen und die Stadt zu durchsuchen!
Einer Ohnmacht nahe, schloß Cathérine die Augen und sank auf ihren Sitz zurück. Hans' Stimme drang flüsternd wie aus einem tiefen Traum zu ihr:
»Mut! Kaltes Blut! Dies ist nicht der Augenblick, nervös zu werden! Kopf hoch jetzt! Es ist unsere einzige Chance.«
Und er überfiel die Wachen mit einem Wortschwall in bestem Kastilianisch, setzte ihnen wütend und langatmig auseinander, daß er seine Arbeit zu tun habe und die lokalen Geschichten ihn nichts angingen.
Wütend mit den Händen herumfuchtelnd, so daß sogar Don Martin hätte eifersüchtig werden können, deutete Hans abwechselnd auf das geschlossene starke Gitter und sein Fuhrwerk und versuchte sichtlich, die Wachen zu überreden, ihn durchzulassen. Die aber, schwer auf ihre Piken gestützt und auf ihren Befehlen beharrend, schüttelten nur die Köpfe und weigerten sich, weiter zuzuhören. Entmutigt ließ Hans sich auf seine Kutschbank zurückfallen.
»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Cathérine, den Tränen nahe.
»Was können wir schon tun? Wir müssen hierbleiben und abwarten … mit allen damit verbundenen Risiken!«
Bedrückt senkte Cathérine den Kopf, faltete die Hände vor der Brust und sprach still ein Gebet, ohne sich darum zu kümmern, was sich hinter ihr abspielte. Indessen brauste es auf dem Platz wie ein aufgewühltes Meer. Von den Stadtknechten übel zugerichtet, die sie mit einem Hagel von Lanzenhieben traktierten, um sich einen Weg zu den Häusern zu bahnen, brüllten die Menschen wie Schweine auf der Schlachtbank. Schmerz und Wut mischten sich. Hin und wieder brachen Streitigkeiten aus, ja, es kam sogar zu Tätlichkeiten. Und schon stürmten die Männer Don Martins in die Herbergen und unterzogen die Gastwirte und Reisenden scharfen Verhören. Jedermann glaubte in jedem unbekannten oder auch nur etwas fremdländisch aussehenden Gesicht einen der furchtbaren Banditen des Waldes von Oca zu erkennen, die zweifellos gekommen waren, um ihren Kameraden zurückzuholen. Furcht schlich sich in die Herzen und säte Panik.
Plötzlich ließ sich von der anderen Seite des geschlossenen Tores schwach ein frommer Gesang hören, ein so bekannter Gesang, daß Cathérine jäh den Kopf hob.
»E ul treia! E sus eia! Deus aia nos!«
Der jahrhundertealte Gesang der Pilger von Compostela. Der Gesang, den sie immer anstimmten, wenn die Müdigkeit sie übermannte, der Gesang, den Cathérine noch vor wenigen Wochen beim Verlassen von Puy und auf den einsamen Wegen des Aubrac selbst angestimmt hatte. Eine vage Hoffnung stieg in ihr auf. Es schien ihr, daß die alte Kantilene die Antwort Gottes auf ihr sehnliches Gebet sei. Sie sprang vom Wagen, eilte zum Fallgatter, klammerte sich mit beiden Händen daran und drückte das Gesicht zwischen die Stangen. Vor ihr, auf der römischen Brücke, näherte sich ein Trupp ermatteter und zerlumpter Pilger, die sich bemühten, ihre müden Rücken aufzurichten und ihre hängenden Köpfe zu heben. An der Spitze, die Augen zum Himmel gehoben, den fanatischen Blick auf die Wolken gerichtet und hoch den Stab hebend, mit dem er den Takt zu dem Gesang schlug, marschierte Gerbert Bohat …
»Sieh mal einer an!« flüsterte Josse, der neben Cathérine geglitten war. »Wie man sich wiedertrifft!«
Aber Gerbert hatte seine ehemaligen Weggenossen nicht gesehen. Er war einige Schritte vor dem heruntergelassenen Fallgatter stehengeblieben und hob den Kopf zum Wall hinauf, wo Soldaten Wache standen.
»Warum ist dieses Tor geschlossen?« fragte er. »Öffnet den fahrenden Rittern Gottes!«
Und gleich wiederholte er seine Worte auf spanisch. Ein Bewaffneter erwiderte etwas, was offenbar bedeutete, er solle zum Teufel gehen, denn der Ton war barsch. Aber die christliche Sanftmut hielt den Clermonteser nicht zurück, scharf zu antworten. Er hob die Stimme und herrschte seinen Gegner an.
»Was sagt er?« fragte Cathérine.
»Keine christliche Stadt habe jemals gewagt, vor den Pilgern von Compostela ihre Tore zu verschließen. Er und die Seinen seien erschöpft, er habe Kranke in seinem Zug und Verwundete, die unbedingt ins Hospiz müßten, denn sie seien von Briganten überfallen worden, und er verlange, daß die Tore geöffnet würden!«
»Und was antwortet man ihm?«
»Don Martin wolle es nicht!«
So ging das Gespräch, immer schneller und heftiger werdend, einige Augenblicke hin und her. Schließlich bohrte Gerbert Bohat seinen Stab in die Erde, lehnte sich in wartender Positur darauf, während um ihn die Pilger sich ermattet und erschöpft auf den Boden lagerten.
»Nun?« fragte Cathérine Josse.
»Gerbert berief sich auf den Erzbischof. Der Soldat hat ihm geantwortet, man werde Don Martin holen lassen.«
Der Alkalde kam auch sofort. Cathérine bemerkte flüchtig seine lange schwarze Gestalt, seine Spinnenbeine, die die Stiege zum Wall erklommen. Hans wiederum war vom Karren gestiegen, trotz der Wachen, die von ihm verlangten, er solle nach Hause zurückfahren, und hatte sich seinen Gefährten angeschlossen. »Dahaben wir vielleicht eine Chance«, sagte er leise. »Ich habe Don Martin sagen hören, die Pilger seien vielleicht von Oca-Briganten überfallen worden, und man müsse die Ankömmlinge verhören.«
Tatsächlich war die schneidende Stimme Don Martins einen Augenblick später über Catherines Kopf zu hören. Gerbert hatte höflich gegrüßt, hatte aber seine starre Haltung dabei nicht aufgegeben. Ein neuer Wortwechsel, unverständlich für die junge Frau, folgte, dann mäßigte sich der Ton des Alkalden abrupt. Hans flüsterte erstaunt:
»Er sagt, er werde die Tore vor den frommen Leuten öffnen lassen … aber mir gefällt seine plötzliche Sanftheit gar nicht. Die Kunst des Verhörens Fremder macht Don Martin nicht viel Schwierigkeiten. Trotzdem, wenn das Fallgatter aufgemacht wird, müssen wir daraus Nutzen ziehen …«
»Aber Ihr riskiert, verfolgt zu werden«, wandte Cathérine ein. »Vielleicht wird man auf Euch schießen? Wenn Euch ein Pfeil träfe, könnte ich mir nie verzeihen.«
»Ich mir auch nicht«, lächelte Hans mit süßsaurem Gesicht, »aber wir haben keine Wahl. Wenn man entdeckt, wen wir im Wagen haben, teilen wir sein Schicksal. Die Suppe, die wir uns eingebrockt haben, müssen wir auslöffeln! Hört Euch bloß diesen Lärm hinter uns an! Man kämmt alle Häuser durch. Wenn es schon sterben heißt, ist mir ein Pfeil lieber als der Scheiterhaufen.«
Und Hans nahm entschlossen wieder seinen Sitz ein und forderte Cathérine und Josse auf, dasselbe zu tun. Gerade hatten sie wieder Platz genommen, als Don Martin Gomez Calvo mit einem Trupp Stadtknechte unter dem Gewölbe auftauchte. Er zuckte zusammen, als er den Karren bemerkte, und ging schnell auf ihn zu. Als Cathérine ihn herankommen sah, das hagere Gesicht wutverzerrt, wäre sie am liebsten gestorben. Er wollte den Karren zurückschieben lassen, befahl, ihn zu durchsuchen. Sie hörte, wie seine schneidende Stimme Hans anfuhr, war überzeugt, daß nichts sie oder Gauthier oder ihre Freunde mehr vor dem leeren Schafott, das nur auf seine Beute zu warten schien, retten könnte.
Aber sie kannte den Baumeister schlecht. Dem Zorn des Alkalden setzte er eine majestätische Ruhe entgegen, erklärte ihm, wie Josse Cathérine ins Ohr flüsterte, er müsse seine Ladung Steine unbedingt nach Las Huelgas fahren, er sei ohnehin schon viel zu spät dran für eine Arbeit, die ihm vom Konnetabel Alvaro de Luna aufgetragen worden sei. Der Name des Herrn Kastiliens tat seine Wirkung. Die Bissigkeit Don Martins ließ um einige Grade nach. Sein scharfer, mißtrauischer Blick streifte der Reihe nach über jeden Insassen des Fuhrwerks. Cathérine mußte sich zusammennehmen, um nicht unter seinen grausamen Augen kalten Widerwillen zu zeigen. Einen Moment herrschte drückendes Schweigen, doch endlich entrang sich den dünnen, halbgeöffneten Lippen Don Martins ein kurzer Satz. Hinter sich hörte Cathérine, wie Josse leise durch die Zähne zischte. Hans hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit fester Hand die Zügel wieder ergriffen, und die junge Frau begriff, daß es weiterging. Tatsächlich hob sich das Fallgatter langsam. Aber hinter dem Fuhrwerk und auf beiden Seiten scharten sich Bewaffnete. Don Martin ging bis zur Brücke vor, machte eine herrische Bewegung, die den Pilgern bedeutete, näher zu kommen. Sie erhoben sich mühsam und stellten sich mehr oder weniger in Reih und Glied auf. Nur Gerbert hatte seine hochmütige Haltung nicht aufgegeben. »Los!« murmelte Hans. »Wir nehmen hier zuviel Platz ein. Wir werden auf der Brücke warten, bis der ganze Zug vorüber ist.«
Der Karren fuhr langsam vor, aus dem Schatten der Porta heraus. Cathérine, die bis zu diesem Augenblick das Gefühl gehabt hatte, alle Steine des Stadtwalles lasteten auf ihrer Brust, empfand Erleichterung. Hans lenkte sein Fuhrwerk beiseite, um die Pilger vorbeizulassen. Sie schienen vor Müdigkeit und Elend niedergedrückt. Die Überquerung des Gebirges mußte sie hart mitgenommen haben. Im Vorbeifahren erkannten Cathérine und Josse einige Gesichter wieder, aber die Mehrzahl der anderen trugen die sichtbaren Spuren ihrer Mühen und ihrer Not. Die Kleider waren zerlumpt, die Körper verschwollen oder sogar verletzt. Die Straßenräuber mußten ihnen übel mitgespielt haben. Kaum einer unter ihnen hatte den Mut zu singen.
»Arme Menschen!« murmelte Cathérine. »Uns hätte es eigentlich ebenso ergehen müssen!«
»Gott sei's gelobt, daß es uns nicht so erging«, flüsterte Josse mit einer Befriedigung, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Denn plötzlich wurde es dramatisch. Kaum hatten die Pilger die Porta Santa Maria erreicht, als die Soldaten sie umringten und sich ihrer bemächtigten.
»Beim Blut Christi!« fluchte Josse. »Sie … sie werden arretiert!«
»Don Martin will ihnen einige Fragen stellen«, entgegnete Hans mit besorgter Stimme. »Er möchte sich ihrer versichern … zunächst einmal!«
»Das ist unwürdig!« rief Cathérine aus. »Was können diese armen Leute ihm schon mitteilen? Sie brauchen Pflege, keine Polizeihunde!«
»Man wird sie zum Beispiel fragen, ob die Straßenräuber von Oca sich ihren Kameraden wiedergeholt haben. Und wo sie ihren Schlupfwinkel haben. Fragt sich noch, wovor diese Unglücklichen mehr Angst haben: vor der Rache der Straßenräuber oder vor Don Martin!«
Cathérine antwortete nicht. Zur Stadt gewandt, verfolgte sie ängstlich den Verlauf des Dramas. Denn obgleich die Mehrzahl der Pilger sich widerstandslos abführen ließ, wehrten sich doch einige gegen die Männer des Alkalden, allen voran natürlich Gerbert Bohat. Man hörte ihn schreien:
»Verrat! Wehren wir uns, meine Brüder. Gott will es!«
Und er stürzte sich selbst mutig ins Getümmel, trat mit seinem lächerlichen Pilgerstab den Degen und Lanzen der Soldaten entgegen. Unfähig weiterzufahren, sahen Cathérine und Josse fasziniert zu, die Augen vor Entsetzen geweitet. Auf der Brücke rann das Blut in langen dunklen Bächen, die unter der bereits hoch am Himmel stehenden Sonne glitzerten. Der Brutalität der Kastilianer war freier Lauf gelassen, und in einiger Entfernung stand mit verschränkten Armen Don Martin und beobachtete den Vorgang, während er sich mit der Zunge genießerisch über die Lippen fuhr.
Es dauerte nicht lange, denn der Kampf war zu ungleich. Bald waren alle Pilger überwunden. Cathérine vernahm außer sich den Todesschrei Gerberts, dessen Brust von einer Lanze durchbohrt wurde. Ein kurzer Befehl hallte wider, und der unglückliche Clermonteser wurde in den Fluß geworfen, dessen gelbe Flut, durch die letzten Regenfälle angeschwollen, ihn zuerst langsam, dann immer schneller davontrug. Die anderen Pilger wurden in die Stadt getrieben, und das Fallgatter rasselte wieder herunter …
Zornig rüttelte Cathérine Hans auf, der wie vom Schlag gerührt dasaß.
»Schnell, fahren wir! Die Straße ist frei … Und wir können ihn vielleicht herausziehen.«
»Wen?« fragte Hans, ihr einen bedrückten Blick zuwerfend.
»Ihn natürlich … Gerbert Bohat, den diese Elenden ins Wasser geworfen haben. Vielleicht ist er gar nicht tot …«
Gehorsam setzte Hans den Karren in Marsch. Der Weg nach Las Huelgas folgte glücklicherweise dem Lauf des Arlanzón. Josse hatte seinen Platz hinten im Karren verlassen und sich zu den anderen beiden nach vorn gesetzt. Auch er machte ein bedrücktes Gesicht und blickte wie betäubt vor sich hin.
Er stammelte: »Pilger! Fahrende Ritter Gottes, die nur um Asyl baten, wie es ihr gutes Recht ist …«
»Ich sagte Euch doch, daß die Menschen hier Wilde sind!« warf Hans mit plötzlicher Heftigkeit ein. »Und Don Martin ist der Schlimmste von allen! Ich glaubte, Ihr würdet nach der Sache mit dem Käfig nicht mehr daran zweifeln, aber offenbar mußte erst Blut vergossen werden, um Euch zu überzeugen! ich wünsche sehnlichst, meine Arbeit hier bald zu beenden, dann werde ich mit Freuden in mein Vaterland am Ufer des Rheins zurückkehren … Ein großer Strom, ein echter Strom! Majestätisch, grandios! Nicht zu vergleichen mit diesem dreckigen kleinen Fluß hier!«
Schweigend ließ Cathérine ihn seine Wut austoben. Die gespannten Nerven des Bildhauers hatten es nötig … Forschend betrachtete sie das gelbe Wasser, suchte die Leiche Gerberts. Plötzlich sah sie sie, eine lange schwarze Gestalt, preisgegeben der Gewalt der schmutzigen Wellen. Sie richtete sich auf, wies mit dem Arm.
»Da! Da ist er! Haltet an!«
»Er ist tot!« sagte Hans. »Weshalb anhalten!«
»Weil er vielleicht nicht ganz tot ist. Und selbst, wenn er's ist, hat er das Recht auf ein christliches Begräbnis.«
Hans hob die Schultern:
»Das dreckige Wasser taugt soviel wie die Erde in diesem verkommenen Land! Halten wir an, wenn Ihr darauf besteht.«
Er lenkte das Fuhrwerk neben den tief ausgefahrenen Weg. Schnell sprang Cathérine ab. Josse auf den Fersen, lief sie zum Arlanzón hinunter und blieb an einer Flußbiegung stehen, auf die die Leiche zutrieb. Ohne Zögern ging Josse ins Wasser, packte Gerbert und zog ihn ans Ufer. Von Cathérine unterstützt, hob er ihn aus dem Wasser und legte ihn auf die Kiesel der Uferböschung. Die Augen des Clermontesers waren geschlossen, die Nase wirkte spitz, und seine Lippen waren weiß und zusammengepreßt, aber er atmete noch schwach. In der Brust hatte er eine tiefe Wunde, die aber nicht mehr blutete. Josse schüttelte den Kopf.
»Es dauert nicht mehr lange mit ihm! Wir können nichts mehr tun, Dame Cathérine. Er hat zuviel Blut verloren!«
Ohne zu antworten, setzte sie sich auf die Erde und legte Gerberts Kopf mit unendlicher Sanftheit auf ihre Knie. Auch Hans war hinzugetreten und reichte ihr eine Art Kürbisflasche aus Ziegenhaut, die er sich vor Verlassen des Hauses an den Gürtel gehängt hatte. Es war Wein darin. Cathérine benetzte die entfärbten Lippen des Sterbenden.
Gerbert durchfuhr ein Schauer, er schlug die Augen auf und sah die junge Frau überrascht an. »Cathérine!« stammelte er. »Ihr seid … gestorben, Ihr auch … da ich Euch wiedersehe … Ich habe soviel an Euch gedacht!«
»Nein. Ich lebe, und Ihr lebt auch! Sprecht jetzt nicht!«
»Es muß so sein! Ihr habt recht … Ich fühle es an meinen Schmerzen, ich lebe noch, aber nur noch kurze Zeit! Ich … möchte einen Priester haben, um nicht … mit meinen Sünden scheiden zu müssen!«
Er machte eine klägliche Anstrengung, sich aufzurichten, klammerte sich an Catherines Arm. Leise kniete Josse sich hinter ihn und richtete ihn vorsichtig auf. Er sah die drei ihm zugeneigten Gesichter und seufzte:
»Von euch ist keiner Priester, nicht wahr?«
Cathérine machte ein verneinendes Zeichen und hielt mit Mühe die Tränen zurück. Gerbert versuchte zu lächeln.
»Also … werdet ihr mich eben anhören! Cathérine … ihr drei! Ich habe Euch davongejagt, habe Euch verdammt, ohne uns Euren Weg fortzusetzen … weil ich glaubte, Euch zu hassen, wie ich alle Frauen haßte. Aber ich habe begriffen, daß Ihr … daß Ihr unvergleichlich seid! Der Gedanke an Euch … hat mich nicht mehr verlassen … und der ganze Weg wurde mir zur Hölle! … Trinken! … Noch ein wenig Wein! … Er stärkt mich.«
Cathérine ließ ihn trinken, vorsichtig und sanft. Er hatte einen Schwächeanfall, kam aber wieder zu sich und schlug die Augen auf: »Ich werde sterben … und das ist gut so! Ich war nicht würdig … mich dem Grab des Apostels zu nähern, weil … ich meine Frau getötet habe, Cathérine! … Ich habe sie aus Eifersucht getötet … weil sie einen anderen liebte! Ich hätte am liebsten alle Frauen getötet …«
Er schwieg, legte sich zurück, und Cathérine glaubte wieder, er hauche seine Seele aus. Doch nach einem Augenblick schlug er die Lider auf, die der Tod schon zeichnete. Seine Stimme wurde schwächer, seine Rede stockte. Er rang nach Luft.
»Verzeiht! … Ihr müßt … verzeihen! Ich habe Böses getan! … Oh, so Böses! … Alysia! … Ich liebte sie! Damals konnte ich noch lieben!«
Die letzten Worte wurden unverständlich. Der schwache Lebensfunke, den der Wein in dem ausgezehrten Körper wieder angefacht hatte, verlosch schnell. Gerbert wurde noch blasser, und sein Gesicht schien zu schrumpfen, sich zusammenzuziehen.
»Es geht zu Ende!« murmelte Josse.
Und so war es. Die fahlen Lippen bewegten sich, ohne daß sich ihnen ein Ton entrang. Cathérine fühlte, wie sich ihr der erschöpfte Körper im letzten Krampf der Agonie entgegenbog. Dann schien der Mund ein einziges Wort zu formen.
»Gott! …«
Das Wort war nur noch ein Hauch, und dieser Hauch war der letzte. Die Augen hatten sich geschlossen und öffneten sich nicht wieder. Sanft ließ Cathérine den Körper zurückgleiten, trocknete sich die Tränen und blickte Hans an. Er war wie versteinert.
»Wo kann man ihn begraben?«
»Die Mönche des Hospitals des Königs werden sich darum kümmern. Wir werden ihn auch auf den Wagen legen.«
Gemeinsam trugen Josse und Hans den leblosen Körper und wickelten ihn, so gut es ging, in seinen zerrissenen Pilgermantel. Sie legten ihn auf die Steine, unter denen Gauthier verborgen war. Dieser, immer noch in seine Wagendecke gehüllt und von Stroh umgeben, hatte sich nicht gerührt. Er schlief tief, durch die Dosis des ihm von Hans mit dem Wein eingeflößten Schlafmittels betäubt. Hans knallte mit der Peitsche.
»Glücklicherweise ist es nicht mehr weit«, sagte er mit heiserer Stimme, die als einziges seine Bewegung ausdrückte.
Tatsächlich vergingen nur ein paar Minuten, bis die weißen Mauern und der viereckige Turm eines mächtigen Zisterziensernonnenklosters auftauchte, dessen Umfassungswall nur von zwei Toren unterbrochen wurde.
»Las Huelgas!« brummte Hans. »Das vornehmste Nonnenkloster Spaniens. König Alfons VIII. und Königin Eleanor von England haben es vor langer Zeit für die Töchter des Hochadels und als Grabstätte ihrer Geschlechter gegründet. Aber es heißt, diese hohe Bestimmung sei heute einigermaßen in Vergessenheit geraten.«
Tatsächlich drang zur großen Überraschung Catherines ein Strom von Musik aus den rein romanischen Fenstern des Klosters. Es waren die Klänge von Violen, Flöten und Harfen, die nichts Religiöses an sich hatten. Von diesen Instrumenten begleitet, sang eine jugendliche Frauenstimme ein Liebeslied, von Zeit zu Zeit vernahm man auch Gelächter. Der tiefblaue Himmel und die Pracht der Sonne verliehen diesem seltsamen Kloster eine Note ausgelassener Heiterkeit.
»Was soll das bedeuten?« fragte Cathérine verblüfft.
»Daß die Nonnen von Las Huelgas in Wirklichkeit auf Grund ihrer Schönheit und ihrer Liebeskünste ausgewählt werden und nicht nach ihrer vornehmen Herkunft oder ihrer Frömmigkeit«, erwiderte Hans spöttisch. »König Johann, ein Künstler, der die Musik über alles liebt, und der Konnetabel, der die Damen über alles liebt, halten sich häufig … und in sehr angenehmer Gesellschaft im Kloster auf. Aber da werden wir unseren Toten und unsere Steine nicht abladen, sondern bei den alten Mönchen des Hospitals des Königs, das übrigens sehr schlecht zu dieser parfümierten Nachbarschaft paßt.«
Das alte Hospiz stand etwas entfernt und war wesentlich weniger schick als das schöne Kloster. Seine Mauern zerbröckelten und drohten an mehr als einer Stelle zur Ruine zu verfallen. Die Pilger von Compostela stiegen hier nicht ab, zogen vielmehr das Hospiz von Santo Lesmes mitten in Burgos vor. Allmählich versank das Hospital des Königs in Vergessenheit. »Die Ausbesserungen, die ich hier machen muß, sind mehr als dringend!« bemerkte Hans. »Aber wir sind da!«
Er hatte mit seinem Gespann den Turmvorbau durchfahren, durch den man in den Innenhof gelangte, und schon kam ihnen der alte Bruder Torhüter entgegen, ein Willkommenslächeln im ausgemergelten Gesicht.
»Meister Hans!« rief er. »Euch schickt wahrhaftig der Herr, denn die Glocke unserer Kapelle droht uns bei jedem Messeamt auf den Kopf zu fallen! Es war höchste Zeit, daß Ihr kamt. Ich werde den Ehrwürdigen Abt benachrichtigen.«
Während er über den mit Gras überwucherten Hof trippelte, glitt Cathérine langsam von ihrem Sitz.
Als sie und Josse eine Stunde darauf das Hospital des Königs wieder verließen, war ihre Stimmung trotz der gelungenen Flucht auf dem Tiefstand. Gerberts Tod lag der jungen Frau noch schwer auf der Seele. Sie machte sich Vorwürfe, als wäre sie an diesem Tod schuld gewesen. Außerdem beunruhigte sie der Zustand Gauthiers außerordentlich …
Vor kurzem, als nach einem schnellen Getuschel zwischen Hans und dem Vater Abt die lange, in rauhes Linnen gewickelte Gestalt vom Wagen heruntergenommen worden war, hatte sich nämlich etwas Befremdendes und Schreckliches ereignet. Der Normanne war aus seiner Betäubung erwacht, als man ihn auf eine Bank gelegt hatte. Aber er hatte die übrigens verdrehten Augen nur aufgeschlagen, um eine merkwürdige Krise durchzumachen. Sein Körper war steif geworden, und seine Kinnlade hatte sich so verkrampft, daß die Zähne knirschten. Dann war der Riese plötzlich von der Bank gerollt und hatte sich mit heftigen Kopf- und Körperzuckungen auf dem Boden gewälzt. Danach war er in tiefe Betäubung gefallen, während ihm weißer Schaum auf die Lippen trat. Entsetzt war Cathérine bis zur Wand zurückgewichen und hatte sich so fest an sie gedrückt, als hoffte sie, mit ihr zu verschmelzen. Hans und Josse hatten sich nicht gerührt: Mit gerunzelten Stirnen sahen sie zu. Dafür hatte der Abt sich mehrere Male bekreuzigt, war eilends davongelaufen und fast sofort mit einem vollen Eimer Weihwasser wiedergekommen, den er über den Verwundeten ausgoß. In seinen Fußstapfen trottete ein Mönchlein mit einem riesigen Weihrauchfaß, dem ein dicker, erstickender Qualm entströmte.
Hans hatte keine Zeit gehabt, das Vorhaben des Abtes vorauszusehen und den unglücklichen Gauthier vor der kalten Dusche zu bewahren. Aber er bemühte sich sofort, den Zorn des heiligen Mannes zu besänftigen, dessen wütende Miene keinen Zweifel an seinem Verlangen zuließ, daß der vom Teufel besessene Unbekannte alsbald aus seinem heiligen Hospiz gebracht wurde. Hans hatte Cathérine einen besorgten Blick zugeworfen.
»Ihr müßt jetzt gehen. Man wird Euch einen zweirädrigen Planwagen geben, um ihn fortzuschaffen. Der Abt glaubt, er sei vom Teufel besessen … und ich kann nicht mehr viel für Euch tun!«
»Ist er wirklich … besessen?« fragte Cathérine bestürzt.
Es war Josse, der sie unerwarteterweise aufklärte.
»Die alten Römer nannten diese Krankheit die heilige Krankheit. Sie behaupten, daß ein Gott den Menschen in seinem Krampf bewohne. Aber ich habe einmal einen maurischen Arzt gekannt, der versicherte, es handle sich nur um eine Krankheit, deren Sitz im Kopf sei.«
»Ihr habt einen maurischen Arzt gekannt?« fragte Hans erstaunt. »Wo denn?«
Josses verkniffenes braunes Gesicht rötete sich jäh.
»Oh«, meinte er unbekümmert, »ich bin viel herumgekommen!«
Weiter ließ er sich nicht darüber aus, und Cathérine wußte, warum. In einem mitteilsamen Augenblick hatte Josse ihr einmal anvertraut, daß er in einer Pechsträhne einst zwei Jahre auf einer Berbergaleere hatte rudern müssen. Daher kamen seine unerwarteten Kenntnisse.
»Ein maurischer Arzt?« fragte Hans nachdenklich.
Während sie Gauthier, der allmählich ruhiger geworden war, wieder in sein Linnen wickelten und zum Karren trugen, den ein Bruder in den Hof geführt hatte, erzählte er seinen beiden Freunden, was er in Burgos über den sonderbaren Erzbischof von Sevilla, Alonso de Fonseca, gehört hatte. Prunkliebend, habgierig, leidenschaftlicher Sammler von Edelsteinen und begeisterter Alchimist, unterhielt der Erzbischof in seiner Feste Coca einen bizarren Hof, an dem Astrologen und Alchimisten weit zahlreicher vertreten waren als Mönche. Das große Wunder an diesem Hof war nach allem, was man vernahm, ein maurischer Arzt mit reichem Wissen und außerordentlichen Fähigkeiten.
»Wenn die Vertrauten des Konnetabels Alvaro de Luna nicht in der Nähe sind, flüstern sich die Leute von Burgos gerne zu, dieser Arzt könne Wunder vollbringen. Warum sucht Ihr ihn nicht auf? Wenn Ihr nach Toledo fahrt und dabei in Coca Station macht, würde das kein Umweg sein.«
»Welchen Grund sollte der Herr Erzbischof haben, uns zu empfangen?« fragte Cathérine skeptisch.
»Drei Gründe: seine Gastfreundschaft, die sprichwörtlich ist; das Interesse, das er an allen fremden Dingen nimmt, die sich unter seinem Dach abspielen; und endlich … habe ich Euch nicht schon gesagt, daß er leidenschaftlicher Sammler von Edelsteinen ist?«
Diesmal hatte Cathérine verstanden. Wenn sie kein anderes Mittel hatte, sich der Dienste des Magiers von Coca zu versichern, würde der Smaragd der Königin Yolande ihr bestimmt die Pforten zu der Festung öffnen.
Ihr Entschluß war schnell gefaßt. Um Gauthier zu retten, war sie bereit, noch weit andere Opfer zu bringen als einen Umweg auf ihrer Route und den Verlust eines Juwels, so teuer es ihrem Herzen auch war. Sie hatte Hans für seine uneigennützige Hilfe mit einer Wärme gedankt, die den Deutschen tief erröten ließ. Als ihre Lippen die schlechtrasierte Wange Hans' berührten, hatte sie gesehen, wie seine hellen Augen sich mit Tränen füllten.
»Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, Dame Cathérine?«
»Wenn Ihr Eure Arbeit hier beendet habt und ich Montsalvy wiedersehe, kommt Ihr zu uns, um bei uns Wunder zu vollbringen.«
»Das schwöre ich!«
Ein letztes Händeschütteln zwischen den beiden Männern, ein letztes Lebewohlzeichen, und das Fuhrwerk hatte sich rumpelnd auf den Weg nach Süden gemacht. Hinten war Gauthier bequem im Stroh untergebracht. Josse hatte die Zügel ergriffen und trieb die beiden Pferde an. Wenig an ein Geschirr gewöhnt, nahmen diese jeden Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch. Cathérine jedoch hatte nichts anderes zu tun, als die Landschaft zu betrachten.
Trotz der Sonne, die jetzt am blauen Himmel strahlte, war der unfruchtbare, wilde, baumlose Landstrich von einer bedrückenden Traurigkeit, der sich der immer ferner klingende Ton der Totenglocke, die die Mönche des Hospizes für den verstorbenen Pilger läuteten, zugesellte.
Catherines Gedanken verweilten bei diesem Gerbert, dem fremden und verbrecherischen, der in seinem Stolz und seinem Schmerz wie in einem doppelten ehernen Panzer eingeschlossen gewesen war. Sie hatte begriffen, daß sich seine Seele in Not unter seinem erbarmungslosen Äußeren verbarg, und bedauerte, nicht versucht zu haben, ihn besser zu verstehen. Mit etwas Freundlichkeit wäre es ihr vielleicht gelungen, sein verschlossenes Herz wenigstens halb zu öffnen … Vielleicht wären sie sogar Freunde geworden …
Trotzdem sagte ihr eine innere Stimme, sie versuche, sich in einer falschen Hoffnung zu wiegen. Bei einem Mann wie Gerbert waren nur zwei Gefühle möglich: Liebe oder Haß. Was sie betraf, so hatte er den Haß aus Furcht vor der Liebe gewählt, und jetzt hatte der versöhnende Tod diese leidende Seele für immer beruhigt. Vielleicht war es nach allem besser, statt sich zu grämen, Gott für seine Gnade zu danken …
Von Gerbert glitten Catherines Gedanken zu Gauthier, aber sie wollte nicht lange dabei verweilen. Sein Zustand bereitete ihr so bitteren Kummer, daß dies ihren Mut schwächen könnte, den sie mehr als je brauchte. Sie durfte sich nicht mürbe machen lassen, wenn sie die Chance wahrnehmen wollte, ihn zu retten. Es war schon schön, ihn wiedergefunden und einem schrecklichen Tod entrissen zu haben, nachdem sie ihn längst für sich verloren geglaubt hatte. Wer konnte sagen, ob der Maure des Erzbischofs Fonseca ihm nicht den Verstand wiedergeben würde und ob sie nicht im Triumph und unversehrt eines Tages in das märchenhafte Land der Mauren einziehen würden, um Arnaud zu befreien?
Arnaud … Verblüfft entdeckte Cathérine, daß sie ihm seit mehreren Tagen, völlig in Anspruch genommen von dem grausamen Problem Gauthier, kaum einen Gedanken gewidmet hatte. Nachdem sie nun Muße hatte, an ihn zu denken, stellte sie fest, daß ihr Zorn nicht verebbt war, im Gegenteil, daß er vielleicht noch mehr kochte, seitdem sie Gauthier wiedergefunden hatte. So viele Strapazen und Leiden erduldet für einen flatterhaften Gatten, der keine Ahnung davon hatte und höchstwahrscheinlich zu dieser Stunde, in der seine Frau die gelbe Einöde des alten Kastiliens langsam an sich vorüberziehen sah, einen Mann, der den Verstand verloren hatte, mit sich führend und das Herz überquellend vor Kummer, sich von den Liebkosungen einer Ungläubigen im Lustgarten eines sarazenischen Palastes umgirren ließ! Das derart beschworene Bild brachte die übliche ablenkende Wirkung hervor. Sie warf der Umgebung einen mit Groll geladenen Blick zu.
»Was für ein häßliches Land! Bleibt es so bis Granada?«
»Glücklicherweise nicht!« antwortete Josse mit seinem seltsamen Lächeln um die geschlossenen Augen. »Aber ich muß sagen, daß wir die Wüstenei noch nicht hinter uns haben.«
»Wo werden wir heute übernachten?«
»Ich weiß es nicht. Wie Ihr feststellen könnt, gibt es nicht viele Dörfer. Noch ist die Mehrzahl derer, die es einmal gab, verfallen und verlassen. Die große schwarze Pest im vergangenen Jahrhundert hat die Städte verwüstet und das Land entvölkert.«
»Trotzdem gibt es immer noch Überlebende!« murrte Cathérine. »Und nach einem Jahrhundert wäre es vielleicht endlich an der Zeit, wieder das Land zu bestellen!«
»Ihr rechnet nicht mit der Mesta!«
»Was ist denn das?«
»Die Zunft der Schafzüchter. Sie ist eine der seltenen Produktivkräfte dieses Landes. Ihre riesigen Herden ziehen von Landstrich zu Landstrich, den Jahreszeiten folgend, und keine Grenze und kein Hindernis kann sie aufhalten. Wie wollt Ihr unter solchen Bedingungen das Land bestellen? Da, schaut!«
Mit seiner Peitsche deutete Josse auf einen dunkelbraunen Fleck am blassen Horizont, der hin und her zu wogen schien. »Da drüben sind mehrere hundert Stück Vieh, aber Ihr könnt sehen, daß sie gut bewacht werden.«
Tatsächlich waren die üblichen ländlichen Gestalten von Hirten in langen Gewändern zu sehen, dazu einige Reiter auf Maultieren, die, sonst ebenso bäurisch wie ihre Gefährten, im Gürtel jedoch große Hirschfänger trugen. Josse hob die Schultern. »Diese Tiere sind der Reichtum irgendwelcher Leute. Der Rest des Landvolks lebt in gräßlichem Elend. Aber mit einigem Glück werden wir vielleicht ein Schloß oder sonst ein Quartier finden, das uns aufnimmt …«
»Seht zu, daß wir irgendwo einen Bach, ein Flüßchen oder auch nur eine einfache Pfütze in der Umgebung finden. Seit langem habe ich mich nicht so schmutzig gefühlt …«
Josse warf ihr einen spöttischen Blick zu und hob wieder die Schultern:
»Eine Leichtigkeit! Wasser, Dame Cathérine, ist hier noch seltener als Nahrung.«
Entmutigt stieß die junge Frau einen Seufzer aus und sank tiefer auf ihren Sitz.
»Wahrhaftig, das Leben ist sinnlos …«, stöhnte sie. »Und wie lange wird es noch dauern bis Coca?«
»Fünf Tage, wenn diese beiden Biester sich endlich bequemen, im Gleichschritt zu gehen statt jedes für sich!«
Und in der trügerischen Hoffnung, sein Gespann dadurch aufzumuntern, stimmte Josse ein Trinklied an, so entsetzlich falsch, daß Cathérine eine Grimasse schnitt.
»Was wollt Ihr damit erreichen?« spöttelte sie. »Daß es regnet oder daß diese Tiere uns durchgehen?«
Aber ihre schlechte Laune war verflogen. Sie stimmte sogar in Josses Lied ein, und so kam ihr der Weg weniger monoton vor.
Trotz der augenscheinlichen Bockigkeit seiner Pferde hielt Josse Wort. Die Reise dauerte nur fünf Tage. Fünf ereignislose, nicht so mühsame Tage, wie Cathérine befürchtet hatte. In den wenigen Dörfern und kleinen Städten oder bei den Schafhirten konnten sie sich gegen ein paar Geldstücke Käse, Buchweizenfladen und Milch beschaffen. Cathérine fand sogar den Fluß ihrer Träume in der Nähe des Städtchens Lerma, wo eine Menge Ziegenhautschläuche von allen Dächern herunterhingen, um in der Sonne zu trocknen. Das Wasser war noch kalt, aber das Wetter hatte ganz plötzlich und ohne Vorankündigung sommerlichen Charakter angenommen. Dem Wind und dem peitschenden Regen war eine unerwartete Hitze gefolgt, die der jungen Frau den Wassermangel und das Fehlen von Körperpflege immer unerträglicher gemacht hatte. Der Anblick des Wassers hatte sie begeistert. Es war sehr richtig, daß sie Josse erlaubt hatte, sich ein wenig aus der Stadt zu entfernen. Ohne Sorge, gesehen zu werden, und nachdem sie Josse freundlich befohlen hatte, sich umzuwenden, hatte sie sich die Kleider heruntergerissen und sich kopfüber ins Wasser gestürzt. Und dies alles so schnell, daß ihr schlanker Körper nur einen Augenblick in der Sonne geglänzt hatte, bevor er im Wasser untergetaucht war.
Von allen Bädern, die Cathérine in ihrem Leben genommen hatte, war ihr dieses als das beste vorgekommen, obgleich die Fluten nicht sehr klar waren. Sie war lange mit Genuß geschwommen, zuerst quer über den Fluß und dann wieder zurück, und hatte sich im Schutz eines Uferfelsens jeden Teil ihres Körpers sorgfältig abgerieben. Sie hätte in diesem Augenblick viel für ein Stück dieser wunderbaren parfümierten Seife gegeben, die man früher im burgundischen Flandern eigens für die schöne Geliebte des Großherzogs des Abendlandes herstellte. Jedoch war dies wirklich das einzige, was sie aus ihrem vergangenen Leben vermißte. Es konnte ihr großes Vergnügen an ihrem Bad nicht schmälern. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Seitenblick auf Josse und das Gespann. Der ehemalige Landstreicher schien sich in eine Statue verwandelt zu haben. Steif auf seiner Bank sitzend, heftete er seinen Blick starr auf die Ohren der Pferde, die sich die Rast zunutze machten, um einige der spärlichen Grasbüschel zu fressen.
Als sie sich für sauber genug hielt, stieg Cathérine aus dem Wasser und hüllte sich eilig in ihr Hemd. Doch zog sie ihren Reitrock nicht wieder an. Die Hitze machte den dicken, fast unbearbeiteten Wollstoff beschwerlich, und außerdem starrte er vor Schmutz. Nach der lenzlichen Frische des Wassers schien ihr sein Schweißgeruch unerträglich. In ihrem Gepäck hatte sie ein Kleid aus feiner grauer Wolle, ein sauberes Hemd und Strümpfe ohne Löcher, die sie anziehen würde.
Als sie einen Augenblick später zurückkam, trocken und frisiert, stellte sie fest, daß Josse sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Sie konnte sich nicht enthalten, boshaft zu sticheln.
»Nanu, Josse! Hat Euch das frische Wasser nach soviel Strapazen und Staub nicht gereizt?«
»Ich mag Wasser nicht!« erwiderte Josse in einem so trübsinnigen Ton, daß die junge Frau in Lachen ausbrach.
»Zum Trinken, glaube ich Euch gern. Aber zum Waschen ist es doch sehr schön. Warum habt Ihr Euch mir nicht angeschlossen?«
Sie hatte ihre Frage in aller Unschuld gestellt, daher war ihre Überraschung groß, als sie Josse puterrot werden sah. Er räusperte sich, um die Stimme klar zu bekommen, aber es klang trotzdem seltsam heiser, als er erklärte:
»Vielen Dank, Dame Cathérine … aber dieses Wasser lockte mich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil …« Er zögerte einen Augenblick, dann, einen tiefen Seufzer ausstoßend wie jemand, der einen Entschluß gefaßt hat: »Weil ich es für gefährlich halte!«
»Gefährlich? Und Ihr habt mich darin baden lassen?« spöttelte Cathérine, die sich über die Verlegenheit des Burschen höchlichst ergötzte.
»Für Euch war es nicht gefährlich!«
»Ich verstehe immer weniger.«
Josse, der sichtlich Qualen litt, schien sich auf seinem Sitz so unbehaglich zu fühlen, als wäre dieser ein rotglühender Rost. Beharrlich blickte er vor sich hin, doch plötzlich wandte er den Kopf, begegnete dem amüsierten Blick Catherines und erklärte würdevoll: »Dame Cathérine, ich bin immer ein vernünftiger Mann gewesen, das hat mich bis jetzt am Leben erhalten und wird mich, wie ich wenigstens hoffe, ein vorgeschrittenes Alter erreichen lassen. Damals, als ich meine abgenutzten Schuhsohlen und meinen leeren Bauch noch über das Pflaster von Paris schleppte und, besonders, als ich fast Hungers starb, mied ich die Nähe von Garküchen, auf deren Feuern so viele fette, schöne und nahrhafte Düfte ausströmende Kapaune brieten, die für mich unerreichbar waren. Ich weiß nicht, ob Ihr versteht, was ich meine?«
»O doch, es ist mir durchaus klar!« entgegnete Cathérine, ihren Platz neben ihm wieder einnehmend. Sie lächelte nicht mehr und in dem Blick, den sie auf ihren Gefährten richtete, lag ein Anflug von Achtung und Freundschaft. Dann fuhr sie in absolut sachlichem Ton fort: »Ich bitte Euch um Verzeihung, Josse. Ich hatte mit einemmal Lust verspürt, Euch zu hänseln.«
»Mich zu hänseln oder mich auf die Probe zu stellen?«
»Beides vielleicht«, gab Cathérine freimütig zu. »Aber Ihr habt Euer Examen glänzend bestanden. Brechen wir nun auf?«
Und die Reise war ohne weiteres Scharmützel verlaufen. Gauthier auf seinem Stroh war fast immer bewußtlos. Von Zeit zu Zeit schüttelte ihn eine der fürchterlichen Krisen, die Cathérine so sehr erschreckten. In den Pausen dazwischen erwachte er nicht aus seinem höchst beunruhigenden schlafsüchtigen Zustand, denn jetzt war er nicht einmal mehr genügend bei Bewußtsein, um sich zu ernähren. Man mußte ihn wie ein kleines Kind füttern. Am Abend der letzten Wegstrecke hatte Cathérine Josse mit Tränen in den Augen zu Rate gezogen.
»Wenn diese Reise noch lange dauert, bringen wir ihn nicht mehr lebend zu dem maurischen Arzt.«
»Morgen bei Sonnenuntergang«, versicherte Josse darauf, »müssen wir die Türme von Coca sehen.«
Und tatsächlich, als am anderen Tag die Sonne sich in einem herrlichen Strahlenglanz von Gold und Purpur dem Horizont zuneigte, entdeckte Cathérine das mythische Schloß des Erzbischofs von Sevilla. Sein Anblick verschlug ihr einen Augenblick den Atem: Jäh aus der roten Erde aufragend, als wäre sie ihrem Innern entstiegen, war eine Festung aus blutrot schimmernden Steinen wie ein Palast aus Tausendundeiner Nacht vor ihr aufgetaucht. Phantastisches Juwel der maurischen Baukunst, in den ersten Jahren des Jahrhunderts dem heimwehkranken Hirn eines gefangenen maurischen Architekten entsprungen, hoben sich Türmchen gleich einem Wald von Orgelpfeifen in den fahlen Himmel, dicke Backsteintürme flankierend und mit unerwarteter Anmut die Wucht der doppelten Umwallung und des massiven Schloßturms auflockernd. Es war eher ein Emirpalast als das Domizil eines christlichen Bischofs, doch die Pracht, die es darbot, minderte nicht die Drohung, die es aus seiner Höhe über die von ihm beherrschte Talschlucht auszustrahlen schien. Auf der anderen Seite schloß es sich an ein Plateau an, von dem es jedoch ein tiefer Graben trennte.
Stumm betrachteten Cathérine und Josse das rote Wunder, das vorläufige Ziel ihrer Reise. Bangigkeit befiel flüchtig das Herz Catherines. Gott allein mochte wissen, warum sie sich in diesem Augenblick an einem anderen Ort unter einem anderen Himmel vor einer anderen Festung sah, weniger seltsam vielleicht, aber möglicherweise noch drohender mit ihren glatten schwärzlichen Mauern und schwindelnden Türmen. War es der Ruf der Seltsamkeit Alonso de Fonsecas, der sie vor Coca das Schloß des Seigneurs Blaubart, das großartige und schreckliche Champtocé, wo sie so gelitten hatte, beschwören ließ? Hier hatte sie nichts zu fürchten. Sie wollte nur um Beistand für einen Verwundeten bitten. Dennoch zögerte sie vor diesem Schloß, als ob sich eine unbestimmte Drohung in ihm verberge … Josse wandte den Kopf und sah sie fragend an.
»Nun? Versuchen wir unser Glück?«
Sie hob die Schultern, als wollte sie sich von einer lästigen Bürde befreien.
»Wir haben keine Wahl. Was sollten wir sonst tun?«
»Richtig!«
Und ohne noch ein Wort zu verlieren, setzte Josse seine Pferde wieder in Trab, auf die schmale, winzige Pforte in dem arabischen Spitzbogen zu, der ihr als Rahmen diente. Zwei unbewegliche Posten bewachten sie. Sie schienen in der Zeit und vor diesem Hintergrund erstarrt zu sein. Sie verschmolzen so vollkommen mit der Stille des einsamen Plateaus, daß sie den Eindruck der Fata Morgana verstärkten, den dieses stumme Schloß hervorrief. Einzig das Lilienbanner des Schloßturms bewegte sich leise im schwachen Abendwind und schien zu leben. Zur großen Überraschung Catherines und Josses rührten die Soldaten sich nicht, als der Karren sich ihnen näherte. Und als Josse ihnen in seinem besten Spanisch erklärte, die Edeldame Cathérine de Montsalvy wünsche Seine Hoheit, den Erzbischof von Sevilla, zu sprechen, begnügten sie sich mit einer Kopfbewegung in Richtung des Ehrenhofs, von dessen erstaunlicher und pittoresker Ausstattung die Reisenden bereits einen flüchtigen Blick erhaschten.
»Das ist aber ein schlecht verteidigtes Schloß«, murmelte Josse zwischen den Zähnen.
»Abwarten!« sagte die junge Frau. »Erinnert Euch an die sichtliche Furcht des Bauern, den Ihr vor einer Stunde nach dem Weg gefragt habt. Achtet auf die Stille dieses Schlosses und dieses Dorfes, das ausgestorben scheint. Ich glaube, die Hexerei, von der es heißt, sie wohne hinter seinen Mauern, verteidigt dieses Domizil unendlich viel besser als eine Armee … Und ich frage mich, ob wir wirklich zu einem Gottesmann gehen … oder nicht etwa zum leibhaftigen Teufel?«
Die drückende Atmosphäre wirkte mächtiger auf Cathérine, als sie es sich eingestehen wollte; Josse dagegen war jenseits solcher Besorgnisse.
»An dem Punkt, wo wir jetzt angekommen sind«, brummte er, »sehe ich nicht ein, was wir zu verlieren hätten, wenn wir es uns näher ansehen.«
Der Erzbischof Alonso de Fonseca war so merkwürdig und fremdartig wie sein Schloß, aber viel weniger schön. Klein, mager und verwachsen, glich er einer Pflanze, die ein nachlässiger Gärtner nicht einmal im Traum zu begießen dachte. Sein fahler Teint und seine rotumränderten Augen deuteten an, daß er nicht oft die Sonne sah und durchwachte Nächte bevorzugte.
Er hatte schwarzes, schütteres Haar, einen kümmerlichen Bart, litt außerdem an einem Nervenzucken und schüttelte dauernd den Kopf, was seinen Gesprächspartnern ebenso lästig war wie ihm.
Nach zehn Minuten Unterhaltung hatte Cathérine die größte Lust, es ebenso zu machen. Aber er hatte die schönsten Hände der Welt, und seine tiefe, sanfte Stimme gleich dunklem Samt hatte etwas Bezauberndes.
Er empfing ohne augenscheinliche Überraschung diese große fahrende Dame, deren Troß und Anblick so wenig ihrem Namen und ihrem Stand entsprachen, aber seine Zuvorkommenheit war ohne Fehl. Es war durchaus normal, daß man im Laufe einer langen, beschwerlichen Reise die Gastfreundschaft eines Schlosses oder eines Klosters in Anspruch nahm. Die des Erzbischofs von Sevilla war schon legendär; seine Neugier schien jedoch zu erwachen, als Cathérine von Gauthier und der Pflege sprach, die sie für ihn in Coca zu erlangen hoffte. Seine Neugier war geweckt … und sein Mißtrauen.
»Wer hat Euch denn gesagt, meine Tochter, daß ein ungläubiger Arzt in meinen Diensten sei? Und wie habt Ihr glauben können, daß ein Bischof ihn unter seinem Dach beherberge?«
»Ich habe nichts Außergewöhnliches darin gesehen, Euer Hoheit«, erwiderte Cathérine. »Einst, in Burgund, habe ich selbst mehr als Freund denn als Diener einen großen Arzt gehabt, der aus Córdoba stammte. Und was den betrifft, der mich an Euch verwiesen hat, so ist es der Baumeister der Kathedrale von Burgos.«
»Ah! Meister Hans von Köln! Ein großer Künstler und weiser Mann! Aber erzählt mir noch ein wenig von dem maurischen Arzt, der Euch diente. Wie hieß er?«
»Man nannte ihn Abu al-Khayr.«
Fonseca stieß ein kleines Zischen aus, das Cathérine sofort klarmachte, in welch hohem Ansehen ihr Freund stand.
»Kennt Ihr ihn?« fragte sie.
»Alle einigermaßen aufgeklärten Geister haben von Abu al-Khayr, dem Leibarzt, Freund und Berater des Kalifen von Granada, gehört. Ich fürchte, mein eigener Arzt, so geschickt er auch sei, kommt ihm nicht gleich, und ich bin noch mehr erstaunt, daß Ihr hierhergekommen seid, meine Tochter, statt geradewegs zu ihm zu gehen.«
»Der Weg nach Granada ist weit, und mein Knecht ist sehr krank, Monseigneur. Außerdem, weiß ich denn, ob wir bis zum Königreich des Kalifen durchdringen könnten?«
»Gegen diese Überlegung gibt es nichts einzuwenden.« Den erhöhten Sitz verlassend, auf dem er sich zum Empfang der jungen Frau niedergelassen hatte, schnalzte Don Alonso mit den Fingern, worauf aus dem Schatten eines Lehnstuhls die lange, schmale Gestalt eines Pagen trat.
»Tomas«, sagte er zu ihm, »im Hof hält ein Wagen, in dem ein Verwundeter liegt. Du sorgst dafür, daß er herausgehoben und so behutsam wie möglich zu Hamza getragen wird, damit er ihn untersucht. In kurzem werde ich selbst zu ihm gehen und mich über den Zustand des Mannes vergewissern. Dann wirst du dafür sorgen, daß die Dame de Montsalvy und ihr Knappe ehrenhaft untergebracht werden. Kommt, edle Dame, gehen wir inzwischen soupieren.«
Mit einer Zuvorkommenheit, die einem weltlichen Fürsten nicht besser angestanden hätte, bot Don Alonso Cathérine die Hand, um sie zu Tisch zu führen. Unwillkürlich errötete sie. Der Gegensatz ihrer eigenen, mehr als einfachen und ziemlich staubigen Kleidung zum purpurrot-blauen Brokat des Erzbischofs war zu auffallend. »Ich bin nicht würdig, an Eurer Tafel zu sitzen, Monseigneur«, entschuldigte sie sich.
»Wenn man Augen hat wie Sie, meine Teure, ist man immer würdig, am Tisch eines Kaisers Platz zu nehmen. Außerdem werdet Ihr in Euren Gemächern Eurem Stande angemessenere Kleider vorfinden. Aber ich glaube, nachdem Ihr so viele Meilen zurückgelegt habt, müßt Ihr vor Hunger sterben und braucht dringend etwas zu essen«, schloß der Bischof lächelnd.
Cathérine gab sein Lächeln zurück und nahm die ihr immer noch dargereichte schöne Hand. Sie war unbewußt glücklich, Tomas, dem Pagen, den Rücken kehren zu können, dessen Anblick ihr sofort unangenehm gewesen war, als er ins Licht getreten war. Nicht, daß er häßlich gewesen wäre. Es war ein etwa vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge mit edlen, regelmäßigen Gesichtszügen. Aber in der fahlen Blässe seines Aussehens und der Magerkeit seines langen schwarzgekleideten Körpers lag etwas Gieriges und Unnachgiebiges zugleich. Und was seinen Blick betraf, so gestand Cathérine sich ganz im geheimen ein, daß er beinahe unerträglich war, etwas bei einem so jungen Menschen Seltenes. Die eisblauen Augen unter den Lidern, die nicht einen Augenblick blinzelten, brannten in einem fanatischen Feuer, das schwer auszuhalten war. Kurzum, seine unheimliche Gestalt bildete einen unerfreulichen Gegensatz zu der Pracht des Dekors, und während Cathérine an der Seite Don Alonsos durch eine schmale, durchbrochene Marmorgalerie schritt, die auf den großen Hof hinausblickte, konnte sie sich nicht enthalten, eine Bemerkung darüber zu machen.
»Darf ich Eurer Hoheit sagen, daß Euer Page nicht zu Euch paßt? Er scheint in keiner Weise in Übereinstimmung mit dem Glanz, der uns umgibt«, sagte sie, indem sie auf den prächtigen Hof mit seinen Marmorarkaden und den mit leuchtenden Azulejos bedeckten Wänden deutete.
»Als ob ich das nicht auch bemerkte«, lächelte der Bischof. »Tomas ist einer der Besten, eine beharrliche und harte Seele, ganz Gott hingegeben. Ich fürchte sehr, daß er meine Lebensweise und meine Umgebung ziemlich streng beurteilt. Die Wissenschaft und die Schönheit interessieren ihn nicht, obwohl diese doch meinen Lebensinhalt darstellen. Er haßt die Mauren mehr als den Herrn Satan, glaube ich. Ich schätze ihren Geist.«
»Warum habt Ihr ihn dann zu Euch genommen?«
»Sein Vater ist ein alter Freund von mir. Er hoffte, daß der junge Tomas bei mir vom Glauben gefesselt werden würde, allerdings von einer liebenswerteren Vorstellung, als er sie hat, aber ich fürchte, ich bin gescheitert. Er wagt nicht, mir den Dienst aufzukündigen. Indessen weiß ich, daß er sehnlichst wünscht, in den Dominikanerorden von Segovia einzutreten, und ich werde bestimmt keinen Augenblick zögern, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Er ist erst seit drei Monaten hier. Nach sechs Monaten werde ich ihn zurückschicken. Er ist wirklich zu unheimlich!«
Unmittelbar bevor sie den großen Saal betraten, in dem das Souper angerichtet war, konnte Cathérine einen Blick auf die schwarze Gestalt des Pagen erhaschen, der unten in der Mitte des Hofs neben dem Karren stand und einem Trupp von Dienern Befehle erteilte. Sie fröstelte wieder in der Erinnerung an den eisigen, verächtlichen, an Widerwillen grenzenden Blick, mit dem der unbekannte Junge sie niedergedrückt hatte.
»Wie heißt er?« konnte sie sich nicht enthalten zu fragen.
»Tomas von Torquemada. Seine Familie stammt aus Valladolid. Aber vergeßt ihn, meine Teure, und gehen wir zu Tisch.«
Es war lange her, seit Cathérine ein solches Mahl genossen hatte. Offenbar waren die Speisekammern des Erzbischofs wohl gefüllt, und seine Köche kannten jede Verfeinerung der abendländischen Küche, auch gewisse Süßigkeiten der orientalischen Kochkunst. Heiße, parfümierte Weine aus der bischöflichen Residenz des Prälaten (in die er übrigens nie den Fuß setzte) benetzten ein Festessen aus verschiedenen Fisch- und Wildbretgerichten, das mit einer Vielfalt reichlich mit Honig übergossenen Backwerks endete. Ein Heer von Dienern in roten Seidenturbanen hatte es aufgetragen, und als es beendet war, hatte Cathérine die Strapazen der Reise vergessen.
»Jetzt ist es Zeit, zu Hamza zu gehen«, hatte Don Alonso, sich erhebend, gesagt. Eifrig war sie ihm durch die riesigen, prunkvollen Säle, die langen, kühlen Gänge und die Höfe des Schlosses zum mittleren Turm gefolgt. Aber das reichliche Souper und die schweren Weine machten das Ersteigen des mächtigen Turms etwas beschwerlich, in dessen oberstem Stockwerk Don Alonso seinen kostbaren Arzt einquartiert hatte.
»Hamza beobachtet auch die Sterne«, vertraute er ihr an. »Es ist das gegebene, ihn an der höchsten Stelle meines Hauses unterzubringen, damit er den Sternen näher ist.«
Tatsächlich öffnete sich der Raum, den Don Alonso jetzt vor Cathérine betrat, durch einen langen Ausschnitt der Decke, der das dunkelblaue, mit Sternen besäte Firmament einfaßte, direkt zum Himmel. Fremdartige Instrumente standen und lagen auf einer großen Ebenholztruhe. Doch Cathérine hielt sich nicht bei ihnen auf. Auch nicht bei der unwahrscheinlichen Anhäufung von Töpfen, Fläschchen, Retorten, staubigen Pergamentrollen, Bündeln von Pflanzen und barbarischen Werkzeugen. Sie sah nur eins: den langen Marmortisch, auf dem Gauthier ausgestreckt lag, mit starken Lederriemen festgeschnallt. Neben ihm stand ein weißgekleideter Mann mit weißem Turban, der ihm mit einer dünnen Klinge, die im Schein mehrerer Dutzend gelber Wachskerzen blitzte, den Kopf rasierte. Die Hitze, die die Kerzen ausstrahlten, war erstickend, der Geruch des warmen Wachses widerlich, aber Cathérine war nur an dem Arzt interessiert. Auf der anderen Seite des Tischs bemerkte sie eben noch Josse. Der Maure Hamza bot einen imposanten Anblick. Groß und sehr korpulent, trug er den gleichen weißen, seidigen Bart, wie Cathérine ihn so oft an ihrem Freund Abu al-Khayr bewundert hatte. In seiner schneeweißen Kleidung und mit seinem beherrschenden Blick ähnelte er einem Propheten, doch seine Hände, die mit dem Kopf Gauthiers beschäftigt waren, wirkten unglaublich klein und zart, wahre Vogelkrallen am Leib eines alten Tieres. Ihre Gewandtheit hatte etwas Unwirkliches an sich.
Beim Eintritt Catherines und ihres Gastgebers unterbrach er seine Arbeit nicht, grüßte seinen Herrn nur mit einem kurzen Neigen des Kopfes und die junge Frau mit einem schnellen, gleichgültigen Blick. Cathérine betrachtete indessen unruhig die Reihe silbrig blitzender Instrumente, die auf einem mit weißglühenden Kohlen gefüllten Dreifuß ausgelegt waren. Don Alonso und Hamza tauschten ein paar schnelle Sätze, deren wesentlichsten Inhalt der Bischof übersetzte.
»Die Krankheit dieses Mannes kommt von seiner Kopfverletzung. Seht selbst. An dieser Stelle ist die Schädeldecke eingeschlagen und drückt auf das Gehirn.«
Er wies auf die Wunde, die jetzt auf der entblößten Haut des Schädels deutlich und gut sichtbar war. Die blutverkrustete Einbuchtung war nur zu klar zu erkennen.
»Also ist er verloren?« stammelte Cathérine.
»Hamza ist tüchtig«, versicherte Don Alonso lächelnd. »Er hat schon Verletzungen operiert, die von Hammerschlägen oder Waffenhieben herrührten.«
»Was wird man nun mit ihm machen?«
Zur großen Überraschung Catherines ergriff der Arzt selbst das Wort, um sie in einem beinahe fehlerlosen Französisch aufzuklären.
»Mit Hilfe dieses Meißels«, sagte er, auf eine Art Drehbohrer zeigend, dessen Ende pfeilförmig war, »werde ich die Hirnschale um die Einbuchtung herum herausschneiden, und zwar derart, daß ich den verletzten Teil wie eine kleine Kappe abheben kann. So werde ich die Schäden sehen, die möglicherweise dem Gehirn zugefügt wurden, und die vielleicht beschädigten Knochen wieder einrichten können. Wenn das nicht gelingt, müssen wir ihn der Gnade des Allmächtigen empfehlen … Aber auf jeden Fall wird Blut fließen, und das ist kein Anblick für die Augen einer Frau. Es wäre besser, wenn du dich zurückzögest«, schloß er mit einem schnellen Blick auf die junge Frau. Diese richtete sich auf und ballte die Hände.
»Und wenn ich es vorziehe hierzubleiben?«
»Dann riskierst du, ohnmächtig zu werden … und meine Aufgabe wäre darüber hinaus noch schwieriger. Mir ist es lieber, du gehst«, sagte er sanft, aber fest.
»Dieser Mann ist mein Freund, und er wird furchtbare Qualen unter deinem Messer leiden. Ich könnte ihm helfen …«
»Leiden? Glaubst du? … Sieh doch, wie fest er schläft!«
Tatsächlich schlief Gauthier in seinen Fesseln wie ein Kind, ohne auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
»Aber er wird unter dem Messer aufwachen!«
»Seinem Schlaf machen weder das Messer noch die Flamme etwas aus. Er schläft nicht nur, weil ich ihm eine Arznei gegeben habe, sondern weil ich ihm befohlen habe zu schlafen. Und er wird erst erwachen, wenn ich ihm den Befehl dazu gebe.«
Cathérine spürte, wie sich ihre Haare sträubten. Sie warf dem Mauren einen entsetzten Blick zu und bekreuzigte sich mehrere Male, so daß der Arzt lachen mußte.
»Nein, nein, ich bin nicht der Dämon, vor dem die Christen sich so fürchten. Ich habe nur in Buchara und Samarkand studiert. Dort verstehen es die Magier, eine aus dem menschlichen Willen geborene und durch das Licht verbreitete Kraft zu benützen, die sie Hypnotismus nennen, aber dies ist eine Sache, die sich schwer erklären läßt, besonders einer Frau. Jetzt werde ich beginnen … Geh!« Während er noch sprach, schnallte er den Kopf des Verwundeten mit einem Lederriemen in der gewünschten Stellung fest, ergriff ein blitzendes Skalpell und machte schnell einen kreisrunden Einschnitt in die Haut. Das Blut tropfte, rann, und Cathérine erblaßte. Sanft führte Don Alonso sie zur Tür.
»Geht jetzt in die Gemächer, die für Euch vorbereitet sind, meine Tochter. Tomas wird Euch hingeleiten. Ihr werdet den Kranken wiedersehen, wenn Hamza seine Operation beendet hat.«
Plötzliche Müdigkeit hatte Cathérine überwältigt. Ihr Kopf war schwer. Im Treppenhaus des Schloßturms angekommen, folgte sie unwillkürlich der schmalen Gestalt des Pagen, der plötzlich wiederaufgetaucht war. Tomas ging vor ihr her, ohne das geringste Geräusch zu machen, ohne ein Wort zu reden. Sie hatte den Eindruck, ein Phantom zu begleiten. Vor einer niedrigen Tür aus bemaltem und geschnitztem Zypressenholz angelangt, stieß er den Türflügel auf, trat beiseite und sagte nur:
»Hier!«
Sie trat nicht sofort ein, blieb vor dem jungen Mann stehen.
»Kommt wieder, um mich zu benachrichtigen, wenn … wenn alles vorüber ist«, bat sie mit einem Lächeln. Aber der Blick des jungen Mannes blieb eisig.
»Nein«, sagte er hart, »ich werde nicht wieder zu dem Mauren hinaufsteigen. Das ist die Höhle des Teufels, und seine Arzneikunst ist Gotteslästerung. Die Kirche verbietet Blutvergießen!«
»Aber Euer Herr ist nicht dagegen.«
»Mein Herr?« Die Lippen des jungen Torquemada zogen sich zu einem unbeschreiblichen Ausdruck der Verachtung herunter. »Ich habe keinen anderen Herrn als Gott. Bald werde ich Ihm dienen können, Dank sei Ihm gesagt! Ich werde diese Wohnung des Satans vergessen.«
Gereizt durch den feierlichen Ton und fanatischen Dünkel, die bei einem so jungen Mann ziemlich lächerlich wirkten, wollte Cathérine ihn schon an die Achtung erinnern, die er Don Alonso schuldete, als ihr Blick plötzlich abschweifte und auf einer Gestalt in der Galerie haftenblieb, die langsam näher kam: ein schwarzgekleideter Mönch. Er war sehr groß. Der Knotenstrick seiner Kutte umspannte einen knochigen Körper, und sein graues Haar war kurz geschoren und ließ eine große Tonsur frei. Auf den ersten Blick hatte dieser Mönch nichts Außergewöhnliches an sich; wenn er nicht eine schwarze Binde über einem Auge getragen hätte. Er war ein Mönch wie alle anderen, aber als er jetzt langsam auf sie zu kam, spürte Cathérine, wie ihr das Blut in den Adern gerann, während in ihrem Kopf die Gedanken wild durcheinanderwirbelten. Ein Angstschrei entrang sich ihren Lippen, und sie stürzte unter den verblüfften Augen des jungen Tomas in ihr Gemach, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran, während ihre zitternde Hand an den Hals fuhr und den Kragen aufzureißen versuchte, der sie zu erwürgen drohte. Unter der Tonsur und der schwarzen Augenbinde des Mönches hatte sie, aus dem Schatten der Galerie auftauchend und auf sie zu kommend, das Gesicht Garins de Brazey erkannt – – –
Lange glaubte Cathérine, den Verstand verloren zu haben. Alles verschwand: die Jahreszeit, die Stunde, der Ort. Nichts existierte mehr als das verwirrende Bild, das vor ihr aufgetaucht war, dieses vergessene Gesicht, seit vielen Jahren verschwunden und so jäh wieder erschienen.
Mit kraftlosen Beinen hatte sie sich zu Boden gleiten lassen, hatte sich an die Tür gelehnt und den Kopf in beide Hände genommen, als wollte sie den Sturm, der in ihrem Innern tobte, besänftigen. Die grausamen Bilder von einst stiegen wieder aus der dunklen Tiefe der Vergangenheit auf, bitter wie eine Woge von Galle. Sie sah Garin im Gefängnis, angekettet, an den Füßen gefesselt. Sie hörte wieder, wie er sie flehentlich um das Gift bat, das ihm die Schande ersparen würde, verhöhnt zu werden. Auch die Stimme Abu al-Khayrs hörte sie murmeln, während er ihm den todbringenden Wein reichte: »Er wird einschlafen … und nicht mehr erwachen.«
Dann sah sie sich selbst wieder, am nächsten Tag, die Nase ans Fenster gedrückt, nach draußen in einen grauen, regnerischen Morgen blickend. Die Bilder stellten sich jetzt sehr schnell und genau ein, wie mit der Feder gestochen: die wütende Menschenmenge, der an die Leiter gespannte schwere Ackergaul, die Pfützen grauen Wassers und die athletische rote Gestalt des Henkersknechts, der auf seinen Armen den Leib eines reglosen Mannes trug … »Er ist bestimmt tot«, hatte Sara gesagt. Und wie konnte man auch nur einen Augenblick daran zweifeln? Cathérine glaubte, noch jetzt auf den roten Fliesen dieses fremden Zimmers den großen weißen Hampelmann vor sich zu sehen, in eine Starre gebannt, die nicht täuschen konnte. Es war bestimmt die Leiche Garins gewesen, die damals, auf die Leiter gebunden, holpernd und stoßend über das grobe Pflaster geschleift worden war. Und nun der andere … der soeben in der Galerie vor ihr aufgetaucht war, der mit dem Gesicht Garins, mit der schwarzen Binde Garins? Konnte es sein, daß der Finanzminister von Burgund nicht tot, daß er durch ein unwahrscheinliches Wunder seinem Schicksal entgangen war? Aber nein, das war nicht möglich! Selbst wenn Abu al-Khayr statt eines Gifts nur eine kräftige Arznei verabreicht hätte, hatte der Leichnam des Verurteilten dennoch am Galgen gehangen. Tot oder lebendig, Garin war gehängt worden. Sara, Ermengarde, ganz Dijon hatten ihn gesehen, nackt und schauerlich am Galgen hängend … Alle hatten ihn gesehen … außer Cathérine. Und so groß war ihre Verwirrung, daß sie an sich selbst, am Zeugnis ihrer Sinne, zu zweifeln begann. War es wirklich der Leib Garins gewesen, den sie auf der Leiter gesehen hatte? Sie war an jenem Tage so verstört gewesen. Konnten ihre verweinten Augen sie nicht getäuscht haben? Andererseits, warum sollten ihre Freunde, ihre Umgebung gelogen haben, wenn sie etwas Verdächtiges bemerkt hätten? War die Sinnestäuschung denn so vollkommen gewesen, daß eine ganze Stadt sich von ihr hatte einfangen lassen?
Und plötzlich schoß ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Wenn Garin noch lebte, wenn er es wirklich war, den sie eben in dieser Mönchskutte bemerkt hatte, dann war ihre Heirat mit Arnaud null und nichtig, dann war sie eine Bigamistin, und Michel, ihr kleiner Michel, war nur ein Bastard!
Mit all ihren Kräften wies sie diesen scheußlichen Gedanken, der in ihr aufgestiegen war, zurück. Sie wollte es nicht, es durfte nicht sein! Gott und das Schicksal konnten ihr das nicht antun! Von Garin hatte sie nur Leid und Verzweiflung erfahren. Er hatte ihr ein prächtiges, aber würdeloses Leben ermöglicht, ein Leben, wie sie es um nichts in der Welt wieder führen wollte. »Ich werde noch verrückt!« sagte sie laut. Und dann zerriß der drohende Schleier des Wahnsinns. Und alsbald stellte sich brutal die Reaktion ein. Cathérine straffte sich. Sie wollte fliehen, dieses Schloß sofort verlassen, in dem solche Schatten geisterten, den sengenden Weg der Sonne wiederfinden, der zu Arnaud führte. Ob er nun lebte oder tot war, ob Mensch oder Phantom, sie würde ihr Leben nicht durch Garin zerrütten lassen. Er war tot, und tot sollte er bleiben. Und um nicht das Risiko einzugehen, erkannt zu werden, mußte sie fliehen. Sie wandte sich zur Tür, wollte sie öffnen …
»Dama«, sagte eine leise Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum. In der Tiefe des Gemachs, neben einem von Säulen umrahmten Fenster, knieten zwei junge Dienerinnen vor einer großen offenen Truhe aus bemaltem und vergoldetem Leder. Sie entnahmen ihr schimmernde Seidengewänder und breiteten sie über die roten Fliesen des Bodens. In ihrer Panik hatte Cathérine sie nicht einmal gesehen. Sie rieb sich, wieder in die Wirklichkeit versetzt, die Augen. Nein … es war nicht möglich zu fliehen. Da war ja Gauthier, ihr Freund Gauthier, den sie nicht im Stich lassen konnte. Ein Schluchzen entrang sich ihr. Mußte sie denn immer die Gefangene ihres Herzens bleiben, Gefangene der Bande, die es mit dem einen oder anderen ihrer Umgebung verknüpften?
Verlegen, weil sie sich bei einem Schwächeanfall, in völliger Verwirrung hatte überraschen lassen, antwortete sie mechanisch auf das schüchterne Lächeln der kleinen Dienerinnen, die ihr um die Wette Gold- und Silberbrokatstoffe, schimmernde Seide oder weichen Samt, drei Roben einer verstorbenen Schwester des Erzbischofs anboten. Die beiden jungen Mädchen traten näher, ergriffen ihre Hände und zogen sie zu einer Fußbank, bedeuteten ihr, sich zu setzen, und begannen sie ohne lange Umschweife zu entkleiden. Cathérine ließ es ohne Widerrede geschehen, ihre Gedanken wanderten und fanden mühelos zurück zu den alten Gewohnheiten von einst, als sie sich noch lange Minuten der ehrerbietigen Fürsorglichkeit der von Sara geleiteten Mägde überlassen hatte.
Die Erinnerung an ihre alte Freundin machte Cathérine mit einem Schlage deutlich, wie einsam sie war. Was hätte sie darum gegeben, Sara an diesem Abend bei sich zu haben! Wie hätte die Zigeunerin wohl auf dieses verwirrende Zusammentreffen reagiert? fragte sich die junge Frau. Und die Antwort kam bald, unverzüglich und klar. Sara hätte sich dem Phantom ohne jede Umschweife an die Fersen geheftet, hätte es verfolgt und sein Schweigen durchbrochen. Sie hätte ihm die Wahrheit entrissen.
»Auch ich werd's tun«, sagte Cathérine mit nachdenklicher Stimme. »Ich muß es wissen.«
Es war sonnenklar. Es würde weder Rast noch Ruhe geben, wenn sie nicht bis zum Kern des Geheimnisses durchdränge. Vorhin hatte der Mönch, ganz in seine Lektüre versunken, sie nicht bemerkt. Er mußte sie sehen, ganz deutlich, im vollen Licht. Seine Reaktion würde sie aufklären. Und danach …
Cathérine verbot sich, an das zu denken, was danach käme. Aber sie wußte im voraus, daß sie von neuem zum Kampf bereit war. Nichts, niemand, nicht einmal ein Gespenst aus dem Reich des Todes würde sie von Arnaud abbringen. Garin mußte tot sein, unbedingt tot, damit ihre Liebe leben konnte. Außerdem würde er, wenn er wirklich dem Tode entkommen war, zweifellos nicht wieder in sein einstiges Leben zurückkehren wollen; weshalb denn sonst das geistliche Kleid, weshalb dieses im Innern einer Festung des alten Kastiliens vergrabene Leben? Der Mann war Mönch, Gott hingegeben, Gott so eng verbunden, wie sie ihrem Gatten verbunden war. Und Gott ließ seine Beute niemals frei. Aber sie wollte trotzdem Gewißheit …
Die frischere Nachtluft, die durch das offene Fenster hereindrang, ließ sie frösteln. Die beiden Dienerinnen hatten sie gewaschen, ohne daß es ihr bewußt geworden war, und rieben jetzt ihre Haut mit ätherischen Ölen und seltenen Essenzen ein. Mit dem Finger deutete sie aufs Geratewohl auf eins der reichen Gewänder, die um sie herumlagen. Eine Woge sonnengelber Seide rauschte über ihren Kopf und rieselte in unzähligen schweren Falten an ihr nieder, doch ihr war zu bang im Herzen, als daß sie für die zarte Liebkosung des Stoffes empfänglich gewesen wäre. Einst hatte sie prächtige Gewänder und wundervolle Stoffe geliebt, aber das war schon lange her. Wozu war ein schmeichelndes Gewand gut, wenn es nicht für den Blick des geliebten Mannes bestimmt war?
Im Hintergrund des großen Gemachs schlugen die Dienerinnen die gestickten Vorhänge eines erhöhten Bettes aus Ebenholz mit Elfenbeinintarsien zurück, aber sie machte ihnen ein Zeichen, daß sie sich noch nicht zur Ruhe begeben wolle. Mit den vielen unbeantworteten Fragen, die in ihrem Kopfe kreisten, konnte sie nicht schlafen. Festen Schrittes, die seidenrauschende Schleppe ihres Gewandes hinter sich, ging Cathérine auf die Tür zu und öffnete sie. Auf der Schwelle vor ihr stand Josse.
Verblüfft über ihre prunkvolle Kleidung, machte er einen Augenblick große, runde Augen, doch bald trat sein bedächtiges Lächeln wieder auf seine Züge.
»Es ist erledigt«, sagte er. »Die Sklaven des Mauren haben unseren Verwundeten in ein Bett getragen. Wollt Ihr ihn sehen, bevor Ihr schlafen geht?«
Sie machte ein bejahendes Zeichen, schloß die Tür hinter sich, nahm Josses Arm und trat mit ihm in die lange Galerie, in der vorhin das Phantom verschwunden war. Fackeln erhellten sie in Abständen. Cathérine ging schnellen Schrittes und aufrechten Hauptes, die Augen geradeaus gerichtet, doch Josse beobachtete sie von der Seite. Schließlich sagte er:
»Ihr habt Kummer, Dame Cathérine.«
Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ich sorge mich um Gauthier, das ist ganz natürlich.«
»Nein. Als Ihr das Turmzimmer verließt, hattet Ihr nicht dieses gespannte Gesicht, und Euer Blick war nicht so gehetzt. Es ist Euch etwas zugestoßen. Was?«
»Ich müßte eigentlich wissen, daß Ihr Augen habt, die selbst in der dunkelsten Nacht sehen können«, entgegnete sie mit dem Schatten eines Lächelns. Außerdem war ihr Entschluß gefaßt. Josse war gescheit, gewandt, tüchtig und voll Verschlagenheit. Wenn er Sara auch nicht ganz ersetzen konnte, so wußte Cathérine wenigstens, daß sie ihm Vertrauen schenken konnte.
»Es ist wahr«, gestand sie. »Ich hatte vorhin ein Zusammentreffen, das mich beeindruckt hat. In dieser Galerie habe ich einen Mönch bemerkt. Er war groß, hager, hatte graues Haar, ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt und trug außerdem eine schwarze Binde über dem einen Auge. Ich möchte gern wissen, wer dieser Mönch ist. Er … er ähnelt auf erschreckende Weise jemand, den ich gut gekannt habe und den ich für tot hielt.« Wieder lächelte Josse.
»Gemacht. Ich führte Euch zu Gauthiers Zimmer und werde mich dann erkundigen.«
Er verließ sie vor der Tür eines im Schloßturm, doch weit unter dem des Mauren gelegenen Gemachs und verschwand dann schnell und behende wie ein Luftzug auf der Wendeltreppe.
Der Raum, von viel kleineren Ausmaßen als der ihre, enthielt nichts als ein Bett, das schlecht geeignet schien, den riesigen Körper des Normannen aufzunehmen, und zwei Fußbänke.
Auf Zehenspitzen trat Cathérine näher. Auf dem Rücken liegend, den rasierten Kopf in einen umfangreichen Verband gehüllt, schlief Gauthier, nur beleuchtet vom unsicheren Licht einer auf einer der Fußbänke stehenden Kerze. Sein Gesicht war ruhig, entspannt, aber Cathérine kam es ungewöhnlich rot vor. Sie dachte, er habe vielleicht Fieber, und beugte sich hinunter, um seine auf der Decke liegende Hand zu ergreifen, aber eine andere Hand hielt sie zurück. Aus dem Schatten der Vorhänge sah sie Hamza, den Finger auf den Lippen, hervortreten.
»Ich habe ihm ein starkes Mittel gegeben, damit er schläft«, flüsterte er. »Sonst könnten die Schmerzen die Heilung gefährden. Laß ihn, das Fieber steigt.«
»Wird er gesunden?«
»Ich hoffe es. Das Hirn ist nicht verletzt worden, und die Konstitution dieses Mannes ist außergewöhnlich, aber man kann nie wissen, ob nicht Spuren zurückbleiben.«
Sie gingen beide hinaus. Hamza riet Cathérine, sich jetzt zur Ruhe zu begeben, und versicherte ihr, Don Alonso schlafe für seine Begriffe schon lange. Mit einem kurzen Gruß stieg er sodann wieder zu seinem Laboratorium hinauf und ließ die junge Frau allein die Treppe hinuntergehen. Langsam überquerte sie den Hof der zweiten Umwallung und sog dabei die Düfte des schlafenden Landes ein. Alle wilden Pflanzen, die die Sonne während des Tages erwärmt hatte, strömten ihre kräftigen Wohlgerüche aus. Die Luft roch herrlich nach Thymian und Majoran. Die wilde Erregung, die sie heimgesucht hatte, weckte in Cathérine den tiefen Wunsch nach Frieden und Stille. Um sie herum war das rote Massiv des Schlosses in die Nacht getaucht. Kein Geräusch war zu hören, ausgenommen von Zeit zu Zeit der langsame Schritt eines Wachtpostens oder der Schrei eines Nachtvogels. Sie hielt sich einen Augenblick unter den Arkaden auf, wo die Azulejos wie Seide im Mondlicht schimmerten, und versuchte, sich die unregelmäßigen, schweren Schläge ihres Herzens zu erklären. Dann wandte sie sich in der Annahme, daß Josse vielleicht schon in ihrem Gemach auf sie warte, zur Treppe, um zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen, als der Page Tomas von Torquemada plötzlich hinter einer Säule hervortrat. Die junge Frau zuckte zusammen, unangenehm berührt von seiner Gewohnheit, da und dort aufzutauchen, ohne daß man sein Nahen hätte hören können, als wäre er der böse Geist dieses Herrensitzes. Diesmal jedoch war die Überraschung gegenseitig. Angesichts der in ihre prachtvolle Robe gehüllten jungen Frau mit dem Heiligenschein ihres Goldhaars, das nur über der Stirn hochgenommen war und hinten herabfiel, blieb der unheimliche Junge sprachlos.
So standen sie sich einen Augenblick gegenüber. Cathérine sah, wie ein ungläubiger Ausdruck in den eisigfahlen, starren Blick trat, zugleich aber auch eine Art abergläubischer Furcht. Die zusammengepreßten Lippen öffneten sich halb, aber kein Ton entrang sich ihnen. Tomas fuhr nur mit der Zungenspitze darüber, während seine plötzlich funkelnden Augen am Hals der jungen Frau hinunterglitten, dem Schnitt des tiefen Dekolletés folgten, im süßen Tal ihres Busens verweilten, wo die weiche Seide des Gewandes, durch ein Goldband unter der Brust gerafft, die vollkommenen Formen hervortreten ließ. Offensichtlich hatte der Junge noch nie etwas Ähnliches erblickt, aber wie er vor ihr stand, ohne anscheinend zur Seite treten zu wollen, warf die junge Frau ihm ein kaltes Lächeln zu, während ihre Hand instinktiv ihren Busen verhüllte.
»Würdet Ihr mich bitte vorbeigehen lassen?« fragte sie.
Beim Ton dieser Stimme schreckte Tomas wie aus einem Traum auf. Etwas wie Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht, das nach flüchtigem Erröten seine tragische Blässe wiederfand. Bestürzt bekreuzigte er sich mehrere Male, streckte die Arme vor sich, wie um die höchst verführerische Erscheinung zurückzustoßen, und rief dann mit heiserer Stimme: »Vade retro Satanas!« … Dann drehte er sich auf den Fersen um und rannte Hals über Kopf davon. Die schwarzen Schatten des Hofs verschlangen ihn alsbald. Cathérine zuckte mit den Schultern und ging ihres Weges. Auf der Galerie fand sie in der Nähe ihrer Tür Josse vor, der, mit verschränkten Armen an einem Fenstersims lehnend, auf sie wartete.
»Nun?« fragte sie begierig. »Habt Ihr erfahren, wer dieser Mönch ist?«
»Er heißt Fray Ignacio, aber es ist nicht leicht, die Leute des Erzbischofs über diesen Mann zum Sprechen zu bewegen. Sie scheinen alle eine Heidenangst zu haben. Ich glaube, sie fürchten ihn noch mehr als den Mauren oder den schwarzen Pagen mit dem bösen Engelsgesicht.«
»Aber woher kommt er? Was tut er hier? Seit wann wohnt er in diesem Schloß?«
»Dame Cathérine«, bemerkte Josse ruhig, »ich glaube, Don Alonso, der Eure Gesellschaft sehr zu schätzen scheint, kann Euch über ihn besser aufklären als ich, denn es gibt hier niemand außer ihm, der mit Fray Ignacio zu tun hat. Dieser beschäftigt sich mit Alchimie, mit der Verwandlung von Metallen. Er sucht wie viele andere den Stein der Weisen. Aber vor allem ist er beauftragt, den Schatz des Erzbischofs, die außerordentliche Sammlung von Edelsteinen, die er besitzt, zu bewachen. Ein Vertrauter Don Alonsos hat mir gesagt, Fray Ignacio sei Fachmann auf diesem Gebiet, und … aber, Dame Cathérine, ist Euch plötzlich nicht wohl?«
Tatsächlich hatte sich die junge Frau erblassend an die Wand stützen müssen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und der Boden versank unter ihren Füßen. Josse konnte nicht verstehen, was sie an der Tatsache, daß der geheimnisvolle Mönch viel über Edelsteine wissen sollte, so aufregte. Garin hatte ebenfalls früher kostbare Steine mit Leidenschaft gesammelt.
»Es ist nichts«, sagte sie mit matter Stimme. »Ich bin nur todmüde. Ich … ich kann mich nicht mehr aufrecht halten.«
»Dann aber schnell zu Bett!« sagte Josse mit gutmütigem Lächeln. »Sonst habe ich übrigens nichts mehr erfahren. Ich darf nur hinzufügen, daß man Fray Ignacio selten begegnet. Er verläßt die Privatgemächer Don Alonsos nie, wo er sein Alchimistenkabinett hat und wo sich die Schatzkammer befindet.«
Während er sprach, stieß er vor Cathérine die bemalte Tür auf, den Blick in das von hohen roten Kerzen sanft beleuchtete Zimmer freigebend. Sie trat ein, mit hängenden Schultern, rundem Rücken und einem Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit. Josse sah ihr wortlos nach. Er begriff nicht, warum dieser Fray Ignacio die junge Frau derart verstörte, aber etwas wie Mitleid für das junge Geschöpf regte sich in ihm, für dieses vollkommen schöne Geschöpf, dessen Leben statt aus Lieblichkeit und Anmut nur aus einer ununterbrochenen Kette gnadenloser Kämpfe und Schwierigkeiten bestand, wie sie einem starken, energischen Mann angemessen gewesen wären. Er fühlte vage, daß er ohne Zweifel die größte Tat seines ganzen Lebens vollbracht hatte, als er sich an ihr Schicksal kettete. Ohne zu wissen, warum, und von einer ihm unerklärlichen Macht getrieben, murmelte der ehemalige Landstreicher mit einem Blick auf die in der Mitte des Gemachs erstarrt stehende, niedergedrückte Gestalt:
»Mut, Dame Cathérine! Eines Tages, das weiß ich, werdet Ihr glücklich sein … so glücklich, daß Ihr alle schlechten Tage vergeßt.«
Langsam wandte sich Cathérine zu Josse um. Er hatte soeben ausgesprochen, was sie so dringend brauchte; seine Worte entsprachen genau ihrem flehentlichen Wunsch nach Nachsicht und Mitgefühl, so daß sie sie ohne Überraschung vernahm, ohne wissen zu wollen, warum er sie plötzlich ausgesprochen hatte … Ihre Blicke kreuzten sich. Sie las in den seinen eine wahre, ehrliche, von leidenschaftlicher Begierde ungetrübte Freundschaft. Eine Freundschaft, wie sie ein Mann einem anderen entgegenbringt, und im Grunde war dies genau das, was das Schicksal aus ihnen gemacht hatte: Kampfgefährten! Es war eine so gute und warme Sicherheit, so tröstlich, daß es Cathérine gelang zu lächeln.
»Danke, Josse«, sagte sie einfach.
In den langen, graziösen Fingerspitzen Don Alonsos blitzte der Smaragd im Fackelschein im reinsten Licht und warf Reflexe, die der Erzbischof in einem wahren Freudenrausch betrachtete. Er wurde nicht müde, den Stein hin und her zu wenden, und dann und wann entlockten ihm die blaugrünen Funken, die er sprühte, begeisterte Ausrufe. Er sprach mit diesem Stein wie mit einer Frau. Er sagte ihm Liebesworte, die Cathérine mit Erstaunen hörte.
»Glanz der Meerestiefe, Wunder ferner Länder, wo die Augen der Götter dein geheimnisvolles Funkeln haben! Welcher Stein ist schöner als du, lockender, geheimnisvoller und gefährlicher, unvergleichlicher Smaragd! Denn man nennt dich boshaft und unheilvoll …«
Jäh unterbrach der Erzbischof seine amouröse Litanei, wandte sich zu Cathérine um und drückte ihr heftig den Ring wieder in die Hand.
»Bewahrt ihn, versteckt ihn! Ich darf mich von einem Edelstein dieser Schönheit nicht in Versuchung führen lassen, denn sie macht mich schwach.«
»Ich hoffte eigentlich«, sagte die junge Frau leise, »Eure Hoheit würden ihn als Dank für die meinem Diener so sorgsam erwiesene Betreuung und die mir gewahrte großzügige Gastfreundschaft annehmen.«
»Ich wäre gemein und meines Namens nicht würdig, meine Teure, wenn ich das eine wie das andere einer Frau meines Ranges nicht reichlich zuteil werden ließe. Ich möchte nicht dafür bezahlt werden, da meine Ehre dies nicht zuließe. Und es wäre eine königliche Bezahlung, denn dieser Stein trägt obendrein noch das Wappen einer Königin …«
Langsam streifte Cathérine unter dem leidenschaftlichen Blick Don Alonsos den Ring über ihren Finger, unterdrückte aber ein enttäuschtes Lächeln. Sie hatte beschlossen, ihrem Gastgeber den kostbaren Ring anzubieten, in der Hoffnung, schließlich zur Besichtigung der Sammlung eingeladen zu werden, als deren Kustos Fray Ignacio waltete. In den fast zehn Tagen, die sie jetzt in Coca war, hatte sie das beunruhigende Gesicht nie wiedergesehen, dem zu begegnen sie sehnlichst wünschte, obwohl sie sich gleichzeitig davor fürchtete. Fray Ignacio war verschwunden, als hätten die Mauern des roten Schlosses ihn verschluckt. Und Cathérine fühlte von Augenblick zu Augenblick die grausame Neugier in ihr wachsen, die sie verzehrte. Sie mußte Gewißheit haben. Und zwar zu welchem Preis auch immer! Aber wie konnte sie ohne einen triftigen Grund mit Don Alonso darüber sprechen?
Es kam ihr ein ziemlich heuchlerischer Gedanke. Aber sie zögerte nicht, ihn in die Tat umzusetzen. Sie mußte in diese Geheimgemächer eindringen, in denen der Alchimist wohnte. Nachdenklich den Ring an ihrem Finger drehend, sagte sie leise, die Augen auf den Stein gesenkt:
»Offenbar ist dieser Stein nicht ganz vollkommen … zweifellos unwürdig, unter die Preziosen Eurer Sammlung aufgenommen zu werden … von der es heißt, es gebe nicht ihresgleichen.«
Eine Welle des Stolzes überzog purpurrot das Gesicht des Erzbischofs. Er lächelte die junge Frau mit absolutem Wohlwollen an und schüttelte heftig den Kopf.
»Meine Sammlung ist in der Tat schön! Aber nicht ihresgleichen? … Das glaube ich nicht. Es gibt Fürsten mit besseren Kollektionen, doch, so wie er ist, kann mein bescheidener Schatz sich sehen lassen, und ich versichere Euch, daß ich diesen Stein nicht verschmähen würde, weit entfernt davon. Wenn ich ihn ablehne, so aus den Gründen, die ich Euch genannt habe, aus keinen anderen. Und hier der Beweis dafür: Wenn Ihr mir den Ring verkaufen wollt, würde ich ihn mit Freuden annehmen!«
»Er ist ein Geschenk«, seufzte Cathérine, die ihre Hoffnung schwinden sah. »Ich kann ihn nicht verkaufen …«
»Das ist ganz natürlich. Was meine Kollektion anlangt, so wäre ich glücklich, sie Euch zu zeigen … damit Ihr vergleichen und Euch vergewissern könnt, daß Euer Ring sie nicht verunzieren würde, ganz und gar nicht.«
Mit Mühe unterdrückte Cathérine ihre Freude. Sie hatte gewonnen, und begierig folgte sie ihrem Gastgeber durch das Labyrinth der Flure und Säle des Schlosses. Dann über eine Treppe, denn statt die junge Frau in die oberen Räume seines Wohnsitzes zu führen, wandte er sich diesmal den Kellern zu. Eine schmale, unter den blauen Azulejos des Audienzsaales verborgene Pforte gab eine Wendeltreppe frei, die ins Erdinnere hinunterführte. Eine Treppe, die häufig benutzt zu werden schien, denn sie war von zahlreichen Fackeln gut beleuchtet. Die Stufen waren niedrig, breit und bequem, und an einer dicken, an der Mauer angebrachten Seidenkordel konnte man sich festhalten. Die Wände selbst verschwanden unter gestickten Behängen. Und was die Pracht des Saals betraf, in den die Wendeltreppe mündete, so war sie einfach verblüffend. Wenn man die kostbaren Gobelins an den Wänden sah, die Brokatkissen auf den Sitzen, den goldeingelegten Tisch mit den mit Edelsteinen besetzten Pokalen und kostbaren Wasserkannen, die aus dem fernen China stammenden, da und dort auf dem roten Marmorboden verstreuten Seidenteppiche und die vergoldeten Kerzenständer, die ganze Wälder hoher weißer Kerzen trugen, erriet man, daß Don Alonso sich lange und häufig in diesem Raum aufhalten mußte, um den Inhalt der einen oder anderen großen Truhe aus duftendem Zedernholz oder goldbeschlagenem Sandelholz oder bemaltem und vergoldetem Leder zu betasten und in die Hand zu nehmen. Alle waren mit starken Bronzeschlössern versehen, die beinahe unüberwindlich schienen. Im Hintergrund dieses Raums, der länger als breit war, bemerkte Cathérine ein weit schlichter wirkendes Gewölbe. Auf einem großen Backsteinofen brodelte dort eine grüne Flüssigkeit in einem hohen Kolben, der mittels eines langen Rohrs mit einer riesigen Kupferwanne verbunden war, in der etwas rauchte. Zweifellos hatte sie die Küche des Alchimisten vor sich. Aber sie hielt sich nicht weiter damit auf, die Ausstattung im einzelnen zu betrachten; ihr Herzschlag setzte aus, ihre Lippen wurden trocken, sie hatte soeben neben einer der grünen, kleinen, schmalen Marmorsäulen, die das Gewölbe trugen, die ernste Gestalt Fray Ignacios entdeckt. Vor einer offenen Truhe stehend, prüfte der geheimnisvolle Mönch sorgfältig einen Topas von außergewöhnlicher Größe und Farbe. Er war derart in sein Tun versunken, daß er nicht einmal den Kopf gewandt hatte, als Don Alonso und Cathérine den Fuß in die Schatzkammer gesetzt hatten. Sein Herr mußte ihm die Hand auf die Schulter legen, damit er aufblickte. Cathérine erstarrte, als sie, voll angestrahlt vom Licht eines nahen Kerzenständers, das Gesicht ihres ersten Gatten erkannte. Sie spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat und das Blut zum Herzen zurückströmte. Dem Ersticken nahe, preßte sie nervös die Hände aneinander, um ihrer Erregung Herr zu werden. Nichts ahnend von dem Sturm, der im Herzen seines Gastes tobte, richtete Don Alonso schnell ein paar Worte an Fray Ignacio, der zustimmend nickte. Dann wandte er sich der jungen Frau zu.
»Das ist Fray Ignacio, Dame Cathérine. Er ist ein geistreicher Mensch und gleichzeitig eine wahrhaft heilige Seele; hinzu kommt, daß er auf Grund seiner alchimistischen Forschungen auf dem Gebiet der Zusammensetzung der Edelsteine von seinesgleichen als eine Art Zauberer angesehen wird. Bei mir hat er die Ruhe und die für seine Arbeiten günstige Sammlung gefunden, ebenso wie die Mittel, sie zum guten Ende zu führen. Außerdem kenne ich auf dem Gebiet der Edelsteine keinen kompetenteren Fachmann als ihn. Zeigt ihm nun Euren Ring …«
Die junge Frau, die sich bis dahin im Schatten einer Säule gehalten hatte, trat ein paar Schritte vor, erschien im vollen Licht und hob kühn den Kopf, um dem Mönch direkt ins Gesicht zu blicken. Angst krampfte ihr Herz zusammen, als das einzige Auge Fray Ignacios sich auf sie richtete, aber sie hatte genügend Gewalt über sich, um nichts zu zeigen. Prüfend musterte sie dieses aus dem Nichts hervorgetretene Gesicht, mit einer wilden Gier auf ein Zucken, ein Anzeichen der Bestürzung, der Unruhe lauernd … Doch nein! Fray Ignacio neigte mit ernstem Anstand den Kopf, um die Frau zu grüßen, die in ein auf ihre Augen abgestimmtes veilchenblaues, durch einen Goldgürtel über einem weißen Seidenrock geschürztes Samtgewand gekleidet war.
Nichts in seinem verschlossenen Gesicht deutete das geringste Anzeichen eines Erkennens an.
»Nun?« sagte Don Alonso ungeduldig. »Zeigt ihm den Smaragd …«
Sie hob die schmale Hand in dem weißseidenen, goldverschnürten Ärmel, der ihre Finger zum Teil bedeckte, und hielt den Ring ins Licht, aber ihr Blick blieb fest auf dem Mönch haften. Ohne Erregung ergriff dieser die ihm dargebotene Hand, um den Stein zu prüfen. Seine Finger kamen ihr trocken und warm vor. Bei ihrer Berührung begann Cathérine zu zittern. Fray Ignacio warf ihr einen fragenden Blick zu, machte sich aber sofort wieder an die Prüfung des Steins, die günstig ausgefallen sein mußte, denn er schüttelte mit einer Bewunderung den Kopf, die in ihrem Übermaß die nervöse Erbitterung Catherines noch steigerte. War dieser Mann denn stumm? Sie wollte seine Stimme hören.
»Man kann wohl sagen, daß dieser Smaragd, den Ihr für mangelhaft haltet, Fray Ignacio sehr gefällt«, meinte der Erzbischof lächelnd.
»Kann er nichts sagen?« fragte die junge Frau. »Oder ist dieser heilige Mönch stumm?«
»Durchaus nicht. Aber er spricht Eure Sprache nicht.«
Tatsächlich antwortete Fray Ignacio auf die Frage, die sein Herr ihm stellte, mit langsamer und ernster Stimme … mit einer Stimme, die ebensogut die Garins, durch die fremde Sprache oder absichtlich entstellt, oder die Stimme eines anderen sein konnte.
»Ich werde Euch meine Smaragde zeigen«, beeilte sich der Erzbischof zu sagen. »Sie kommen fast alle aus dem Dschebel Sikait und sind von großer Schönheit …«
Während er sich entfernte, um eine in der Mitte des Raums stehende Truhe zu öffnen, hielt Cathérine, mit Fray Ignacio alleingeblieben, mit der Frage, die ihr auf den Lippen brannte, nicht länger zurück.
»Garin«, sagte sie leise, »bist du es? Antworte mir, um Gottes willen! Denn du erkennst mich, nicht wahr?«
Der Mönch warf ihr einen überraschten Blick zu. Ein leises, trauriges Lächeln löste leicht seinen fest verschlossenen Mund. Langsam schüttelte er den Kopf …
»No comprendo …«, sagte er leise, um sich sofort wieder seinem Topas zuzuwenden. Cathérine trat heran, als wollte sie den riesigen Stein ebenfalls näher betrachten. Der Samt ihres Gewandes berührte den groben Wollstoff der Mönchskutte. Zorn stieg in ihr auf. Die Ähnlichkeit, selbst aus nächster Nähe, schrie zum Himmel. Sie hätte schwören können, daß dieser Mann Garin war … und dennoch … die Schwerfälligkeit seiner Gesten, auch die heisere Rauheit seiner Stimme machten sie unsicher.
»Sieh mich an«, bat sie ihn flehentlich, »tu nicht so, als erkenntest du mich nicht. So sehr habe ich mich nicht verändert. Du weißt genau, daß ich Cathérine bin.«
Aber von neuem schüttelte der rätselhafte Mönch den Kopf. Hinter sich hörte Cathérine die schöne, sonore Stimme Don Alonsos, der sie rief, die Steine zu bewundern, die er soeben ausgesucht hatte. Sie zögerte kurz, warf Fray Ignacio einen schnellen Blick zu. Ruhig legten seine Hände, deren Bewegungen durch kein Zittern beeinträchtigt wurden, den großen Topas auf den Samt einer kleinen Truhe zurück, die noch andere seiner Art barg. Er schien die junge Frau bereits vergessen zu haben.
Die Stunde, die Cathérine in dem Kellerraum verlebte, mußte bei ihr den Eindruck eines Wachtraums hervorrufen. Ohne sie wirklich zu sehen, betrachtete sie die Steine von verschiedenem Glanz und großer Schönheit, die ihr Gastgeber ihr zeigte, aber ihre ganze Aufmerksamkeit galt der ernsten schwarzen Gestalt. Sie versuchte, eine Bewegung, einen Ausdruck, einen Blick zu erhaschen, die ihr vielleicht den Schlüssel zu diesem lebenden Rätsel hätten verschaffen können. Vergebens. Fray Ignacio hatte seine Arbeit wiederaufgenommen, als wäre er völlig allein. Er begnügte sich mit der gleichen kurzen Verneigung wie bei ihrem Eintritt, als Cathérine und Don Alonso die Schatzkammer verließen. Sie stiegen schweigend zu den Gemächern hinauf.
»Ich werde Euch in Euer Zimmer zurückführen«, sagte der Erzbischof liebenswürdig.
»Nein … bitte! Ich danke Euer Hoheit, aber ich möchte mich, bevor ich mit zurückziehe, noch nach dem Befinden meines Dieners erkundigen. Ich werde zu ihm gehen.« Sie wollte sich schon entfernen, besann sich aber eines Besseren und sagte: »Indes hätte ich gern etwas gewußt: Dieser Fray Ignacio scheint mir ein außerordentlicher Mensch zu sein. Ist er schon lange als Kustos all dieser Wunder tätig?«
»Sieben oder acht Jahre, glaube ich«, erwiderte Don Alonso ohne Mißtrauen. »Meine Leute haben ihn eines Tages Hungers sterbend auf der großen Landstraße gefunden. Er war von seinen Brüdern des navarresischen Klosters verjagt worden, wo er aus seinen seltsamen Praktiken einen Beruf gemacht hatte. Ich glaube, ich habe es Euch bereits erzählt: Man hielt ihn für einen Hexenmeister. Übrigens … ist er das nicht in gewissem Maße? Damals begab er sich nach Toledo, wo er sich in die Kabbala einführen lassen wollte. Aber all dies ist für Euch von geringem Interesse.
Ich verlasse Euch jetzt, Dame Cathérine, und begebe mich zur Ruhe. Ich fühle mich ziemlich erschöpft.«
Die Betrachtung seiner Schätze mußte die übliche Nervosität Don Alonsons noch verstärkt haben, denn bevor er sich entfernte, bemerkte Cathérine, daß sein Gesichtszucken ausgeprägter war als je.
Die letzten Worte des Prälaten hallten ihr im Kopf wider. Sie fuhr sich mit zitternder Hand über die feuchte Stirn … Sieben oder acht Jahre! … Es war zehn Jahre her, daß Garin gehenkt worden war. Hatte er sich dann durch ein Wunder in dieses navarresische Kloster retten können, aus dem er wegen Hexerei verjagt worden war? Oder hatte es das navarresische Kloster nie gegeben? Übrigens, dieser Vorwurf der Hexerei quälte sie. Garin liebte Edelsteine, und darin ähnelte er dem geheimnisvollen Mönch. Andererseits hatte Cathérine nie gesehen, daß er sich mit Alchimie beschäftigt hätte. Er hatte für alles mögliche Interesse, gewiß, aber es hatte in dem Haus der Rue de la Parcheminerie kein Laboratorium gegeben, auch nicht in Brazey. Mußte man daraus schließen, daß er sich verborgen hatte, um sich seinen geheimen Forschungen zu widmen? … Oder daß er nach dem Zusammenbruch seines Vermögens Geschmack daran bekommen hatte? Den märchenhaften Stein der Weisen zu finden – welche Verlockung für einen von allem entblößten Mann!
Jäh riß Cathérine sich aus ihrer Träumerei. Ohne weitere Überlegung wandte sie sich dem Hauptturm zu und tat so, als bemerke sie Tomas nicht, der plötzlich im Hof aufgetaucht war. Seit ihrer Ankunft begegnete sie dauernd diesem unheimlichen Pagen. Er tauchte auf ihrem Wege auf, wenn sie in die Kapelle, zum Hauptturm oder in jeden anderen Schloßteil ging, ohne daß sie jemals sein Nahen voraussehen konnte. Er richtete das Wort nie an sie, begnügte sich damit, sie mit Augen anzusehen, in denen sich Zorn und Begehrlichkeit die Waage hielten, doch nur von fern, ohne sich zu nähern. Cathérine, die diese lange Gestalt mit Unbehagen erfüllte, gab sich den Anschein, seine Gegenwart nie zu bemerken. An diesem Abend tat sie dasselbe und stieg, ohne anzuhalten, zu Gauthiers Zimmer hinauf.
Der Normanne erholte sich schnell von der Operation, die Hamza an ihm vorgenommen hatte. Seine außergewöhnliche Konstitution in Verbindung mit der peinlichsten Sauberkeit, mit der sein Arzt ihn umgab, dazu die ausgezeichnete Verpflegung, die im Schloß verabfolgt wurde, hatten ihn alle Gefahren überstehen lassen, die solche Eingriffe so oft tödlich ausgehen ließen. Leider jedoch schien der Riese das Gedächtnis verloren zu haben.
Gewiß hatte er die Klarsicht wiedergefunden, das völlige Erkennen dessen, was um ihn vorging, und sein Bewußtsein war wiederhergestellt. Aber an all das, was vor der Minute, in der er die Augen im Turmgemach aufgeschlagen hatte, vor sich gegangen war, hatte er keinerlei Erinnerung. Nicht einmal an seinen Namen konnte er sich erinnern, und über diesen Tatbestand geriet Cathérine in Verzweiflung. Als der maurische Arzt ihr mitgeteilt hatte, Gauthier habe das Bewußtsein wiedererlangt, war sie sofort zu ihm geeilt, doch als sie sich über das Bett gebeugt hatte, war sie von grausamem Schmerz heimgesucht worden. Der Riese hatte sie mit bewundernden Augen angeblickt, als sei sie eine Erscheinung, aber nichts hatte angedeutet, daß er sie wiedererkannte. Darauf hatte sie zu ihm gesprochen, hatte ihren Namen genannt, hatte wiederholt, daß sie Cathérine sei, die er doch wiedererkennen müsse … doch Gauthier hatte nur den Kopf geschüttelt.
»Verzeiht mir, Dame«, hatte er gemurmelt. »Gewiß, Ihr seid schön wie das Licht … aber ich weiß nicht, wer Ihr seid. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin«, hatte er traurig hinzugefügt. »Du heißt Gauthier Malencontre. Du bist mein Diener und mein Freund … Hast du denn alles von früher vergessen, alle unsere Mühseligkeiten, Montsalvy … Michel? Sara … und Messire Arnaud?«
Beim Namen ihres Gatten erstickte ein Schluchzen ihre Stimme, aber in dem dumpfen Blick des Riesen blitzte kein Licht auf. Wieder hatte er den Kopf geschüttelt.
»Nein … ich erinnere mich an nichts.«
Da war sie zu Hamza zurückgegangen, der, die Arme unter seinem weißen Gewand verschränkt, schweigend die Szene aus einer Ecke des Gemachs beobachtete. Ihr schmerzvoller Blick hatte gefleht, als sie murmelte:
»Ist denn … gar nichts zu machen?«
Er hatte sie unauffällig näher gewinkt und nach draußen gezogen.
»Nein, ich kann nichts mehr tun. Nur die Natur hat die Kraft, ihm das Gedächtnis wiederzugeben.«
»Wie aber?«
»Durch einen seelischen Schock vielleicht. Ich gestehe, daß ich ihn durch dein Erscheinen bei ihm erhoffte, aber ich habe mich getäuscht.«
»Dennoch war er mir immer sehr zugetan … Ich kann sogar sagen, daß er mich liebte, ohne je zu wagen, es mir zu zeigen.«
»Nun, dann versuche, diese Liebe wiederzuerwecken. Es kann sein, daß sich das Wunder dann einstellt. Aber es kann ebensogut sein, daß es nie kommt. Du wirst sein Gedächtnis sein und ihm seine ganze Vergangenheit wieder beibringen müssen.« Diese Worte wiederholte sich Cathérine, als sie das schmale, nur von einer Kerze erhellte Gemach betrat. Gauthier saß auf der Fensterbrüstung und sah in die Nacht hinaus. Mit seinen langen, unterzogenen Beinen, in eine gestreifte arabische Gandoura, eine Art ärmelloses Wollhemd gekleidet, das durch eine Schärpe in der Taille zusammengehalten wurde, schien er größer als je. Als Cathérine eintrat, wandte er den Kopf, bot dem Licht sein von Leid gezeichnetes Gesicht, in dem die grauen Augen jedoch ihren klaren Blick wiedergewonnen hatten. Trotz ihrer Magerkeit war die Gestalt des Normannen immer noch eindrucksvoll. Früher hatte Cathérine ihm oft lachend gesagt, er sehe wie eine Belagerungsmaschine aus. Davon war noch etwas geblieben, aber die Krankheit hatte das derbe Gesicht mit den plumpen Zügen mit einer Art Vornehmheit gezeichnet, die ihm ein rührend jugendliches Aussehen verlieh. Auch die blaß und mager gewordenen Hände wirkten veredelt. Jetzt, da er nicht mehr ständig lag, schien das Zimmer viel zu klein für ihn.
Er wollte aufstehen, als die junge Frau näher trat, aber sie hinderte ihn daran, legte ihm schnell die Hand auf die knochige Schulter.
»Nein … rühr dich nicht! Du hast dich noch nicht hingelegt?«
»Ich habe keine Lust zu schlafen. Ich ersticke in diesem Zimmer. Es ist so klein.«
»Du wirst nicht mehr lange hierbleiben. Wenn du kräftig genug bist, um zu reiten, brechen wir auf …«
»Wir? Nehmt Ihr mich denn mit?«
»Du hast mich stets begleitet«, entgegnete Cathérine traurig. »Das schien dir ganz natürlich … Möchtest du denn nicht mehr mit mir kommen?«
Er antwortete nicht sogleich, und Catherines Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn er sich nun weigern sollte? Wenn er sich ein anderes Los suchen wollte? Sie war nicht mehr für ihn als eine hübsche Frau, da seine Erinnerung gestorben war. Und noch nie, niemals hatte sie ihn so nötig gehabt, seine Kraft, diesen unerschütterlichen Hort, der er immer für sie gewesen war. Hatte sie ihn denn wiedergefunden, einem schrecklichen Tod entrissen, nur um ihn desto sicherer zu verlieren? Sie spürte, wie ihr die Tränen in den Augen brannten.
»Du antwortest nicht?« murmelte sie heiser.
»Ich weiß es eben nicht. Ihr seid so schön, daß ich Euch gern folgen würde … wie einem Stern. Aber wenn ich meine Vergangenheit wiederfinden will, ist es vielleicht besser, wenn ich allein reite. Etwas in meinem Innern sagt mir, ich müsse allein sein, wie ich es immer gewesen bin …«
»Aber nein, das stimmt ja gar nicht! Während dreier Jahre bist du mir fast nie von der Seite gewichen. Wir haben zusammen gelitten, zusammen gekämpft, unser Leben zusammen verteidigt, du hast mich viele Male gerettet! Was werde ich denn tun, wenn du mich verläßt?«
Sie ließ sich, niedergedrückt durch diesen neuen Schmerz, auf das Fußende des Bettes fallen. Das Gesicht in die zitternden Hände vergraben, murmelte sie:
»Ich flehe dich an, Gauthier, verlaß mich nicht! Ohne dich bin ich verloren … verloren!«
Bittere Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor. Sie fühlte sich furchtbar einsam, von allen verlassen. Da war der Mönch, das Schreckgespenst, das die Mauern dies Schlosses heimsuchte; da war das Heimweh nach ihrem Land und nach ihrem Kind; da war ganz besonders die rasende Eifersucht, die sie jedesmal peinigte, wenn sie an ihren Gatten dachte. Und daß Gauthier sich von ihr abwandte, weil er seine Vergangenheit vergessen hatte, war mehr, als sie vertragen konnte … Sie hörte ihn stammeln: »Weint nicht, Dame. Wenn es Euch soviel Schmerz bereitet, werde ich mit Euch gehen …«
Sie richtete sich mit tränenüberströmtem Gesicht und empört blitzenden Augen auf.
»Das sieht nach Mitleid, nach Resignation aus, aber einst hast du mich geliebt! Du hast nur für mich und durch mich gelebt … Wenn dein Gedächtnis dich im Stich läßt, müßte dein Herz mich wenigstens erkennen!«
Er neigte sich zu ihr nieder, betrachtete prüfend das süße, tränenfeuchte, flehentlich zu ihm emporgehobene Gesicht.
»Ich möchte mich so gern erinnern«, sagte er traurig. »Es kann nicht schwer sein, Euch zu lieben. Ihr seid so schön! Man glaubt, Ihr seid aus Licht geschaffen. Eure Augen sind süßer als die Nacht …«
Mit schüchterner Hand hatte er die junge Frau unter dem Kinn berührt und es gehoben, um die Augen besser sehen zu können, in denen die Tränen schimmerten. Das gespannte Gesicht des Normannen war dem ihren jetzt ganz nahe, und Cathérine konnte einen plötzlichen Impuls nicht unterdrücken. Es schien ihr, als hörte sie noch die Stimme Hamzas murmeln: »Versuch, diese Liebe wiederzuerwecken …« Leise sagte sie:
»Küsse mich!«
Sie sah, daß er zögerte. Sie hob sich ihm entgegen, suchte seine Lippen und drückte die ihren auf sie, während sie die Arme um seinen kräftigen Nacken schlang und sich an ihn schmiegte. Sein geschlossener Mund reagierte nicht sofort auf ihre Liebkosung, als zögerte er an der Schwelle der Lust. Und dann, ganz plötzlich, spürte Cathérine, daß er zum Leben erwachte, gierig und brutal, während seine Arme sich um sie schlossen. Umschlungen rollten sie aufs Bett.
Unter seinem wilden Kuß spürte Cathérine, wie in ihrem zu lange sittsamen Körper das Begehren stürmisch erwachte. Sie hatte für Gauthier schon immer tiefe Zärtlichkeit empfunden, und in dem Augenblick, in dem sie ihm ihre Lippen dargeboten hatte, dachte sie nur daran, den Schock hervorzurufen, der ihm das Gedächtnis zurückgeben könnte. Nun jedoch erwachte ihr eigenes Verlangen im Einklang mit dem, das sie in dem an sie gepreßten Körper emporschießen fühlte … Blitzschnell durchfuhr sie der Gedanke an ihren Gatten, aber sie verdrängte ihn zornig. Nein, nicht einmal die Erinnerung an ihn würde sie hindern, sich ihrem Freund hinzugeben! Hatte seine Liebe ihn etwa gehindert, seine Küsse und Liebkosungen an eine andere zu verschenken? Die Rache schmeckte süß, sie verzehnfachte noch die Köstlichkeit der kommenden Wonnen. Aber sie spürte, wie Gauthiers Hände nervös an der umständlichen Verschnürung ihres Gewandes zerrten. Sanft schob sie ihn zurück.
»Warte! Nicht so hastig!«
Mit einer geschmeidigen Bewegung ihrer Hüften richtete sie sich auf und erhob sich. Das schwache Kerzenlicht schien ihr ungenügend. Sie wollte sich ihm nicht heimlich, im Dunkel hingeben. Sie wollte viel Licht auf ihrem Gesicht, auf ihrem Körper, wenn er sie besäße …
Die Kerze ergreifend, zündete sie die beiden auf der Truhe an der Wand stehenden Kandelaber an. Auf dem Bett sitzend, sah er ihr verständnislos zu.
»Warum das alles? Komm …«, bat er, ihr die Hände ungeduldig entgegenstreckend, bereit, von ihr Besitz zu nehmen. Aber mit einem Blick hielt sie ihn zurück:
»Warte, sag' ich …«
Sie entfernte sich ein paar Schritte. Dann nahm sie ein Messer vom Tisch, schnitt mit einem Streich die Verschnürung ihrer Robe durch, streifte sie hastig ab und ließ den weißseidenen Unterrock und das feine Hemd zu Boden gleiten. Sein trunkener, gieriger Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen, glitt über ihren Körper, der sich vor ihm entblößte. Cathérine fühlte ihn auf ihren Brüsten, auf ihrem Leib, ihren Schenkeln und erfreute sich daran wie an einer Liebkosung. Als die letzte Hülle gefallen war, rekelte sie sich wie eine Katze im warmen Licht der Kerzen, dann glitt sie aufs Bett, streckte sich aus und öffnete endlich die Arme:
»Jetzt komm!«
Da warf er sich auf sie …
»Cathérine! …«
Er hatte ihren Namen gerufen, es war wie ein Schrei auf dem Höhepunkt der Euphorie, und keuchend betrachtete er jetzt mit verstörten Augen das süße Gesicht, das er zwischen den Händen hielt. »Cathérine«, wiederholte er. »Dame Cathérine! Träume ich noch?«
Eine Woge der Freude überspülte die junge Frau. Hamza hatte recht gehabt. Die Liebe war wieder erwacht, hatte ein Wunder bewirkt … Der Mann, den sie in den Armen hielt, war kein Fremder mehr, kein Leib, dessen Seele entflohen war. Er war wieder er selbst geworden … und sie fühlte sich so beglückt wie seit langem nicht. Als er versuchte, sich von ihr zu lösen, hielt sie ihn in ihren Armen zurück und drückte ihn an sich.
»Bleib! … Ja, ich bin's … Du träumst nicht, aber verlaß mich nicht! Ich werde es dir später erklären. Bleib, liebe mich … Heute nacht gehöre ich dir.«
Der Mund, der sich ihm bot, war zu süß, zu zärtlich der Leib, den Gauthier umschlang. Es war auch ein zu alter Traum, zu lange und zu grausam verbannt, diese angebetete Frau endlich zu besitzen. Er hatte das Gefühl, einen Traum zu erleben, aber die warme Haut, der berauschende Duft dieses Fleischs waren erschütternde Wirklichkeit. Er gab sich ihr mit Leidenschaft hin, erfrischte sich an ihr wie an einem starken Wein mit der Gier eines Menschen, der viele Tage lang Durst gelitten hat. Und Cathérine, glücklich, selig, überließ sich mit animalischer Freude diesem Liebessturm.
Gegen Mitternacht jedoch schien es ihr, als ob sich etwas Seltsames ereignete. Sie glaubte, die Tür der Kammer knarren zu hören. Sie richtete sich auf, horchte einen Augenblick und machte Gauthier ein Zeichen, sich still zu verhalten. Die Kerzen waren fast heruntergebrannt, gaben jedoch noch Licht genug, um erkennen zu lassen, daß die Tür sich nicht bewegte. Sonst war kein Geräusch zu hören … Da dachte Cathérine, sie sei das Opfer einer Täuschung gewesen, vergaß die Tür und wandte sich wieder ihrem Geliebten zu …
Der Morgen dämmerte beinah, als Gauthier endlich einschlief. Er sank in schweren, tiefen Schlaf und erfüllte den Turm mit einem sonoren Schnarchen, das Cathérine zum Lächeln brachte. Das waren die wahren Siegesfanfaren! Einen Augenblick betrachtete sie den Schlafenden; friedlich, gelöst, mit weichen, halbgeöffneten Lippen lag er da. Sein mächtiger, quer über dem zerwühlten Bett ruhender Leib hatte etwas Kindliches. Sie empfand tiefe Zärtlichkeit für ihn. Die Liebe, die er ihr geschenkt hatte, war, wie sie wußte, selten. Gauthier liebte sie um ihrer selbst willen, ohne etwas für sich zu beanspruchen, und diese Liebe erwärmte wieder ihr erstarrtes Herz.
Sie beugte sich über den Schläfer und küßte sacht die geschlossenen Lider. Dann zog sie sich hastig an, denn sie wollte noch vor Tagesanbruch wieder in ihrem Gemach sein. Es war nicht einfach, sich anzuziehen – die durchgeschnittenen Verschnürungen ihres Gewandes machten es ihr schwer –, aber es gelang ihr schließlich doch, sie mehr schlecht als recht zusammenzuknüpfen. Nachdem sie fertig war, glitt sie hinaus, lief auf Strümpfen die Steintreppe hinunter, um im Hauptturm keinen Widerhall zu erzeugen. Der Himmel über dem Schloß begann sich blaß zu verfärben. In den Gängen und Fluren brannten die Fackeln rauchend aus. Auf ihre Piken gestützt, nickten die Wachtposten hin und wieder ein. Cathérine gelangte in ihr Gemach, ohne einer lebenden Seele zu begegnen. Ihr Gewand wegwerfend, das sie mit beiden Händen an sich gedrückt hatte, sank die junge Frau mit einem wollüstigen Seufzer auf die frischen Laken ihres Bettes.
Sie fühlte sich müde, wie gerädert durch die leidenschaftliche Nacht, die sie durchlebt hatte, gleichzeitig aber merkwürdigerweise befreit von ihren Phantomen und beinahe glücklich. Gewiß, es war nicht das berauschende Aufgehen im Nichts, das nur Arnaud ihr geben konnte. In den Armen des einzigen Mannes, den sie jemals wirklich geliebt hatte, vergaß sich Cathérine, löste sich in Glück auf, gab jede Eigenpersönlichkeit auf, jeden Willen, um mit ihm ein Fleisch, ein Herz zu werden. Aber in dieser Nacht hatten die tiefe Zärtlichkeit, die sie für Gauthier empfand, ihr glühender Wunsch, seinen Geist dem gefährlichen Nebel des Wahnsinns zu entreißen, und der schmerzhafte Hunger ihrer Sinne die Leidenschaft vollkommen ersetzt. Sie hatte entdeckt, welche Befriedigung des Körpers und der Seele die Liebe eines feurigen und ehrlich verliebten Mannes geben konnte. Selbst das irritierende Problem, das Fray Ignacio darstellte, verkleinerte sich, wurde irgendwie weniger undurchsichtig …
Und was die kommenden Tage bringen würden, zu welcher Veränderung in ihrem Dasein ihre neuen Beziehungen zu Gauthier führen würden, darüber nachzudenken, weigerte sich Cathérine. Jedenfalls jetzt … Später … Morgen … Augenblicklich war sie müde, so müde! … Sie hatte nur Lust zu schlafen. Die Augen fielen ihr zu, und sie versank in ein glückliches Nichts.
Das leichte Streichen einer Hand über ihren Leib und ihre Schenkel weckte sie plötzlich. Es war noch sehr früh. Die Dämmerung brach gerade erst an. Trotz ihres verschlafenen Blicks entdeckte Cathérine sofort eine neben ihr auf dem Bett sitzende Gestalt, aber sie erkannte ihren Besucher nicht sogleich, weil sie noch im Halbschlaf war. Die morgendliche Kühle und das langsame Streichen der Hand, die sie unaufhörlich liebkoste, brachten sie jäh zu vollem Bewußtsein. Die Laken und Decken waren zurückgeschlagen und entblößten die fröstelnde junge Frau völlig. Im selben Augenblick bewegte sich die Gestalt, neigte sich über sie. Mit vor Grauen aufgerissenen Augen sah Cathérine endlich, daß es Tomas von Torquemada war, doch sie hatte Mühe, ihn zu erkennen, so dämonisch sah er aus. Die Augen waren unmäßig groß, seine Kinnbacken mahlten, er fletschte die Zähne, und in seinen Mundwinkeln hatte sich leichter Schaum gebildet … Entsetzt wollte sie schreien. Aber eine brutale Hand verschloß ihr den Mund. Sie versuchte, sie zurückzustoßen – vergebens. Eine Klaue griff nach ihrer Brust, ein heftiger Kniestoß zwang ihre Beine auseinander, während ein nackter Körper, mit kaltem Schweiß bedeckt und säuerlich riechend, sich auf sie warf.
Von Ekel gepackt, wand sie sich unter dem Jungen. Er gab ihr eine so heftige Ohrfeige, daß sie aufstöhnte. Er lachte leise. »Mach keine Geschichten, Hure! … Ich habe dich heute nacht gesehen, im Turm, mit deinem Diener! … Ah, du hast dich mit vollem Herzen hingegeben, liederliches Frauenzimmer! Die Männer, darauf verstehst du dich, was, Unzüchtige? Los, los, zeig mir, was du kannst! … Jetzt bin ich dran … Umarme mich, Dirne!«
Er unterbrach seine Beleidigungen durch feuchte Küsse, die Cathérine anwiderten, und dumpfes Wimmern, das fast ebenso abstoßend war. Er hielt die junge Frau mit nervöser, eisenharter Faust, versuchte aber wie wahnsinnig, sein Opfer zu besitzen, ohne daß es ihm gelang. Unter der knochigen Hand, die sich auf ihre Lippen preßte, glaubte Cathérine zu ersticken.
Sie dachte nicht mehr, war einzig von dem Instinkt getrieben, diese feuchte Scheußlichkeit, diesen ekelhaften, quälenden Traum abzuschütteln. Der wollüstige Dämon, der den Jungen beherrschte, war das Schlimmste, was sie je kennengelernt hatte. Nicht einmal Gilles de Rais war in dieser Hinsicht so abstoßend gewesen.
Einen Augenblick ließ der Druck der Hand auf ihrem Mund leicht nach. Sie machte es sich zunutze und biß derart wild zu, daß Tomas aufschrie und instinktiv die Hand zurückzog. Dann schrie sie mit aller Kraft, mit dem ganzen Instinkt eines Tieres in Gefahr … Er schlug auf sie ein, ohne sie zum Schweigen zu bringen, brüllte jetzt ebenso laut wie sie, von rasendem Haß hingerissen. Halb betäubt, hörte Cathérine kaum, daß heftig an ihre Tür getrommelt wurde, daß dröhnende Stöße gegen die Füllung krachten, daß Bretter und Eisenbeschläge polternd auf die Fliesen fielen. Sie sah noch Josse im ersten Sonnenstrahl auftauchen, mit einer Bohle bewaffnet, die er zum Aufbrechen der von Tomas verriegelten Tür benutzt haben mußte.
Der einstige Landstreicher stürzte sich auf das Bett, packte Tomas und schickte sich an, ihn gehörig zu verprügeln. Schnell unter die zerwühlten Bettdecken schlüpfend, schloß Cathérine die Augen, um nichts mehr zu sehen, konnte jedoch nicht umhin, das dumpfe Geräusch von Josses Fäusten auf dem Fleisch des Pagen zu hören, während er ihn mit der phantastischen Sammlung von Schimpfworten aus der Pariser Gosse überschüttete.
Ein letzter Fausthieb, ein letzter Fußtritt in den mageren Hintern des jungen Satyrs, und Tomas, nackt wie am Tage seiner Geburt, wurde wie ein Paket in den Gang hinausgeworfen. Kaum war er dort auf dem Boden gelandet, rappelte er sich auf und rannte eiligst davon, während Josse schimpfend die beiden kleinen Dienerinnen hinter einem Anrichtetisch hervorzog, hinter den sie sich zu Tode erschrocken geflüchtet hatten, als sie, angelockt durch den Lärm, erschienen waren. Er zeigte auf Cathérine, die sich in die Laken verkrochen hatte und nichts von sich sehen ließ als ihre noch immer entsetzten Augen.
»Kümmert euch um Dame Cathérine! Ich werde jetzt zum Seigneur Erzbischof gehen und ihm sagen, was ich von seinem kostbaren Pagen halte. Hat man je eine widerlichere Schweinerei gesehen? Geht's Euch einigermaßen gut, Dame Cathérine? Er schlug ja wie ein Wahnwitziger auf Euch ein, als ich dazwischenkam.«
Der friedfertige Ton des Parisers machte Cathérine Mut. Sie zwang sich, ihm zuzulächeln.
»Ich muß von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken bedeckt sein, aber es ist nichts Ernstliches. Danke, Josse. Ohne Euch … Mein Gott! Wenn ich daran denke! Ein so junger Bursche! Diesen Alpdruck werde ich lange nicht vergessen«, fügte sie, den Tränen nahe, hinzu.
»Die Jugend hat damit nichts zu tun. Ich habe den Eindruck, daß dieser Tomas von einem Dämon besessen ist. Man braucht ihn nur zweimal anzusehen, um zu verstehen, daß er das Pfaffentum im Blut hat … und die schlechten Keime des Lasters! Mir tut das Kloster jetzt schon leid, das er sich auswählt, und mir tut sogar Gott leid! Er wird an diesem Jungen einen schrecklichen Diener haben!«
Nachdenklich, mit gerunzelter Stirn, blieb Josse in der Mitte des Zimmers stehen und betrachtete, ohne sie eigentlich zu sehen, die Sonne, die jetzt in herrlichem Strahlenglanz aufging. Plötzlich murmelte er: »Der Junge hat seine Dresche bekommen, Dame Cathérine, aber es wäre besser, wenn wir nicht ewig hierblieben. Sobald Gauthier reisefähig ist …«
»Er ist es, glaube ich. Er hat sein Gedächtnis wiedergefunden.« Josse Rallard hob die Brauen und warf der jungen Frau einen offen überraschten Blick zu.
»Ist er wirklich geheilt? Als ich ihn gestern vor dem Abendgeläut besuchte, hatte sich sein Zustand noch nicht verändert.«
Cathérine, die von den beiden kleinen Dienerinnen auf wunde Stellen untersucht wurde, spürte, daß sie errötete. Sie wandte verlegen die Augen ab.
»Das Wunder ist heute nacht eingetreten«, sagte sie nur.
Es folgte eine kurze Stille, die Catherines Verwirrung vollständig machte.
»Ah, gut!« sagte Josse schließlich. »Dann können wir unsere Reise also so bald wie möglich fortsetzen.«
Und ruhig entfernte er sich und überließ Cathérine der Betreuung ihrer Dienerinnen.
Eine Stunde später ließ sich Don Alonso, außerordentlich verstimmt, bei Cathérine melden. Er schien nervöser, fieberhafter als je. Seine schönen Hände blieben keinen Augenblick ruhig, und selbst seine tiefe Stimme nahm gelegentlich einen scharfen, ungewöhnlich spitzen Ton an.
Er bot der jungen Frau redegewandte, oft wenig verständliche Entschuldigungen an, denen sie jedoch bald entnahm, daß er sich von Tomas trennen wollte.
»Dieser peinliche Zwischenfall hat den Ausschlag gegeben, meine Freundin. Morgen wird der Taugenichts zum Dominikanerkloster von Segovia aufbrechen, da er nun einmal so sehnlichst dorthin will, und möge es den guten Brüdern wohl bekommen! Ich wünsche ihnen viel Vergnügen.«
»Auch ich, Euer Ehrwürden, werde morgen abreisen, wenn Ihr gestattet.«
»Wie? Schon? Aber Euer Diener?«
»Ist vollkommen in der Lage, die Reise mit uns fortzusetzen. Ich bin Monseigneur sehr zu Dank verpflichtet, Eurer Güte, Eurer Großmut …«
»Aber, aber! Laßt das doch …«
Einen Augenblick musterte er die junge Frau. Auf einem hochlehnigen, steifen Kirchenstuhl sitzend, ganz in schwarzen Samt gekleidet, der, hochgeschlossen, ihren Hals bis zum Kinn und die Hände bis zu den Fingern bedeckte, war sie der Inbegriff von Würde und Huld in Person.
Er lächelte sie väterlich an.
»Nun gut, fliegt weiter, schöner Vogel! Aber ich werde Euch vermissen! Ja, ich werde Euch vermissen. Eure Gegenwart brachte Sonne in dieses düstre Schloß. Nun ja, so ist das Leben! Ich werde mich um die Vorbereitungen Eurer Abreise kümmern.«
»Monseigneur«, sagte Cathérine beschämt, »Ihr seid zu gütig!«
»Das hat nichts mit Güte zu tun«, entgegnete Don Alonso lachend, »Ihr wißt wohl, daß ich ein alter Ästhet bin, einzig und allein in Schönheit und Harmonie verliebt. Wenn ich daran denke, daß eine Frau wie Ihr in einem schlechten, mit Stroh gefüllten Karren reist, dann bekomme ich eine Gänsehaut. Ihr wollt mich doch nicht mein Leben lang zu Gewissensbissen und schlechten Träumen verdammen?«
Als einzige Antwort sank Cathérine auf die Knie und küßte respektvoll den Ring des Erzbischofs. Eine Welle der Bewegung glitt rasch über das dunkle Gesicht Fonsecas. Schnell erteilte er den priesterlichen Segen und legte dann die Hand auf das gesenkte Haupt.
»Ich weiß nicht, welches Euer genaues Reiseziel ist, meine Tochter, und ich frage Euch auch nicht danach. Aber eine Eingebung sagt mir, daß Ihr der Gefahr entgegengeht. Bedenkt, wenn die Prüfungen, die Euch erwarten, zu schwer sein sollten, daß Ihr hier einen Freund und eine Zuflucht habt. Der eine wie die andere werden Euch jederzeit väterlich aufnehmen«, schloß er, sich laut schneuzend, um seine Bewegung zu verbergen.
Und während er sich mit rauschenden Gewändern entfernte, verkündete Seine Hoheit, der Erzbischof von Sevilla, er werde jetzt seine Befehle geben, und untersagte der jungen Frau, sich in irgend etwas, das mit ihrer Abreise zu tun habe, einzumischen … Er verabredete sich mit ihr nur zur Mahlzeit zwei Stunden später.
Kaum war er verschwunden, als Cathérine hastig in den Hauptturm ging. Sie hatte Eile, Gauthier wiederzusehen, etwas enttäuscht darüber, daß er sich noch nicht aufgemacht hatte, sie zu suchen. Mit beiden Händen hob sie ihr Gewandt, stieg mit flinken Schritten die beschwerliche Treppe empor, stieß die nicht verschlossene Tür auf und stand vor ihrem Freund. Er saß auf dem Bett, den Kopf in den Händen, das Gesicht in den Handflächen verborgen, und man konnte unmöglich wissen, ob er in Gedanken versunken war, ob er schlief oder vielleicht sogar weinte. Seine Haltung verriet so viel Niedergeschlagenheit, daß Cathérine bestürzt war. Sie hatte gehofft, Gauthier glücklich vorzufinden, völlig ganz er selbst geworden und noch von Freude erfüllt über die vergangene Nacht. Aber augenscheinlich war es nicht so. Sie hatte sich auf alles, nur nicht auf dies gefaßt gemacht …
Flink kniete sie vor dem Riesen nieder und nahm seine großen Hände in die ihren. Sie waren feucht.
»Gauthier!« flüsterte sie erschüttert. »Was hast du denn?«
Er hob sein verweintes Gesicht, und in seinen grauen Augen lagen Ungläubigkeit und Verzweiflung zugleich. Er sah sie an, als sei sie nicht ganz wirklich.
»Mein Gott!« stammelte sie, ebenfalls dem Weinen nahe. »Du hast mir aber Angst gemacht!«
»Also«, murmelte er langsam, »war es doch kein Traum! Ihr seid es wirklich … ich habe nicht geträumt!«
»Was?«
»Diese Nacht … diese unvorstellbare Nacht! Ich bin also meinem Fieberwahn nicht zum Opfer gefallen! Seit langem hat sich soviel Seltsames in meinem Kopf abgespielt … soviel Unklares! Am Ende weiß ich nicht mehr, was wirklich war und was Phantasterei.«
Cathérine stieß einen unmerklichen Erleichterungsseufzer aus. Sie hatte schon gefürchtet, die Krankheit sei wieder ausgebrochen. Ruhig, sanft und mit viel Zärtlichkeit in der Stimme sagte sie: »Nein. In dieser Nacht bist du wieder ganz du selbst geworden. Und … du bist auch mein Geliebter geworden«, fügte sie unumwunden hinzu.
Er packte sie an den Schultern, starrte prüfend in das hübsche Gesicht, das ihn betrachtete.
»Wieso? Wieso seid Ihr auf einmal in meine Arme gekommen? Was ist geschehen? Wie ist es dazu gekommen? Ich habe mich in Montsalvy von Euch verabschiedet und finde Euch hier wieder … Übrigens, wo sind wir?«
»In Coca, in Kastilien. Beim Erzbischof von Sevilla, Don Alonso de Fonseca.«
Er wiederholte wie in einem Traum: »In Coca … In Kastilien! Wie sind wir hierhergekommen? Ich werde ganz irre!«
»Woran erinnerst du dich noch genau?«
»Meine letzte Erinnerung ist ein Gefecht. Die Banditen des Waldes von Oca, die mich gefangengenommen hatten, sind von den Alguazils angegriffen worden. Die Soldaten haben geglaubt, ich sei auch ein Räuber. Dabei muß ich mich wohl gewehrt haben. Ich bin verwundet worden. Es war ein furchtbarer Hieb. Ich glaubte, der Kopf würde mir zerspringen. Und dann … nichts mehr! Doch … doch … Ich erinnere mich, Durst gehabt, gefroren zu haben … Die einzige Erinnerung, die mir verbleibt, ist an einen heftigen Wind, an einen unaufhörlichen Wind …«
»Der Käfig«, dachte Cathérine und hütete sich, dieses schreckliche Folterwerkzeug zu erwähnen. Doch mußte sie Gauthier trotzdem helfen, sein Gedächtnis vollständig zurückzugewinnen.
»Wie bist du diesen Banditen von Oca in die Hände gefallen?« fragte sie. »Ein florentinischer Minnesänger, den du auf der Straße von Roncevaux getroffen hattest, hat mir erzählt, er habe dich in die Hände der navarresischen Bergbewohner fallen sehen. Er hat gesehen, wie sie deinen Leib in eine bodenlose Schlucht stürzten … und – warum soll ich es dir verheimlichen? – ich hielt dich deshalb für tot!«
»Ich habe es auch geglaubt. Ich war verwundet. Sie sind über mich hergefallen wie ein Wespenschwarm. Darauf zogen sie mich splitternackt aus und warfen mich in die Schlucht. Normalerweise hätte ich mir das Kreuz brechen müssen, aber die Götter haben mich beschützt. Ein Bäumchen hat meinen Fall aufgehalten, und als die Kälte mich wieder belebte, fand ich mich in seinen Ästen hängend vor, eine sehr schlechte Lage allerdings. Ich zitterte vor Kälte, ohne einen Fetzen auf dem Leib, und die Nacht brach an. Ich fühlte mich so schwach wie ein Kind, aber ich wollte leben. Trotz meines Blutverlustes konnte ich denken. Sollte ich wieder zum Saumpfad hinaufsteigen? Das war gefährlich: erstens wegen meiner Schwäche, die den Aufstieg fast unmöglich machte, und dann wegen meiner Angreifer. Wer konnte sagen, ob sie sich nicht noch immer auf dem Weg postiert hatten, um von der nahenden Dunkelheit überraschten Reisenden aufzulauern? Diesmal würden sie mich töten, bevor sie mich in die Schlucht würfen …
So weit war ich in meinen Überlegungen gekommen, als ich im Tal unter mir einige Feuer aufflammen sah. Das machte mir Mut. Ich dachte, es handle sich zweifellos um Schäfer oder Holzfäller, stieg langsam, mich am Felsen und Brombeersträucher klammernd, hinab. Ich kann Euch nicht sagen, wie lange dieser Abstieg dauerte, es wäre mir völlig unmöglich! Bald hatte ich nichts mehr, woran ich mich halten konnte, als die roten Flammen. Wie ich unten angekommen bin, ohne mir sämtliche Knochen zu brechen, ist mir heute noch rätselhaft …«
»Und«, fragte Cathérine, »die Schäfer haben dich aufgenommen und gepflegt?«
»Aufgenommen, ja, gepflegt, auch … aber es waren keine Schäfer!«
»Was denn?«
»Die Männer eines Raubritters, der die Gegend heimsucht – des Seigneurs Vivien d'Aigremont.«
Cathérine runzelte die Stirn. Diesen Namen hatte sie schon gehört, von Schreckensrufen der Klosterbrüder von Roncevaux und der Bauern von Saint-Jean-Pied-de-Port begleitet.
»Wie hast du dich aus der Affäre gezogen?«
»Genaugenommen, habe ich mich nicht aus der Affäre gezogen. Dieser Vivien d'Aigremont ist ein wildes Tier, einer dieser großen Raubvögel mit stets blutigen Krallen. Er hat mich nur aufgenommen, weil ich ihm einen Handelswert zu besitzen schien. Man hat mich gepflegt, gewiß, aber auch in Ketten gelegt, sobald ich kräftig genug war, sie zu tragen. So führte man mich nach Pamplona, wo das Raubtier mich als Sklaven verkauft hat, sehr teuer, glaubt mir! Ich bin eine respektable Summe Taler wert«, fügte Gauthier mit bitterer Ironie hinzu. »Der Bischof der Stadt hat mich gekauft, ich sollte seinen Hundezwinger versorgen. Die großen Doggen dort waren blutrünstig, weniger allerdings als ihr Herr. An dem Tag, an dem ihnen ein junger, lebender Knabe zum Fraß vorgeworfen wurde, bin ich, nicht ohne Mühe, geflohen. Mich trieb die Furcht, wieder eingefangen zu werden, denn ich wußte, was mir dann blühte: Mein Los wäre dasselbe gewesen wie das des unglücklichen Kindes. Aber ich kannte das Land und seine verfluchte Sprache nicht. Ein Mann, den ich traf und der mich verstand, hat mein Verderben besiegelt: Es war einer der Banditen von Oca. Er brachte mich zu seinen Brüdern. Ich habe nur die Ketten gewechselt … und den Hundezwinger. Noch einmal schmiedete ich Fluchtpläne, als die Alguazils kamen. Wegen meiner Größe haben sie mich zweifellos für den Anführer gehalten. Übrigens, wie hätte ich verstehen sollen, was sie sagten? Ich bin grün und blau geschlagen und gefangengenommen worden. Das Folgende kennt Ihr wahrscheinlich besser als ich.«
»Gewiß, ich kenne es.«
Zart strich Cathérine mit der Hand über die rauhe Wange des Normannen.
»Du hast furchtbar gelitten, Gauthier, aber, siehst du, ich war immer überzeugt, daß der Tod dir nichts anhaben könne: Du bist unzerstörbar … wie die Erde selbst!«
»Die Erde kann beben, sich aufbäumen; ich bin nur ein Mensch wie alle anderen.«
Doch als Catherines Hand zögernd auf seinem Gesicht verharrte, schob er sie sanft fort und sagte:
»Und jetzt zu Euch, Dame Cathérine! Wenn Ihr wollt, daß ich begreife, müßt Ihr mir … alles sagen, versteht Ihr?«
Sie wich zurück, die Augen plötzlich gesenkt, straffte sich und setzte sich auf eine Bank neben dem Fenster. Ohnehin hatte sie nie daran gedacht, einer Erklärung auszuweichen. Hatte sie in dieser Nacht, auf der Höhe ihrer sinnlichen Narrheit, ihm nicht versprochen: »Morgen werde ich dir alles sagen?«
»Du sollst alles erfahren. Ich hatte nicht die Absicht, dir die kleinste Tatsache zu verheimlichen. Der florentinische Minnesänger kam also zu uns und erzählte mir, er habe dich zugrunde gehen sehen …«
Der Bericht dauerte lange. Cathérine sprach langsam, unaufhörlich überlegend, was sie sagen wollte, um nichts zu vergessen. Sie ersparte ihm keine Einzelheit. Alles, was geschehen war: die Flucht von Montsalvy, die Wallfahrt zur Jungfrau von Puy, der Aufbruch mit den Pilgern, das Zusammentreffen mit Ermengarde de Châteauvillain und Josse Rallard, der Diebstahl der Rubine von Sainte-Foy, die Ankunft Jan van Eycks und der Brief des Herzogs von Burgund, die boshaften vertraulichen Mitteilungen Fortunats, die Flucht aus Roncevaux mit Josse, schließlich seine, Gauthiers, Rettung in Burgos und ihre gemeinsame Ankunft im roten Schloß des Erzbischofs Fonseca.
Gauthier unterbrach sie kein einziges Mal. Aber auch keinen Augenblick schweifte sein aufmerksamer Blick von ihr ab. Man hätte meinen können, er wollte sich vergewissern, ob sich die gesprochenen Worte in Übereinstimmung mit den Gedanken der jungen Frau befanden.
Als sie geendet hatte, stieß er nur einen tiefen Seufzer aus, stand auf, ging zum Fenster und stellte einen Fuß auf die Eckbank der Nische.
»Also«, sagte er langsam, »Messire Arnaud ist Gefangener der Mauren!«
Sofort überschwemmte zornige Eifersucht Cathérine wie eine bittere Woge.
»Gefangener aus eigenem Wunsch! Habe ich dir nicht erzählt, daß er dieser Frau aus eigenem Antrieb gefolgt ist? Habe ich dir die Worte Fortunats nicht berichtet? Die Ungläubige ist schöner als der Tag, hat er gesagt, und mein Gatte hat sich auf den ersten Blick in sie verliebt.«
»Und das habt Ihr geglaubt? Ihr, eine intelligente Frau? Ruft Euch die fanatische Anhänglichkeit Fortunats an seinen Herrn zurück! Erinnert Euch an die Besuche, die er jede Woche der Krankenstation von Calves machte, und das die ganze Zeit! Und Ihr wußtet nicht, da Ihr nicht da wart, wie groß seine Wut, sein Zorn waren, als der Seigneur de Brézé kam, als jeder glaubte, Ihr würdet wieder heiraten! Nie habe ich solche gehässigen Zornesausrufe, solche giftigen Schwüre gehört, daß Ihr für diesen Verrat zu bezahlen haben würdet. Fortunat haßte Euch, Dame Cathérine. Er hätte sonst etwas gesagt, um Euch zu kränken!«
»Darin hätte er nicht gelogen! Hat er nicht geschworen, verstehst du, hat er nicht bei seinem Seelenheil geschworen, daß Messire Arnaud im Palast seiner Prinzessin die Liebe erfuhr? Wer würde nur aus Haß bereit sein, einen Meineid zu leisten?«
»Mehr Leute, als Ihr glaubt! Auf jeden Fall ist es möglich, daß Messire Arnaud die Liebe da unten erfährt. Aber woher wißt Ihr, daß er sie erwidert? Im übrigen …«
Und Gauthier fuhr herum, blickte Cathérine scharf an, hoch über ihr aufragend. »Ihr wärt nicht aufgebrochen, Dame Cathérine, hättet diese verrückte Reise nicht unternommen, wenn Ihr nicht noch hofftet. Ihr wärt nach Montsalvy zurückgekehrt, vielleicht an den Hof König Karls, wo der Seigneur de Brézé Euch mit offenen Armen empfangen hätte … sofern Ihr Euch nicht der Liebe des Großherzogs des Abendlandes erinnert hättet. Eine Frau wie Ihr gibt sich nie geschlagen, das weiß ich besser als irgendeiner. Und daß Ihr glaubtet, Messire Arnaud sei Euch für immer verloren, das könnt Ihr anderen erzählen, Dame Cathérine! Ich werde das nie schlucken!«
»Bist du ganz sicher, daß ich ihm nicht nur seinen Verrat vorwerfen will? Mich an seiner Verwirrung weiden will, wenn ich ihn, einen Christen, einen Hauptmann des Königs, zu Füßen einer Mulattin gurren sehe, und daß ich dann …«
Jäh wurde Gauthier rot vor Zorn.
»Haltet mich nicht für einen Schafskopf, Dame Cathérine! Ihr wolltet einzig und allein dorthin reisen, um Eurem Gatten eine Szene zu machen?«
»Und warum nicht?«
Auf den Zehenspitzen stehend, mit verschränkten Armen, das Köpfchen hoch erhoben, sah sie wie ein junger Hahn in Kampfstellung aus. Zum erstenmal standen sie und der, der sie in der vergangenen Nacht so leidenschaftlich besessen hatte, sich wie Feinde gegenüber.
»Weil es nicht wahr ist. Weil Ihr stets nur ihn geliebt habt, weil Ihr Euch vor Wut verzehrt, ihn in den Händen einer anderen zu wissen, und weil Ihr weder Rast noch Ruhe haben werdet, und müßtet Ihr die schlimmsten Qualen erleiden, bis Ihr ihn wiederhabt … zurückerobert habt!«
»Damit er seinen Verrat büße!«
»Mit welchem Recht? Wer hat denn zuerst verraten? Sollen wir wieder von Sire de Brézé anfangen? Wenn er Eure Schönheit in so feurigen Ausdrücken beschrieb, mußte er sie ja gut kennen. Wenn Ihr ihm nicht Hoffnungen gemacht hättet, hätte er sicher nicht angenommen, daß Ihr ihn heiraten würdet. Und er, der Verbannte, der Einsiedler von Calves, welche Qualen hat er wohl ausgestanden, als er die Nachricht erhielt? Denn Fortunat hat mit nichts hinter dem Berg gehalten, müßt Ihr wissen. Ich an seiner Stelle wäre entflohen, hätte Euch aus den Armen Eures schönen Ritters gerissen und Euch mit diesen meinen Händen getötet, ehe ich mich selbst gerichtet hätte!«
»Vielleicht, weil du mich liebst«, sagte Cathérine bitter. »Er dachte nicht wie du …«
»Weil er Euch noch mehr liebt! Mehr als sich selbst, weil er sein Leiden geringgeachtet hatte, um Euch ein neues Glück erleben zu lassen. Glaubt mir, die Flammen der Eifersucht, die Euch verzehren, sind nichts im Vergleich zu denen, die ihn in seiner furchtbaren Einsamkeit verzehrt haben müssen! Glaubt Ihr, ich kann das letzte Bild vergessen, das ich von ihm habe? Von diesem Gekreuzigten, der in die Sonne ging, beim Totengeläut, unter dem Jammern der Dudelsäcke, in den Händen eine andere Sonne?«
Bei der Erwähnung des grausamsten Tages ihres Lebens schlug Cathérine die Augen nieder, aus denen Tränen quollen. Sie schwankte.
»Schweig!« flehte sie. »Schweig, um der Barmherzigkeit willen!«
»Also«, sagte er in milderem Ton, »hört auf, mich an der Nase herumführen zu wollen. Hört auf, Euch selbst an der Nase herumzuführen! Warum versucht Ihr, uns beide zu belügen? Wegen dieser Nacht?«
Sie öffnete jäh die tränenglitzernden Augen.
»Vielleicht wegen dieser Nacht, jawohl! Vielleicht habe ich keine Lust mehr, nach Granada zu gehen!«
»Zweifellos gibt es Tage«, sagte Gauthier überdrüssig, »an denen Ihr mit Euch selbst kämpft, bald von der Eifersucht auf die Stadt getrieben, in der Euer Gatte lebt, bald von der Versuchung gepackt, aufzugeben, zu Eurem Kind, in die Ruhe und Sicherheit eines normalen Lebens zurückzukehren. Was sich aber letzte Nacht zugetragen hat, hat dem nichts hinzugefügt.«
»Warum sagst du das?«
»Weil ich es weiß. Letzte Nacht habt Ihr mir ein wunderbares Geschenk gemacht … unverhofft, aber Ihr habt es aus zwei Gründen getan: einmal aus Mitleid …«
»Gauthier!« protestierte Cathérine.
»Jawohl! Einmal aus Mitleid, weil Ihr mich unter allen Umständen heilen wolltet, aber auch aus Trotz. Ihr übtet damit eine Art Rache aus, und außerdem wolltet Ihr damit die Traumbilder weniger grausam machen, die Eure schlaflosen Nächte heimsuchen.«
»Nein!« sagte Cathérine mit tränenerstickter Stimme. »Das ist es nicht … jedenfalls nicht allein«, verbesserte sie sich. »In dieser Nacht bin ich glücklich gewesen, ich auch, ich schwöre es dir!«
Ein reizendes Lächeln entspannte das verzerrte Gesicht des Normannen.
»Vielen Dank! Ich glaube wahrhaftig, Ihr liebt mich, Dame Cathérine, aber –«, und sein Finger wies auf die Brust der jungen Frau, auf das große Goldkreuz mit Perlen, das der Erzbischof ihr persönlich vor einigen Tagen umgehängt hatte und das auf dem Samt ihres Gewandes funkelte, »– wagt bei dem Gott, den Ihr anbetet, zu schwören, daß Ihr ihn nicht liebt, ihn, Euren Gatten, Euren Herrn! Ihr wißt sehr wohl, daß Ihr ihn lieben werdet, solange Euch ein Atemzug zum Leben bleibt!«
Diesmal antwortete die junge Frau nicht. Sie senkte den Kopf und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Seht Ihr«, sagte Gauthier sanft. »Und von dieser verrückten, wunderbaren Nacht, deren Erinnerung ich bewahren werde, die zu vergessen ich Euch aber bitte, wollen wir nie wieder sprechen …«
»Du liebst mich also nicht mehr?« fragte Cathérine kleinlaut. Es folgte eine drückende Stille, dann sagte der Normanne mit harter, heiserer Stimme leise:
»Die Götter meiner Ahnen wissen, daß ich Euch nie mehr geliebt habe! Aber eben wegen dieser Liebe flehe ich Euch an zu vergessen. Wenn Ihr es nicht tut, wird mein Leben eine Hölle sein … und ich werde Euch verlassen müssen. Wir werden jetzt weiterziehen, werden uns auf den Weg machen, der uns ins Königreich Granada führen wird. Ich werde Euch helfen, Messire Arnaud wiederzufinden …«
»Es gibt einiges, was du noch nicht weißt. Vielleicht habe ich nicht mehr das Recht, Arnaud de Montsalvy als meinen Gatten anzusehen.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Daß ich vielleicht nicht das Recht hatte, ihn zu heiraten … weil ich fürchte, daß mein erster Gatte noch lebt …«
Mit überrascht gehobener Augenbraue sah Gauthier die junge Frau schweigend an. Dann, sehr schnell, wie man sich von einer unerträglichen Last befreit, erzählte sie von ihrer Verblüffung über die ungeheuerliche Erscheinung des einäugigen Mönches, ihrem Entsetzen angesichts der vielen, seltsam übereinstimmenden Tatsachen, von ihrem Besuch in der Schatzkammer am Abend zuvor und der unerträglichen Ungewißheit im Zusammenhang damit. Sie wollte fortfahren, wollte ihre Sorgen und Ängste, ihre Bedenken darlegen, aber Gauthier packte sie plötzlich an den Schultern und schüttelte sie, als wollte er sie aus einem bösen Traum wecken. Er war sehr blaß geworden. »Schweigt, Dame Cathérine … und hört mir zu! Wir werden abreisen, versteht Ihr mich, sofort dieses Schloß verlassen, und Ihr werdet nicht wiederkehren! Sonst glaube ich bei Odin, daß Ihr den Verstand verlieren werdet! Das ist zu viel für Euch. Hört endlich auf, mit offenen Augen zu träumen, verlaßt das Land der Träume und der Hexereien! Nehmt Euren Weg wieder auf und denkt nur an eins: Ihr seid vor Gott und den Menschen die Frau Arnaud de Montsalvys, Ihr tragt seinen Namen, Ihr habt einen Sohn von ihm! Es gibt nichts hinzuzufügen! Vergeßt das übrige.«
»Wenn dieser Mönch aber doch Garin de Brazey war?«
»Das braucht Ihr nicht zu wissen. Für die Welt wie für Euch ist er gehängt worden. Wenn es ihm gelungen ist zu entwischen, hat er sich eine neue Existenz nach seinem Geschmack geschaffen. Wenn er es sich anders überlegt hätte, wärt Ihr nicht so lange im ungewissen darüber geblieben. Seine Haltung schreibt Euch die Eure vor. Garin de Brazey ist tot, versteht Ihr? Tot. Es lebt nur Fray Ignacio, der nichts mit ihm gemein hat! Und jetzt trefft Eure Vorbereitungen. Verlassen wir so schnell wie möglich dieses verhexte Schloß!«
In diesem Augenblick durchbrach ein Trompetenstoß die besonnte Stille des weiten Landes und erinnerte Cathérine wieder an die Wirklichkeit. Sie schritt zur Tür, lächelte ihrem Freund liebenswürdig zu.
»Ich glaube, du wirst immer recht behalten, Gauthier, aber man ruft zu Tisch. Don Alonso erwartet mich zum Mahl, und ich möchte ihn nicht warten lassen.«
»Kündigt ihm Eure Abreise an.«
»Schon geschehen. Aber da ich ihm gesagt habe, ich würde morgen abreisen, glaube ich, daß du dich noch so lange gedulden mußt. Noch eine Nacht, Gauthier, nur eine Nacht. Das ist eine Kleinigkeit! …«
»Kleinigkeit? Ich bin anderer Ansicht. Ein ganzes Leben kann von einer einzigen Nacht abhängen! Viele Dinge haben Zeit, sich zu verwickeln oder zu lösen … in einer Nacht! Aber Ihr habt recht: Wir schulden dem Seigneur Erzbischof zu viel, um ihn vor den Kopf zu stoßen. Also morgen bei Sonnenaufgang!«
Flink stieg Cathérine die Treppe hinunter. Als sie die untere Pforte des Hauptturms durchschritt, glaubte sie, eine Gestalt gesehen zu haben, die schnell wieder in den dichten Schatten der Wendeltreppe zurücktrat, eine Gestalt, die sehr der Tomas' von Torquemada ähnelte. Zurückblickend, schauderte sie vor Angst, doch schon war sie im sonnendurchfluteten Hof, wo Soldaten, Laienbrüder und einige Diener herumstanden, sich von ihrer Arbeit ausruhend oder eine schattige Ecke suchend, um sich dort auszustrecken, denn es kamen die drückenden Stunden, in denen die Hitze brütend auf dem Land liegt und jede Tätigkeit erstarren läßt. Cathérine ging zwischen ihnen hindurch. Die goldenen Strahlen waren gut, beruhigend. Sie vertrieben die Phantome und die bösen Schatten. Leichtfüßig wandte sie sich dem Festsaal zu.
Ein unerträgliches Gefühl der Hitze und die unbewußte Wahrnehmung eines stechenden Lichts weckten Cathérine mitten in der Nacht. Der Brand erfüllte ihr Gemach mit hellen Flammen, und die junge Frau glaubte, einen schlechten Traum zu durchleben. Aber sie wurde schnell mit der Wirklichkeit konfrontiert. Die Tür ihres Gemachs loderte, und vor dem Kamin brannten Bündel von Stroh und Reisig, die absichtlich dort verstreut worden waren, und entwickelten einen immer dichter werdenden Rauch. Eine Woge des Entsetzens durchfuhr die junge Frau, riß sie vom Bett und trieb sie, nackt, wie sie war, ans Fenster. Dort riß sie die Läden auf, um gierig zwei-, dreimal einzuatmen … Doch der durch das Öffnen des Fensters geschaffene Luftzug fachte das Feuer zu noch heftigerem Wüten an. Es knisterte in der Galerie, leckte am Holz der Truhen und Sessel in der Nähe des Kamins. Einer der Tapetenbehänge neben dem Bett fing Feuer und bedrohte die Bettvorhänge.
»Hilfe!« rief Cathérine bestürzt. »Feuer! … Hierher!«
Geräusche waren hinter dem Flammenvorhang zu vernehmen, der schwer zu durchdringen sein mußte, und es schien der jungen Frau, als vermischten sich diese Geräusche zuweilen mit Gelächter.
»Hierher!« schrie sie mit aller Kraft. »Zu Hilfe!« Sie fuhr zum Fenster herum. Sie wußte, daß es unter der schmalen Öffnung nur fünfzig Fuß hinunterging, aber die Nacht machte daraus einen fürchterlichen Abgrund. Dennoch … wenn man ihr nicht zu Hilfe kam, würde sie den Sprung wagen müssen! Das Feuer griff mit rasender Schnelligkeit um sich. In dem erstickenden Rauch nahm Cathérine einen unbekannten Geruch wahr, scharf und ungewöhnlich, zweifellos den Geruch dessen, womit ein solches Feuer so schnell zum Auflodern gebracht worden war. An das Fenster gedrückt, suchte sie vergebens nach frischer Luft. Der schwarze, dichte Rauch trieb auf sie zu, von der Fensteröffnung angezogen. Die Kehle war trocken, sie brachte keinen Ton mehr heraus, die Augen brannten, und die junge Frau spürte, wie ihre Kräfte sie verließen. Das Gefühl zu ersticken nahm zu, in wenigen Augenblicken wäre sie nicht einmal mehr stark genug, um durchs Fenster zu steigen und zu springen. Schon jetzt war sie nicht mehr dazu fähig. Die Beine gaben unter ihr nach. Sie würde in die neue Rauchwolke stürzen, die sich ihr wie eine fette Schlange entgegenwand. Sie mußte husten und hatte das furchtbare Gefühl, Feuer einzuatmen. Kurz bevor Cathérine das Bewußtsein verlor, sah sie in einem verrückten Aufzug alle Gesichter, die in ihrem Leben etwas bedeutet hatten, Freunde und Feinde, an sich vorüberziehen. Sie sah die zärtlichen Augen Saras, das sarkastische Gesicht Philippes des Guten, die rätselhafte Gestalt Garins, den düsteren Blick Gauthiers und das spöttische Lächeln Arnauds. Und als ihr klar wurde, daß sie im Begriff war zu sterben, versuchte sie, sich an ein paar Zeilen eines Gebets zu erinnern …
Als sie wieder zu sich kam, war es ihr, als sei sie in einen Fluß getaucht worden. Sie troff vor Schweiß, fror bis ins Mark und klapperte mit den Zähnen. Ihre tränennassen Augen konnten nichts unterscheiden als einen roten Nebel, aber sie spürte, daß Hände sie kräftig abrieben. Dann rollte man sie in etwas Rauhes, aber Warmes. Dieselbe kräftige Hand trocknete ihr Gesicht, und schließlich erkannte sie, über sie gebeugt, die Züge Josses. Als er sah, daß sie die Augen aufschlug, lächelte er sein eigentümliches Lächeln bei geschlossenen Lippen.
»Höchste Zeit«, brummte er. »Ich hatte schon gefürchtet, ich käme nicht durch den Feuervorhang. Glücklicherweise hat ein einstürzendes Wandstück mir den Weg frei gemacht. Ich habe Euch entdeckt und konnte Euch hinausziehen …«
Cathérine richtete sich auf und sah, daß sie auf den Fliesen der Galerie lag. Das Feuer knisterte am anderen Ende, da, wo sich früher die Tür ihres Gemachs befunden hatte, aber in der Galerie war keine Menschenseele. »Niemand da«, sagte sie. »Wie kommt es, daß das Feuer niemand im Schloß alarmiert hat?«
»Weil es auch beim Erzbischof brennt. Alle Diener sind dabei, den Brand zu löschen, um Don Alonso zu retten. Übrigens sind die Zugänge zu dieser Galerie von außen verbarrikadiert worden.«
»Wie kommst du dann hierher?«
»Ich bin heute abend hierhergegangen, um unter einer der Steinbänke zu schlafen. Nach dem Schrecken von heute morgen konnte ich keine Ruhe finden. Niemand konnte mich sehen, und ich hoffte, so Euer Gemach bewachen zu können. Aber ich glaube, ich habe zu fest geschlafen! Da liegt bei mir der Hase im Pfeffer: Wenn ich müde bin, schlafe ich wie ein Murmeltier. Der Brandstifter hat mich nicht gesehen, hat aber seinerseits so wenig Geräusch gemacht, daß ich nichts gehört habe, als er seine Reisigbündel anbrachte.«
»Der Brandstifter?«
»Ich glaubt doch nicht etwa, daß das Feuer sich von selbst entzündet hat? Ebensowenig wie das, welches bei Monseigneur so schön brennt. Ich habe übrigens so eine Ahnung, wer den Streich verübt hat …«
Wie um ihm recht zu geben, öffnete sich die niedrige Tür am anderen, noch unversehrten Ende der Galerie, und hindurch trat eine lange weiße Gestalt, die eine Fackel trug. Entsetzt erkannte Cathérine Tomas. In eine Mönchskutte gekleidet, mit weit aufgerissenen Augen, schritt er wie schlafwandlerisch auf das Feuer zu, unempfindlich gegenüber dem immer dichter werdenden Rauch, der in die große Galerie drang.
»Schaut«, flüsterte Josse. »Er sieht uns nicht einmal!«
Tatsächlich kam der Junge wie ein Nachtwandler näher. Die Fackel in der Hand, gleich einem gefallenen Engel der Rache und des Hasses, schien er sich in Trance zu befinden. Seine Lippen bewegten sich krampfhaft. Cathérine verstand im Vorbeigehen nur das Wort ›fuego‹ … Tomas kam ganz nahe an ihr vorüber, ohne sie zu sehen. Sie hustete.
Er hörte nichts, schritt inmitten der schwarzen Rauchwolken weiter auf das Feuer zu.
»Was sagt er?« fragte die junge Frau leise.
»Das Feuer sei schön, das Feuer sei heilig! Es reinige! Der Herr des Feuers steige zu Gott empor! … Dieses Schloß des bösen Geistes müsse brennen, auf daß die Seelen seiner Bewohner befreit zu Gott zurückkehrten … Er ist vollkommen wahnsinnig, ein Besessener«, sagte Josse und fügte schnell noch hinzu: »Er hat die Tür der Galerie hinter sich nicht wieder geschlossen. Machen wir uns das zunutze, fliehen wir, und schlagen wir Lärm!«
Cathérine folgte Josse, drehte sich jedoch auf der Schwelle noch einmal um. Die Rauchwolken hatten die schlanke weiße Gestalt fast verschluckt.
»Aber …«, sagte die junge Frau, »er wird verbrennen.«
»Das wäre das Beste, was ihm passieren könnte … ihm und den anderen«, brummte Josse, Cathérine mit entschlossener Hand hinausziehend. Sie bemühte sich, Schritt mit ihm zu halten, aber ihre bloßen Füße verfingen sich in den flatternden Falten der Bettdecke, die sie als einziges einhüllte. So eilte sie dahin, von der nervösen Hand Josses gezogen, prallte jedoch plötzlich gegen ein Möbelstück und stieß einen Schmerzensschrei aus. Josse fluchte zwischen den Zähnen, als er aber sah, daß Tränen in ihren Augen standen, stützte er sie während der letzten paar Meter, bis sie die frische Luft erreichten.
Bislang waren sie keiner Menschenseele begegnet, doch im Hof war die Aufregung auf dem Höhepunkt angelangt. Ein Schwarm von Dienern, Bewaffneten, Mönchen und Hausmädchen rannte völlig kopflos wie ein Volk aufgescheuchter Hühner hin und her und stieß schrille Schreie aus. Zwischen dem großen Brunnen des Hofes und dem Eingang zu den Gemächern des Erzbischofs reichte eine Kette von Sklaven unaufhörlich gefüllte Wassereimer weiter, in dem Versuch, die Flammen zu löschen, welche schon an den Türen und Fenstern des Stockwerkes leckten. Schreie, Wehklagen und Gebete gleichermaßen wurden wortreich herausgestoßen.
Die Aufregung im Hof war hervorgerufen worden, weil man soeben erst die zweite Feuerstätte des Brandes entdeckt hatte, wodurch die Bewohner des Schlosses den Kopf verloren, weil sie glaubten, das Feuer sei an allen vier Ecken des Gebäudes gelegt worden.
Dieser Hof mit den roten, schimmernden Wänden, auf denen die Flammen sich spiegelten, dazu die sich wie wahnsinnig gebärdenden Menschen gaben Cathérine eine ausgezeichnete Vorstellung von der Hölle. Sie zitterte mehr aus Erregung als vor Kälte, denn die Nacht war milde, und der Brand erhöhte die Temperatur; sie wickelte sich noch fester in die Bettdecke, die ihre Blöße bedeckte, und suchte Zuflucht unter den Arkaden, wandte den besorgten Blick zum Hauptturm, der schweigend und düster abseits zu stehen schien.
»Gauthier!« murmelte sie. »Wo ist Gauthier? Er muß von diesem ohrenbetäubenden Lärm etwas gehört haben …«
»Die Mauern des Turmes sind außergewöhnlich dick«, bemerkte Josse, »und dann hat er vielleicht einen festen Schlaf …«
Doch wie um ihn Lügen zu strafen, schien die Sklavenkette, die sich angeschickt hatte, zu dem von Cathérine vorher bewohnten Flügel zum Löschen zu eilen, auseinanderzustieben. Die Mauern stürzten in einem Getöse von umgestoßenen Eimern, wie von einem Sturm getrieben, auf den Mittelpunkt des Hofes zu, und Gauthier tauchte auf der Schwelle auf. Mit dem Kopfverband, den er noch trug, und in der langen Dschellaba, mit der man ihn ausstaffiert hatte, sah er den Ungläubigen, die er zurücktrieb, sehr ähnlich, die aber im Vergleich zu ihm, dem Riesen, zwergenhaft wirkten. Vor ihm, fest in seiner Riesenfaust gepackt, taumelte eine magere, weiße Gestalt und streckte sich schließlich, fast zu Füßen Catherines, auf dem Boden aus. Es war – Tomas …
Er hob die Augen zu der jungen Frau empor, sein Blick war nach wie vor der eines Traumwandlers, doch lag darin jetzt so etwas wie Bewußtsein. Ein Zornesfunke blitzte in seinen Augen auf, als er seine Feindin erkannte. Die schmalen Lippen verzogen sich zu einem boshaften Grinsen. »Du lebst noch!« zischte er. »Satan selbst schützt dich, Hure! Das Feuer hat keine Macht über dich! Aber du wirst der Züchtigung nicht entgehen!«
Mit zornigem Knurren riß Josse den Dolch aus seinem Gürtel und sprang auf den Jungen zu, packte ihn an der Gurgel.
»Du wirst ihr auf keinen Fall mehr entgehen!« Er wollte zustoßen, ohne daß Cathérine, versteinert vor Entsetzen angesichts dieses unnachgiebigen Hasses, auch nur einen Finger rühren konnte, doch da legte sich die Pranke Gauthiers auf den Arm des Parisers und hielt ihn zurück.
»Nein … laß ihn! Ich hatte soeben auch die größte Lust, ihn zu erwürgen, als ich ihn vor der brennenden Tür der Dame Cathérine, mit seiner Fackel herumfuchtelnd, entdeckte, aber ich habe begriffen, daß er ein Verrückter ist, ein kleiner Junge, ein Kranker … Solche Menschen tötet man nicht, man überläßt sie dem Himmel … wer immer darin wohnt. Und jetzt reisen wir ab!«
Mit einer Bewegung deutete Cathérine auf ihre Bettdecke und hob die Schultern.
»Wie denn? Barfuß und nur in eine Decke gehüllt? Bist du nicht vielleicht auch ein bißchen verrückt?«
Ohne zu antworten, reichte Gauthier ihr das Paket, das er unter dem Arm trug, lächelte und erklärte dann:
»Hier sind Eure Kleider und Euer Almosenbeutel. Ich habe sie in Eurem Gemach gefunden … statt einer Leiche, die glücklicherweise noch lebt! Zieht Euch schnell an!«
Cathérine ließ sich das nicht zweimal sagen. In einen dunklen Winkel des Hofes gleitend, beeilte sie sich, ihre Reisekleidung anzulegen, schnallte sich den Almosenbeutel an den Gürtel, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß ihr Dolch und der Smaragd der Königin noch vorhanden waren. Als sie zu ihren Gefährten zurückging, stellte sie fest, daß Tomas verschwunden und Josse auch nicht mehr da war. Gauthier beobachtete mit verschränkten Armen gelassen die Löscharbeiten der Leute im Hof. Die Feuersbrunst, zweifellos rechtzeitig bekämpft, war schon beinahe unter Kontrolle. Cathérine fragte ihn:
»Wo ist Josse?«
»Im Stall. Er macht die Pferde fertig. Don Alonso hat gestern abend noch entsprechende Anweisungen erteilt.«
Tatsächlich kam der frühere Landstreicher schon zurück, drei vollkommen aufgeschirrte Pferde und ein Maultier, das mit Lebensmittel- und Kleidersäcken beladen war, hinter sich herziehend. Der Erzbischof hatte an alles gedacht …
Aber Cathérine sträubte sich, als Gauthier ihr in den Sattel helfen wollte.
»Was denkst du dir eigentlich? Daß ich mich wie eine Diebin fortschleiche, ohne mich zu vergewissern, ob unser Gastgeber unverletzt ist?«
»Das wird er gar nicht von Euch erwarten. Und Ihr seid hier entschieden nicht in Sicherheit. Ich habe von dem Attentatsversuch erfahren, dem Ihr zum Opfer hättet fallen sollen«, fuhr Gauthier fort, aber Cathérine schnitt ihm scharf das Wort ab. Ihre blauen Augen sprühten vor Zorn, als sie von einem zum anderen der beiden Männer blickte.
»Offenbar habt ihr euch bereits geeinigt, mir mein Verhalten vorzuschreiben, ihr zwei! Hat wahrhaftig nicht lange gedauert, bis ihr euch miteinander bekannt gemacht habt!«
»Naturen wie die unseren erkennen sich sehr schnell«, sagte Josse einschmeichelnd. »Wir sind geschaffen, uns zu verstehen.«
»Auf jeden Fall werden wir uns, wenn es sich um Eure Sicherheit handelt, immer verstehen«, fügte Gauthier hinzu. »Ihr seid nicht sehr vorsichtig, Dame Cathérine …«
Es lag ein feiner Vorwurf in Gauthiers Worten und noch mehr in seinem Blick. Widerwillig wandte Cathérine den Kopf ab, von schmerzhafterer Reue ergriffen, als sie es für möglich gehalten hatte. Ja, er warf ihr vor, Erinnerungen zwischen ihnen wachgerufen zu haben, die das Reich der Träume nie hätten verlassen dürfen. Die Dinge hatten sich geändert, wie stark auch immer ihr Wille war, sie auf den früheren Stand der Tatsachen zurückzuführen. Küsse und Umarmungen lassen mitunter ebenso grausame, unauslöschliche Narben in der Seele zurück wie ein glühendes Eisen auf der Haut eines Mannes.
»Steht es dir zu, mir das vorzuwerfen?« sagte sie leise und bitter. Dann, abrupt den Ton ändernd: »Wie immer, ich breche nicht auf, ohne mich von Don Alonso verabschiedet zu haben!«
Ohne sich um die beiden Männer zu kümmern, ging sie mit schnellen Schritten auf die Rundbogenpforte zu, die zu den Räumen des Erzbischofs führte. Die Sklaven hatten sie freigelegt, der Brand war gelöscht. Nur einige schwarze Wölkchen stiegen noch an Türen und Fenstern empor, und ein unangenehmer Brandgeruch lag in der Morgenluft.
Der Tag brach an, sehr schnell wie in allen südlichen Ländern. Die Nacht verschwand mit einem Schlag, wie eine von einer geheimnisvollen himmlischen Hausfrau plötzlich von der Erde zurückgeschlagene dunkle Decke, der Himmel prangte in allen Farben, im ganzen Gold der Morgenstunde, und das Schloß schimmerte wie ein riesiger Rubin in dieser rosaperligen Morgendämmerung. In den Unterkünften hörte man Rufe, Kommen und Gehen, und Cathérine zögerte einen Augenblick auf der von den Wachtposten verlassenen Schwelle. Wie konnte sie sich diesen Leuten verständlich machen, deren Zunge sie nicht sprach? Schon wollte sie sich umwenden, um Josse zu rufen und ihn zu bitten, mit ihr zu Don Alonso zu gehen, als eine große schwarze Gestalt plötzlich vor ihr stand. Trotz der Gewalt, die sie über sich hatte, wich die junge Frau zurück, von der abergläubischen Bestürzung ergriffen, die sie immer überkam, wenn sie Fray Ignacio gegenüberstand.
Der einäugige Mönch sah sie ohne Erstaunen an und verneigte sich kurz.
»Ich schätze mich glücklich, Euch zu begegnen, edle Dame! Ich war auf dem Weg zu Euch. Seine Hoheit schickt mich …«
Jäh überfiel Cathérine die Angst und schnürte ihre Kehle zusammen. Sie hob die Augen, in denen Verzweiflung und Furcht zugleich lagen, zu dem Mönch empor.
»Ihr … Ihr sprecht also unsere Sprache?«
»Wenn es sein muß, wenn es nötig ist, spreche ich tatsächlich Eure Sprache … ebenso, wie ich englisch, deutsch und italienisch spreche!«
Cathérine fühlte ihre Zweifel und Befürchtungen mit einem Schlag wiederkehren. Garin hatte auch mehrere fremde Sprachen gesprochen … Und da war die unerträgliche Unsicherheit wieder. Sie äußerte sich bei der jungen Frau in eiskaltem Zorn.
»Warum habt Ihr dann neulich in der Schatzkammer so getan, als verstündet Ihr kein Wort, das ich sagte?«
»Weil es nicht nötig war. Und weil ich nicht verstand, was Ihr sagen wolltet …«
»Seid Ihr dessen so sicher?«
Oh! Wenn sie das Rätsel dieses verschlossenen Gesichts lösen könnte, dieses einen Auges, dessen Blick dem ihren auswich und sich über ihren Kopf hinweg in den Tiefen des Hofs verlor! Wenn sie diesem Phantom die reine Wahrheit entreißen könnte! … Als sie ihn französisch hatte sprechen hören, hatte Cathérine versucht, aus der Betonung Garins Stimme herauszuhören … und sie hätte unmöglich sagen können, ob es dieselbe Stimme oder eine andere war! … Jetzt hörte sie, wie er ihr mitteilte, daß Don Alonso durch den Einsturz einer kleinen Zedernsäule verletzt worden sei, daß sein maurischer Arzt ihm ein kräftiges Mittel gegeben habe, damit er in Ruhe schlafen könne, daß er aber noch vor dem Einschlafen Fray Ignacio befohlen habe, sich zu vergewissern, daß Dame Cathérine unverletzt sei, und sich persönlich darum zu kümmern, daß die vorgesehene Abreise der jungen Frau durch den nächtlichen Brand keine Verzögerung erfahre und vonstatten gehe, als ob Don Alonso persönlich die Vorbereitungen hätte leiten können.
»Don Alonso bittet Euch lediglich, die Erinnerung an ihn in Eurem Herzen zu bewahren, edle Dame … und für ihn zu beten, wie er für Euch beten wird!«
In einer plötzlichen Anwandlung von Stolz richtete Cathérine sich auf. Wenn dieser Mann wirklich Garin war, wenn er Theater spielte, dann spielte er hervorragend. Sie wollte ihm nicht nachstehen.
»Bestellt Seiner Hoheit, daß ich es daran nicht fehlen lassen werde und daß die Erinnerung an seine Güte mir immer gegenwärtig sein wird. Sagt ihm weiter, wie sehr ich ihm für die mir gewährte Hilfe verbunden bin und daß ich ihm für seine Gebete danke, denn dort, wo ich mich jetzt hinbegebe, werde ich in dauernder Gefahr sein …«
Sie hielt einen Augenblick inne, blickte den schwarzen Mönch scharf an. Nichts! Kein Zucken! Er schien aus Stein gemeißelt, unempfindlich für jedes Gefühl, für das einfachste Mitleid. Er beschränkte sich darauf, sich noch einmal schweigend zu verneigen.
»Was Euch betrifft …«, hob Cathérine mit zornbebender Stimme wieder an – aber sie kam nicht weiter. Wie Gauthier sich vorhin zwischen Tomas und Josses Messer gestellt hatte, trat er jetzt dazwischen und legte der jungen Frau die Hand auf die Schulter.
»Redet nicht weiter, Dame Cathérine. Erinnert Euch, was ich Euch gesagt habe! Kommt! Es ist Zeit zum Aufbruch!«
Diesmal unterwarf sie sich seiner Autorität. Gehorsam drehte sie sich um, trat zu der von Josse und den Tieren gebildeten Gruppe, ließ sich wortlos in den Sattel helfen und wandte sich dem Torbogen zu. Erst als sie durch das hochgezogene Fallgatter ritten, drehte sie sich noch einmal um, fand aber die Sicht durch die breiten Schultern des unmittelbar hinter ihr reitenden Normannen versperrt.
»Seht Euch nicht um!« befahl er. »Ihr müßt Euren Weg gehen, geradeaus … und ohne Euch je wieder umzusehen. Merkt Euch, was ich Euch gesagt habe: Vor Eurem Gott und vor den Menschen seid Ihr die Frau Arnauds de Montsalvy! Alles andere vergeßt!«
Wieder gehorchte sie, sah nach vorn durch den roten Spitzbogen auf das kahle, großartig sich entfaltende Plateau hinaus, doch an Gauthier vorbei hatte sie trotzdem für einen Moment die hohe schwarze Gestalt des Mönchs bemerkt, der, die Hände in den Ärmeln seiner Kutte verborgen, noch immer an der Stelle stand, wo sie ihn verlassen hatte. Streng, rätselhaft blickte er ihr nach … Und Cathérine ahnte, daß dieses Bild sich wie ein Dorn in ihr Herz, in ihr Fleisch bohren würde, an dem sich ihre Liebe unablässig wund reiben mußte – vorausgesetzt, daß es ihr gelänge, ihn wiederzufinden.
Lange und schweigend ritt sie dahin, überließ ihrem Pferd die Zügel. Josse hatte die Führung übernommen und folgte der Straße. Sie ritt mechanisch hinter ihm, ohne etwas von der Landschaft zu sehen, die bereits unter der gnadenlosen Sonne Kastiliens lag. Nach einem mühsamen Anstieg bot sich ihren Augen ein gigantisches Panorama von Ebenen und ockerroten Sierras, da und dort von elenden Dörfern durchsetzt, die, so gut es gehen wollte, dürftige Hanffelder unterhielten. Hin und wieder die gedrungenen Umrisse einer kleinen romanischen Kirche oder die hochmütigen Mauern eines Klosters, manchmal auch ein dürftiges Schloß, dessen Turm auf einem Felsen stand wie ein sehnsüchtiger, auf einem Bein träumender Reiher … Aber Cathérine sah von allem nichts. Sie sah nur vor ihrem inneren Auge die drohende Gestalt eines einäugigen Mönchs, dessen Schweigen sie vielleicht verurteilte. Zu Füßen der Jungfrau von Puy hatte sie gefleht, Gott möge ihr ihren Gatten wiedergeben … Hatte Gott so mit ihrem Herzen, mit ihrer Liebe gespielt? Konnte Gott so grausam sein, den, den sie für tot hielt, ihren Lebensweg wieder kreuzen zu lassen, während sie verzweifelt einen Lebenden wiederzufinden hoffte? Wo war jetzt die Pflicht? Gauthier sagte, sie müsse ihren Weg weitergehen, koste es, was es wolle, ohne zurückzublicken … Aber Gauthier kannte Gott nicht. Und wer konnte wissen, was Gott von ihr, Cathérine, forderte?
Die Bilder Fray Ignacios und Garins standen sich in ihrem Geist jetzt gegenüber. Alles, was sie über ihren ersten Gatten im Gedächtnis bewahrt hatte, kreiste nun um die strenge Gestalt des Mönchs. Garin am Hochzeitsabend, Garin mit haßverzerrtem Gesicht im Schloßturm von Malain, Garin schließlich im Kerker, im Stock, die Augenhöhle offen sichtbar. Trotz der sengenden Sonne glaubte Cathérine, wieder die Feuchtigkeit der finsteren Zelle auf den Schultern zu spüren und den schimmligen Modergeruch zu riechen. Sie sah, jawohl, sie sah, wie Garin ihr sein verletztes Gesicht zuwandte, als sie in die Zelle getreten war. Und plötzlich fuhr sie auf.
»Mein Gott!« murmelte sie. »Das stimmt ja … Warum habe ich denn nicht früher daran gedacht …«
Mitten auf dem einsamen Saumpfad hielt sie ihr Pferd an und blickte von einen ihrer Begleiter zum anderen, die ebenfalls angehalten hatten. Und ganz plötzlich, aus heiterem Himmel sozusagen, brach sie in Lachen aus. In helles, freudig-junges Lachen … ein befreiendes Lachen, das aus tiefstem Herzen kam, die Kehle löste, ihr Tränen in die Augen trieb, ein verrücktes Lachen, das nicht enden wollte und Cathérine zwang, sich auf den Hals ihres Pferdes hinunterzubeugen … Mein Gott, wie komisch das war! … Wie konnte sie nur ein solches Hornvieh gewesen sein, das sie das nicht sofort bemerkt, sich derart darüber aufgeregt hatte? … Nein, das war wirklich die komischste und drolligste Sache, die ihr je vorgekommen war … Sie lachte, sie lachte, bis sie außer Atem war … Und natürlich hörte sie Josse besorgt ausrufen:
»Sie … sie ist übergeschnappt!«
Und der große Pinsel von Gauthier entgegnete im ernstesten Ton der Welt:
»Vielleicht ist es die Sonne! Sie ist sie nicht gewohnt.«
Doch als sie ihr vom Pferd helfen und sie in den Schatten führen wollten, hörte sie ebenso jäh mit Lachen auf, wie sie begonnen hatte. Sie war puterrot vor Lachen, und ihr Gesicht war mit Tränen bedeckt, aber sie warf dem Normannen einen klaren, frohen Blick zu:
»Soeben ist's mir eingefallen, Gauthier! Fray Ignacio fehlt das rechte Auge! … Und mein verstorbener Gatte, der Finanzminister von Burgund, verlor sein linkes Auge in der Schlacht von Nicopolis! Ich bin immer noch frei, verstehst du, frei, mein Recht von der Ungläubigen zurückzufordern!«
»Wollt Ihr Euch nicht ein wenig ausruhen?« wagte Josse vorzuschlagen, der nichts verstanden hatte. Sie überschüttete ihn mit einem neuen Lachanfall.
»Ausruhen? Ihr seid wohl verrückt geworden! Im Gegenteil, im Galopp weiter! Nach Granada! Nach Granada – so schnell wie möglich! Und nun zu uns beiden, Arnaud de Montsalvy!«