Teil 2

Prolog

Es belastete ihn ungemein, sie unten im Keller seines Hauses zu wissen. Ein ungelöstes Problem, von dem ihm nicht einmal entfernt vorschwebte, wie es zu lösen sein könnte. Und so etwas konnte er sich nicht leisten, gerade jetzt noch weniger als zu sonst irgendeinem Zeitpunkt. Er war so dicht am Ziel. Die Verwirklichung all seiner Sehnsüchte, das spürte er, lag zum Greifen nahe. Monique Lafond hätte nicht passieren dürfen.

Als er ihre Nachricht auf seiner Mailbox vorgefunden hatte, war er erstarrt vor Schreck und hatte sofort angefangen zu grübeln, wer diese Frau war und wie sie an seine HandyNummer hatte gelangen können. Der Name kam ihm bekannt vor, irgendwo hatte er ihn schon einmal gehört, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er ihn unterbringen konnte: Die Putzfrau! Camilles verdammte Putzfrau. Er hatte sie nie persönlich getroffen, aber ein- oder zweimal hatte Camille den Namen erwähnt. Wie war diese Person an seine Telefonnummer gekommen? Er hielt es für unwahrscheinlich, daß Camille sie ihr gegeben hatte, sie hatte keinerlei vertrautes Verhältnis zu ihrer Putzfrau, und ihr war ohnehin daran gelegen gewesen, die Beziehung zu ihm geheimzuhalten.

Natürlich hätte Camille Gott und der Welt von ihm erzählen können, und sicher hätte er niemandem gegenüber, schon gar nicht bei der Polizei, abgestritten, daß es eine Beziehung zwischen ihnen gegeben hatte. Aber nicht ein einziger Beamter war bei ihm aufgetaucht, und daraus hatte er geschlossen, daß Camille aus ihm ein ebensolches Geheimnis gemacht hatte, wie sie überhaupt alles für sich behielt. Ihre Abgrenzung von ihrer gesamten Umwelt trug beinahe autistische Züge, und er konnte sich durchaus vorstellen, daß sie vollkommenes Stillschweigen gewahrt hatte. Weshalb hätte er von sich aus zur Polizei gehen und schlafende Hunde wecken sollen?

Als er Moniques Anruf vorgefunden hatte, war ihm klar geworden, daß er falsch gehandelt hatte. Er hätte damit rechnen müssen, daß doch noch jemand auftauchte, und im nachhinein sah es eigenartig aus, daß er sich nicht von selbst bei der Polizei gemeldet hatte. Mehr als das: Es machte ihn außerordentlich verdächtig. Es könnte ihm kaum gelingen, dafür eine gute Erklärung zu finden.

Und nun meldete sich diese Person, die ganz offensichtlich über seine Beziehung zu Camille Bescheid wußte, und sie benutzte überdies seine Handy-Nummer, was ihn vollends nervös machte. Diese Handy-Nummer kannten nur ganz wenige Menschen, er gab sie kaum jemals heraus. Camille hatte sie gehabt. Hatte die Putzfrau sie bei ihr irgendwo gefunden? Er überlegte und grübelte; wann war er unvorsichtig und leichtsinnig gewesen? Einmal hatte er die Nummer auf Camilles Anrufbeantworter in Paris gesprochen, aber da konnte jene Monique kaum darauf gestoßen sein. Dennoch beunruhigte ihn dieses Vorkommnis auf einmal, denn schließlich könnte jemand anders das Band abhören. Wieso war er eigentlich so sicher gewesen, daß Camille immer alle Nachrichten löschte, kaum daß sie sie abgehört hatte? Er hatte ein paarmal mitbekommen, wie sie es hier tat, in ihrem Ferienhaus, sie hörte ab und löschte manchmal, noch ehe der Anrufer überhaupt zu Ende gesprochen hatte. Ein Ausdruck ihres krankhaften Desinteresses an der Welt.

«Wieso hast du so ein Ding überhaupt?«hatte er sie einmal gefragt.»Wenn du kaum hinhörst, was die Leute dir sagen?«

Sie hatte ihn abwesend angesehen.»Jacques hat die Anrufbeantworter installiert«, sagte sie. Wie er wußte, kam das einer Heiligsprechung dieser Geräte gleich. Was ihr verstorbener Mann eingerichtet hatte, blieb unangetastet, vermutlich bis in alle Ewigkeit. Selbst dann, wenn es sie nervte.

Und wenn sie aus irgendeinem Grund seine Nachricht in Paris nicht gelöscht hatte? Sie hatte ja damals abgestritten, sie überhaupt bekommen zu haben. Er hatte ihr nicht geglaubt, hatte es für eines ihrer üblichen Ausweichmanöver gehalten, mit denen sie sich immer mehr aus der Beziehung zu lavieren suchte. Eigentlich hatte er ihr gar nichts mehr geglaubt, und das hatte ihn so wütend gemacht, so entsetzlich wütend, so daß er schließlich…

An jenem Punkt verbot er sich stets, noch weiter in die Vergangenheit zu schweifen. Er wollte nicht daran denken, was dann geschehen war. Er hatte genug zu tun, sein Leben heute zu organisieren. Wenn er Fehler gemacht hatte, dann mußte er zusehen, daß sie ihm nicht zum Verhängnis wurden.

Er mußte überlegen, was mit dieser Monique Lafond werden sollte, die er jetzt am Hals hatte und die ihm so sehr gefährlich werden konnte.

Sie hatte ihm dankenswerterweise sogar den Ortsteil genannt, in dem sie lebte, und so war es einfach gewesen, über die Auskunft ihre genaue Adresse herauszufinden. Am frühen Samstagnachmittag, gegen drei Uhr, war er zum erstenmal zu ihrer Wohnung gegangen, sie war nicht da gewesen, aber in ihrer Wohnungstür hatte ein Zettel gesteckt, den er natürlich sofort entfernte. Die Schlampe hatte offenbar schon reichlich viel Staub aufgewirbelt, es wurde höchste Zeit, daß er einschritt.

Am Abend hatte er sie erneut aufsuchen wollen, aber gerade als er vor ihrer Wohnungstür stand, hatte er gehört, daß unten am Hauseingang jemand bei ihr klingelte, und rasch war er ein Stockwerk höher gehuscht. Den Stimmen hatte er entnommen, daß eine Freundin bei ihr aufgekreuzt war, und da nach seiner Erfahrung Frauen, die einander am Samstagabend besuchten, gewöhnlich die halbe Nacht zusammenhockten, hatte er gar nicht erst versucht, abzuwarten, sondern war so leise und heimlich verschwunden, wie er zuvor aufgetaucht war.

Heute hatte er ziemlich lange ausharren müssen, und das hatte ihn eine Menge Nerven gekostet. Das Problem waren die anderen Hausbewohner; sie würden mißtrauisch werden, wenn ein fremder Mann stundenlang im Flur herumlungerte, und am Ende könnten sie sich noch gut an sein Gesicht erinnern. Wenn er irgendwo eine Wohnungstür gehen hörte, war er jedesmal ganz nach oben gehuscht und hatte sich unter einer kleinen Treppe versteckt, die zu einem Ausstieg aufs Dach führte. Es war unwahrscheinlich, daß dort jemand vorbeikam. Schwieriger war es, wenn er unten die Haustür aufschwingen hörte, denn dann konnte er sich nicht unters Dach flüchten, da es Monique hätte sein können, die zurückkam. Er mußte auf seinem Posten bleiben und den Flur im Auge behalten, und zweimal war es ihm nur in letzter Sekunde geglückt, nach oben zu entwischen, ehe der jeweilige Hausbewohner ihn entdecken konnte.

Dann endlich war sie erschienen, und er hatte blitzschnell gehandelt. Gott sei Dank war sie allein, die ganze Zeit über hatte er die Befürchtung gehegt, es sei wieder eine Freundin bei ihr. Seltsamerweise war ihm nie der Gedanke gekommen, sie könne einen Mann oder einen Lebensgefährten haben. Das mochte daran liegen, daß nur ihr Name auf dem Türschild stand, aber mehr noch vielleicht an ihrem dämlichen Verhalten: Nach seiner Überzeugung hätte ein Mann niemals einen Anruf getätigt, wie sie es getan hatte, bei einem potentiellen Mörder, unter Hinterlassung von Namen und Telefonnummer. Über eine derartige Naivität konnte nur eine Frau verfügen.

Er hatte sie in die Wohnung gedrängt und die Tür geschlossen. Er hatte ein Messer dabei, aber er hatte es nicht zeigen müssen, sie leistete nicht den geringsten Widerstand, schrie auch nicht, sondern starrte ihn nur aus schreckgeweiteten Augen an.

«Sie wollten mich sprechen?«hatte er gefragt und gleich darauf in ihren Zügen lesen können, daß sie begriff, worauf er anspielte, und daß sie Angst bekam. Er hatte vorsichtshalber die Hand in die Tasche seiner Sweatjacke geschoben, um rasch an das Messer zu gelangen, falls sie nun doch zu schreien begann, aber offenbar war sie dazu nicht in der Lage. Sie glotzte nur, und hinter ihrer Stirn schienen hundert Gedanken zu jagen.

Draußen auf dem Flur hörte er jemanden vorbeigehen. Sie standen viel zu dicht an der Tür, und daher schob er Monique rückwärts bis ins Wohnzimmer; genaugenommen mußte er sie nicht schieben, sondern sich nur langsam auf sie zu bewegen, und schon wich sie von selbst zurück. Im Wohnzimmer vergewisserte er sich rasch, daß alle Fenster geschlossen waren, dann forderte er Monique auf, sich zu setzen, was sie sofort tat. Zum Glück hatte sie wirklich echte Angst vor ihm und würde voraussichtlich keinerlei Schwierigkeiten machen. Er selbst blieb stehen, weil ihm dies ein Gefühl der Überlegenheit gab, denn er fühlte sich in Wahrheit zutiefst unsicher. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Sein einziger Gedanke die ganze Zeit über war gewesen: Ich muß sie ausschalten. Ich muß diese Gefahr irgendwie unschädlich machen. Nun hatte er die Gefahr vor sich und wußte nicht, wie er mit ihr verfahren sollte.

«Woher haben Sie meine Telefonnummer?«fragte er.»Ich meine, die Handy-Nummer?«

Sie zögerte etwas zu lange. Sie würde ihm nicht die Wahrheit sagen.

«Von Madame Raymond«, sagte sie.

Er lächelte verächtlich.»Madame Raymond hätte niemals meine Nummer ihrer Putzfrau gegeben!«Das Wort Putzfrau spuckte er geradezu aus. Er merkte, wie er ein Stück Sicherheit zurückgewann. Er mußte sich nur klarmachen, daß sie wirklich nichts anderes war als eine Hausangestellte, nichts Besonderes, schon gar keine Geistesgröße. Zudem fand er sie alles andere als attraktiv, sie hatte für seinen Geschmack zu dicke Oberschenkel und ein ziemlich rundes Gesicht. Sie war absolut nicht sein Typ.

«Sie hat mir aber die Nummer gegeben«, beharrte Monique.

Woher hatte sie sie wirklich? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder sie hatte hin und wieder in Camilles Schubladen geschnüffelt, die Nummer dabei entdeckt und wollte dies nun nicht zugeben, weil es ihr peinlich war. Oder es gab einen Informanten, den sie zu decken versuchte. Aber wer, verflucht, konnte das sein? Camille hatte keine guten Bekannten oder Freunde gehabt. Und selbst wenn — welchen Sinn hätte es gemacht, irgend jemandem seine Handy-Nummer zu geben?

Im Lauf des Nachmittages fragte er noch einige Male nach, aber sie blieb bei ihrer völlig unglaubwürdigen Version, und langsam merkte er, wie er wütend auf sie wurde. Hätte sie noch geschickt gelogen, wäre es etwas anderes gewesen, aber so wurde sie zu einer Beleidigung für seine Intelligenz, und ihre Hartnäckigkeit machte ihn aggressiv. Das war gut so. Er hatte Menschen getötet, aber er war keineswegs in der Lage, einfach jeden zu töten. Seine Opfer hatten es verdient, es war geradezu zwingend notwendig gewesen, sie zu vernichten, weil sie es waren, die dafür sorgten, daß die Welt immer schlechter, kälter und unerträglicher wurde.

Monique Lafond zählte nicht zu diesen wertlosen Kreaturen, zumindest nicht, daß er es gewußt hätte. Aber sie hatte sich eingemischt, und nun versuchte sie ihn für dumm zu verkaufen, und wenn sie es noch ein bißchen weiter trieb, würde er zu dem Schluß gelangen, daß sie ebenfalls bestraft gehörte. Dies würde die Dinge wesentlich erleichtern.

Irgendwann — sie saß immer noch in sich zusammengesunken auf dem Sofa, er stand noch immer groß und drohend vor ihr — sagte er:»Ich werde dich schlagen. Ich werde dich so lange schlagen, bis du die Wahrheit sagst.«

Sie blinzelte nervös und fragte dann mit ängstlicher Stimme, ob sie auf die Toilette gehen dürfe.

«Nein«, sagte er und stellte zufrieden fest, daß sie um eine Schattierung blasser wurde. Das war eine echte Folter, und zudem eine, die von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde schlimmer wurde, ohne daß er etwas dazu tun mußte. Vielleicht würde sie irgendwann kapieren, daß es besser für sie war, wenn sie kooperierte.

Zum Glück wurde es früh dunkel zu dieser Jahreszeit. Um sechs Uhr entschied er, daß sie den Aufbruch wagen konnten. Es war nicht schlecht, daß er ihr das Messer bislang nicht gezeigt hatte, denn als er es nun hervorholte, erschrak sie fast zu Tode und begann heftig zu zittern. Er war überzeugt, daß sie keinen Versuch machen würde, ihn auszutricksen.

«Wir verlassen nun diese Wohnung und gehen zu meinem Wagen«, sagte er.»Ich gehe direkt neben dir, und das Messer liegt an deinem Rücken. Du hast es tief in deinen Nieren stecken, wenn du irgendwelchen Mist baust, und ich muß dir wohl nicht erklären, daß dich das entweder umbringt oder zum Invaliden macht. Das heißt, du solltest sehr brav sein und nichts tun, was ich dir nicht ausdrücklich sage. Verstanden?«

Es war ihm selbst nicht bewußt geworden, daß er irgendwann im Lauf des Nachmittages vom Sie zum Du gewechselt war; er registrierte dies erst in diesem Moment. Ein gutes Zeichen. Je mehr seine normalen höflichen Umgangsformen ihr gegenüber nachließen, desto eher wurde sie für ihn zum Objekt, und irgendwann würde dies die Dinge sehr erleichtern.

«Bitte«, sagte sie,»darf ich noch auf die Toilette?«

«Nein«, sagte er und scheuchte sie mit einer Handbewegung auf die Füße.

Er hatte ungemeines Glück. Sie begegneten keinem Menschen im Haus, und auch draußen auf dem Weg hinunter zum Hafen trieb sich niemand herum. Der Tag war sonnig, aber kühl gewesen, der Abend nun war richtig kalt. Er ging so dicht an sie gepreßt, daß jeder sie für ein Liebespaar gehalten hätte. Das Messer steckte verborgen in seinem Ärmel, aber die Spitze berührte Moniques Rücken, und als sie einmal stolperte, sorgte er dafür, daß sie sofort die Härte des scharfen Stahls spürte. Im Schein der Hafenlaternen konnte er sehen, daß sie Schweißperlen auf Stirn und Nase hatte. Es ging ihr ziemlich dreckig, und das geschah ihr recht.

Sie mußte in den Kofferraum steigen, nachdem er sich gründlich umgesehen und festgestellt hatte, daß niemand sie beobachtete. Sie rollte sich wie ein Igel zusammen und begann leise zu weinen. Er vermutete, daß sie allen Grund dazu hatte.

Zu Hause gelang es ihm, sie wiederum ungesehen aus dem Auto ins Haus zu bringen. Sie kletterte aufreizend langsam und umständlich aus dem Kofferraum, sie war offenbar grauenhaft unsportlich, und zudem drückte wohl auch ihre Blase inzwischen extrem quälend, denn das erste, was sie sagte, als sie im Haus waren, war:»Oh, bitte, lassen Sie mich auf die Toilette! Bitte, bitte!«

Er schüttelte den Kopf, sie sollte ruhig sehen, daß er so stur sein konnte wie sie. Er führte sie in den Keller hinunter, der völlig fensterlos und wie ein große, steinerne Höhle war; es gab dort einen kleinen Raum, in dem er auf einem Holzregal Konservendosen lagerte. Ansonsten befand sich dort nichts, er war schließlich auch nicht darauf vorbereitet gewesen, dort eine Frau gefangenzuhalten. Er stieß sie in die kalte Dunkelheit und verriegelte die Tür, stieg dann, gefolgt von ihren Schreien, die Treppe hinauf. Als er die obere Kellertür schloß, war nichts mehr zu hören. Erschöpft strich er sich die Haare zurück, er hatte eine Atempause gewonnen, aber mehr auch nicht, darüber mußte er sich im klaren sein. Letztlich würde er eine Lösung finden müssen, er konnte Monique Lafond in dem eisigen, finsteren Grab dort unten nicht verschimmeln lassen. Oder doch? Er brauchte nichts weiter zu tun, nur mußte er irgendwann beseitigen, was von ihr übrig war.

Er ging ins Wohnzimmer, knipste die Stehlampe neben dem Sofa an. Er mochte ihren sanften, milden Schein. In dem großen, gußeisernen Ofen glühten die Holzscheite und verbreiteten mollige Wärme. Er schenkte sich einen Whisky ein, spürte das Brennen, mit dem er die Kehle hinunterrann, genoß das Feuer, in das er den Körper hüllte. Er wußte, daß er manchmal zuviel trank, aber er war keineswegs der typische Alkoholiker; es reichten geringe Mengen, damit er sich stärker und zuversichtlicher fühlte.

Sein Blick fiel auf das Telefon. Er hatte solche Sehnsucht, ihre Stimme zu hören, und obwohl er keinesfalls lästig sein wollte, hob er schließlich, nach einigem Zögern, den Hörer ab und wählte die Nummer. Sein Herz hämmerte, während er darauf wartete, daß sie sich meldete.

Lieber Gott, laß sie zu Hause sein. Ich muß mit ihr sprechen. Ich muß mich vergewissern, daß es sie noch gibt. Daß sie für mich da ist, daß sie mich mag, daß sie mich lieben wird eines Tages…

Es dauerte so lange, daß er schon glaubte, sie sei nicht daheim, und die Enttäuschung löste einen so heftigen Schmerz in ihm aus, daß er meinte, ihn nicht ertragen zu können.

Er wollte schon aufgeben, da wurde endlich der Hörer abgenommen.

«Ja?«fragte sie atemlos.

Sie hatte die schönste Stimme der Welt, süß, melodisch, weich und voll zauberhafter Versprechungen. Die Erleichterung überschwemmte ihn, er merkte, wie heftig sein Verlangen nach ihr war und wie sehr er sich schon eins mit ihr fühlte.

«Oh — du bist ja doch da, Laura«, sagte er hölzern, und es paßte gar nicht zu dem, was er fühlte,»ich dachte schon… nun, egal. Hier ist Christopher. Hättest du Lust, heute abend mit mir essen zu gehen?«


Montag, 15. Oktober

1

«Ich kann Ihnen«, sagte Henri,»leider nicht wirklich weiterhelfen. Meine Frau und ich sind entsetzt und erschüttert über den Tod eines langjährigen Freundes, aber wir haben nicht die geringste Ahnung, was passiert sein kann.«

«Hm«, machte der Kommissar. Er wirkte unzufrieden; zudem hatte Henri das beunruhigende Gefühl, daß er ihm seine völlige Unwissenheit nicht wirklich abnahm. Er merkte selbst, wie auswendig gelernt und unecht es geklungen hatte, aber konnte das nicht auch eine normale Reaktion sein auf das schockierende Ausmaß von Gewalt, mit dem sie alle plötzlich konfrontiert worden waren?

Es war halb neun am Montagmorgen, und als er die Fensterläden vorn im Restaurant aufgestoßen hatte, war ihm sofort der graue Wagen mit den zwei Männern darin aufgefallen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte.

Sie waren ausgestiegen, kaum daß sie seiner ansichtig wurden, und auf ihn zugekommen, und es war ihm nichts übriggeblieben, als ihnen die Tür zu öffnen.

Sie stellten sich als Kommissar Bertin und sein Mitarbeiter Duchemin vor und sagten, sie hätten gern einige Fragen an ihn gerichtet. Er bat sie in die Küche, schenkte ihnen Kaffee ein, den sie dankbar zu sich nahmen. Zuerst hatten sie sich nach Nadine erkundigt.

«Es wäre uns lieb, wenn Ihre Frau an diesem Gespräch teilnehmen könnte.«

Er mußte erklären, daß seine Frau leider nicht daheim war.

«Hat sie schon so früh am Morgen das Haus verlassen?«erkundigte sich Bertin mit hochgezogenen Augenbrauen.

«Sie hat gar nicht hier geschlafen die letzte Nacht. Sie ist bei ihrer Mutter. Dort ist sie öfter. «Es kam Henri vor, als spräche er ein wenig zu hastig.»Ihrer Mutter geht es gesundheitlich nicht gut«, fügte er erklärend hinzu.

Wie er erwartet hatte, wußten sie von Laura, daß Peter Simon am vorletzten Samstag im Chez Nadine gegessen hatte. Sie wollten alles über ihn erfahren, was er geredet hatte, wie er sich verhalten hatte, ob irgend etwas an ihm auffällig gewesen sei, aber Henri sagte, was er auch Laura gesagt hatte: daß Peter müde und still gewirkt habe, was aber nach der langen Autofahrt nicht verwunderlich gewesen sei. Daß er seine Pizza kaum zur Hälfte gegessen habe und nach etwa einer Stunde gegangen sei. Daß sie fast kein Wort miteinander gewechselt hatten.

«Sie waren Freunde«, sagte Bertin,»und Sie hatten einander sicher längere Zeit nicht gesehen. Wäre es da nicht normal gewesen, sich ein bißchen zu unterhalten?«

«Sicher«, sagte Henri,»aber ich mußte arbeiten. Das Lokal war voll, und meine Frau war wieder einmal urplötzlich ausgefallen, weil sie zu ihrer Mutter mußte. Ich war allein und jagte zwischen Küche und Gastraum hin und her, und die Leute beschwerten sich schon, weil alles zu lang dauerte. Ich konnte mich nicht um Peter kümmern.«

«Wußten Sie, weshalb er an die Côte gekommen war?«

«Natürlich. Er kam jedes Jahr in der ersten oder zweiten Oktoberwoche. Er segelte dann immer mit einem Freund.«

«Und er erwähnte nichts davon, daß er diesmal etwas anderes vorhabe?«

Henri merkte, daß ein Nerv an seiner rechten Schläfe zu zucken begann. Hoffentlich sahen die beiden Männer das nicht. Was wußte Bertin? Wußte er, daß Peter Simon sehr wohl etwas anderes vorgehabt hatte? Daß er mit Nadine hatte durchbrennen, irgendwo ein neues Leben hatte beginnen wollen? Aber woher sollte er das wissen? Laura hatte keine Ahnung, sonst wäre sie längst hier aufgetaucht und hätte Nadine zur Rede gestellt, davon war er überzeugt. Hatten sie in seinem Auto etwas gefunden, was auf die geplante gemeinsame Flucht hindeutete, Briefe oder etwas Ähnliches? Er beschloß, bei seinem eingeschlagenen Weg zu bleiben: Er hatte von nichts eine Ahnung.

«Nein«, sagte er,»er erwähnte nichts. Aber, wie gesagt, sehr viel mehr als Hallo und Wie geht’s haben wir ohnehin nicht ausgetauscht. Ich war ja nur am Rennen.«

Sie fragten ihn nach den Namen der anderen Gäste, aber er bedauerte, ihnen nicht helfen zu können, niemand sei ihm bekannt gewesen.

«In der Saison sind hier häufig Leute, die ich seit Jahren kenne. Aber diese verstreuten Grüppchen in der Nachsaison… nein, mir war niemand bekannt an diesem Abend. Außer eben Peter Simon.«

«Hat sich Monsieur Simon mit jemandem unterhalten?«

«Nein.«

«Madame Simon sagt, Sie hätten eine Aktentasche erwähnt, die er mit sich führte. Diese ist Ihnen aufgefallen?«

«Ja, weil er noch nie mit einer Aktentasche hier hereingekommen ist. Aber auch darüber habe ich nicht länger nachgedacht. Ich war, wie gesagt, viel zu beschäftigt, in dem Chaos hier meine Nase über Wasser zu halten.«

«Als Monsieur Simon ging, ist ihm da jemand gefolgt? Ich meine, hat jemand direkt nach ihm das Restaurant verlassen?«

«Nicht daß ich wüßte. Aber ich war auch in der Küche beschäftigt. Ich hätte es vielleicht nicht bemerkt.«

«Man hätte Sie zum Kassieren rufen müssen.«

«Manche zahlen auch und trinken dann noch in Ruhe ihren Wein zu Ende, ehe sie gehen. Das besagt nicht unbedingt etwas, aber mir ist zumindest niemand aufgefallen.«

Bertin hatte sich vorgebeugt und Henri sehr eindringlich gemustert.»Was wissen Sie über Peter Simon? Ich meine, wie weit ging diese Freundschaft? Wieviel vertraute man einander an, was erzählte man einander von Sorgen und Problemen, vom Alltag, von Kummer und Freuden? War es wirklich Freundschaft oder eher eine Bekanntschaft?«

Der Nerv in seiner Schläfe mochte sich nicht beruhigen. Das Zucken kam ihm inzwischen so stark vor, daß Bertin und Duchemin es sicher bemerkten. Aber er durfte sich davon nicht durcheinanderbringen lassen. Er mußte ruhig und gelassen antworten.

«Wir sahen uns ja nicht allzuoft«, sagte er.»Die Simons kamen Ostern hierher und im Sommer. Manchmal über die Jahreswende, aber das war nur… ich glaube, zweimal der Fall. Im Oktober kam Peter zum Segeln, da sah ich ihn manchmal gar nicht. Ich denke nicht, daß wir allzuviel voneinander wußten. Sie aßen oft hier, aber da mußten Nadine und ich ja arbeiten, also gab es auch dabei keine langen Gespräche. Nein«, er war in der Lage, Bertin einen einigermaßen festen Blick zuzuwerfen,»vermutlich sollte man es doch eher eine Bekanntschaft nennen.«

«Wußten Sie, daß Peter Simon existenzbedrohende finanzielle Schwierigkeiten hatte?«

«Nein. «Er war ehrlich überrascht. Davon hatte er nie etwas mitbekommen.»Das wußte ich nicht.«

«Wir haben über das Wochenende von den Kollegen in Deutschland seine wirtschaftliche Situation prüfen lassen. Die Witwe sitzt auf einem Schuldenberg, und man kann nur hoffen, daß er eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen hatte.«

«Keiner von beiden hat das je erwähnt.«

«Hm«, machte der Kommissar. Er nahm einen Schluck Kaffee, ehe er fortfuhr:»Wie sah denn diese Bekanntschaft zwischen Ihnen und den Simons genau aus? Sie waren zwei Paare. Meist verteilen sich in derlei Konstellationen die freundschaftlichen Gefühle nicht völlig gleichmäßig. Es sind manchmal eher die Männer, die gut miteinander können, während die Frauen einander gar nicht so mögen. Oder umgekehrt. Oder die Frau des einen ist mit dem Mann der anderen enger verbunden… es gibt da mehrere Möglichkeiten. Wie würden Sie das in Ihrem Fall definieren?«

Ob er doch etwas ahnte? Wie sollte man diese Frage anders interpretieren? Der Nerv zuckte nicht nur, er begann jetzt auch zu schmerzen. Sehnsüchtig dachte Henri daran, wie anders dieser frühe Morgen für ihn hätte aussehen können. Zeitung lesen, Kaffee trinken, ein Honig-Baguette essen… Er spürte plötzlich ein geradezu kindisches Verlangen nach seinem Honig-Baguette. Als sei darin all der Trost enthalten, den seine wunde Seele brauchte.

Er fragte sich, weshalb er sich wie ein Beschuldigter im Verhör fühlte. Weshalb er so genau darauf achtete, sich richtig zu verhalten. Weshalb er Angst hatte, und weshalb seine Nerven zuckten. Er hatte nichts verbrochen. Er hatte mit Peter Simons Tod nichts zu tun. Aber darum ging es wohl auch gar nicht. Er hatte einfach Angst, diese beiden Männer da vor ihm mit den kühlen, intelligenten Gesichtern könnten herausfinden, welch ein gehörnter Schlappschwanz er war, einer, der jahrelang damit lebte, von seiner Frau betrogen zu werden, und der am gemeinsamen Leben und an der Hoffnung auf eine glückliche Zukunft sogar dann noch festhielt, als er von ihrem Plan, ihn für immer zu verlassen, erfahren hatte. Ganz flüchtig fragte er sich, was Bertin in einer Situation wie der seinen getan hätte. Die Alte zum Teufel gejagt? Aber vermutlich würde er in eine solche Lage gar nicht erst geraten.

Er sah nicht aus wie einer, der sich von der eigenen Frau auf der Nase herumtanzen ließ.

«Ich glaube nicht«, bemühte er sich auf Berlins Frage zu antworten,»daß es in unserem Fall eine spezielle Aufteilung gab… Wir mochten einander alle vier. Ab und zu unternahmen wir etwas gemeinsam, aber eher selten, denn wie gesagt: Wenn die Simons Urlaub hatten, hatten wir Hochsaison in der Pizzeria. Und ganz offensichtlich wußten wir nicht viel voneinander. Ich bin sicher, auch meine Frau hatte keine Ahnung von Peter Simons finanziellen Problemen.«

«Tauschte sich Ihre Frau vielleicht manchmal intensiver mit Laura Simon aus?«

«Ich glaube nicht, nein.«

Und dann sagte er den Satz von seinem und Nadines Entsetzen über den Tod eines langjährigen Freundes, und daß sie keine Ahnung hatten, was passiert sein könnte, und er hatte den Eindruck, mit irgend etwas das Mißtrauen des Kommissars geweckt zu haben.

Die beiden Männer standen auf, und zum erstenmal ergriff Duchemin das Wort.»Wir würden gern auch noch einmal mit Ihrer Frau sprechen. Wann wäre das möglich?«

«Ich weiß nicht genau, wann sie heute zurückkommt… Vielleicht bleibt sie eine zweite Nacht bei ihrer Mutter. Wir haben heute Ruhetag, und…«Duchemin reichte ihm seine Karte.»Sie soll mich anrufen. Ich vereinbare dann einen Termin mit ihr.«

«In Ordnung.«

Er begleitete die Männer zur Tür. Der Morgen war strahlend schön wie seine Vorgänger, aber noch kälter. Er überlegte, ob er Cathérine anrufen und sie zum Mittagessen einladen sollte. In der letzten Zeit hatte er sich immer nur bei ihr gemeldet, wenn er sie brauchte, und sehr nett war er oft auch nicht zu ihr gewesen. Er könnte einmal etwas richtig Schönes für sie kochen und ihr über einen langen, einsamen Tag hinweghelfen. Unwahrscheinlich, daß Nadine vor morgen mittag zurückkäme.

2

«Ich dachte gleich, daß mir der Name irgendwie bekannt vorkam«, sagte Marie.»Peter Simon! Natürlich. Eure Freunde aus Deutschland. Du hattest sie ein paarmal erwähnt.«

«Es war ein Schock«, sagte Nadine.

Sie saß ihrer Mutter gegenüber an dem hölzernen Küchentisch, an ihrem alten Platz, den sie in ihrer Kindheit besetzt hatte. Die Kante war an dieser Stelle voller Kerben und Kritzeleien, tausend Mal hatte sie ihre Wut, ihre Frustration, ihre Hilflosigkeit mit Messern in das Holz geschnitten oder ihr in gemalten Zacken und Blitzen Ausdruck verliehen. Heute, als erwachsene Frau, fühlte sie nicht anders, hätte am liebsten ihre Fingernägel am Tisch gewetzt. Was ihr zeigte, daß sie keinen Schritt weitergekommen war seit damals. Sie saß in derselben Falle wie einst, und noch immer hatte sie keine Ahnung, wie sie sich befreien sollte.

Ein Blick hinauf aus der Schlucht hatte ihr das leuchtende Blau des Himmels offenbart und verraten, daß der Tag sonnig und wolkenlos war, aber in dieser Jahreszeit schaffte es die Sonne zu keinem Moment des Tages, in das schmale Tal zwischen den Felsen vorzudringen. Sie mußten das elektrische Licht brennen lassen und würden es bis zum Abend nicht ausschalten.

«Das kann ich mir vorstellen!«Marie zog schaudernd die Schultern zusammen.»Jemanden persönlich zu kennen, der so grausam ermordet wird… Wie entsetzlich! Hast du eine Idee, was da passiert sein kann?«

«Nein. Das hätte ich längst der Polizei gesagt.«

Marie nickte, dann warf sie einen diskreten Blick auf die Küchenuhr. Es war zehn Minuten nach neun Uhr. Sie seufzte. Sie fand es durchaus spannend, daß ein enger Bekannter ihrer Tochter Opfer eines Mordes geworden war, aber noch mehr interessierte sie im Augenblick das Leben ihrer Tochter, genauer gesagt: die Ehe ihrer Tochter. Nadine ließ Henri zu oft allein, und das konnte nicht gut gehen auf die Dauer. Es war zum Verzweifeln, daß Nadine nicht erkennen wollte, welch einen Glücksgriff sie mit Henri getan hatte. Wahrscheinlich mußte man eine so trostlose Ehe führen wie sie selbst, um einen Mann wie Henri schätzen zu können. Marie konnte sich durchaus vorstellen, daß er ein wenig langweilig sein mochte, mit seiner sanften Stimme und dem ausgeglichenen Temperament; ein Mann, der nicht brüllte oder tobte, raste vor Eifersucht oder umgetrieben wurde von immer neuen Leidenschaften. Aber was war denn die Alternative? Ein Charmeur wie Michel, der an keiner Frau vorübergehen konnte? Henri war berechenbar und gutherzig. Aber irgendwann würde auch ihm die Geduld reißen.

«Manchmal denke ich«, sagte sie vorsichtig,»daß dich andere Schicksale mehr interessieren als dein eigenes. Natürlich ist es tragisch, daß euer Freund auf so schlimme Weise ums Leben kommen mußte, aber letztlich hat das doch mit deinem Leben nichts zu tun. Dein Leben sind Henri und das Chez Nadine, und damit solltest du dich intensiver beschäftigen.«

«Was versuchst du mir zu sagen?«

Marie seufzte erneut. Sie empfand derlei Gespräche als außerordentlich schwierig.

«Du weißt, wie einsam ich bin. Und wie sehr ich mich über deine Gesellschaft freue. Aber es ist nicht richtig, daß du Henri so oft sich selber überläßt. Gestern abend war er allein, heute früh ist er allein. Er liebt dich, und er ist dir sehr… ergeben. Aber selbst Liebe und Ergebenheit halten nicht alles aus. Nadine«, sie griff über den Tisch und streichelte kurz über die Hände ihrer Tochter,»es wird Zeit, daß du dich auf den Rückweg machst.«

Nadine zog ihre Hände zurück, verbarg sie unter der Tischplatte, als habe sie Angst vor einem weiteren Übergriff ihrer Mutter.

«Es gibt keinen Rückweg«, sagte sie.

Marie starrte sie an.»Was heißt das? Wie meinst du das?«

«Wie ich es sage. Was ist daran unklar?«

«Es gibt keinen Rückweg? Du willst nicht zu Henri zurück?«

«Nein. «Noch immer hielt sie ihre Hände unter der Tischplatte versteckt.»Ich will nicht zurück. Unsere Ehe ist am Ende, und das schon seit langem. Es hat keinen Sinn, wenn du mir einzureden versuchst, er sei ein phantastischer Mann, und ich solle mich zusammenreißen und was-weiß-ich-noch-alles. Es ist aus. Ich will nicht mehr.«

Marie war völlig vor den Kopf gestoßen und sagte eine Weile gar nichts. Endlich meinte sie mit leiser Stimme:»Du hast so etwas öfter angedeutet. Aber ich dachte immer…«

«Was dachtest du?«

«Ich dachte, das sei eine vorübergehende Mißstimmung. In jeder Ehe gibt es Krisen. Aber deswegen wirft man nicht gleich alles hin. Man steht es durch, und irgendwann ändern sich die Zeiten auch wieder.«

«Es geht bei uns nicht um eine Krise oder Mißstimmung. Meine Gefühle für Henri sind seit Jahren tot. Sie werden nicht wieder erwachen, so wenig, wie überhaupt je etwas Totes wieder lebendig geworden ist. Alles, was ich jetzt fortführen würde, wäre nur Quälerei. Für mich und letztlich auch für ihn.«

Marie nickte, überwältigt von der Entschlossenheit in der Stimme ihrer Tochter.»Was willst du tun?«fragte sie.

«Ich muß sehen«, sagte Nadine,»daß ich auf eigenen Füßen stehe. Ich habe kein Geld, keinen Beruf, kein eigenes Dach über dem Kopf. «Ihre Stimme schwankte einen Moment, die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage senkte sich über sie wie eine Decke, die sie zu ersticken drohte. Dann riß sie sich zusammen.»Ich werde einen Weg finden. Bis dahin… Ich wollte dich fragen, ob ich vorübergehend wieder bei dir wohnen könnte?«

Es war Marie anzusehen, daß sie geschockt war vom dramatischen Ablauf der Geschehnisse, aber es gelang ihr, die Fassung zu wahren — was ihr noch selten im Leben geglückt war.

«Aber selbstverständlich«, sagte sie,»dies hier ist ebensosehr dein Zuhause wie meines. Du kannst hier wohnen, solange du möchtest. Und wenn es für immer ist.«

Dieser letzte Satz ließ Nadines Selbstbeherrschung zusammenbrechen. Sie war entschlossen gewesen, nicht zu weinen, die Kapitulation, das Scheitern all ihrer Pläne und Träume würdevoll zu überstehen, aber die Leichtigkeit, mit der ihre Mutter ein für immer als Möglichkeit einkalkulierte, nahm ihr den letzten Rest verbliebener Kraft.

«O Gott, Mutter«, sagte sie, und die Tränen schossen ihr aus den Augen genau wie bei ihrem letzten Besuch, und wenn Marie für einen Moment gedacht hatte, es seien Tränen der Rührung oder der Erleichterung, so begriff sie ihren Irrtum sehr rasch: Nie vorher hatte sie einen Menschen so verzweifelt und untröstlich weinen sehen, und nicht einmal bei sich selbst hatte sie es erlebt; dabei hatte sie sicher mehr Zeit ihres Lebens in Tränen aufgelöst verbracht als in irgendeinem anderen Zustand. Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte, jetzt und während Nadines Jugend, und wie meist gelangte sie zu dem Schluß, daß alles in irgendeiner Weise Michels Schuld war.

Verbittert starrte sie in ihre Kaffeetasse und lauschte dem Schmerz ihrer Tochter, von dem sie ahnte, daß sie nichts würde tun können, ihn zu lindern.

3

Sie begann zwiespältige Gefühle der Bedrängung und der Schuld zu entwickeln, und diese Mischung erwies sich als überaus anstrengend und kompliziert. Christopher hatte am Vorabend angerufen und sie zum Abendessen einladen wollen, aber in ihr war ein so starkes Bedürfnis nach Alleinsein gewesen, daß sie behauptet hatte, sie sei schon dabei, etwas für sich zu kochen.

«Dann mach eine doppelte Portion«, hatte er vergnügt entgegnet,»ich bin in einer Viertelstunde bei dir. Ich werde einen besonders schönen Rotwein für uns mitbringen.«

«Nein, bitte nicht«, hatte sie hastig und wohl auch mit einer gewissen Schärfe in der Stimme geantwortet, denn in dem darauf folgenden Schweigen erkannte sie Betroffenheit und Verletztheit — sogar durchs Telefon.

So vorsichtig wie möglich hatte sie hinzugefügt:»Es hat nichts mit dir zu tun, Christopher. Ich brauche einfach Zeit für mich. Es ist so viel passiert… ich denke intensiv nach und beschäftige mich mit mir und einigen Dingen aus meiner Vergangenheit. Es tut mir leid.«

Wie immer war er verständnisvoll und mitfühlend gewesen, ohne sich jedoch so einfach abschieben zu lassen.»Natürlich, Laura, das kann ich verstehen. Deine ganze Welt ist durcheinandergewirbelt worden, und du mußt dich erst langsam wieder in deinem Leben zurechtfinden. Trotzdem, es ist nicht gut, zuviel zu grübeln, und es ist auch nicht gut, sich zu verkriechen. Irgendwann laufen die Gedanken nur noch im Kreis, und manche Dinge nehmen Dimensionen an, die ihnen gar nicht zukommen. Dann ist es besser, sich mit einem Freund auszutauschen.«

Sie wußte, daß er recht hatte mit seinen Worten, wußte aber zugleich, daß auch sie im Recht war mit ihrem Bedürfnis, für sich zu sein, und sie fühlte sich undankbar, weil sie nicht glücklich war, Freundschaft angeboten zu bekommen, sondern statt dessen ärgerlich wurde, weil er insistierte, anstatt ihr Nein einfach zu akzeptieren.

Wahrscheinlich hätte ich gar keine Erklärung abgeben dürfen, dachte sie später, das ist grundsätzlich falsch im Gespräch mit einem Mann. Für Männer ist eine Erklärung gleichbedeutend mit einer Rechtfertigung, und Rechtfertigung heißt für sie Schwäche. Und da haken sie ein.

Damit war sie wieder bei den Fehlern angelangt, die sie bei Peter gemacht hatte, und das war ein so weites Feld, daß sie dann den Rest des Abends mit Grübeleien darüber verbrachte.

Jetzt, am nächsten Morgen, hatte sie zumindest das Gefühl, ein Stück weitergekommen zu sein. Sie wollte sich und ihre Ehe mit Peter nicht bis in alle Ewigkeit hinein analysieren, aber sie wollte in ein paar wesentlichen Punkten Klarheit gewinnen, und sie hatte zudem den Eindruck, daß ihr dieser Prozeß half, mit dem Erlebten fertigzuwerden.

Sie hatte in aller Frühe einen Spaziergang durch die Felder gemacht, hatte die aufgehende Sonne und die klare, kühle Luft genossen. Wieder daheim, machte sie sich einen Tee, trank ihn im Stehen auf der Veranda, während sie über das Meer schaute und den tiefen Frieden genoß, den dieser Blick in ihr auslöste und der ihr bewies, daß sie irgendwann gesund werden und ein neues Leben beginnen würde.

Schließlich dachte sie, daß sie Christopher anrufen müßte, aber der Gedanke war ihr unangenehm, und sie zögerte den Weg zum Telefon hinaus. Als der Apparat plötzlich schrillte, schrak sie heftig zusammen, aber dann sagte sie sich, daß es auch Monique Lafond sein könnte. Am Samstag hatte sie ihr den Zettel mit der Bitte um Rückruf an die Wohnungstür gehängt, und falls sie nicht verreist war, hätte sie sich längst melden müssen.

Natürlich war es Christopher.»Guten Morgen, Laura. Ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an?«

Sie lachte unecht.»Aber nein. Ich bin ein Frühaufsteher, wie du weißt.«

Gleich darauf dachte sie: Wie blöd von mir, woher soll er das wissen?

«Leider«, sagte er auch prompt,»wußte ich das bisher nicht. Es gibt vieles an dir und deinem Leben, das ich noch entdecken muß.«

Sie begann zu frösteln. Entweder redeten sie aneinander vorbei, oder sie hatte ihm während der letzten Tage ein Signal gegeben, das er mißverstanden hatte. Allerdings fiel ihr nichts dergleichen ein. Oder hatte er seine Bemerkung ganz harmlos gemeint, und sie interpretierte etwas hinein, woran er gar nicht gedacht hatte?

«Hat dir der gestrige Abend etwas gebracht?«fuhr er fort.»Ich habe mir nämlich Sorgen gemacht. Manche Menschen werden richtig depressiv über all diesem Grübeln. Mir selbst ging es so, nachdem Carolin mich verlassen hatte. Ich bin in Gedanken noch einmal durch jedes Gespräch gegangen, das wir je geführt hatten, ständig habe ich überlegt, worin meine Fehler bestanden hatten, was ich hätte tun können, um sie zu vermeiden. Irgendwann war ich völlig durcheinander und verzweifelt. Ich brauchte Monate, um aus dem Gedankenkarussell in meinem Kopf aussteigen zu können.«

«Glaubst du, man kann süchtig danach werden?«fragte sie. Sie fand dies einen interessanten Aspekt des Problems.

«Ich glaube, ja. Zumindest verselbständigt sich das Grübeln und wird zum Selbstzweck. Die Maschine springt an, wenn du morgens die Augen aufschlägst, und sie unterbricht ihre Tätigkeit erst wieder, wenn du einschläfst. Du grübelst zwanghaft und ohne noch irgendeinen Nutzen davon zu haben. Ich denke, dabei kann man schon von Suchtcharakter sprechen.«

«Aber davon bin ich noch weit entfernt. Ich bin gerade erst Witwe geworden. Ich habe gerade erst erfahren, daß mein Mann mich betrogen hat. Ich muß das verarbeiten, und ich kann das nicht, indem ich es verdränge.«

«Natürlich«, sagte er sanft,»ich meinte auch nicht, daß du es verdrängen sollst. Ich wollte dir nur raten, dich nicht völlig dem Grübeln auszuliefern. Sondern dazwischen auch noch den Rest der Welt und andere Menschen zu sehen. Grenz dich nicht ab von allem und jedem.«

Seine Stimme klang warm und ruhig, und Laura merkte, wie sich das aggressive Gefühl, das sich bei ihr in den letzten Tagen ihm gegenüber eingestellt hatte, in Luft auflöste. Er war verständnisvoll, hilfsbereit und fürsorglich. Er wollte sie nicht einfach sich selbst überlassen, sondern ihr helfen und für sie da sein. Eigentlich tat er nur das, was man von einem Freund in einer Situation wie der ihren erwartete.

«Komm doch heute abend zu mir«, schlug sie spontan vor,»diesmal werde ich für dich kochen — so wie du es dir neulich gewünscht hast. Um acht Uhr?«

«Gern«, sagte er feierlich, und als sie aufgelegt hatte, dachte sie, daß sie es schön fand, nicht schon wieder einen Abend lang allein zu sein.

Über die Auskunft erfragte sie die Telefonnummer von Monique Lafond und rief dann bei ihr an, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Wiederum bat sie die Fremde, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, obwohl ihr seit dem gestrigen Abend Zweifel gekommen waren, ob sie diese Spur wirklich verfolgen wollte. Spielte es eine Rolle, welcher Art die Beziehung zwischen ihrem Mann und der mysteriösen Camille Raymond gewesen war? War es wichtig, ob er sie mit einer Frau oder mit zwei oder drei Frauen betrogen hatte? Die Antwort war, daß es die Affäre mit Nadine relativieren würde. Sie würde herausfinden, ob Nadine seine große Liebe gewesen war oder lediglich eine Bettgefährtin unter vielen. Dies zu wissen würde es ihr erleichtern, mit der Gewißheit zu leben, hintergangen worden zu sein.

Sie schrieb die Worte M. Lafond auf den Zettel mit der Telefonnummer und legte ihn neben den Apparat. Sie würde es am Abend noch einmal versuchen.

4

Irgendwann war Monique endlich eingedöst, aber als sie aus dem unruhigen Schlaf erwachte, hatte sie nicht den Eindruck, daß ihr ein langes Wegtauchen vergönnt gewesen war. Es kam ihr vor, als seien es nur Minuten gewesen, allerdings sprachen die steifen, schmerzenden Knochen ihres Körpers dafür, daß sie doch eine ganze Weile auf dem kalten, harten Zementfußboden ihres Verlieses gelegen hatte.

Für Sekunden glaubte sie, einen Alptraum gehabt zu haben, der sich nun auflösen und sie mit einem erleichterten Durchatmen in die Wirklichkeit zurückkehren lassen würde, aber schon im nächsten Moment arbeitete ihr Verstand wieder ganz klar, und die Erkenntnis, daß das Entsetzen andauerte, traf sie mit solcher Härte, daß sie leise wimmerte. Sie war verschleppt worden. Sie befand sich im Keller eines fremden Hauses. Um sie herum herrschte völlige Dunkelheit. Und eisige Kälte. Sie konnte nichts sehen, hatte die Größe des Raumes nur durch Ertasten herausgefunden. Ihr Zeitgefühl hatte sich völlig verwirrt, sie wußte nicht, ob es mitten in der Nacht war oder der nächste Morgen oder schon der Nachmittag des nächsten Tages. Sie hatte Hunger, aber noch schlimmer quälte sie brennender Durst. Der Mann, der sie gefangen hielt, war der Mörder von Camille und Bernadette Raymond.

Sie hatte Camille und Bernadette gefunden, hatte gesehen, was er ihnen angetan hatte. Bis heute roch sie den Gestank der verwesenden Körper. Als ihr — noch ehe sie eingeschlafen war — die Bilder der toten Frau und des toten Kindes wieder ins Bewußtsein gekommen waren und sie sich zum erstenmal klargemacht hatte, daß es der Mörder war, der sie in seiner Gewalt hatte, mußte sie sich übergeben. Da sie den ganzen Tag über nichts gegessen hatte, spuckte sie nur ein wenig Galle, aber sie würgte und kämpfte minutenlang, überwältigt von ihrem Entsetzen und ihrer Angst. Dann versuchte sie ruhig zu werden, bemühte sich, ihren Verstand einzuschalten. Er hätte sie gleich töten können, schon in ihrer Wohnung. Er hatte es nicht getan, hatte sie statt dessen mit Fragen bestürmt. Woher hatte sie die Telefonnummer? Offenbar vermutete er einen weiteren Mitwisser.

Solange ich ihm den Namen nicht nenne, wird er mich nicht töten. Er braucht mich lebend. Er muß wissen, ob es da noch jemanden gibt, der Bescheid weiß oder die Polizei zumindest auf seine Spur bringen kann.

Sie krallte sich an dieser Hoffnung fest, die aber zugleich den Weg frei machte für eine neue Angst: Was würde er sich einfallen lassen, um sie zum Reden zu bringen? Er war wahnsinnig, und er war skrupellos. Wieviel Schmerzen konnte sie ertragen?

Sie durfte den Namen ihrer Informantin nicht nennen. Nicht nur, um diese zu schützen: Sie hätte, davon war sie überzeugt, im selben Moment ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.

In ihrer Not hatte sie sich am Abend, nicht lange nachdem er sie in den Kellerraum gestoßen hatte und verschwunden war, in einer Ecke ihres Gefängnisses erleichtert; zuvor war sie zitternd und weinend herumgekrochen und hatte gesucht, ob er ihr irgendwo einen Eimer hingestellt hatte. Sie war an ein Regal gestoßen, offenbar aus rohen Holzlatten gezimmert und darauf schienen sich Gläser und Konserven zu befinden, aber ansonsten gab es in dem Raum, den sie auf drei mal drei Meter schätzte, nichts, absolut nichts. Keine Liege, keine Decke, keine Wasserflaschen, nichts. Und schon überhaupt nichts, was sie als Toilette hätte benutzen können.

Sie versuchte sich die Ecke zu merken, damit sie dort immer hingehen konnte und ihre Exkremente nicht über den ganzen Boden verteilen mußte, aber schon jetzt, nachdem sie geschlafen hatte, fühlte sie sich vollkommen orientierungslos. Sie fror entsetzlich, es ging eine Eiseskälte von dem Zementfußboden aus. Sie durfte nicht soviel liegen, sonst würde sie ziemlich bald eine Nierenentzündung bekommen, und wie sie ihn einschätzte, würden ihn Schmerzen und Krankheit bei ihr nicht kümmern. Vielleicht kümmerte ihn überhaupt nichts mehr. Einen entsetzlichen Moment lang dachte sie, er hätte vor, sie in diesem Keller verrecken zu lassen, einfach nicht mehr zu erscheinen, sie Hunger, Durst, Kälte und einem qualvollen Sterben zu überlassen. Dann versuchte sie sich wieder Mut zu machen:

Er will eine Information von mir. Er hat keine Chance mehr, etwas herauszufinden, wenn ich erst tot bin.

Wahrscheinlich war das, was sie hier durchlitt, bereits die Folter. Er wollte sie weichkochen. Er ließ sie hungern und frieren und trieb sie fast zum Wahnsinn in der undurchdringlichen Finsternis, damit sie ihr Schweigen brach. Er würde sie natürlich nicht wirklich sterben lassen.

Aber konnte er sie am Leben lassen? Er hatte nichts getan, um von ihr nicht wiedererkannt zu werden. Sie hatten einen ganzen Nachmittag Auge in Auge in ihrem Wohnzimmer verbracht, sie kannte sein Gesicht, würde ihn jederzeit beschreiben können. Er konnte nie vorgehabt haben, ihr Freiheit und Leben zu schenken.

Sie wußte, daß sie nicht in Panik geraten durfte. Eigenartigerweise war es vor allem das Gefühl der Zeitlosigkeit, was ihr immer wieder die Luft abschnürte und sie an den Rand einer Hysterie trieb. Der Moment, in dem sie durchdrehen würde, stand immer wieder dicht bevor, und jedesmal, wenn sie mühsam gegen ihn ankämpfte, dachte sie, daß alles leichter wäre, wenn sie nur die Uhrzeit wüßte.

Sie trug eine Armbanduhr, aber die hatte kein Leuchtzifferblatt, und so konnte sie nicht das geringste sehen. Immer wieder überlegte sie, das Uhrenglas einzudrücken, um die Stellung der Zeiger ertasten zu können, aber sie hatte Angst, die Uhr dabei kaputtzumachen und hinterher gar nichts mehr zu haben. So vernahm sie, wenn sie ihr Handgelenk ans Ohr legte, zumindest noch das tröstliche Ticken, das ihr das Gefühl einer letzten Verbindung mit der Welt gab.

Hin und wieder versuchte sie auch Geräusche aus dem Haus zu erlauschen, aber da war nichts. Keine Tür, die in den Scharnieren quietschte, keine Telefonklingel, nicht einmal das Rauschen einer Toilettenspülung. Es hätte ein völlig verlassenes Haus sein können, in das er sie gebracht hatte, aber sie hatte beim Verlassen des Kofferraumes gesehen, daß sie sich inmitten eines Dorfes oder einer kleinen Stadt befanden, und der Eingangsbereich des Hauses selbst, der enge Flur, den man als erstes betrat, wirkte vollständig eingerichtet und bewohnt.

Er lebte in diesem Haus.

Aber sie befand sich im entlegensten Winkel des Kellers, in einem hermetisch abgeschlossenen Raum, und so konnte sie nichts mitbekommen von dem, was über ihr geschah.

Sie stand an die Wand gelehnt, beide Arme um ihren vor Kälte zitternden Körper geschlungen, und wartete. Wartete auf etwas, wovon sie nicht wußte, was es sein würde, was aber in irgendeiner Weise lebensentscheidend sein mußte. Sie wartete auf ihn, auf eine Information darüber, wie seine nächsten Schritte aussehen würden. Sie wartete auf irgend etwas, das die Schwärze, die Leere, die Zeitlosigkeit um sie herum durchbrechen würde. Vielleicht wartete sie auch nur auf einen Schluck Wasser.

Wenn er sie nicht sterben lassen wollte, mußte er ihr bald, sehr bald, etwas Wasser bringen.

5

Christopher hatte erwartet, daß ihn die Polizei aufsuchen würde; er war sogar erstaunt gewesen, daß nicht viel eher Ermittlungsbeamte bei ihm erschienen waren. Natürlich machte ihn, während er Bertin und Duchemin in seinem Wohnzimmer gegenübersaß, der Gedanke an die Frau im Keller nervös, doch schien bei den Polizisten nicht die geringste Absicht zu bestehen, sich in seinem Haus näher umzusehen. Er wußte, daß sie sich nicht bemerkbar machen konnte. Der uralte Keller würde nie ein Geheimnis preisgeben.

Bertin sagte, er habe mit Madame Simon und Monsieur Joly gesprochen, und in beiden Gesprächen sei eine Aussage ihn, Monsieur Heymann, betreffend gemacht worden, die ihn habe stutzig werden lassen.

«Peter Simon war, wie jedes Jahr im Oktober, mit Ihnen zum Segeln verabredet«, sagte Bertin,»aber er ist bei Ihnen nicht aufgetaucht. Seine Frau berichtete, sie habe am Sonntag, dem 7. Oktober, morgens bei Ihnen angerufen und erfahren, daß ihr Mann zu der Verabredung nicht erschienen sei. Ist das so richtig?«

«Ja«, sagte Christopher. Er hatte geahnt, daß Laura den Beamten nichts über Nadine Joly sagen würde, und er hatte eine Frage dieser Art erwartet.

«Hatten Sie vereinbart, sich am Samstagabend noch zu treffen, oder erst Sonntag früh? Ich frage deshalb, weil es mich wundert, daß nicht Sie bei Madame Simon angerufen haben. Madame berichtete, daß sie gegen«, Bertin warf einen Blick in seine Aufzeichnungen,»gegen halb elf bei Ihnen anrief. Bis dahin hätten Sie Ihren Freund doch schon vermissen und Nachforschungen anstellen müssen?«

Christopher rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er hoffte, daß er Verlegenheit und Unschlüssigkeit gut darstellte.

«Nun ja…«, sagte er vage.

Bertin sah ihn scharf an.»Was heißt das? Haben Sie ihn bereits vermißt, als Madame Simon bei Ihnen anrief?«

Christopher gab sich einen Ruck. Er sah dem Beamten in die Augen.»Nein. Ich habe ihn nicht vermißt. Denn ich glaubte zu wissen, wo er war.«

Bertin und Duchemin neigten sich näher an ihn heran. Beide waren jetzt voll gespannter Aufmerksamkeit.

«Sie glaubten zu wissen, wo er war?«wiederholte Bertin ungläubig.

«Laura… ich meine, Frau Simon hat Ihnen wohl nichts gesagt?«

«Ich würde nicht derart im dunkeln tappen, wenn sie es getan hätte«, sagte Bertin ungeduldig.

«Wahrscheinlich ist es ihr peinlich… sie wollte es geheimhalten… ich denke aber, ich muß die Dinge beim Namen nennen.«

«Dazu würden wir Ihnen sehr dringend raten«, erwiderte Duchemin grimmig.

Christopher knetete seine ineinander verkrampften Hände.»Ich wußte, daß Peter Simon gar nicht vorhatte, mit mir zu segeln. Schon seit längerer Zeit diente ihm unser früher üblicher herbstlicher Segeltörn nur noch als Ausrede. Als Ausrede seiner Frau gegenüber. In Wahrheit verbrachte er die Zeit mit… Nadine Joly.«

Es gelang den beiden Beamten nicht, ihre völlige Verblüffung zu verbergen.

«Mit Nadine Joly?«fragte Bertin ungläubig, während Duchemin gleichzeitig fassungslos fragte:»Nadine Joly vom Chez Nadine?«

Christopher nickte.»Er war mein Freund«, sagte er hilflos und unglücklich,»ich konnte ihn nicht verraten. So schlimm und entsetzlich ich fand, was er da tat — aber ich konnte ihm nicht in den Rücken fallen.«

«Das würden wir jetzt alles gern ganz genau wissen«, sagte Bertin, und Christopher lehnte sich zurück, eine Spur entspannter in Erwartung all der vertrauten Fragen, die jetzt kommen würden: Seit wann? Wer wußte davon? Woher wußte er davon? Hatte Laura Simon eine Ahnung gehabt? Und, und, und…?

Und zum Schluß, auch darauf hätte er jederzeit gewettet, würden sie nach Camille Raymond fragen. Sein Vorsprung bestand darin, daß er immer schon ganz genau wußte, was als nächstes kam.

6

Pauline war sicher, daß jemand vor dem Wohnzimmerfenster gewesen war. Sie schaute auf die Uhr: Es war fast zwölf. Sie hatte das Bügelbrett vor dem Fernseher aufgebaut, weil sie für Stephane einen Berg Hemden bügeln mußte, und sie unterhielt sich dabei gern mit irgendeiner anspruchslosen Talk-Show, die man den ganzen Tag über auf jedem Sender finden konnte. Eher aus den Augenwinkeln hatte sie den Schatten am Fenster bemerkt, das sich schräg hinter ihr befand, und nach einer Schrecksekunde war sie herumgefahren, bereit, der Gefahr ins Auge zu sehen und sich ihr zu stellen. Aber da war niemand. Nur ein Zweig des Oleanderstrauchs bewegte sich im leisen Wind, und sie fragte sich, ob er es gewesen war, was sie für einen menschlichen Schatten gehalten hatte. Aber der Zweig bewegte sich ständig, und sie hatte ihn die ganze Zeit über nicht bemerkt.

Mit unbeherrschten Bewegungen — wie eine Verrückte, dachte sie — stürmte sie durch die Tür hinaus auf die Terrasse. Es war kalt, und der Platz, an dem sie im Sommer schweigend nebeneinander saßen und lasen oder an manchen Abenden grillten — und den Anschein einer ehelichen Idylle erweckten, aber darüber hatte sie zuvor noch nie nachgedacht —, lag still und leer in der Herbstsonne. Kein Mensch weit und breit.

Wütend, oder vielleicht eher verzweifelt, riß Pauline an dem Oleanderzweig, der ins Fenster hineinnickte und den sie gerade deshalb immer so gern gemocht hatte. Sie brach ihn mit einem einzigen Ruck ab und schleuderte ihn in den Garten. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück, starrte in den Fernseher, wo sich ein wütendes Ehepaar gegenseitig der Untreue beschuldigte und von der Moderatorin nur mühsam am Austausch von Handgreiflichkeiten gehindert wurde, und brach in Tränen aus.

Entweder stand sie auf der Abschußliste eines wahnsinnigen Mörders und war praktisch todgeweiht, oder sie verlor langsam den Verstand, und das war auch nicht viel besser.

Und mit all dem, was es auch sein mochte, war sie allein. Vollkommen allein. Und diese Erkenntnis war vielleicht das Schlimmste von allem.

7

Henri hatte Cathérine gebeten, um halb eins im Chez Nadine zu sein, und wie immer war sie pünktlich. Sie schien sich jedoch ziemlich abgehetzt zu haben, denn sie atmete hastig, als sie die Küchentür aufriß, und sie wirkte verschwitzt: Ihre Haare klebten ihr in der Stirn, und der leichte Baumwollpullover, den sie trug, zeigte feuchte Ränder unter den Armen. Zudem roch sie auch nach Schweiß, wie er feststellte, und er merkte, wie sich leiser Widerwillen in ihm regte. Sicher, die Natur hatte sie wahrhaft stiefmütterlich behandelt, und ihre Möglichkeiten, eine halbwegs ansehnliche Frau aus sich zu machen, blieben mehr als eingeschränkt, aber warum mußte sie sich neuerdings so gehen lassen? Er meinte zu wissen, daß das früher besser gewesen war. Zumindest hatte sie stets nach Seife und manchmal sogar nach etwas Parfüm gerochen, sie hatte sich die Haare gekämmt und dann und wann etwas Lippenstift aufgetragen. Aber neuerdings war sie schlampig und unappetitlich, und er hätte ihr gern gesagt, daß dies sicher die falsche Art war, auf die Frustrationen und Niederlagen in ihrem Leben zu reagieren. Aber irgendwie hatte er keine Lust dazu. Es war nicht seine Sache. Sie war nicht seine Frau. Letztlich ging es ihn nichts an.

«Bin ich zu spät?«fragte sie hektisch.»Ich habe meine Uhr daheim vergessen und mich nur an meinem Zeitgefühl orientiert.«

«Dann funktioniert dein Gefühl einfach perfekt«, meinte er in forcierter Munterkeit,»du kommst auf die Minute.«

Cathérine seufzte erleichtert und strich sich die verklebten Haare aus der Stirn. Als sie den Arm hob, setzte sie eine neue Duftwolke frei.

Vielleicht ist ihr einfach das Deo ausgegangen, dachte er, und morgen kauft sie ein neues.

Er hatte den Tisch vorn im Gastraum gedeckt, mit weißer Tischdecke, frischen Blumen, Stoffservietten und den bemalten Keramiktellern, die sie so gern mochte. Er hatte eine Gemüsesuppe mit Croutons vorbereitet, danach selbstgemachte Ravioli mit einer Käsefüllung und cremiger Tomatensoße, ein leichtes Fischgericht und zum Nachtisch eine creme caramel. Aber obwohl er mit einer gewissen Hingabe und guten Laune gearbeitet hatte, machte ihm die ganze Angelegenheit plötzlich keinen Spaß mehr, und er hoffte, sie würde rasch essen und dann wieder gehen.

«Ich war noch bei einem Makler«, erklärte sie,»deshalb…«Sie ließ den Satz unbeendet, als müsse er wissen, wofür ihr Maklerbesuch eine Erklärung war, aber er wußte es nicht und sah sie nur fragend an.

«Ich meine, ich bin nicht direkt von daheim hierhergekommen«, fügte sie hinzu,»sonst wäre die vergessene Uhr ja kein Problem gewesen.«

«Was? Ach so, ja. Nun, sie war auch so kein Problem, denn, wie gesagt, du bist außerordentlich pünktlich. «Sie machten, so schien es ihm, auf eine schrecklich verkrampfte Art Konversation. Als ob sie sich nicht seit Babytagen kannten, sondern zwei Menschen seien, die einander wenig zu sagen hatten, aber aus irgendeinem Grund höflich zuvorkommend miteinander umgehen mußten.

«Setz dich doch schon mal. Ich bringe gleich die Suppe.«

Er schöpfte die Suppe in die Teller, schenkte den Wein ein. Die Sonne schien hell genug, so daß er darauf verachten konnte, die Kerzen anzuzünden; obwohl er sie zuvor dien zu diesem Zweck auf dem Tisch plaziert hatte, war er n in froh, daß sie überflüssig waren.

«Wo ist Nadine?«fragte Cathérine, nachdem sie beide fünf Minuten lang schweigend gelöffelt hatten.

«Bei ihrer Mutter«, antwortete er fast mechanisch denn schließlich war sie praktisch immer bei ihrer Mutter, aber in der nächsten Sekunde fiel ihm ein, wie oft es wohl in den letzten Jahren vorgekommen sein mochte, daß er sie bei ihrer Mutter vermutet hatte, während sie in Wahrheit in den Armen ihres Liebhabers lag, und ein leises Stöhnen kam über seine Lippen.

«Wird sie wieder hierherkommen?«Cathérine tat so, als sei dies eine völlig normale Frage, so als sei es tatsächlich fraglich, ob Nadine je zurückkehren würde, und dies entrüstete ihn. Wie selbstgerecht sie war, und wie anmaßend.

Als ob sie zur Familie gehörte. Ihm fiel etwas ein, das Nadine oft gesagt hatte, wenn sie — wieder einmal — wegen Cathérine stritten.

«Es geht ihr um Macht. Und zwar Macht über dich! Sie wird immer alles tun, ihren Fuß in unserer Tür zu halten. Sie wird immer versuchen, mitzureden, sie wird sich immer einmischen.«

«Natürlich kommt Nadine zurück«, sagte er mit Schärfe in der Stimme,»sie ist meine Frau. Sie wohnt mit mir in diesem Haus. Weshalb sollte sie von einem Besuch bei ihrer Mutter nicht zurückkommen?«

Cathérine war unter seinen Worten zusammengezuckt, hob den Kopf, wollte zu einer Erwiderung ansetzen, schluckte sie aber hinunter. Sie legte ihren Löffel zur Seite, obwohl ihr Teller noch nicht leer war, und fragte:»Möchtest du nicht wissen, weshalb ich einen Makler aufgesucht habe?«

Tatsächlich hatte er zwar das Wort Makler registriert, sich jedoch keinerlei Gedanken darüber gemacht. Nun erst fiel ihm auf, daß es wirklich eigenartig war: Was hatte Cathérine mit einem Makler zu tun?

«Und?«fragte er.

«Ich habe ihn beauftragt, meine Wohnung zu verkaufen.«

Das überraschte ihn nun so, daß er seinerseits den Löffel weglegte.»Du willst deine Wohnung verkaufen?«

«Ja. Viel werde ich dafür ja leider nicht bekommen, aber der Makler meint, vielleicht doch ein bißchen mehr, als ich hineingesteckt habe. Dann habe ich ein wenig Kapital.«

«Ja, aber — warum?«

Sie schaute an ihm vorbei zur Wand, saugte sich an einem Arrangement aus Strohblumen fest, das dort hing und unter einer Schicht von Staub einen einheitlich grauen Farbton angenommen hatte.

«Ich möchte dort nicht mehr leben. Die Wohnung ist häßlich und trostlos, und ich habe mich nicht eine Minute lang dort wohl gefühlt. Außerdem wird es Zeit, daß ich…«

«Was?«

«Daß ich mein Leben ändere«, sagte sie, und die Trostlosigkeit in ihrer Stimme verriet, daß sie genau wußte, mit dem Verkauf der Wohnung allein würde es nicht getan sein, daß es darüber hinaus aber sehr wenige Möglichkeiten für sie gab, einen echten Wandel herbeizuführen,»dafür wird es allerhöchste Zeit.«

Einen Moment lang geriet er in echte Panik. Was, zum Teufel, hatte sie vor? Was bedeutete in diesem Zusammenhang die Frage, die sie soeben noch gestellt hatte? Kommt Nadine hierher zurück?

Wollte sie… glaubte sie etwa…?

Aber schon im nächsten Moment befreite sie ihn von dem beängstigenden Bild, das sich ihm aufgedrängt hatte.

«Ich werde fortgehen.«

«Fort?«

«Ja, fort. Irgendwohin. Vielleicht in die Normandie, in das Dorf, in dem unsere Tante gelebt hat. Immerhin…«

«Ja?«Ihm wurde bewußt, wie einsilbig und stupid er sich anhören mußte mit seinem ständigen Warum? Was? Fort?]a? aber aus irgendeinem Grund war er im Augenblick nicht in der Lage, einen vernünftigen, zusammenhängenden Satz zu bilden.

«Immerhin fühle ich mich dort nicht ganz verloren: Ich bin oft dort gewesen, und ich weiß schon ein bißchen Bescheid. Den Pfarrer kenne ich recht gut, und ein paar Freunde unserer Tante erinnern sich vielleicht noch an mich, und ich… na ja, ich wäre nicht ganz alleine.«

Sie biß sich auf die Lippen, denn auch ihr war natürlich, genau wie Henri, bewußt, daß die Freunde der Tante, wenn sie überhaupt noch lebten, um die neunzig Jahre alt sein mußten und sicher nicht das waren, was sich eine Frau von Anfang dreißig normalerweise unter Freunden vorstellte.

«Ach, Cathérine«, sagte er hilflos, und im nächsten Augenblick schämte er sich zutiefst, denn ein Gefühl unendlicher Erleichterung überschwemmte ihn, so daß er sich als unanständig und kaltherzig und egoistisch empfand. Er würde frei sein! Frei von dieser Frau, die, dick und häßlich und vom Leben benachteiligt, an ihm klebte, seit er denken konnte, und die er nicht abschütteln durfte, weil sie niemanden hatte als ihn. Natürlich war sie treu und fleißig gewesen, war eingesprungen, wann immer er sie rief, aber was alles hatte sie dafür verlangt: Zuwendung, Ansprache, Zugehörigkeit. Wie wenig hatte Nadine sie gemocht, und war das nicht nur allzu verständlich? Welcher Frau hätte es gefallen, die Cousine des Mannes gewissermaßen mitheiraten zu müssen?

Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen in diesem Moment, daß Cathérine der Störfaktor in seiner Ehe mit Nadine gewesen war, verantwortlich für alles, was schiefgelaufen war. Ihr Rückzug bedeutete die große Chance eines Neuanfangs.

«Cathérine«, sagte er, und er hoffte, sie konnte nicht lesen, was in seinen Augen stehen mußte,»willst du das wirklich tun?«

Sie musterte ihn mit einer eigentümlichen Kälte, die er noch nie an ihr wahrgenommen hatte, und er ahnte, daß sie durchaus begriff, was in ihm vorging. Sein Gefühl der Scham wurde noch stärker, aber auch das Gefühl der Hoffnung.

«Ich bin ganz sicher, daß ich das tun werde«, antwortete sie,»denn welche andere Möglichkeit habe ich schon? Das sogenannte Leben, das ich hier führe, ist kein Leben. Es ist ein erbärmliches Dasein, einsam und unerfüllt, und nun, nach allem, was geschehen ist, auch noch hoffnungslos. Du wirst nie von Nadine lassen, und ich kann es nicht aushalten, noch länger in deiner Nähe zu leben. Du weißt, daß ich mich immer nach dir verzehrt habe, aber was mich jetzt forttreibt, ist nicht dieses schreckliche Sehnen, von dem ich mich nie werde befreien können, sondern der Schmerz, mit anzusehen, wie der Mann, der mir alles bedeutet, an einer Frau festhält, die…«Sie biß sich auf die Lippen, sprach den Satz nicht zu Ende, wohl wissend, daß er ein abwertendes Urteil über Nadine noch immer nicht hinnehmen würde.

«Wir brauchen wohl nicht mehr darüber zu reden«, sagte sie,»du kennst meine Gedanken und Gefühle zur Genüge.«

Und ob er sie kannte! Wie oft hatte sie über Nadine gesprochen, hatte sie meist auf subtile, eher unangreifbare Art angeklagt, war dann zwischendurch aber auch heftig geworden, hatte ihn in aller Deutlichkeit wissen lassen, was sie von seiner Frau hielt. Welch ein schrecklicher, untragbarer Zustand, und er fragte sich jetzt voller Ratlosigkeit, weshalb ihm dies nicht früher aufgefallen war. Warum hatte er gewartet, bis sie ihn beendete?

«Ich werde dich besuchen«, sagte er, aber er wußte, daß schon die bloße Absichtserklärung eine Lüge war, und Catherine wußte es auch.

«So häufig, wie du unsere Tante besucht hast«, erwiderte sie spöttisch, und er senkte den Kopf, weil auch dies eine Verfehlung war in seinem Leben, und noch dazu eine, für die er Geld bekommen und angenommen hatte. Aber trotz dieses berechtigten Vorwurfs konnte er nicht aufhören, sich zu freuen, und während sie langsam weiteraßen, schweigend und mit ernsten Gesichtern, breitete sich jubelndes Glück in ihm aus, eine tiefe Vorfreude auf das neue Leben mit Nadine. Er trug den nächsten Gang auf und schwelgte in Bildern zu künftiger Harmonie, aber er wurde jäh aus seinen Träumen gerissen, als es nachdrücklich an der Tür klopfte.

«Wer kann das sein?«fragte Cathérine.

Es waren Bertin und Duchemin. Sie wollten wissen, wo genau Henri am Samstag, dem 6. Oktober, abends gewesen war.

Und wen er als Zeugen für seine Aussage benennen konnte.

8

Am unerträglichsten wurde schließlich der Durst, obwohl Monique bereits ahnte, daß der Verlust des Zeitgefühls sie über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben würde, aber vermutlich würde der Durst sie vorher erledigen. Sie hatte gehofft und gebangt, Stunde um Stunde — ohne zu wissen, wie lang eine Stunde war und wann sie aufhörte —, daß ihr Peiniger auftauchen und ihr etwas zu essen und zu trinken bringen würde, aber schließlich mußte sie sich mit der furchtbaren Einsicht vertraut machen, daß er nicht vorhatte, bei ihr zu erscheinen, ehe sie nicht tot war und ihre Leiche verschwinden mußte. Ihre Theorie, er werde sie zumindest am Leben halten, bis er wußte, wer ihr seine Handy-Nummer genannt hatte, schien sich nicht zu bewahrheiten. Er wollte sie töten, aber aus irgendeinem Grund hatte er beschlossen, sie nicht zu erwürgen wie Camille und Bernadette. Er würde einfach warten, bis sie in diesem Keller verreckt war.

An diesem Punkt ihrer Überlegungen hatte sie zu weinen begonnen und sich gefragt, warum dies jetzt hatte passieren müssen, da sie gerade ein neues Leben hatte beginnen wollen. Sie erinnerte sich an das Gefühl von Glück und Entspanntheit, das sie am Morgen erfüllt hatte — an diesem Morgen, am gestrigen Morgen? — , und es erschien ihr so ungerecht, daß nun etwas so Schreckliches geschehen mußte, aber im nächsten Moment weinte sie noch heftiger über der Gewißheit, daß das, was mit ihr passierte, so außerhalb alles Vorstellbaren lag, daß es immer schrecklich und nicht zu verkraften gewesen wäre.

Irgendwann versiegten ihre Tränen, weil die Kraft sie verließ. Sie hatte zuvor an der Wand gelehnt, war dann aber langsam hinuntergerutscht und fand sich nun gekrümmt wie ein Embryo auf dem Fußboden wieder, halb erstarrt vor Kälte und mit einem wattigen Gefühl im Mund, als sei mit den Tränen der letzte Rest Feuchtigkeit aus ihrem Körper gewichen. Sie rappelte sich auf, schniefte in die Dunkelheit und machte sich klar, daß sie ihrem Entführer in die Hände arbeitete, wenn sie die Nerven verlor und sich aufgab.

«Ich muß überlegen, was ich als nächstes tue«, sagte sie laut.

Ihr fiel ein, daß sie Gläser und Dosen auf dem Holzregal ertastet hatte, und bei der Vorstellung, dort könnten sich eingemachte Früchte befinden, deren Saft sich trinken ließe, krabbelte sie sofort los in die Richtung, in der sie das Regal vermutete. Da der Raum so klein war, stieß sie schon sehr bald unsanft mit dem Kopf gegen eines der Bretter, stemmte sich auf ihre Knie hoch und tastete hastig in den Fächern herum, getrieben von der Gier dessen, der in der Wüste eine Oase wittert. Ihre zitternden Finger bekamen ein Glas zu fassen und hoben es auf. Es wog zu schwer, um leer sein zu können.

Es gelang ihr, den Gummiring am Deckel zu lösen und das Glas zu öffnen. Sie hörte eine Flüssigkeit schwappen, und das ließ sie jede Vorsicht vergessen. Sie setzte das Glas an ihre Lippen und kippte den halben Inhalt in ihren Mund — um ihn im nächsten Moment spuckend und würgend wieder von sich zu geben. Essig. Sie hatte eingelegte Gurken erwischt, widerliche, sauer eingelegte Essiggurken.

Sie sank auf den Boden zurück, hustete und keuchte, wischte sich mit einer kraftlosen Bewegung den Essig vom Kinn.

Vielleicht war er sadistischer, als sie gedacht hatte. Vielleicht hatte er das ganze Regal mit Scheußlichkeiten dieser Art gefüllt, weil er gewußt hatte, sie würde in ihrer Verzweiflung die Gläser zu öffnen versuchen.

Sie würde dies nur herausfinden, indem sie weiterprobierte.

Langsam und stöhnend richtete sie sich wieder auf.

9

«Am schlimmsten war es, die Kinder zu verlieren«, sagte Christopher,»ich wußte, daß es andere Frauen in meinem Leben geben würde, aber nie wieder diese Kinder. In den ersten Wochen dachte ich, ich müßte wahnsinnig werden. Das Entsetzen, mit dem ich in die leeren Zimmer blickte, war wie ein körperlicher Schmerz. Ich lief im Kreis herum und meinte, mit dem Kopf an die Wand schlagen zu müssen.«

«Ich könnte es nicht ertragen, Sophie zu verlieren«, meinte Laura,»und vielleicht ist es für Männer gar nicht so anders. Es muß eine sehr harte Zeit für dich gewesen sein.«

«Es war die Hölle«, sagte er leise.

Sie saßen vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte, tranken Rotwein und blickten in die Flammen, die die einzige Lichtquelle im Raum waren.

Die Stimmung war angespannt gewesen, als Christopher eingetroffen war. Am Nachmittag war Kommissar Bertin bei Laura gewesen und hatte ihr auf den Kopf zu gesagt, daß er von Peters Verhältnis mit Nadine Joly wußte.

«Und ich weiß auch, daß Sie seit einigen Tagen davon Kenntnis hatten. Warum haben Sie bei unserem Gespräch nichts davon gesagt?«

Sie hatte versucht, ihm zu erklären, was in ihr vorgegangen war, und sie hatte den Eindruck gewonnen, daß er sie verstand — wenn er natürlich auch ihr Verhalten nicht gutheißen konnte.»Es geht hier um Mord, Madame. Da haben Gefühle wie Scham und Verletztheit nichts zu suchen. Wenn Sie wichtige Fakten unterschlagen, schützen Sie am Ende den Mörder Ihres Mannes.«

Er hatte noch ein paar Dinge von ihr wissen wollen, und er hatte wie elektrisiert auf die Information reagiert, daß sich Peter mit Nadine nach Argentinien habe absetzen wollen.

«Wann haben Sie davon erfahren?«hatte er sofort gefragt, aber sie war nicht sicher, ob er ihr glaubte, daß sie dies erst herausgefunden hatte, als Peter bereits verschwunden und tot gewesen war. Natürlich hatte sie sich verdächtig gemacht, aber das fiel ihr erst später auf. Sie hätte ein gutes Motiv gehabt, ihren Ehemann zu töten. Als Bertin ging, hatte sie ihn gefragt, woher er von Peter und Nadine erfahren habe, doch er hatte den Namen seines Informanten für sich behalten. Laura war fast sicher, daß es Christopher gewesen war, der ihm reinen Wein eingeschenkt hatte, und sie hatte ihn danach gefragt, als sie beide einen Aperitif tranken. Er hatte nicht geleugnet.

«Laura, er ist Kriminalkommissar. Ich kann es doch nicht riskieren, ihn anzulügen. Irgendwann wäre es herausgekommen, und wie hätte ich dann dagestanden? Außerdem — was hätte ich sagen sollen auf seine Frage, warum mich Peters Wegbleiben gar nicht beunruhigt hat?«

Sie hatte ihn verstanden und sich dennoch nicht loyal behandelt gefühlt.

«Du hättest mich anrufen und warnen können.«

Er war zerknirscht gewesen, und sie hatten schweigend zu essen begonnen. Aber irgendwie — sie hätte nicht genau sagen können, wie ihm das gelungen war — hatte er das Gespräch auf seine Lebensgeschichte gebracht, und die Art, wie er davon erzählte, bewirkte, daß sie Mitleid empfand und das Bedürfnis spürte, ihn zu trösten.

«Das Wichtigste in meinem Leben«, fuhr Christopher nun fort,»war immer die Familie. Von dem Tag an, als meine Mutter uns… verließ, als diese Hölle begann, da habe ich es nur ausgehalten, indem ich mir immer wieder gesagt habe, es wird einmal anders. Später, als Student, als meine Freunde noch ihre Freiheit und Selbstverwirklichung im Kopf hatten, träumte ich davon, nach Hause zu kommen und von einer Frau und einer ganzen Schar Kindern begrüßt zu werden…«Er grinste melancholisch.»Na ja, eine ganze Schar war es dann zwar nicht, aber die zwei haben mich schon auch in Trab gehalten.«

«Das kann ich mir vorstellen«, sagte Laura,»ich habe nur eine Tochter, und selbst der gelingt es durchaus, mich umfassend zu beschäftigen.«

«Ich habe dich das, glaube ich, schon einmal gefragt: Warum holst du sie nicht hierher? Wie kannst du es aushalten ohne sie?«

«Ich weiß sie in guten Händen. Und ich bin allein hier beweglicher. Ich könnte mich im Augenblick einfach nicht so gut um sie kümmern, wie meine Mutter das tut.«

Er nickte, aber sie hatte nicht den Eindruck, daß er überzeugt war.

Mit seiner Vorgeschichte, dachte sie, kann er vermutlich nicht begreifen, wie man sich freiwillig auch nur für eine Stunde trennen kann.

«Die Gefühle der Väter werden in den meisten Scheidungsfällen auf geradezu brutale Weise mißachtet«, sagte Christopher.»Ich habe mich damals mit einer Selbsthilfegruppe in Deutschland in Verbindung gesetzt. Sie bestand aus Vätern, denen ebenfalls die Kinder weggenommen wurden. Man versuchte einander mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Manche kämpften seit Jahren um ein erweitertes Umgangsrecht oder sogar um das Sorgerecht. Aber sie standen auf ziemlich verlorenem Posten, und nachdem mir das klargeworden war, habe ich mich von der Gruppe zurückgezogen. Ich habe akzeptiert, daß es die Familie, die ich hatte, für mich nicht mehr geben wird. Aber ich sagte mir auch, daß ich immer noch jung genug sei für einen Neuanfang.«

«Und das bist du auch«, erwiderte Laura mit Wärme in der Stimme.»Ich denke, es war das Beste, was du tun konntest: die Situation anzunehmen und nach vorn zu blicken. Anstatt deine Kräfte in einem aussichtslosen Kampf zu verschleißen und darüber völlig die Gegenwart und die Zukunft zu vergessen.«

«Siehst du das wirklich so?«

«Natürlich. Und ich bin davon überzeugt, daß es ein neues Glück für dich geben wird.«

Er sah sie mit einem seltsam eindringlichen Blick an.»Es war ein ganz besonderes Gefühl… vorhin«, sagte er.»Hierherzukommen… die Lichter in den Fenstern zu sehen, die in die Nacht strahlten, warm und erwartungsvoll. Zu wissen, dort ist jetzt eine Frau, die auf mich wartet, die ein Essen vorbereitet, den Kamin angezündet, eine Weinflasche geöffnet hat… Noch schöner wäre es gewesen, auch von der kleinen Sophie begrüßt zu werden. Den Eifer zu sehen, mit dem sie mir ihren Turm aus Bauklötzchen zeigen will und den Vogel, den sie gemalt hat… Es wäre vollkommen gewesen…«

Auf eine beunruhigende Weise hatte sie plötzlich das Gefühl, er komme ihr zu nah, und sie versuchte, ihn mit Ironie wieder auf Distanz zu bringen.

«Oh, aber absolut vollkommen wäre es zweifellos gewesen, wenn ich etwas weniger Salz an das Zucchinigemüse getan hätte«, sagte sie und kicherte, denn sie hatten beide während des Essens eine Menge Wasser trinken müssen.

Christopher griff ihren scherzhaften Ton nicht auf.

«Du weißt ja«, sagte er,»was es bedeutet, wenn Köche das Essen versalzen…«

Fast unmerklich rückte sie ein kleines Stück von ihm ab.»Ich glaube nicht«, entgegnete sie steif,»daß man derlei Weisheiten verallgemeinern kann.«

Christopher sah ihr direkt in die Augen. Sie versuchte, seinem Blick standzuhalten, senkte aber schließlich die Lider.

«Laura«, sagte er sehr leise,»komm, sieh mich an.«

Widerstrebend hob sie den Blick.»Ich glaube nicht«, wehrte sie sich schwach, als er sein Gesicht dem ihren näherte,»ich glaube nicht, daß ich…«

Er küßte sehr sanft ihre Lippen. Sie war überrascht, wie angenehm sich die Berührung anfühlte. Wann war sie zuletzt so geküßt worden? Peter hatte ihr schon lange nur noch den unverbindlichen Begrüßungs- oder Abschiedskuß auf die Wange gehaucht, den entfernte Bekannte einander gaben.

«Was glaubst du nicht?«fragte er und küßte sie noch einmal.

Sie glaubte, daß sie nicht wollte, was er da tat, aber aus irgendeinem Grund war sie nicht fähig, ihm das zu sagen. Sie hatte seine Worte nicht gemocht, aber sie reagierte auf seine Berührung. Ohne daß ihr Kopf dies gewollt hätte, erwachte ihr Körper, wurde warm und weich und erwartungsvoll.

Sie stand rasch auf.»Ich bringe die Gläser in die Küche«, sagte sie.

Christopher folgte ihr mit der halbleeren Weinflasche. Als sie unschlüssig an der Spüle stand, trat er von hinten an sie heran und legte beide Arme um sie. Sie blickte auf seine braungebrannten Handgelenke hinunter. In ihr erwachte der Wunsch, sich fallen zu lassen. Und mochten es nur Minuten sein, in denen sie dem Alptraum würde entkommen können — es erschien ihr als größtes Geschenk, loszulassen, aufgefangen zu werden, schwach sein zu dürfen und Schutz zu finden vor all dem, was sie jagte und bedrängte. Nur für einen Moment, nur für einen kurzen Moment…

«Du bist so schön«, flüsterte er an ihrem Ohr,»du bist so wunderschön…«

«Das geht nicht«, sagte sie, als sich seine Hände langsam zwischen ihre Beine schoben.

«Und warum nicht?«

«Du bist… du warst Peters bester Freund… er ist seit einer Woche tot… ich… wir können das nicht machen…«

Die Stimme an ihrem Ohr veränderte um nichts ihren weichen, lockenden Klang.»Peter war ein Schwein. Er hat dich über Jahre betrogen. Und nicht nur dich. Er hat auch euer Kind betrogen, und er hat eure Familie zerstört. Er ist es nicht wert, daß um ihn getrauert wird. Er hat alles gehabt und hat alles verspielt…«Seine Hände streichelten sie sehr sanft zwischen den Beinen. Ihre Lust erwachte von einer Sekunde zur anderen, und an einem plötzlichen scharfen Atemzug an ihrem Hals erkannte sie, daß er das Kribbeln auf ihrer Haut und das jähe Aufrichten all der feinen Härchen bemerkt und richtig gedeutet hatte.

«Tu, was du möchtest«, flüsterte er,»du hast es so lang nicht mehr getan. Tu endlich, was du möchtest…«

Sie wollte von diesen kräftigen Händen gehalten werden. Sie wollte vergessen. Sie wollte sich auflösen. Sie wollte den Schmerz nicht länger spüren. Die Demütigung nicht, und auch nicht die Angst.

Sie wandte sich langsam zu ihm um, ließ es zu, daß er ihre Hose hinunterstreifte, ganz vorsichtig ihren Slip über die Schenkel nach unten schob. Er ließ seine Hände über ihren Bauch gleiten, sie schienen eine glühende Spur zu hinterlassen; er umschloß mit seinen Fingern ihre Brüste, die sich aufgerichtet hatten und anzuschwellen schienen.

Es machte ihm keine Mühe, sie hochzuheben und auf die Arbeitsfläche zu setzen. Sie lehnte sich zurück, berührte mit dem Kopf irgendwelche Küchengeräte, die hinter ihr an der Wand hingen, bemerkte aber kaum, daß die Ränder in ihre Haut drücken. Christopher legte ihre Beine über seine Schultern und drang mit einer so hastigen, heftigen Bewegung in sie ein, daß sie aufschrie — vor Überraschung, vor Schmerz und vor Lust.

Und während sie so dalag, unbequem und verrenkt und — wie sie vermutete — ungünstig beleuchtet vom Licht in der Dunstabzugshaube, wußte sie, daß sie nicht den besten, aber den wichtigsten Sex in ihrem Leben hatte. Es war vor allem anderen Triumph, der sie erfüllte, und der Gedanke, daß die Erniedrigung, die Peter ihr zugefügt hatte, in diesem Moment von ihr genommen wurde, durch nichts als den Umstand, daß sie sich von seinem besten Freund auf ihrer Küchenarbeitsfläche bumsen ließ und daß er es gehaßt hätte, sie beide so zu sehen.

«Ich liebe dich«, flüsterte Christopher, als er schwer atmend über sie sank und sein schweißnasses Gesicht auf ihre Brust preßte.

Sie hatte keinen Höhepunkt gehabt, aber dafür ihre Rache, und das war das weit bessere Gefühl. Sie mochte auf seine Liebeserklärung nicht reagieren, sondern kraulte ihm nur die feuchten Haare und hoffte, daß er dies als Zärtlichkeit empfand. Sie wünschte, er wäre jetzt sofort gegangen, denn sie wollte allein sein mit ihren großartigen Empfindungen, aber sie konnte ihn wohl nicht gleich fortschicken. Inzwischen spürte sie deutlich die Küchengeräte an der Kopfhaut und die Knochen der Wirbelsäule auf den harten Kacheln.

Sehr lange würde sie in dieser Position nicht mehr verharren können.

«Christopher«, flüsterte sie und bewegte sich ein wenig, um ihm anzudeuten, daß sie gern wieder von der Spüle heruntergerutscht wäre.

Er hob den Kopf und sah sie an. Sie erschrak fast vor dem Ausdruck seines Gesichts, vor seinen flammenden Augen, den schmalen, weißen Lippen.

«Christopher«, sagte sie noch einmal, und diesmal klang ihre Stimme beunruhigt. Er preßte ihre Hand so fest, daß es weh tat.»Wann heiraten wir?«fragte er. Sie riß die Augen auf und starrte ihn fassungslos an.


Dienstag, 16. Oktober

10

Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und sich nur in den Kissen herumgewälzt, und um sechs Uhr am Morgen hielt er es nicht mehr aus und stand auf. Draußen herrschte noch tiefe Dunkelheit, aber soweit er das erkennen konnte, hielt das kalte, trockene Wetter an. Wie schön. Die Sonne paßte zu seinem Aufbruch in ein neues Leben.

Er hätte gern bei Laura übernachtet, hätte sie nach dem hastigen Akt in der Küche am liebsten noch einmal in ihrem Bett geliebt, zärtlicher und ruhiger diesmal, und dann wäre sie in seinen Armen eingeschlafen und er hätte ihren Schlaf beobachten können, ihrem Atem lauschen, ihr Gesicht betrachten, wenn es entspannt war und weich. Sie wären zusammen aufgewacht, einer an den anderen geschmiegt, und dann hätten sie zusammen Kaffee im Bett getrunken und durch das Fenster dem Herandämmern des Morgens zugeschaut.

Aber sie hatte allein sein wollen, und er hatte akzeptiert, daß die Entwicklung der Dinge vielleicht zu rasch gegangen war für sie und daß sie ein wenig Zeit brauchte, sich zurechtzufinden.

Jetzt, da sein Ziel zum Greifen nahe lag, vermochte er es kaum mehr auszuhalten. Endlich würde er wieder Geborgenheit empfinden, endlich wieder im Zusammenhalt einer Familie leben. Er hatte es so lange vermißt, so lange ersehnt, daß er sich nun fragte, wie er überhaupt hatte existieren können in all den Jahren. Es war die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen, aber nun war sie vorbei, und er würde alles daransetzen, sie zu vergessen.

Er erinnerte sich ihres überraschten Gesichts, als er sie fragte, wann sie heiraten wollten. Sie war sprachlos gewesen, hatte sich dann unter ihm weg und von der Küchenablage herunter gewunden, sich angezogen, mit beiden Händen versucht, ihre wirren Haare zu glätten. Ihre Bewegungen waren hektisch gewesen, und in ihm war so unendlich viel Zärtlichkeit für sie erwacht. Sie war verlegen, natürlich, sie war keine leichtfertige Frau, es war ihr peinlich, die Kontrolle verloren zu haben. Deshalb sollte sie auch gleich wissen, wie ernst es ihm war, daß er keine billige Affäre gesucht hatte, keinen unverbindlichen Sex. Sie sollte wissen, daß er die gleichen Gefühle für sie hegte wie sie für ihn und das ihre Liebe für die Ewigkeit geschaffen war.

Da sie emotional überfordert schien und keine Erwiderung fand, hatte er ihr schließlich sehr sanft über die Haare gestrichen.

«Möchtest du allein sein?«hatte er gefragt und natürlich gehofft, sie werde dies verneinen, aber sie hatte recht rasch Ja! gesagt, und er war gegangen — mit federnden Schritten und getrieben von dem Wunsch, sein Glück in die kalte Oktobernacht hinauszuschreien, sein Glück darüber, daß eine lange Leidenszeit vorüberging und daß ihm das Leben wieder offen stand.

Am liebsten hätte er sie jetzt sofort angerufen, aber er beherrschte sich; schließlich war es noch sehr früh am Morgen, und sie schlief vielleicht noch tief und fest.

Er ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Er nahm sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank und mixte ihn in einer Schüssel mit seinem Müsli. Als er fertig war, stellte er fest, daß er vermutlich kaum in der Lagesein würde, etwas zu essen, und kippte alles in den Abfalleimer. Er war viel zu ruhelos. Wenn er nur endlich anrufen, endlich ihre Stimme hören könnte! Er schaute auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach sechs. Um sieben würde er anrufen. Länger könnte er es nicht aushalten.

Er trank seinen Kaffee im Stehen im Wohnzimmer, den Kopf an die Vorhänge am Fenster gelehnt. Er starrte hinaus auf die dunkle Straße, auf der sich noch kein Leben regte. Irgend etwas nagte in seinem Unterbewußtsein, irgend etwas, das ihm Unbehagen verursachte, etwas, das nicht zu all der Freude, zu dem Glück paßte, das er empfand. Dann fiel es ihm ein: Richtig, die Person unten in seinem Keller! Die hatte er völlig vergessen. Er kaute nervös an seinen Fingernägeln. Er mußte sich überlegen, was er mit ihr machte.

Aber nicht jetzt. Jetzt war er viel zu fiebrig. Wieder schaute er auf die Uhr. Hatten sich die Zeiger je mit solch aufreizender Langsamkeit bewegt?

Wann war es endlich sieben Uhr?

11

Laura stand um halb sieben auf, nachdem sie sich fast zwei Stunden lang vergeblich bemüht hatte, noch ein wenig Schlaf zu finden. Sie konnte sich ihre Unruhe nicht recht erklären: Am Vorabend hatte sie Triumph gefühlt, und sie war mit einem so leichten Herzen wie schon lange nicht mehr ins Bett gegangen. Es war auch nicht so, daß sie beim Aufwachen in den frühen Morgenstunden plötzliche Reue empfunden hätte, im Gegenteil, sie bedauerte nichts von dem, was sie getan hatte. Es war eher eine untergründige Ahnung von Bedrohung, die in ihr herumgeisterte, der Eindruck, sie habe etwas in Gang gesetzt, das sie vielleicht nicht würde kontrollieren können.

Es mochte an Christophers Heiratsantrag liegen.

Selten hatte etwas sie so sehr überrascht, und selten hatte sie sich in einer Situation so unbehaglich gefühlt. Da ihr klar war, daß ein so lebensentscheidender Entschluß wie eine Heirat kaum innerhalb weniger Minuten der Leidenschaft auf einem Spültisch geboren wurde, mußte sie davon ausgehen, daß Christopher seine Zuneigung schon eine Weile länger in sich herumtrug. Schon zu der Zeit vor Peters Tod? Der Gedanke war ihr unangenehm, ebenso wie die Erinnerung an sein Verhalten während der letzten Tage. Er hatte deutlich ihre Nähe gesucht, obwohl sie ihm mehr als einmal signalisiert hatte, lieber allein sein zu wollen. Sie hatte dies als freundschaftliches Verhalten interpretiert, hatte sich geschämt, weil sie so abweisend aufgetreten war. Nun begriff sie, daß er selbst das Bedürfnis nach ihrer Nähe verspürt hatte, und daß es ein sehr gesunder Instinkt gewesen war, der sie hatte zurückweichen lassen.

Und jetzt, dachte sie, muß ich unbedingt die Kurve kriegen, ohne ihm weh zu tun.

Sie räumte die Spülmaschine mit dem Geschirr vom Vorabend aus, brachte Gläser, Teller und Besteck in die Schrankfächer und schaute dabei immer wieder auf die Uhr. Sie mußte unbedingt mit Anne sprechen, wagte aber nicht, sie vor sieben Uhr zu stören. Sie kehrte sogar noch die Küche und schaltete den Backofen an, um sich ein altes Baguette zum Frühstück aufzubacken.

Um eine Minute vor sieben wählte sie Annes Nummer.

12

Es war besetzt!

Er starrte auf den Hörer in seiner Hand, als könne ihm dieser eine Antwort auf seine brennende Frage geben.

Es war sieben Uhr am Morgen.

Mit wem, um Himmels willen, telefonierte sie um diese Uhrzeit?

Er drückte die Telefongabel nieder, wählte erneut Lauras Nummer. Vielleicht hatte er sich vertan.

Das Besetztzeichen erklang erneut. Es kam ihm vor, als schwinge ein hämischer Ton darin mit, so als wolle es ihn verspotten.

Er spürte das Kribbeln in den Fingerspitzen. Vorbote jener Wut, die ihn auf so entsetzliche Art packen konnte. Die Wut, von der er gehofft hatte, sie werde ihn nie wieder überfallen.

Hoffentlich hatte sie eine verdammt gute Erklärung für dieses Gespräch am frühen Morgen!

13

Anne hatte verschlafen geklungen, als sie sich meldete, aber sie war sofort hellwach, als sie Lauras Stimme erkannte, und sie lauschte aufmerksam und konzentriert ihren Schilderungen.

«Es ist nicht zu fassen«, sagte sie schließlich,»kaum ist der letzte Kerl unter der Erde, meldet sich schon der nächste mit Heiratsabsichten an! Weißt du, daß während meines ganzen Daseins noch kein einziger Mann mit dieser Bitte an mich herangetreten ist?«

Laura mußte lachen. Anne auf dem Standesamt war ein zu eigenartiger Gedanke.»Du verkündest ja auch ständig, wie spießig du es findest, wenn zwei Menschen heiraten«, sagte sie,»welcher Mann sollte sich da noch trauen, dir ein derart unsittliches Angebot zu unterbreiten?«

Auch Anne mußte kichern, und Laura merkte, daß es ihr bereits besser ging. Es war immer wieder erstaunlich, wie gut es ihr tat, Annes Stimme zu hören und ihr etwas rauchiges Lachen, mit dem sie selbst größere Probleme innerhalb weniger Sekunden entschärfen konnte.

«Also«, sagte Anne,»für dich kommt dieser Christopher keinesfalls in Frage, wenn ich das richtig verstanden habe.«

«Nein, wirklich nicht. Gar kein Mann kommt im Augenblick für mich in Frage. Ich wollte nur…«

«Du wolltest nur mal ordentlich vögeln und sonst nichts«, sagte Anne verständnisvoll, denn ziemlich genau das war es, was sie im wesentlichen von den Männern wollte.»Aber das kannst du ihm doch klar machen!«

«Natürlich. Aber es ist mir irgendwie unangenehm. Ich glaube, er hat in mir nie die Frau gesehen, die sich… na ja, einfach so, ohne tiefere Gefühle mit einem Mann ins Bett legt.«

«Dann hat er sich eben getäuscht und wird das begreifen müssen. Laß dir bloß kein schlechtes Gewissen einreden! Du hast ihm schließlich nicht vorher die Ehe versprochen. Wenn er das anders sieht, ist es sein Problem.«

«Das stimmt. «Laura wußte, daß Anne recht hatte, war aber dennoch irgendwie überzeugt, in massiven Schwierigkeiten zu stecken, ohne daß sie hätte erklären können, worin diese genau bestanden. Anne kannte Christopher nicht. Sonst hätte sie vielleicht begriffen, daß…

Was eigentlich? fragte sich Laura. Was dramatisiere ich da schon wieder? Christopher hat sich in mich verliebt, aber ich mich nicht in ihn, und diese Konstellation gibt es tausendfach auf der Welt. Hätte ich über seine Gefühle Bescheid gewußt, hätte ich nicht mit ihm geschlafen, aber nun ist es passiert, und er wird es überleben.

«Ach, Anne«, seufzte sie,»zur Zeit sehe ich wohl alles ein bißchen schwarz. Ich hoffe, die Polizei läßt mich bald abreisen. Ich möchte nach Hause. Ich brauche mein Kind, und ich brauche dich. Abgesehen davon muß ich sicher eine Menge regeln.«

«Wenn du magst, regeln wir die Dinge zusammen«, bot Anne an,»ich bin für dich da, das weißt du. Und mein altes Angebot wegen eines gemeinsamen Photostudios steht immer noch. Im übrigen kannst du auch gern bei mir unterschlüpfen, wenn du dein hübsches Häuschen im Villenvorort räumen mußt. Ich habe genug Platz für dich und Sophie, und du könntest in aller Ruhe etwas Neues suchen.«

«Danke«, sagte Laura leise,»wenn es dich nicht gäbe, würde ich mich um so vieles elender fühlen. Durch dich habe ich einfach die Hoffnung, daß es weitergehen wird.«

«Es wird nicht nur weitergehen, es wird ein ganz neues und viel besseres Leben«, prophezeite Anne.»Du wirst wieder jung sein. Das kann ich dir versprechen.«

Sie verabschiedeten sich, und Laura registrierte erleichtert, um wie vieles ruhiger und zuversichtlicher sie sich fühlte. Wie sehr hatte Peter Anne gehaßt. Aber es war ihm nie gelungen, sie aus dem Leben seiner Frau zu entfernen. Und nun erwies sie sich als der Rettungsanker.

Laura hatte kaum den Hörer auf die Gabel zurückgelegt, da klingelte der Apparat bereits. Sie zuckte zusammen. Wahrscheinlich war es ihre Mutter, wer sonst würde sie so früh anrufen?

Wie immer, wenn ihr ein Gespräch mit Elisabeth bevorstand, fühlte sich Laura beklommen. Sie meldete sich mit einer Stimme, die ein wenig so klang, als habe sie Watte verschluckt.»Ja, hallo?«

Auf das, was dann folgte, war sie nicht im mindesten vorbereitet. Jemand brüllte sie an in schrillen, hohen und — ja, das war das Seltsame daran — schrecklich verzweifelten Tönen.

Zuerst erkannte sie auch überhaupt nicht, wer da in der Leitung war.

«Mit wem hast du gesprochen? Mit wem hast du um diese Uhrzeit gesprochen? Antworte mir! Antworte mir sofort!«

14

Brennender Durst weckte Monique, jedenfalls schien es ihr so, aber es konnte auch die Kälte gewesen sein oder der Schmerz in ihren steifen, verrenkten Gliedern. Automatisch hielt sie als erstes das Handgelenk mit der Uhr an ihr Ohr, lauschte dem gleichmäßigen Ticken. Noch immer hatte sie nicht die geringste Ahnung, wieviel Zeit seit ihrer Entführung vergangen


war, ob es Tag oder Nacht war, ob Sonne oder Mond draußen schienen, und gegen das immer stärker drohende Gefühl des Wahnsinns half ihr nichts als das Ticken der Uhr.

Nach dem Schock mit den eingelegten Essiggurken war es ihr einige Zeit später gelungen, ein Glas mit eingemachten Pfirsichen zu öffnen. Nie zuvor im Leben war ihr etwas so köstlich und so belebend erschienen wie der dicke, süße, kalte Saft, der ihre verdorrte Kehle hinunterrann, und wie die prallen, feuchten Pfirsichstücke, die ihr zumindest für Augenblicke den schlimmsten und quälendsten Hunger nahmen.

Ich werde überleben, hatte sie gedacht, fast euphorisch, ich werde überleben!

Die Suche nach dem Glas in der undurchdringlichen Finsternis hatte sie tief erschöpft, und als sie sich in die Ecke gekauert hatte, war sie fast übergangslos eingeschlafen. Wie viele Stunden ihr Schlaf gedauert hatte, wußte sie nicht. Es erschütterte sie jedoch zu bemerken, wie heftig der Durst schon wieder brannte.

Der Zucker, dachte sie, die Pfirsiche waren stark gesüßt.

Aber gleichgültig, sie hatte keine Wahl, sie mußte hoffen, erneut an ein Glas mit Obst zu gelangen, Zucker hin oder her. Es ging ums Überleben.

Der Hunger verursachte ihr Krämpfe im Magen, als sie sich auf allen vieren in die Richtung bewegte, in der sie das Regal vermutete.

Einmal hielt sie inne, weil sie meinte, ein Geräusch aus dem Haus vernommen zu haben, aber es blieb alles still, und sie nahm an, daß sie sich getäuscht hatte. Vielleicht würde sie demnächst ohnehin Dinge hören und sehen, die gar nicht da waren. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß langsames Verhungern und Verdursten von immer heftigeren Wahnvorstellungen begleitet werden. Und inzwischen war ihr klar, daß ihr Entführer genau dieses Ende für sie vorgesehen hatte.

Als sie das Regal erreichte, begann sie, genau wie beim letztenmal, in den Fächern zu tasten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Finger einen Gegenstand umschlossen, aber bei genauerem Fühlen stellte sie fest, daß sie an eine Konservendose geraten war. Keine Chance, sie zu öffnen. Sie unterdrückte eine jähe Panik, die sich ihrer bemächtigte. Wenn sie das einzige Einmachglas erwischt hatte! Wenn es sonst nur Konserven gab! Dann konnte sie jegliche Hoffnung sofort begraben.

Such weiter, befahl sie sich, und behalte um Himmels willen die Nerven.

Sie stöberte und tastete, und die ganze Zeit über wurde ihr Durst immer heftiger, und ständig mußte sie an eine Coladose denken, die, beschlagen von Kälte, aus einem Kühlschrank genommen wurde und an deren Seite langsam ein Tropfen hinunterperlte. Trinken, trinken, trinken. Wie gedankenlos war sie früher damit umgegangen, hatte Wasserflaschen einfach weggekippt, weil sich die Kohlensäure nicht gehalten hatte, und manchmal hatte sie einen halben Tag lang gar nichts getrunken, weil sie zu faul gewesen war, in die Küche zu gehen. Aber da war die Gewißheit gewesen, daß es nur eines Handgriffs bedurfte, und sie hätte Wasser und Cola und Limonade im Überfluß zur Verfügung gehabt. Und nicht im Traum wäre ihr jemals der Gedanke gekommen, in eine Situation zu geraten, in der sie Kondenswasser von den Wänden geleckt hätte, hätte es welches gegeben.

Sie fand ein Glas, zerrte mit zitternden Fingern an dem Gummi, der es verschloß. Lieber Gott, keine Essiggurken, bitte! Laß es Obst sein. Obst mit ganz viel Saft!

Noch nie hatte sie echte, verzweifelte Gier erlebt. Gier, die den Körper beben, das Herz jagen, die Ohren rauschen läßt.

Ihr Mund war mit Staub gefüllt. Er war heiß und trocken. Ihr Hals brannte, ihr Körper glühte.

Der Gummi löste sich, schnellte irgendwohin in die Dunkelheit. Der Glasdeckel entglitt ihren bebenden Fingern und zerbrach auf dem Fußboden. Für den Moment war ihr die Gefahr, die sich aus den herumliegenden Scherben ergeben mochte, gleichgültig. Über diese Dinge konnte sie später nachdenken, später, wenn sie ihr Überleben gesichert hatte.

Es waren Pfirsiche. Irgend jemand in diesem Haus, vielleicht der Mörder selbst, hegte eine Vorliebe für Pfirsiche, und sie hätte heulen mögen vor Dankbarkeit dafür. Sie trank in großen, durstigen Zügen und schob zwischendurch die saftigen, süßen Scheiben in den Mund.

Wenn ich hier rauskomme, dachte sie plötzlich, dann möchte ich ein kleines Häuschen mit einem Garten. Irgendwo weit draußen auf dem Land. Ich möchte einen Pfirsichbaum haben und noch ganz viel anderes Obst und Hühner und Katzen.

Sie wußte nicht, wieso ihr dieses idyllische Bild gerade jetzt durch den Kopf schoß, aber es erfüllte sie mit Kraft. Es war ein so schöner Lebensplan.

Sie mußte durchhalten, um ihn verwirklichen zu können.

15

Es erstaunte Henri nicht, seine Schwiegermutter morgens um neun Uhr noch in Nachthemd und Bademantel anzutreffen. Er hatte an die Tür geklopft und war auf ihr Herein! in die Küche getreten, in die man unmittelbar durch die Haustür gelangte. Sie saß am Tisch und hatte eine leere Kaffeetasse vor sich, mit der sie herumspielte. Auf dem Tisch befanden sich eine Zuckerdose, ein Päckchen Toastbrot und ein halbleeres Glas mit Erdbeermarmelade. Es sah nicht so aus, als habe sie irgend etwas davon angerührt, ebensowenig schien eine zweite Person hier gefrühstückt zu haben. Das elektrische Licht brannte, was die Düsterkeit des engen Bergtals noch hervorhob.

Nun, da seine Sinne geschärft, sein Gemüt sensibilisiert war, begriff Henri erstmals, weshalb Nadine so gelitten hatte in diesem Haus, und ihm ging auch auf, daß hier die Ursache für manches Problem lag, das später ihre Ehe so belastet hatte.

«Guten Morgen, Marie«, sagte er. Er trat zu ihr hin und küßte sie auf beide Wangen. Er hatte sie sehr lange nicht gesehen und war erschrocken, wie mager sie war und wie kalt sich ihr Gesicht anfühlte.»Ich hoffe, ich störe nicht?«

Sie lächelte.»Wobei solltest du stören? Sieht es aus, als sei ich sehr beschäftigt?«Ihr Lächeln war warm und erinnerte ihn an Nadines Lächeln, wie es während der ersten Jahre ihrer Ehe gewesen war. Schon lange hatte sie es ihm nicht mehr geschenkt. Inzwischen musterte sie ihn nur noch mit Kälte und Abneigung.

Aber Marie mochte ihn, hatte ihn immer gemocht.

«Ich bin gekommen, Nadine nach Hause zu holen«, sagte er.

Sie sah ihn nicht an, spielte nur weiter mit der Tasse herum.»Nadine ist nicht da.«

«Sie sagte aber, sie wollte zu dir. «Er hoffte, daß sie seine Angst nicht bemerkte. Hatte Nadine ihn schon wieder belogen? Trieb sie sich erneut irgendwo herum und setzte ihm Homer auf? Und wußte eigentlich Marie etwas von dem Liebesleben ihrer Tochter?

«Was heißt das?«setzte er nervös hinzu.»Sie ist nicht da?«

«Sie ist zum Einkaufen gefahren«, sagte Marie,»nach Toulon. Es kann länger dauern, denn sie wollte danach noch zur Polizei.«

«Zur Polizei?«

«Gestern war ein Kommissar hier. Hat eine halbe Stunde mit ihr gesprochen und sie für heute vormittag noch mal zu sich bestellt. Sie hat mir nichts Genaues gesagt. Es ging wohl um diesen Bekannten von euch, der ermordet worden ist.«

«Peter Simon. Ja, bei mir waren sie auch deswegen. «Er verschwieg, daß sie gleich zweimal an einem Tag da gewesen waren und daß sie bei ihrem zweiten Besuch mit ihrer Frage nach seinem genauen Aufenthaltsort am Abend des 6. Oktober seiner Ansicht nach einen klaren Verdacht ausgesprochen hatten. Er hatte ihnen wahrheitsgemäß geantwortet, namentliche Zeugen jedoch nicht benennen können, und er war überdies fast versunken vor Scham, weil sie nun alles wußten, weil er als Schlappschwanz vor ihnen stand, der nicht in der Lage gewesen war, seine Frau am Fremdgehen zu hindern. Oder war er in ihren Augen sehr wohl in der Lage gewesen? Glaubten sie wirklich, er habe den Nebenbuhler am Schluß umgebracht, um seine Frau zurückzugewinnen? Sie baten ihn jedenfalls, sich zur Verfügung zu halten und die Region nicht zu verlassen.

Obwohl er sich deswegen Sorgen machte, spürte er in diesem Moment doch Erleichterung. Nadine hatte sich wirklich bei ihrer Mutter einquartiert. Peter Simon war tot, und es gab niemanden sonst in ihrem Leben. Und inzwischen war sie auch nicht mehr die Frau, die jeden Mann für sich gewinnen konnte.

«Lohnt es sich, daß ich warte?«fragte er. Ihm entging nicht, daß ihn Marie nicht aufgefordert hatte, sich zu setzen, und irgend etwas sagte ihm, daß dies nicht aus Nachlässigkeit geschehen war. Sie wollte nicht, daß er länger blieb.

«Marie«, sagte er leise,»ich kann nicht verstehen, wie es so weit hat kommen können. Ich schwöre dir, ich habe in all den Jahren versucht, Nadine glücklich zu machen. Es ist mir offenbar nicht so geglückt, wie ich es gern gehabt hätte. Aber ich denke, daß du mich recht gut kennst und daß du weißt, daß ich nie wissentlich und willentlich etwas getan habe oder tun werde, was ihr schaden könnte. Ich liebe Nadine. Ich möchte mit ihr zusammen alt werden. Ich will sie nicht verlieren.«

Marie sah ihn endlich an. Sie hatte Tränen in den Augen.»Ich weiß, Henri. Du bist ein wunderbarer Mann, und das habe ich Nadine auch immer wieder gesagt. Diese Ruhelosigkeit in ihr… diese Unzufriedenheit… das hat nichts mit dir zu tun.

Das liegt vielleicht einfach in ihren Genen. Ihr Vater war genauso. Er konnte sich nicht auf uns als Familie einlassen. Immer meinte er, irgendwo anders müßte das Glück liegen. Immer jagte er hinter etwas her, wovon er, glaube ich, selbst nicht genau wußte, was es war. Mir selbst ist dieses Naturell fremd, aber ich bin damit geschlagen, es zweimal in meiner Familie erleben zu müssen.«

«Nadine wird älter«, sagte er.

«Ja, und darin sehe auch ich eine Hoffnung. Sogar ihr Vater hat irgendwann eine gewisse Stabilität in seinem Leben gefunden, und es mag sein, daß dies auch bei Nadine geschehen wird. Gib ihr ein wenig Zeit. Und hör nicht auf, sie zu lieben. «Sie wischte sich die Tränen fort, die über ihre Wangen liefen.»Sie ist ein zutiefst unglücklicher Mensch, und es gibt kaum etwas, das einer Mutter mehr weh tut, als ihr eigenes Kind so zu sehen und ihm nicht helfen zu können. Ich möchte nicht, daß sie so endet wie ich. «Sie machte eine Handbewegung, mit der sie den düsteren Raum, den lieblos gedeckten Frühstückstisch, die leere Kaffeetasse und sich selbst in ihrem verschlissenen Bademantel umschrieb.»Ich möchte sie nie so dasitzen sehen, wie du mich jetzt hier siehst!«

Die Klarheit, mit der sie sich und ihr Leben beurteilte, berührte ihn tief. Er mußte an Cathérine denken.

Wie viele einsame Menschen es gibt, dachte er, und wie dankbar müßten Nadine und ich sein, daß wir einander haben. Es ist, bei Gott, keine Selbstverständlichkeit.

Der Gedanke an Cathérine erinnerte ihn an etwas Wesentliches.

«Ich werde Nadine Zeit geben«, sagte er,»ich werde hier nicht auf sie warten und sie nicht bedrängen.«

Er sah, daß sich Erleichterung auf den Gesichtszügen seiner Schwiegermutter abzeichnete.

«Aber ich bitte dich, ihr etwas auszurichten. Sag ihr, daß Cathérine fortgehen wird. Daß sie ihre Wohnung in La Ciotat verkauft und sich im Norden Frankreichs niederläßt. Es wird sie in unserem Leben nicht mehr geben.«

«Glaubst du, daß das entscheidend ist?«fragte Marie.

Er nickte.»Es ist entscheidend, und ich hätte es schon vor Jahren erkennen müssen. Aber nun hat sich alles gut gefügt, und…«Er wandte sich zur Tür, sprach den Satz nicht zu Ende.

«Ich gehe jetzt«, sagte er,»richte Nadine aus, daß ich auf sie warte.«

16

Er war zu weit gegangen, verdammt noch mal. Er hätte sie nicht so anschreien dürfen. Das war ein Fehler gewesen, ein eklatanter Fehler, und er könnte nur beten, daß er eine Chance bekommen würde, ihn wiedergutzumachen.

Er hatte gebrüllt und gebrüllt, und als er eine Pause hatte machen müssen, um Luft zu holen, hatte sie gefragt:»Christopher?«Sie hatte eher erstaunt als verärgert geklungen.

«Ja. Allerdings. Pech, nicht wahr? Du dachtest nicht, daß ich um diese Zeit anrufe!«

«Lieber Gott, wovon sprichst du?«

«Ich habe dich etwas gefragt. Mit wem hast du telefoniert? Vielleicht wäre es möglich, daß du meine Fragen beantwortest, ehe du deinerseits welche stellst!«

Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf hatte ihn gewarnt. Sprich nicht in diesem gereizten, scharfen Ton mit ihr. Sie wird verstört sein, und dann wütend. Sie wird sich das nicht gefallen lassen. Du bist dabei, alles zu verderben!

Aber es fiel ihm ungeheuer schwer, seinen Kurs zu ändern. Er war so wütend, so außer sich. So empört und so voller Angst, doch Angst hatte sich bei ihm schon immer in Aggression entladen. Anders konnte er nicht mit ihr umgehen.

Laura hatte sich von ihrer Überraschung erholt.»Ich weiß nicht, woher du den Anspruch ableitest, von mir in irgendeiner Weise Rechenschaft zu verlangen«, sagte sie kühl.

Jetzt, am Vormittag, da er das Gespräch noch einmal in Gedanken durchging, erinnerte er sich, in diesem Moment und beim Klang ihrer Stimme zum erstenmal die Ahnung gehabt zu haben, daß die Geschichte mit Laura den gleichen Verlauf nehmen würde wie andere Geschichten zuvor, und daß ihn diese Vorstellung mit Bestürzung und Traurigkeit erfüllt hatte. Doch er zwang sich, vorläufig daran nicht zu denken.

Es gibt keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben.

Er hatte am Telefon ein wenig eingelenkt, sich um einen sanfteren Ton bemüht.»Ich denke, nach allem, was war, solltest du so fair sein und mir sagen, wenn es einen anderen Mann in deinem Leben gibt.«

Sie hatte gestutzt.»Nach allem, was war? Du meinst… den gestrigen Abend?«

«Ja, natürlich. Ich… nun, für mich bedeutet es etwas, wenn ich mit einer Frau schlafe. Vielleicht ist das bei dir anders…«

Damit hatte er sie in der Defensive.

«Auch für mich bedeutet es viel, wenn ich mit einem Mann schlafe«, erwiderte sie gequält. Sie klang nicht länger kühl, sondern einlenkend.»Aber vielleicht sind die… Schlüsse, die du daraus gezogen hast, für mich ein bißchen zu schnell gegangen…«

«Welche Schlüsse meinst du?«

«Na ja, du…«Sie hatte sich gewunden, und er hatte gemerkt, daß er fast den Telefonhörer zerquetschte, so fest umklammerte er ihn mit seiner Hand.»Du hast von Heiraten gesprochen, und… das kam für mich wohl etwas zu plötzlich…«

Er kannte diese Art von Frauen, diese hilflosen Versuche, sich aus Bindung und Verantwortung herauszuwinden, und schon immer hatte dies Verzweiflung und Haß in ihm ausgelöst. Sie waren unstete, leichtlebige Geschöpfe, die ihr Leben lebten, wie es gerade kam, die nahmen, was sich ihnen bot, und es ohne Skrupel wieder wegwarfen, wenn ihnen der Sinn nach etwas anderem stand. Der verdammte Liberalismus und die Frauenbewegung hatten ihnen die Köpfe völlig verdreht. Seitdem lebten sie in dem Glauben, tun und lassen zu können, was sie wollten, sich einen Dreck scheren zu müssen um Gefühle und Bedürfnisse anderer. Zwischendurch erinnerten sie sich dann, daß sie es bei den Männern auch mit Menschen zu tun hatten, und verfielen in das alberne Gestottere, das auch Laura ihm gerade bot — anstatt klar heraus zu sagen, daß es just for fun gewesen war, was sie mit ihnen ins Bett hatte springen lassen…

Die Wut war heillos und vernichtend über ihn hereingebrochen, aber er hatte sie noch zurückdrängen können.

Es mußte nicht so sein, wie er dachte. Er mußte gerecht bleiben, durfte sie nicht vorschnell verurteilen. Vielleicht war sie wirklich verwirrt, überrumpelt. Es war alles sehr schnell gegangen am gestrigen Abend, da hatte sie schon recht.

«Nun«, sagte er und hatte dabei den Eindruck, daß er zumindest ruhiger klang, als er tatsächlich war,»ich denke, wir haben die gleichen Vorstellungen von Familie und Zusammenleben. Möglicherweise brauchst du ein wenig mehr Zeit als ich, um dich auf unsere Situation einzustellen. Du hast viel erlebt in den letzten Wochen.«

«Ja«, hatte sie gesagt und wieder so gequält geklungen, und er war sich vorgekommen wie jemand, der hilflos um die Gunst eines Lächelns bittet und sie nicht gewährt bekommt.

«Darf ich dich heute abend wieder anrufen?«hatte er demütig gefragt. Natürlich hätte er sie viel lieber gesehen als angerufen, aber ein Instinkt sagte ihm, daß sie sich an diesem Tag nicht auf eine Verabredung einlassen würde und daß er sich eine erneute Frustration ersparte, wenn er gar nicht erst fragte.

«Sicher«, hatte sie geantwortet, und dann hatten sie beide einige Sekunden lang geschwiegen, während Unausgesprochenes zwischen ihnen hin und her wogte, unangenehm und so bedrängend, daß er es nicht mehr hatte aushalten können und auf einmal nur noch bestrebt gewesen war, das Telefonat zu beenden.

«Ich melde mich«, hatte er gesagt und hastig aufgelegt, und danach war er im Zimmer herumgelaufen und hatte versucht, seine aufgewühlten, erregten Gefühle wieder zu beruhigen.

Das hatte eine Weile gedauert, und irgend etwas hatte er dabei in seinen Händen zerquetscht, ohne zu wissen, was es war. Erst später stellte er fest, daß er eine Schachtel mit Photos zu einem kleinen, harten Ball zusammengedrückt hatte.

Nachdem er seine Aggressionen niedergekämpft hatte, kamen die Schuldgefühle, ein ängstliches: Was habe ich nur getan? und: Ich hätte nicht schreien dürfen!

Er durchlebte auch dies, reflektierte das Gespräch noch einmal vorwärts und rückwärts, seine Worte, ihre Worte, seinen Tonfall, ihren Tonfall, und am Ende gelangte er zu dem Schluß, daß alles gar nicht so schlecht gelaufen war, daß er keineswegs wirklich laut geschrien hatte, daß er nicht wirklich aggressiv gewesen war, daß er sie nicht angegriffen hatte; und sie ihrerseits war ihm nicht ausgewichen, sie hatte nur die übliche Zurückhaltung an den Tag gelegt, die eine Frau nun einmal zeigen mußte, wenn sie gefragt wurde, ob sie heiraten wolle; ein gewisses Zögern gehörte zum Spiel zwischen den Geschlechtern, und er wollte es ihr gern zugestehen.

Nachdem er so weit gekommen war, entspannte er sich spürbar, bekam sogar plötzlich Hunger und verließ sein Haus, um auf dem Marktplatz einen cafe creme zu trinken und sich hinterher noch eine Quiche und einen leichten Weißwein zu bestellen. Er saß in der Sonne, die jetzt, da es langsam auf Mittag zuging, an Wärme gewann und von ihm als sanft und angenehm empfunden wurde. Ein paar Hunde liefen auf der schmalen Straße herum, und direkt vor dem Eingang zum Hotel Berard lag eine dicke, graue Katze und schlief.

Wie schön das Leben ist, dachte er ein wenig schläfrig und doch im vollen Bewußtsein, daß etwas Großes und Wunderbares auf ihn zukam, und immer wieder voller neuer Möglichkeiten.

Es waren nur wenige Menschen zu sehen. Zwei ältere Frauen saßen an einem Nachbartisch und unterhielten sich aufgeregt über irgendeine dritte Frau, die ihr Haus und sich selbst auf üble Weise verwahrlosen ließ. Zwei dickbäuchige Männer standen in den Türen ihrer Kneipen, plauderten und lachten. Ein paar Kinder stritten um einen Ball. Eine Frau trat aus ihrem Haus, ließ sich mit einem Seufzer auf den steinernen Stufen vor ihrer Tür nieder und zündete sich eine Zigarette an. Eine andere verließ das Hotel Berard, sie wirkte hektisch und nervös und wäre beinahe über die dicke Katze gestolpert. Er beobachtete dies alles voller Wohlwollen, ja sogar voller Zuneigung, wenn er es richtig überlegte. Er mochte die Menschen. Bald würde er auch wieder zu ihnen gehören, einer von ihnen sein. Eine Frau haben, ein Kind. Eine Familie. Wie schön würde es sein, mittags mit Laura und Sophie hier zu sitzen. Mit ihnen am Strand spazieren zu gehen. Sophie das Schwimmen beizubringen und das Fahrradfahren. Er dachte an ein Picknick in den Bergen, an den Duft von Salbei und Pinien und hohem, trockenem Gras, und Bernadette schlang die Ärmchen um ihn und… halt! Er runzelte die Stirn. Ein falsches Bild, ein falscher Name. Es hatte dieses Picknick gegeben im letzten Sommer, und die kleine Bernadette hatte zutraulich gespielt und geschmust mit ihm, aber daran wollte er jetzt nicht denken!

Seine Tochter hieß Sophie. Eine andere hatte es nie gegeben. Wenn er an eine andere dachte, bekam er nur Kopfweh am Ende, und das wollte er nicht. Es waren böse Bilder, die sich in sein Bewußtsein drängten.

Ich muß mir diese Bilder nicht ansehen, wenn ich nicht will!

Er überlegte, daß sie natürlich in seinem Haus wohnen würden. Nach allem, was ihm Laura über Peters finanzielle Misere erzählt hatte, konnte er sich ausrechnen, daß sie ihr Haus im Quartier Colette würde verkaufen müssen, aber das war ja kein Problem, er hatte genug Platz für sie alle, ein schönes Kinderzimmer für Sophie und ein zweites, wenn der liebe Gott seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und ihm noch ein eigenes Kind schenken würde.

Kurz runzelte er erneut die Stirn, als ihm das Ungeziefer in seinem Keller einfiel. Wann hatte er sie dort eingesperrt? Gestern, vorgestern? Sie hatte nichts zu essen, nichts zu trinken, sie würde bald… halt!

Er richtete sich in seinem Stuhl auf. Verdammt, er hatte das Zeug in dem Kellerraum vergessen! Eingemachtes Obst, Pfirsiche, Mirabellen, Kirschen… Genug Saft, um sich eine Weile über Wasser zu halten. Daneben gab es Essiggurken gegen den ärgsten Hunger… auf die Dauer sicher nicht wirklich nahrhaft, aber wenn sie die Sachen fand — und das würde sie vermutlich —, konnte sie Zeit schinden. Und das konnte problematisch für ihn werden, denn bald, sehr bald schon, wollte er Laura ihr neues Zuhause zeigen, und sicher wollte sie dann auch den Keller sehen…

Er stand hastig auf, schob ein paar Geldscheine unter seinen Teller und verließ mit schnellen Schritten den Marktplatz.

17

«Es ist nicht so, daß ich irgend etwas von deinem verrückten Gerede ernst nehmen würde«, sagte Stephane,»aber ich fürchte inzwischen, du wirst mir keine Ruhe mehr lassen. Und ehrlich gesagt, ich kann’s nicht mehr hören. Abgesehen davon, daß du dich mehr und mehr gehen läßt und ich mich nicht mal mehr darauf verlassen kann, daß der Haushalt auch nur im mindesten funktioniert.«

Er stand Pauline in der Küche gegenüber, wütend, gereizt, ungeduldig. Eine Viertelstunde zuvor war er von der Bank gekommen, um wie üblich mit Pauline das Mittagessen einzunehmen. Üblich jedenfalls an Tagen wie diesem, wenn sie mittags frei hatte. Sonst aß er in Les Lecques bei den Deux Sceurs, und er wünschte inzwischen, er hätte das auch heute getan.

Denn keineswegs hatten ihn köstlicher Essensduft und ein hübsch gedeckter Tisch erwartet, als er sein Haus betrat, sondern eine heulende Ehefrau, die mitten in der Küche auf einem Schemel zusammengesunken war und noch nicht einen Handstrich getan hatte. Sie zitterte und schluchzte, und es sah nicht so aus, als könne es ihm noch gelingen, sie an den Herd zu jagen. Eine aufgeplatzte Tüte mit Kartoffeln lag neben ihr und bewies, daß sie durchaus hatte kochen wollen und beim Einkaufen gewesen war.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie in der Lage gewesen war zu sprechen, und er hatte ohnehin schon geahnt, was kommen würde.

Der unheimliche Verfolger. Der lauernde Schatten. Der Killer.

«Und?«fragte er genervt.»Was war diesmal?«

Angeblich war ihr diesmal niemand gefolgt, sondern hatte auf sie gewartet. Sie sei in den Garten gekommen, berichtete sie unter Tränen, und da sei jemand gewesen. Auf der hinteren Terrasse. Sie habe die Person gerade noch um die Ecke verschwinden sehen, vermutlich habe sie sich zuvor am Fenster zu schaffen gemacht.

«Verstehst du?«fragte sie schluchzend.»Der Typ wollte hier herein! Wahrscheinlich wollte er mich im Haus erwarten. Wer weiß, was er vorhatte. Er…«

«Na, ich denke, du weißt genau, was er vorhatte«, sagte Stephane.»Er wollte dich mit einem Strick erdrosseln und danach deine Kleider mit einem Messer in Fetzen schneiden. Soviel ist doch mittlerweile klar. «Er wurde immer gehässig, wenn er Hunger hatte, und jetzt gerade hatte er verdammten Hunger.

Sie starrte ihn aus großen Augen an. Ihr Gesicht war kalkweiß.»Stephane«, stammelte sie,»Stephane, ich kann nicht mehr…«

«Quatsch. Du trinkst jetzt erst mal einen Schnaps, und dann gehen wir los und sehen zu, daß wir bei Arlechino jeder eine Portion Spaghetti kriegen. Ich muß unbedingt etwas essen.«

Er schaukelte seinen dicken Bauch ins Wohnzimmer hinüber und kehrte mit einem Glas Birnenschnaps zurück. Sie sträubte sich zunächst, aber er bestand darauf, daß sie trank. Er wollte verhindern, daß sie wirklich hysterisch wurde, und außerdem sollte sie endlich auf die Füße kommen und mit ihm zum Essen gehen.

Dann erklärte er ihr, daß er sie keineswegs ernst nehme, es jedoch satt habe, daß nichts mehr wie gewohnt funktionierte.

«Ich werde mir etwas überlegen«, versprach er, und als sie auf dem Weg zum Arlechino waren — sie einen halben Schritt hinter ihm und noch immer leichenblaß —, erläuterte er ihr seinen Plan.

«Wann arbeitest du wieder bei Berard?«fragte er.»Heute noch?«

«Nein. Morgen nachmittag wieder.«

«Gut. Du gehst also abends von dort zurück. Um wieviel Uhr?«

«Um zehn.«

«In Ordnung. Ich hole dich ab.«

Dieses Angebot machte sie beinahe fassungslos.»Du holst mich ab?«Sie schien nicht zu wissen, wie sie seinen Vorschlag einordnen sollte.»Wieso holst du mich ab?«Dann kam ihr offenbar ein Gedanke, und ihre Augen wurden noch größer.

«Du denkst auch, daß der Killer es auf mich abgesehen haben könnte? Du hast Angst, wenn ich allein herumlaufe?«

«Gott, welch ein Blödsinn! Ich hole dich im übrigen auch nicht direkt ab. Ich werde mich dort bei Berard herumtreiben, natürlich so, daß niemand mich sieht. Und wenn du herauskommst, folge ich dir. Du drehst dich bitte nicht um, bist so wie immer…«

«Aber wenn ich wie immer bin, drehe ich mich ständig um! Ich habe ja dauernd das Gefühl, daß mir jemand folgt.«

Er seufzte, tief und theatralisch.»Dann drehst du dich eben um. Aber du rufst nicht meinen Namen oder hältst Ausschau nach mir. Ich werde da sein.«

«Aber…«

«Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder dieser große Unbekannte existiert tatsächlich, dann werde ich ihn entdecken und herausfinden, wer er ist und was er im Schilde führt. Oder es gibt ihn nicht, dann wirst du mir hoffentlich glauben, daß nur ich dir gefolgt bin und du im übrigen unter Hirngespinsten leidest. Wobei ich praktisch sicher bin, daß Letzteres der Fall sein wird.«

«Aber es könnte doch sein, daß es ihn gibt, aber er gerade morgen nicht auftaucht. Dann denkst du, alles ist in Ordnung, aber in Wahrheit…«

«… in Wahrheit wirst du einen Tag später abgemurkst. Das alles ist schon pathologisch bei dir, Pauline. Weißt du, am Anfang unserer Beziehung dachte ich immer über dich: Sie ist nicht hübsch, aber sie ist praktisch veranlagt und steht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Inzwischen kann ich das leider nicht mehr von dir sagen. Ich meine, hübsch bist du immer noch nicht, aber dafür zunehmend hysterisch und überspannt.«

Ihre Augen begannen zu schwimmen.»Stephane…«Er bekam Angst, daß sie wieder anfangen würde zu heulen.

«Mach dir bloß nicht in die Hosen. Zur Not wiederholen wir dieses idiotische Räuber-und-Gendarm-Spiel noch an zwei oder drei weiteren Abenden. Obwohl ich mir, weiß der Teufel, Amüsanteres vorstellen könnte. Aber eines sage ich dir: Wenn wir dann immer noch niemanden entdeckt haben, will ich nie wieder etwas von dieser Sache hören. Verstanden? Nie wieder. Sonst werde ich ungemütlicher, als selbst du es dir in deinen verrückten Phantasien vorstellen kannst!«

18

Sie verließ das Haus, in dem sie so viele Jahre gelebt hatte, aber als sie die Tür hinter sich zuzog, konnte sie noch immer nicht sagen, daß es ihr letzter Besuch dort gewesen war. Zu viele ihrer Sachen befanden sich noch immer dort, sie hatte nicht alles verpacken und in ihr Auto laden können; sie würde wenigstens noch einmal zurückkommen müssen.

Sie hatte lange mit Kommissar Bertin gesprochen, und seltsamerweise hatte das Gespräch — oder sollte sie es Verhör nennen? — sie erleichtert. Zum erstenmal hatte sie einem Menschen alles erzählt. Über ihre jahrelange Affäre mit Peter Simon. Über ihre Ehe, die für sie keine Ehe mehr war. Über die Unerträglichkeit ihres Lebens im Chez Nadine. Über all die Hoffnungen, die sie mit Peter verbunden hatte. Sie hatte von der geplanten Flucht nach Argentinien berichtet und von dem neuen Anfang, den sie beide dort hatten wagen wollen. Und sie hatte ihm gesagt, daß ihr Leben zerstört war, seit man Peter tot in den Bergen gefunden hatte.

Bertin hatte sie sanft getadelt, weil sie mit all dem nicht früher herausgerückt war, und hatte sie angewiesen, sich zu seiner Verfügung zu halten, die Gegend keinesfalls zu verlassen. Sie hatte ihm die Adresse ihrer Mutter gegeben, und als sie gegangen war, hatte sie sich gefragt: Ob ich jetzt wohl verdächtig bin?

Es hatte sie erstaunt, Henri nicht anzutreffen, noch mehr verwundert hatte sie ein Schild an der vorderen Tür, auf dem ziemlich schlampig die Information gekritzelt stand, daß das Chez Nadine heute geschlossen bleiben werde. An einem gewöhnlichen Dienstag. Das war absolut ungewöhnlich für Henri. Das Chez Nadine war sein Kind, sein Liebstes, ein Teil von ihm. Nadine konnte sich nicht erinnern, daß er es in all den Jahren an einem einzigen Tag außer der Reihe geschlossen hatte, und selbst am offiziellen Ruhetag, dem Montag, war er um das Restaurant rotiert und hatte all die Dinge erledigt, für die er sonst keine Zeit fand.

Vielleicht, hatte sie gedacht, während sie auf das Schild starrte, hätten wir einen Tag in der Woche für uns gebraucht. An dem wir Dinge gemeinsam unternehmen, die Spaß machen, und alles vergessen, was mit der verdammten Kneipe zusammenhängt.

Aber fast im selben Moment wußte sie, daß sie sich mit solchen nachträglichen Gedanken um die übersehenen Rettungsmöglichkeiten ihrer Ehe nur selbst etwas vormachte. Denn an der Zeit, die sie füreinander hatten oder nicht hatten, hatte es nicht gelegen. Während der Wintermonate waren stets tagelang keine Gäste gekommen, sie hatten nicht kochen und nicht einkaufen müssen, die Buchhaltung war erledigt gewesen und die Dachrinne ausgebessert und die Gartenstühle gestrichen… Und irgendwann war gar nichts mehr zu tun gewesen und sie hatten einander am Küchentisch gegenübergesessen, heißen Kaffee vor sich und vielerlei Möglichkeiten, miteinander zu sprechen, sich an den Händen zu fassen, einander zu erforschen, den Schwingungen zu lauschen… Aber da war nichts gewesen. Nur Sprachlosigkeit, Unverständnis und — jedenfalls von ihrer Seite aus — Feindseligkeit und eine heftige Abneigung, irgendeine Art von Nähe entstehen zu lassen.

Sie hatte den Gedanken an das, was hätte sein können, weggeschoben; es war müßig, ihn zu vertiefen, denn den Punkt, an dem eine Umkehr möglich gewesen wäre, hatten sie längst überschritten. Sie hatte die Tür aufgeschlossen, hatte festgestellt, daß Henri nicht da war, hatte ihre Koffer vom Dachboden geholt und einen ersten Schwung an Kleidern und Wäsche eingepackt, zudem die wichtigsten Briefe, Tagebücher, Bilder aus ihrer Schreibtischschublade genommen. Diese entweihte Schublade, an der sich Cathérine zu schaffen gemacht hatte, um sie auszuspionieren, um Beweise gegen sie zu finden, um sie zu erniedrigen… Schon deshalb, dachte sie, könnte ich hier nicht mehr leben. Das Gefühl einer zutiefst verletzten Intimsphäre würde nie wieder verschwinden.

Sie hatte sich Zeit gelassen, weil sie gehofft hatte, Henri werde auftauchen. Zwar graute ihr vor dem Gespräch mit ihm, aber sie hätte es doch gern hinter sich gebracht. Sie wollte ihm das Ende ihrer Ehe so klar und deutlich mitteilen, daß er es begriff und sie in Zukunft sicher sein konnte, keinerlei Druck mehr von ihm zu erleben. Sie wollte einen klaren, unmißverständlichen Abschluß, der sie beide ein für allemal voneinander trennte.

Sie schaffte die Koffer ins Auto, mußte dann einen von ihnen wieder ins Haus zurückschleifen, weil er nicht mehr hineinpaßte. Wie sehr hatte sie immer von einem schönen, großen, repräsentativen Auto geträumt, aber das gehörte wohl auch zu den Wünschen, die sich erledigt hatten, und es war, wie sie zugeben mußte, bei weitem nicht das Schlimmste von allem.

Dann setzte sie sich in die Küche und rauchte eine Zigarette, trank einen Kaffee, rauchte eine zweite Zigarette, schaute hinaus in den strahlenden Tag und fühlte nicht einen Funken von Zuversicht oder Hoffnung in sich. Aber zumindest die Gewißheit, daß es richtig war, was sie tat.

Und vielleicht ist schon das etwas, wofür man dankbar sein muß, dachte sie.

Sie war erstaunt, als sie feststellte, daß es ein Uhr war. Seit dem frühen Morgen trödelte sie nun hier herum. Ob Henri verreist war?

Egal, entschied sie, dann rede ich später mit ihm. Oder gar nicht. Am Ende hat er selbst schon begriffen, wie die Dinge stehen.

Sie stieg in ihr vollbeladenes Auto und fuhr los. Unweigerlich mußte sie an der Stelle vorbei, an der Peters verlassenes Auto geparkt hatte, und wieder versetzte ihr dies einen Stich.

Nicht daran denken, befahl sie sich, hielt die Augen starr geradeaus gerichtet und die Lippen fest zusammengepreßt, es ist vorbei. Nicht daran denken.

Entweder heute abend noch oder am nächsten Tag würde sie herkommen und ihre restlichen Sachen holen.

Und dann war das Kapitel unwiderruflich abgeschlossen.

19

Sie hörte ihn kommen. Ganz plötzlich war da ein Geräusch, das die Grabesstille des Kellerraumes durchbrach. Eine Art Knacken, ein Schleifen… sie vermochte es nicht einzuordnen. Es irritierte sie, weil es so gänzlich unerwartet kam nach all dem endlosen Schweigen, und es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, daß jemand die Kellertreppe herunterkam. So sehr sie anfangs gewünscht hatte, ihr Peiniger möge sich zeigen, möge ihr sagen, was er vorhatte, möge ihr die Gelegenheit geben, ihrerseits mit ihm zu sprechen, so sehr erschreckte sie nun seine tatsächliche Nähe.

Der Kerl war gefährlich. Blitzartig drängten sich wieder die Bilder Camilles und Bernadettes in ihre Erinnerung, wie sie ausgesehen hatten, nachdem er mit ihnen fertig gewesen war, und ihr Herz begann laut und wie rasend zu schlagen, und sie spürte das instinktive und völlig absurde Verlangen, sich irgendwo hier in diesem Raum zu verstecken. Die Schritte kamen immer näher, und zu ihrem Entsetzen schien er auch noch laut zu keuchen, bis sie begriff, daß sie selbst diese lauten Atemzüge ausstieß.

Als die Tür aufgerissen wurde, fiel ein Lichtschein herein, der sie so blendete, daß sie sofort das Gesicht tief in den Händen vergrub. Schmerzhaft wie ein Messerstich war der Strahl in ihre Augen gedrungen, sie konnte ein Jammern nicht unterdrücken.

«Miststück«, sagte jemand,»verdammtes Miststück. Hast du eine Ahnung, welche Scherereien du mir machst?«

Sie kroch noch mehr in sich zusammen und schrie leise auf, als ein Fußtritt sie am Oberschenkel traf.

«Schau mich an, wenn ich mit dir rede, du Miststück!«

Mühsam blinzelnd blickte sie auf. Ganz langsam nur gelang es ihren Augen, sich an das Licht zu gewöhnen, obgleich es sich nur um den eher matten Schein einer Taschenlampe handelte. Er hielt die Lampe gesenkt, so daß sie ihn erkennen konnte, ja, es war ihr Entführer, der vor ihr stand.

Er trug Jeans und einen grauen Rollkragenpullover und war barfuß. Er war ein wirklich gut aussehender Mann, stellte sie fest und wunderte sich, daß sie zu einem solchen Gedanken in ihrer Situation überhaupt fähig war.

«Du hast dich hier satt gegessen. Stimmt’s?«

Es hatte keinen Sinn, dies abzustreiten, und so nickte sie, wofür sie mit einem weiteren Fußtritt bestraft wurde.

«Was glaubst du, warum du hier bist? Um dich an meinen Vorräten zu bedienen?«

Sie wollte ihm antworten, doch sie brachte nur einen leisen Krächzlaut hervor. Sie hatte schon so lange nicht mehr gesprochen, und vielleicht waren es auch Hunger und Durst und Angst, die ihr die Kehle zuschnürten.

«Wolltest du etwas sagen?«fragte er drohend.

Endlich gelang es ihr, sich zu artikulieren.»Ich… dachte…die Sachen wären… für mich. «Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren.»Sonst… sonst hätten Sie mich… nicht hierher… gebracht.«

«Schlaues Ding«, sagte er und hob die Taschenlampe, um sie zu blenden. Gequält schloß sie die Augen. Als sie merkte, daß er die Lampe wieder senkte, hob sie die Lider und sah, daß er seine rechte Hand ununterbrochen zu einer Faust ballte und wieder öffnete. Er strahlte Nervosität und Aggression aus, und sie wußte, daß ihre Lage sehr ernst war.

«Ich kann dich hier nicht ewig behalten«, sagte er,»das wirst du einsehen. Und wenn du ausgiebig ißt und trinkst, dauert es länger. Wir werden daher die Vorräte entfernen.«

Er will, daß ich sterbe. Er will wirklich, daß ich sterbe.

Jetzt erst bemerkte sie den Korb, den er neben sich abgestellt hatte. Darin würde er vermutlich die Gläser und Konserven davontragen, und sie würde hier unten elend und langsam und unbemerkt krepieren.

«Bitte«, sagte sie. Ihre Stimme gehorchte ihr nun wieder, klang aber dünn und zutiefst verängstigt.»Bitte, lassen Sie mich frei. Ich… ich habe Ihnen doch nichts getan…«

Sie wußte, daß es kindisch war, was sie sagte, aber sie hatte nicht die Kraft, anders zu wimmern und zu betteln als ein Kind, denn genauso klein und hilflos und ausgeliefert fühlte sie sich.

Er schien sich ihr Argument tatsächlich einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen, traf dann aber doch eine klare Absage.

«Nein. Denn du würdest mir jetzt alles kaputtmachen.«

«Aber ich verspreche Ihnen…«

Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. Dann stellte er ihr eine Frage, die sie überraschte.

«Bist du verheiratet?«

Kurz überlegte sie, ob von der Beantwortung dieser Frage irgend etwas für sie abhängen könnte, ihr Leben beispielsweise, aber da sie sich keinerlei Zusammenhang erklären konnte, hielt sie es für ratsam, bei der Wahrheit zu bleiben — die er vielleicht ohnehin kannte, und womöglich prüfte er nur, ob sie lügen würde.

«Nein«, sagte sie also.

«Warum nicht?«

«Ich… nun, es hat sich nie ergeben…«

«Gab es je einen Mann, der dich heiraten wollte? Der mit dir eine Familie gründen wollte?«Das Wort Familie betonte er auf eine eigenartige Weise, so als spreche er über etwas ganz Besonderes, etwas fast Heiliges.

Ich hätte sagen sollen, daß ich Familie habe, dachte sie instinktiv, ich wäre in seiner Achtung gestiegen.

«Nein«, sagte sie,»einen solchen Mann gab es nie. Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher als Kinder… als ein Familienleben…«

Er sah sie verächtlich an.»Wenn du dich wirklich danach sehntest, hättest du es dir längst aufgebaut. Du gehörst vermutlich zu den Frauen, die ihre Freiheit jeder Art von Bindung vorziehen. Die meinen, ihr Leben bestehe aus solch idiotischen Dingen wie Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit. Es sind diese gottverdammten Scheiß-Emanzen, die die Familie in Mißkredit gebracht und alles zerstört haben!«

Rede mit ihm, dachte sie. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß es Entführern schwerer fällt, ihre Opfer zu töten, wenn sie mit ihnen sprechen und sie dabei näher kennenlernen.

«Was alles haben sie zerstört?«fragte sie.

Sein Blick war jetzt voller Haß, und sie hatte die Befürchtung, daß er bei diesem Thema irgendwann die Kontrolle über sich verlieren würde. Andererseits würde er im Moment kaum davon ablassen.

«Alles«, sagte er auf ihre Frage hin,»alles, wovon ich je geträumt habe. Was ich je für mein Leben haben wollte.«

Erstaunt beobachtete sie, wie der Haß einer fast anrührenden Verletztheit wich. Dieser Mann war tief verwundet worden und vermochte nicht damit fertigzuwerden, das begriff sie in diesem Moment. Auf irgendeine Weise war auch er ein Opfer, das sich mit dem gleichen Selbsterhaltungstrieb gegen die Grausamkeiten des Lebens wehrte, wie jede Kreatur es tat.

«Wovon haben Sie geträumt?«fragte sie. Mach dich zu seiner Verbündeten. Zeig ihm, daß du ihn verstehst. Daß du so bist wie er.

Statt zu antworten, stellte er seinerseits eine Frage.»Wie war die Familie, in der du aufgewachsen bist?«

Sie tappte im dunkeln, worauf er eigentlich hinauswollte, aber wenigstens hatte sie zu diesem Thema Gutes zu berichten.

«Es war eine schöne Familie«, sagte sie mit Wärme und merkte, wie ihr bei der Erinnerung an ihre geborgene Kindheit Tränen in die Augen stiegen,»meine Eltern haben einander sehr geliebt, und mich haben sie geradezu vergöttert. Sie mußten sehr lang auf mich warten, sie waren schon vergleichsweise alt, als ich auf die Welt kam. Deshalb habe ich sie auch leider früh verloren. Mein Vater starb vor acht Jahren, meine Mutter vor fünf.«

Er sah sie verächtlich an.»Früh nennst du das? Früh?«

«Nun, ich denke…«

«Weißt du, wann ich meine Mutter verloren habe? Als ich sieben war. Und kurz darauf meinen Vater.«

In ihrer Situation waren ihr die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit scheißegal, aber sie nahm alle Anstrengung zusammen, gab sich mitfühlend und interessiert.

«Woran sind sie gestorben?«

«Gestorben? Vielleicht kann man das, was mit meinem Vater passierte, sterben nennen. Meine Mutter haute einfach ab. Eine Freundin, eine verdammt gewissenlose Freundin, hatte sie auf die Idee gebracht, daß phantastische Talente in ihr schlummern, die sie in ihrem langweiligen Dasein für die Familie vergeudet. Also befreite sie sich, ließ Mann und vier Kinder zurück, zog mit der Freundin zusammen und versuchte sich als Malerin und Sängerin. Sie hatte höchst mäßige Erfolge zu verzeichnen, aber das machte nichts, es ging ja vor allem darum, frei zu sein, kreativ zu sein, sich zu verwirklichen… Na ja, als ich neunzehn war, wurde sie in Berlin von einem betrunkenen Autofahrer überfahren. Sie starb an ihren Verletzungen. Aber da hatten wir schon lange keinen Kontakt mehr gehabt.«

«Das… das muß ganz furchtbar für Sie gewesen sein…«

«Als sie uns verließ, hielt mein Vater noch eine Weile durch, aber er konnte es nicht ertragen, sie verloren zu haben. Er fing an zu trinken, verlor seine Arbeit… ich sehe ihn noch vor mir… wie er mittags im Wohnzimmer unserer kleinen Sozialwohnung saß, wenn ich aus der Schule kam, verquollen im Gesicht, unrasiert, mit roten Augen… gerade aus dem Bett gekrochen, und schon wieder die Schnapsflasche an den Lippen. Er war vorher ein starker, lebensfroher Mann gewesen. Nun verfiel er vor den Augen seiner Kinder. Er ist dann später an Leberzirrhose gestorben.«

Sie hoffte, daß er Verständnis und Anteilnahme in ihren Zügen las.

«Ich verstehe«, sagte sie,»ich verstehe Sie jetzt sehr gut. Sie konnten das alles nicht verwinden.«

Er sah sie fast überrascht an.»Doch«, sagte er,»ich konnte es verwinden. Als ich Carolin traf, als wie heirateten, als die Kinder kamen. Aber dann ging sie weg, und alles war kaputt. Alles.«

«Aber Sie sind doch noch nicht alt. Sie sehen sehr gut aus. Sie haben jede Chance, daß…«

Er sprach einfach weiter, als habe er ihren Einwurf gar nicht gehört.»Ich begann zu begreifen, daß man diese Weiber auslöschen muß. Sie zerstören die Welt. Vor zwei Jahren habe ich die Frau getötet, die meine Mutter damals überredet hat, uns zu verlassen.«

Er sagte dies so beiläufig, als habe er etwas Selbstverständliches getan. Monique schluckte trocken.

«O Gott«, flüsterte sie.

«Es stand sogar in der Zeitung. In einer Berliner Zeitung. «Das klang fast stolz.»Aber sie wissen bis heute nicht, wer es war. Es war so einfach. Ich nannte meinen Namen und sie ließ mich in ihre Wohnung. Es war noch dieselbe Wohnung, in der sie mit meiner Mutter gelebt hatte. Die Alte war erfreut, den Sohn ihrer verstorbenen Freundin zu sehen. Sie hatte nichts begriffen, gar nichts. Sie kapierte es selbst dann nicht, als schon das Seil um ihren Hals lag und ich es zusammenzog. Ich habe es sehr langsam getan. Es hat lange gedauert. Aber nicht so lange wie mein Leid.«

Er ist vollkommen wahnsinnig, gefangen in seinen irren Vorstellungen.

Sie redete um ihr Leben.

«Ich kann Sie verstehen. Wirklich. Ich habe noch nie so genau über dieses Problem nachgedacht, aber nun sehe ich es mit anderen Augen. Frauen wie Ihre Mutter oder wie die Freundin Ihrer Mutter haben schlimmes Unrecht auf sich geladen. Da haben Sie völlig recht. Aber nicht alle Frauen sind so Auch ich habe mich immer so sehr nach einer Familie gesehnt das müssen Sie mir glauben. Aber manchmal sind es auch die Männer, die keine tiefere Bindung wollen. Ich bin nur an solche geraten. Sie haben mich ausgenutzt und dann wieder abgelegt. Inzwischen habe ich fast jede Hoffnung aufgegeben.«

Da er immer noch nichts erwiderte, versuchte sie es weiter.

«Aber natürlich, irgendwo denke ich noch immer, daß da vielleicht eines Tages jemand sein wird, der…«

Endlich sah er sie an. Seine Miene war unergründlich

«Der Prinz, der dich auf sein weißes Pferd hebt, meinst du?«

«Ich… nun…«, sagte sie unsicher.

Er strahlte nicht die geringste Verletzlichkeit mehr aus sondern nur noch Kälte und Verachtung.

«Was redest du nur für eine blöde Scheiße«, sagte er,»das sollte man ja kaum für möglich halten. Hör zu, ich sage dir jetzt etwas: Ich weiß nicht, was du auf dem Kerbholz hast. Ob du je eine Familie zerstört oder einen Mann zurückgewiesen hast, der es ehrlich mit dir meinte. Deshalb lebst du noch, aber es ist klar, daß du nicht am Leben bleiben kannst. Da verstehen wir uns doch? «

Sie begann zu zittern. Die Angst sprang sie wieder mit aller Macht an. Es lief auf ihren Tod hinaus, nur darauf.

«Mir wäre es am liebsten, du krepierst hier unten. Verhungerst, verdurstest, was auch immer. Aber wenn das nicht schnell genug geht, werde ich nachhelfen. Es war einfach idiotisch von dir, dich einzumischen. Aber ich lasse mir von dir nichts kaputtmachen. Ich stehe dicht davor, meine Träume zu verwirklichen. Es ist meine letzte Chance, und ich ergreife sie, und eine blöde, fette kleine Zecke wird mir nicht dazwischenkommen!«

Er nahm den Korb. Machte zwei Schritte in den Raum hinein.

Und trat mit seinen bloßen Füßen in die Scherben des Glasdeckels, der ihr zuvor hinuntergefallen war.

Zwischen den Zehen des linken Fußes schoß das Blut hervor. Er starrte fassungslos darauf, dann stieß er ein Stöhnen aus, ließ den Korb fallen und sank zu Boden.

Mit den Händen umklammerte er den Fuß und versuchte, den Blutfluß zu stoppen.

«O Gott!«Seine Lippen wurden weiß.»Schau nur, das Blut! So viel Blut!«

Sie erkannte, daß er für einige Augenblicke außer Gefecht war. Der Anblick seines Blutes entsetzte und lähmte ihn. Sie rappelte sich auf.

Im ersten Moment drohten die Beine unter ihr einzuknicken. So lange hatte sie nur gesessen oder gelegen oder war auf allen vieren gekrochen, daß ihre Muskeln alle Kraft verloren zu haben schienen. Zudem war ihr schwindelig vor Hunger und Angst, und Wände und Fußboden neigten sich vor ihren Augen.

Doch dann siegte ihre Entschlossenheit, und sie stürzte aus dem Keller hinaus, gefolgt von seinen Schreien.»Was ist los? Verdammt, was ist los?«

Sie hatte einen großen Fehler gemacht, das begriff sie schon nach wenigen Sekunden. Sie hätte ihn einschließen und dann den Weg nach draußen suchen müssen. Aber daran hatte sie nicht gedacht, sie hatte ja auch gar keine Zeit gehabt zum Denken, hatte nur weggewollt… und nun fand sie den Ausweg nicht, fand die Treppe nicht, die nach oben führen mußte… Vor ihr erstreckte sich der Keller, der riesig sein mußte, beleuchtet von vereinzelten Glühbirnen, die nackt von der Decke hingen und offenbar durch einen Zentralschalter angeknipst worden waren. Sie hörte ihn hinter sich, er hatte offenbar aufstehen können und folgte ihr nun.

«Bleib stehen, Miststück! Bleib sofort stehen!«

Er war gehandikapt durch seine Fußverletzung, aber er würde sie erwischen, denn sie erkannte, daß sie in die falsche Richtung gerannt war, ans Ende des Kellers, und die Treppe lag offenbar zur anderen Seite hin. Doch dort würde sie nicht hingelangen, denn dazwischen war er, jetzt ganz sicher entschlossen, sie sofort und ohne Zögern umzubringen.

Sie sah die letzte Tür vor sich, am Ende des Flurs. Außen steckte ein Schlüssel. Mit zitternden Fingern zog sie ihn ab, öffnete die Tür…

Er war fast bei ihr. Er humpelte, und sie konnte kurz einen Blick auf sein schmerzverzerrtes und vor Wut entstelltes Gesicht werfen. Dann huschte sie in den Raum hinein, knallte die Tür hinter sich zu, hielt mit aller Kraft dagegen, als er sie von außen aufzureißen versuchte, kämpfte wie eine Löwin, manövrierte irgendwie den Schlüssel ins Schloß — beinahe hätte sie den Kampf verloren, die Tür öffnete sich bereits einen Spalt weit —, aber noch einmal gelang es ihr, sie ganz zu sich heranzuziehen und den Schlüssel herumzudrehen.

Er tobte draußen, während sie langsam mit dem Rücken an der Tür entlang zu Boden rutschte. Sie dachte, sie müßte weinen, aber sie konnte nicht. Sie zitterte und würgte.

Sie war wieder gefangen, aber nun hatte sie den Schlüssel.

Wenn er sie töten wollte, mußte er die Tür eintreten.

20

Henri kehrte um vier Uhr am Nachmittag ins Chez Nadine zurück, und es dauerte nicht sehr lange, bis er begriff, daß Nadine ernsthaft entschlossen war, ihn zu verlassen. Als erstes stolperte er fast über den gepackten Koffer, den sie nicht mehr im Auto hatte unterbringen können und der nun gleich hinter der Eingangstür stand. Offenbar wollte sie ihn irgendwann später abholen. Dann ging er hinauf in den ersten Stock, trat in ihr Zimmer und tat etwas, was er noch nie vorher getan hatte: Er öffnete alle Schränke und Schubladen und inspizierte, was sie eingepackt und mitgenommen hatte. Und das waren keineswegs nur die Dinge, die sie notwendig gebraucht hätte, um ein paar Tage bei ihrer Mutter verbringen zu können, wie etwa Wäsche, ein paar Pullis und Hosen und ihre Zahnbürste. Nein, sie hatte nahezu sämtliche Kleidungsstücke ausgeräumt, die Sachen für den Winter ebenso wie die für den Sommer, ihre Badeanzüge und Baumwollkleider und ihren Skianzug, sogar ihre zwei Abendkleider. Was aber noch bestürzender war: Sie hatte die Schreibtischschubladen geleert, hatte Tagebücher, Photos, Briefe und Notizen mitgenommen. Er wußte von Cathérine, daß diese Dinge in den Schubladen gewesen waren, sie hatte ihm davon erzählt, nachdem sie den verhängnisvollen Brief gefunden hatte. Widerwillig und beschämt hatte er die Ergebnisse ihrer Spionagetätigkeit zur Kenntnis genommen und sie in den hinteren Winkeln seines Gedächtnisses vergraben, aber nun erinnerte er sich blitzartig wieder daran und er wußte, daß die komplett geleerten Schubladen an Aussagekraft nicht zu überbieten waren. Sie hatte nicht vor, zurückzukehren. Höchstens, um den letzten Koffer abzuholen und die paar wenigen Dinge, die noch in ihren Schränken lagen oder hingen und für die sie wahrscheinlich keinen Platz in Koffer oder Tasche mehr gefunden hatte.

Er ging in die Küche. In der Spüle befand sich ein unter Wasser gesetzter Unterteller, in dem zwei Zigarettenkippen schwammen. Daneben stand eine leere Kaffeetasse. Sie hatte sich also einen Kaffee gemacht und zwei Zigaretten geraucht. Sie hatte auf ihn gewartet. Sie hatte mit ihm reden wollen, und er wußte, was sie vorgehabt hatte, ihm zu sagen.

Er setzte sich an den Tisch und aß ein Baguette mit Honig, ohne Trost darin zu finden. Er starrte zum Fenster hinaus, stellte sich vor, wie sie vor einigen Stunden an vermutlich ebendieser Stelle gesessen und durch dasselbe Fenster hinausgesehen hatte. Hatte sie eine Art von bewußtem Abschied genommen? Oder einfach nur voller Widerwillen dem Moment entgegengefiebert, da sie endlich für immer dieses Haus würde verlassen können?

Keine gemeinsame Zukunft. Kein gemeinsames Baby. Catherine weit weg, und auch Nadine würde fortgehen. Ihm blieb das Chez Nadine, dessen Name ihm dann nur noch absurd vorkäme. Ob er es Chez Henri nennen sollte? Das wäre sicher passend, denn außer ihm wäre ja keiner mehr da.

Er war allein.

In der Euphorie nach dem Gespräch mit Cathérine und nach der zweiten Begegnung mit den Beamten, die ihm unverhohlenes Mißtrauen entgegenbrachten, hatte er seine Kräfte verbraucht. Nach der Begegnung mit Marie Isnard am Morgen war er stundenlang in der Gegend herumgekurvt, über lange Strecken gerast wie der Teufel, so wie man es von ihm kannte, als er noch selbstbewußt und stark gewesen war, dann wieder langsam gefahren, um wieder und wieder die Aussprache mit Nadine zu proben, in glühenden Worten ihrer beider gemeinsame Zukunft zu entwerfen und ihr in schönen, gewählten Sätzen die Affäre mit Peter S. — denn so nannte er ihn für sich, seitdem das alles passiert war — zu verzeihen.

Jetzt fiel sein Luftschloß in sich zusammen, und auf einmal war da nur noch lähmende Müdigkeit, eine tiefe seelische Erschöpfung und die Angst vor einer leeren und trostlosen Zukunft. Er, der Sunnyboy, war noch nie derart heftig von der Sehnsucht nach Nähe überwältigt worden. Er wollte in die Arme genommen werden, er wollte weinen dürfen, und jemand sollte ihm über die Haare streichen und ihm tröstliche Worte ins Ohr flüstern.

Er sehnte sich nach seiner Mutter.

Er dachte, daß er sich dafür schämen müßte, aber ihm fehlte die Energie. Er mochte sich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob er eine solche Sehnsucht haben durfte oder nicht, ob das eine Schmach war oder eine Niederlage. Er wollte nichts anderes als die Erfüllung.

Er fragte sich, ob seine Kraft reichen würde, die Koffer zu packen und sich auf den Weg nach Neapel zu machen. Der Kommissar hatte ihm untersagt, die Gegend zu verlassen, und durch sein Verschwinden würde er sicherlich den Verdacht, der ohnehin gegen ihn bestand, noch erhärten, aber das war ihm gleichgültig. Es ging ihm nur um Nadine. Vielleicht konnte er ihr einen Brief hinterlassen. Er würde ihr darin erklären, daß er begriffen und akzeptiert hatte. Sie sollte nicht das Gefühl haben, sich vor ihm verstecken zu müssen.

Er blickte zum Fenster hinaus, bis es dunkel wurde, dann schaltete er das Licht ein und betrachtete in der Scheibe das Spiegelbild des einsamen Mannes am Küchentisch, der nach Neapel zu seiner Mutter fahren würde, um mit dem Zusammenbruch seines Lebens fertigzuwerden.

21

Kurz bevor sie zu Bett gehen wollte, fiel Laura ein, daß sie bereits am Vorabend bei Monique Lafond hatte anrufen wollen. Durch Christophers Besuch und die dann folgenden Ereignisse hatte sie dies völlig vergessen, obwohl sie sich extra eine Notiz neben das Telefon gelegt hatte.

Offenbar hatte sie den Zettel während ihrer Telefonate am heutigen Tag übersehen.

Tatsächlich lag er auch nicht mehr dort, wie sie nun feststellte. Sie suchte zwischen anderen Papieren herum und schaute auch auf den Fußboden, ob er vielleicht heruntergefallen war, aber sie konnte ihn nirgends entdecken.

«Sehr eigenartig«, murmelte sie.

Sie überlegte, ob sie um diese Uhrzeit — es war Viertel nach zehn — noch bei Monique Lafond anrufen durfte, und entschied, daß dies zulässig sei. Sie mußte erneut die Auskunft anrufen, hatte aber bei Mademoiselle Lafond wiederum kein Glück: Es meldete sich der Anrufbeantworter. Diesmal sprach sie keine Nachricht auf Band, ihre letzte mußte sich noch dort befinden, und irgendwann würde Monique darauf stoßen. Wahrscheinlich war sie verreist.

Und überdies war Laura weniger denn je davon überzeugt, daß diese Fährte für sie wirklich noch interessant sein konnte.

Sie hatte am Nachmittag noch einmal Besuch von Kommissar Bertin gehabt. Er hatte wissen wollen, ob ihr noch etwas eingefallen sei, was für die Ermittlungsarbeiten von Belang sein konnte, aber sie hatte ihn enttäuschen müssen. Nach ihrem Eindruck tappten der Kommissar und seine Leute ziemlich im dunkeln. Sie hatte das fast sichere Gefühl, daß Bertin sie für unschuldig hielt, und daher wagte sie es, ihn zu fragen, wann sie nach Hause reisen dürfe.

«Mein Kind ist in Deutschland. Und die Gläubiger meines Mannes stehen bereit. Ich muß eine Menge Dinge ordnen und meine Zukunft komplett neu aufbauen. Hier sitze ich nur herum!«

Er hatte genickt.»Ich verstehe. Das ist eine sehr unangenehme Situation für Sie. Wir haben ja Ihre Adresse und Telefonnummer in Deutschland. Ich denke, Sie können Frankreich verlassen. Es könnte allerdings passieren, daß Sie noch einmal herkommen müssen — falls es neue Spuren gibt und wir Sie persönlich hier brauchen.«

«Das ist sicher kein Problem. Zumindest ist es das geringste Problem von allen, die ich derzeit habe.«

Er hatte sie nachdenklich angesehen.»Sie sind eine tapfere Frau«, sagte er.»Viele andere würden in Ihrer Lage weit mehr lamentieren und hätten jeden Mut verloren. Sie gehen die Dinge an. Ich finde das sehr bewundernswert.«

Sein Lob hatte sie wahnsinnig gefreut. Als er gegangen war, hatte sie sich vor den Badezimmerspiegel gestellt und sich ganz genau betrachtet. War ihr die Veränderung anzusehen? Es war nicht viel Zeit vergangen, und doch schien es ihr, als habe sie einen sehr langen Weg zurückgelegt — von der unterwürfigen Laura, die zu Hause auf ihren Mann wartete und ständig neue Vorhänge und Teppiche kaufte, um die Zeit totzuschlagen, hin zu der Frau, die ihren ermordeten Mann in der Gerichtsmedizin der Polizei identifiziert hatte, die hinter sein jahrelang andauerndes Verhältnis gekommen war, die vor einem Schuldenberg stand und bei all dem noch die Kraft und die Nerven gehabt hatte, eine kurze Affäre mit dem besten Freund ihres Mannes zu beginnen.

Sie meinte, etwas weniger weich und weniger scheu auszusehen und die Zaghaftigkeit aus ihrem Mienenspiel verbannt zu haben.

«Du machst das alles schon ganz gut«, sagte sie zufrieden zu sich selbst.

Am Abend hatte sie Musik gehört und sich eine Flasche Sekt geöffnet, und sie hätte sich entspannt und frei gefühlt, wäre da nicht eine Rastlosigkeit in ihr gewesen, die sie sich zuerst nicht hatte erklären können, bis ihr aufging, daß sie in Zusammenhang mit Christopher stand. Ständig erwartete sie, daß das Telefon klingelte, daß er es wäre, der sie um die nächste Verabredung bitten wollte. Sie schloß sogar die Fensterläden, was sie sonst nie tat, aber dauernd hatte sie das ungute Gefühl, er werde plötzlich dort draußen erscheinen und Einlaß begehren, oder — was noch unangenehmer wäre — er könne dort einfach nur stehen und sie beobachten.

Er hat dir nichts getan, sagte sie sich immer wieder, es ist schließlich kein Verbrechen von ihm, sich in dich zu verlieben, und wenn er etwas schnell und direkt war, so ist das auch noch kein Grund ihn zu furchten.

Denn das war das Verrückte: Sie fürchtete sich vor ihm, ohne genau zu wissen, weshalb. Ihr Verstand sagte ihr, daß das Unsinn sei, aber der Instinkt, das negative, angespannte, argwöhnische Gefühl, wollte sich nicht beschwichtigen lassen. As das Telefon tatsächlich im Lauf des Abends klingelte, fuhr sie so heftig zusammen, als habe sie dieses Geräusch nie vorher in ihrem Leben gehört. Sie hatte Herzklopfen, als sie den Hörer abnahm, und nannte sich selbst im stillen eine ängstliche Gans. Es war ihre Mutter, die sich — natürlich — beklagte, weil sie nie angerufen wurde, die außerdem mitteilen wollte, es gehe Sophie gut, aber sie habe schon mehrfach nach Laura gejammert; und überdies hoffte sie zu erfahren, wann Laura denn endlich nach Hause käme.

«Falls du es über überhaupt für nötig hältst, mir das mitzuteilen«, fügte sie spitz hinzu.

«Man hat mir heute — erst heute, Mami — mitgeteilt, daß ich das Land verlassen darf. Ich denke, ich werde übermorgen aufbrechen. Morgen möchte ich noch mit einem Makler sprechen. Er soll mir sagen, was das Haus hier wert ist. Vermutlich ist es belastet bis unters Dach und mir bleibt ohnehin nichts von dem Verkauf, aber den Marktwert will ich wenigstens kennen. «

«Es wird jedenfalls Zeit, daß du dich um die Dinge hier kümmerst«, sagte Elisabeth.»Ich gehe ja öfter in euer Haus, um die Blumen zu gießen, und ich kann der Briefberge kaum Herr werden, die sich dort stapeln. Banken, hauptsächlich. Euer Anrufbeantworter ist überlastet. In Peters Büro bricht alles zusammen, von den Damen scheint keine einzige zu wissen, was zu tun ist.«

«Wissen sie dort schon, daß Peter tot ist?«

«Keine Ahnung, das konnte ich ihren Nachrichten nicht entnehmen. Sie sind doch wahrscheinlich von der deutschen Polizei vernommen worden, oder? Auf jeden Fall muß jemand die Abwicklung hier in die Hand nehmen.«

«Und zwar ich. Wie gesagt, Donnerstag abend bin ich zu Hause.«

«Peters Ex-Frau krakeelt übrigens auch ständig auf dem Anrufbeantworter herum. Wegen der Unterhaltszahlungen, die noch ausstehen.«

«Ruf sie an und sag ihr, die kann sie sich ins Haar schmieren. Ihr Versorger liegt im gerichtsmedizinischen Institut in Toulon, und seine gesamte irdische Hinterlassenschaft kommt unter den Hammer. Von jetzt an muß sie selbst zusehen, wie sie durchkommt.«

«Ich habe mir überlegt«, sagte Elisabeth,»daß ihr am besten zu mir zieht, du und Sophie. Das Haus muß ja wohl verkauft werden, und Geld wirst du erst einmal keines haben. Meine Wohnung ist ohnehin viel zu groß für mich. Ihr könnt die beiden hinteren Zimmer haben.«

Laura schluckte.

«Das ist sehr lieb von dir. Aber… ich denke nicht, daß das uns beiden, dir und mir, so gut tun würde. Ich werde bei Anne wohnen. Das bedeutet, Sophie und ich sind immer in deiner Nähe, aber wir sitzen nicht so dicht aufeinander, daß wir Probleme miteinander bekommen könnten.«

Auf der anderen Seite herrschte ein längeres Schweigen.

«Wie du meinst«, sagte Elisabeth schließlich spitz,»jeder muß selbst wissen, was für ihn das Beste ist.«

Sie verabschiedeten sich kühl voneinander, aber Laura fühlte sich hinterher erleichtert, weil ein weiterer Punkt geklärt worden war.

Als sie schließlich ins Bett ging, hatte sie ein Stück Ausgeglichenheit wiedergefunden. Christopher hatte sich seit dem Morgen nicht gemeldet. Sicher wußte er inzwischen, daß er sich mit seinem eifersüchtigen Geschrei unmöglich benommen hatte, und vielleicht war ihm auch aufgegangen, daß er die ganze Geschichte zwischen ihnen beiden falsch gesehen und sich in eine einseitige Idee hineingesteigert hatte. Jeder Mensch konnte sich einmal in etwas verrennen. Offensichtlich wollte er nun den Abstand schaffen, der es ihnen beiden ermöglichen würde, irgendwann wieder ohne Verlegenheit miteinander umzugehen.

Sie las noch eine Weile im Bett, bis sie zu müde war, um sich noch auf das Buch konzentrieren zu können. Als sie das Licht löschte, blickte sie auf die Uhr: Es war zehn Minuten nach elf.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon.

Sie setzte sich aufrecht hin, hellwach von einem Moment zum anderen. Ihr Herz hämmerte. Sie wußte sofort, wer das um diese Uhrzeit sein mußte.

Sie ließ es klingeln, bis es aufhörte, aber der Anrufer mußte sofort erneut gewählt haben, denn das Läuten setzte nach einer kurzen Pause gleich wieder ein. In der dritten Runde hielt sie es nicht mehr aus, kletterte aus dem Bett und lief hinaus auf die Galerie vor dem Schlafzimmer, wo sich ein Apparat befand.

«Ja?«meldete sie sich und stellte dabei fest, daß ihre Stimme gehetzt klang.

«Laura? Ich bin es, Christopher! Wo warst du? Warum hat es so lange gedauert, bis du an Telefon warst?«

Du dumme Kuh! Es hat sich nichts geändert! Du hattest ganz recht mit deinem unguten Gefühl. Der Typ ist nicht ganz dicht!

Sie versuchte, ihm ruhig und sehr bestimmt zu antworten.»Christopher, es ist nach elf Uhr. Ich habe geschlafen. Ich habe versucht, das Läuten zu ignorieren, aber du hast mir keine Chance gelassen. Ich finde es, ganz ehrlich gesagt, ziemlich unmöglich, wie du dich verhältst.«

«Laura, ich möchte dich sehen,«

«Nein. Es ist spät. Ich bin müde.«

«Morgen früh?«Er war jetzt ganz anders als bei dem letzten Gespräch, nicht laut, nicht drohend. Er klang verzweifelt.

«Ich weiß nicht, ich…«

«Bitte, Laura! Ich wollte dich den ganzen Tag über anrufen. Ich sterbe fast vor Sehnsucht nach dir. Ich dachte, du fühlst dich vielleicht belästigt, deshalb habe ich gewartet… es war die Hölle… und jetzt habe ich es nicht mehr ausgehalten. Bitte…«

Verdammt, die Sache entgleitet dir! Er ist ja wie besessen. Wie gut, daß du übermorgen abreist.

Bei allem Ärger tat er ihr jedoch auch leid. Sie stellte sich vor, wie er stundenlang um das Telefon herumgeschlichen sein mußte, wie er sich beherrscht hatte, wie er sich gequält hatte. Sie wußte, wie sich eine solche Besessenheit anfühlte.

Sie versuchte, nett zu ihm zu sein.

«Morgen früh geht es nicht. Da habe ich einiges zu erledigen. «Sie verschwieg den geplanten Makler-Besuch; eine innere Stimme riet ihr, nichts zu erwähnen von ihrer Absicht, alle Brücken in diesem Land hinter sich abzubrechen.»Wir könnten zusammen zu Mittag essen.«

Seine Erleichterung war durch das Telefon spürbar.

«Ja. Ich muß dich einfach sehen. Soll ich dich abholen?«

«Nein. Ich bin in der Stadt… Wir treffen uns um halb eins auf dem Strandparkplatz in La Madrague. Einverstanden? Dann überlegen wir, wohin wir gehen. Bis morgen!«

«Ich liebe dich, Laura.«

Sie legte den Hörer auf. Sie stand vor dem Telefon und merkte, daß ihr Körper schweißnaß war.

Die Furcht, die sie bereits verdrängt zu haben geglaubt hatte, war deutlicher denn je spürbar.

Er war nicht normal.

Und morgen mittag mußte sie ihm sagen, daß es keine Zukunft für sie beide gab.


Mittwoch, 17. Oktober

22

Es regnete an diesem Morgen.

Die Wolken waren über Nacht aufgezogen und hatten dem klaren, fast spätsommerlichen Wetter ein Ende bereitet. Der Regen war nicht strömend und kräftig, sondern fein und sprühend. Die Welt, die noch am Vortag in herbstlichen Farben geleuchtet hatte, versank in eintönigem Grau. Die Feuchtigkeit schien in jeden Winkel zu kriechen.

Nadine war sehr früh aufgestanden, hatte sich so leise sie konnte gewaschen und angezogen und hatte sich einen Kaffee gekocht. Trotz des Feuers im Kachelofen, das die Nacht über gebrannt hatte und von Nadine nun wieder neu geschürt worden war, herrschte klamme Kälte im Haus. So war es immer gewesen. Nadine konnte sich nicht erinnern, daß es im Herbst und Winter je gemütlich und warm hier gewesen war.

Sie stand ans Fenster gelehnt, die Hände um die heiße Kaffeetasse geklammert, sah zu, wie die Dunkelheit in Dämmerung überging, und dachte daran, daß es da draußen, jenseits der Schlucht, trotz des häßlichen Wetters irgendwann Tag sein würde, während die Dämmerung hier verharrte und am späteren Nachmittag wieder von der Dunkelheit abgelöst würde.

Peter hatte von dem schönen Haus gesprochen, das sie in Argentinien haben würden, groß und hell und licht, von Weiden und Wiesen umgeben.

«Mit einer Holzveranda entlang der ganzen Vorderseite«, hatte er gesagt,»auf der wir an Sommerabenden Hand in Hand sitzen und über unser Land blicken.«

Da sie sein finanzielles Desaster kannte, hatte sie nie recht an das Haus und das Land geglaubt, denn wie sollten seine letzten zweihunderttausend Mark für solch hochfliegende Pläne reichen, aber sie hatte ihm gern zugehört, wenn er davon redete. Es war ein schöner Traum, und den sollte er behalten. Sie selbst hatte — für sich im stillen — an eine Wohnung gedacht, irgendwo in Buenos Aires, eine kleine, sonnige Wohnung mit drei Zimmern und einem Balkon nach Süden. Sie hätte Spanisch gelernt und sich bunte Kleider gekauft, und abends hätten sie zusammen Rotwein getrunken.

Verdammt, dachte sie, und schon wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie hob den Blick, damit sie ihr nicht über die Wangen liefen und Streifen von schwarzer Wimperntusche hinter sich herzogen. Marie konnte jeden Moment aufkreuzen, und wenn sie ihre Tochter weinen sah, weinte sie unweigerlich mit. Und es wäre Nadine unerträglich gewesen, an einem solch trostlosen Morgen hier mit ihrer Mutter zu sitzen und gemeinsam zu schluchzen.

Es hatte sie entsetzt zu hören, daß Henri hier gewesen war, um mit ihr zu sprechen. Er hatte damit eine unausgesprochene Regel verletzt, nämlich die, daß Le Beausset ihr Revier war, das er nicht zu betreten hatte. So sehr sie die Schlucht und das Haus haßte, so war es doch die einzige Rückzugsmöglichkeit, die sie hatte, und sie hatte geglaubt, Henri wisse und respektiere dies. Statt dessen kam er hier angetrampelt, verletzte die Grenzen, wollte sie zurückholen und meinte, wegen des geplanten Weggangs von Cathérine sei nun zwischen ihnen alles in Ordnung. Wieso klammerte er sich an eine so absurde Illusion? Das bedeutete, daß er Schwierigkeiten machen würde, wenn sie ihm das Ende ihrer Ehe erklärte.

Trotz allem wollte sie mit ihm reden, jedoch nicht hier, auf ihrem Territorium, sondern an einem Ort, der nicht zu ihr gehörte und den sie jederzeit wieder verlassen konnte.

Sie beschloß, am Abend zum Chez Nadine zu gehen, ihre letzten Sachen zu holen und Henri für alle Zeit Lebewohl zu sagen. Der Abend erschien ihr günstig: Es würden nicht viele Gäste da sein, nicht zu dieser Jahreszeit, so daß sie Gelegenheit haben würden, ein paar Worte zu wechseln. Aber ein oder zwei Tische waren sicherlich besetzt, und Henri würde sich nicht für längere Zeit aus dem Betrieb ausklinken können, und schon gar nicht konnte er ihr folgen, wenn sie ging. Auf jeden Fall würde dies der Angelegenheit einen zivilisierten, zeitlich begrenzten Rahmen setzen.

Der Regen wurde heftiger. Das Tal war in einen Nebel gehüllt, der fast undurchdringlich war. Die Welt versank in Trostlosigkeit und Trauer. Marie kam in die Küche geschlurft, den Bademantel eng um den Körper gezogen, die Haare wirr, das Gesicht sehr alt und sehr müde.

«Es ist kalt«, seufzte sie.

Nadine drehte sich zu ihrer Mutter um, flehend und hoffnungsvoll.»Mutter, laß uns das Haus verkaufen. Bitte! Wir suchen uns eine hübsche kleine Wohnung am Meer, mit viel Sonne und einem weiten Blick!«

Marie schüttelte den Kopf.

«Nein«, sagte sie,»nein, dein Vater hat mich zu diesem Leben hier verdammt, und so lebe ich es. Bis zum Ende.«

«Aber, Mutter, das ist doch… das ist Wahnsinn! Warum tust du dir das an? Warum tust du mir das an?«

Marie schüttelte erneut den Kopf, diesmal heftiger und bestimmter.»Dir tue ich gar nichts an. Du mußt dein eigenes Leben führen.«

Dann setzte sie sich an den Tisch, zog die Kaffeekanne und eine Tasse zu sich heran, schenkte ein, stützte den Kopf in die Hände und fing an zu weinen. So wie sie es jeden Morgen tat, solange Nadine ihre Mutter kannte.

Mein eigenes Leben, dachte Nadine. Sie wandte sich wieder zum Fenster.

Woher soll ich überhaupt wissen, was das ist?

23

Monsieur Alphonse gab sich dienstbeflissen und zuvorkommend und war offenbar sehr daran interessiert, den Verkauf des Hauses zu übernehmen.

«Quartier Colette«, sagte er,»besonders schöne Ecke. Selten, daß dort etwas frei wird. Und die gesamte Gegend hier wird immer begehrter. Ich glaube nicht, daß wir Schwierigkeiten mit dem Verkauf haben werden.«

«Zuerst möchte ich einfach nur eine Schätzung des Werts«, sagte Laura zurückhaltend.»Alles weitere muß ich mir dann überlegen.«

«Natürlich. Das ist doch selbstverständlich«, versicherte Monsieur Alphonse. Sein Maklerbüro lag in St. Cyr direkt gegenüber dem Strandstück, an dem Laura und Peter in den Sommern der vergangenen Jahre immer gebadet hatten. Laura hatte sein Büro mit den hohen Glasfenstern daher stets vor Augen gehabt, wenn sie zum Auto zurückgegangen waren, und sie hatte es für das einfachste gehalten, sich in ihrer Situation nun an ihn zu wenden.

Monsieur Alphonse zog ein Notizbuch aus der Schreibtischschublade, hüstelte, blätterte und tat nach Lauras Eindruck ziemlich geschäftig. Sie erspähte kaum Einträge in dem Terminkalender, dennoch tat der Makler so, als sei es nicht einfach, eine freie Stunde zu finden.

«Ich müßte es mir heute noch ansehen, sagen Sie? Nun… wie wäre es um vier Uhr? Das könnte ich ermöglichen.«

«Gern. Also dann um vier. «Laura erhob sich und wandte sich zum Gehen. Dabei fiel ihr Blick auf den zweiten Schreibtisch in diesem Büro, der schräg in der hinteren Ecke stand. Es befanden sich ein Computer, ein Telefon und ein paar Akten darauf, Papiere, Kugelschreiber und ein kleiner blühender Kaktus. Vor allem aber das diskrete Schildchen im Acrylrahmen: Monique Lafond.

«Monique Lafond arbeitet mit Ihnen zusammen?«fragte sie überrascht.

«Sie ist meine Sekretärin«, sagte Monsieur Alphonse und seufzte tief,»und bislang konnte ich durchaus zufrieden mit ihr sein. Sie war zumindest immer zuverlässig. Aber heute ist sie den dritten Tag nicht erschienen, ohne sich krankzumelden, ohne eine Erklärung abzugeben. Bei ihr daheim geht niemand ans Telefon. Mir ist das schleierhaft.«»Den dritten Tag? In Folge?«

«Ja. Sie war krankgeschrieben bis Ende letzter Woche, aber am Montag hätte sie wieder kommen müssen. Oder zumindest Bescheid geben, wenn sie sich noch nicht fit fühlt. Ich habe schließlich fest mit ihr gerechnet. «Monsieur Alphonse senkte vertraulich die Stimme.»Sie haben doch sicher von dem Mord an der Pariserin in ihrem Ferienhaus gelesen? Monique hat für die Frau geputzt, und sie war es, die sie gefunden hat! Erdrosselt, mit zerschnittenen Kleidern. Meiner Ansicht nach ein Sexualverbrechen. Und die kleine Tochter obendrein! Kein Wunder, daß Monique einen Schock hatte und zu Hause bleiben wollte, obwohl ich ja eigentlich denke, es ist gar nicht so gut, sich in einem solchen Fall daheim zu vergraben. Aber bitte, jeder, wie er will. Nur wenn sie sagt, sie kommt am Montag wieder, dann soll sie auch kommen. Oder bei mir anrufen!«Dann schien ihm aufzugehen, daß Laura so überrascht auf das Namensschild reagiert hatte, und neugierig fragte er:»Kennen Sie Monique?«

«Nur aus dem Zusammenhang mit dieser Geschichte. Diesem Verbrechen«, erwiderte Laura.»Da fiel einmal ihr Name. «Sie mochte ihm nicht sagen, daß sie selbst an Monique interessiert war. Es hatte sie erleichtert, daß er sie nicht erkannt hatte, als sie sich vorstellte; der Name Peter Simon war durch die Presse gegangen, und Monsieur Alphonse hätte sie darüber identifizieren können. Sie mochte den Mann nicht, er kam ihr zudringlich und sensationslüstern vor.

«Sind Sie bei ihr daheim gewesen?«fragte sie.»Vielleicht ist ihr ja etwas zugestoßen.«

«Aber das ist doch nicht meine Angelegenheit«, wies Monsieur Alphonse dieses Ansinnen sofort zurück,»da muß es schließlich Verwandte und Freunde geben!«

«Wissen Sie das?«

«Woher soll ich das wissen? Sie ist meine Sekretärin, nicht meine Vertraute. Aber«, er versuchte das Thema zu wechseln,»das sollte uns jetzt nicht allzu sehr kümmern. Wir sehen uns um vier?«

Laura wurde das Gefühl nicht los, daß etwas ganz und gar nicht stimmte, aber es war nicht der Moment, sich damit zu beschäftigen.

«Ja, um vier«, sagte sie.

Bis dahin würde sie eines der kompliziertesten Mittagessen ihres Lebens überstanden haben.

24

Sie mußte sich immer wieder sagen, daß sie sich verbessert hatte: Ihr neues Verlies hatte einen Lichtschalter und eine Glühbirne, die nackt und häßlich von der gekalkten Decke baumelte. Sie konnte also sehen. Sie konnte die Uhr ablesen, und sie mußte nicht orientierungslos in ihren eigenen Fäkalien herumkriechen. Sie konnte ihre Arme und Beine, ihre Hände und Füße betrachten. Seltsamerweise tat es ihr gut, etwas von sich selbst zu sehen.

Und sie hatte einen Schlüssel. Nicht ihr Peiniger hatte sie eingesperrt, sondern sie sich selbst. Was bedeutete, daß sie sich auch selbst aus dem Gefängnis herauslassen konnte.

Andererseits hatte sie nicht das geringste mehr zu essen oder zu trinken. Der Raum, in dem sie sich befand, war leer bis auf zwei Pappkartons, die in der Ecke standen. Sie hatte hineingeschaut und Kosmetikartikel gefunden; eingetrocknete Cremetuben, alte Lippenstifte, die unangenehm rochen, Haarwaschmittel und eine halb aufgebrauchte Puderdose. Die Gegenstände hatten wohl Carolin gehört, seiner Frau, von der er erzählt hatte, sie habe ihn verlassen. Die zweite Frau in seinem Leben, die fortgegangen war. Danach war er ausgetickt. Hatte die Freundin seiner Mutter getötet, dann die arme Camille Raymond und die unschuldige Bernadette, und Gott mochte wissen, wen sonst noch.

Sie mußte hier raus, so viel war klar.

Wenn sie nur wüßte, wo der Mann sich aufhielt!

Er hatte sich gleich nach ihrer Flucht entfernt, sie hatte ihn davonhumpeln und — schlurfen gehört. Sein Fuß hatte stark geblutet, das hatte sie noch mitbekommen, und er hatte sich wohl zuerst um seine Verletzung kümmern müssen. Seitdem war er nicht wieder aufgetaucht, obwohl inzwischen fast vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Zumindest hatte sie nichts davon bemerkt.

Und wenn er dort draußen im Gang auf der Lauer lag? Wenn er nur darauf wartete, daß sie herauskam?

Er konnte es abwarten. Er wußte, Hunger und Durst würden sie irgendwann zwingen, etwas zu unternehmen. Schon jetzt konnte sie zeitweise an nichts anderes denken als an die Pfirsichgläser ein paar Räume weiter. Unwahrscheinlich, daß er sie noch fortgebracht hatte. Wenn es ihr gelänge, hinüberzuhuschen, etwas zu trinken…

Aber falls er doch dort im dunklen Gang stand? Sie konnte es nur herausfinden, wenn sie losginge, und dann konnte es auch schon zu spät sein. Sie saß in der Falle. Hoffnungslos und fatal.

25

Er war so bleich, daß sie beinahe Angst um ihn bekam. Seine Lippen waren grau, und ein ungesunder Schweißfilm bedeckte seine Haut. Sie hoffte, daß es nicht nur mit ihr zusammenhing, sondern auch mit seinem Fuß zu tun hatte. Er war gehumpelt, als er vorhin auf dem Parkplatz aus dem Auto gestiegen war, und dann hatte sie auch den dicken Verband gesehen. Schon da war er blaß gewesen, aber nicht so blutleer wie jetzt in dem Restaurant, als er mit ihr an einem Tisch saß und sie ihm erklärte, daß eine gemeinsame Zukunft für sie nicht vorstellbar sei.

«Was hast du denn mit deinem Fuß gemacht?«hatte sie als erstes gefragt, froh, ein Thema zu haben und ihm nicht verlegen schweigend im Regen gegenüberzustehen. Das Meer schwappte grau und träge gegen die Hafenmauer, ein einsamer Spaziergänger in Ölhaut und Gummistiefeln stapfte vorüber. Die Wolken schienen sich immer tiefer über das Land zu senken, und der Regen, der am frühen Morgen eher ein nebelartiges Geniesel gewesen war, strömte jetzt kraftvoll und gleichmäßig herab. Laura hatte einen Schirm, und da Christopher keinen hatte, mußte sie ihn zwangsläufig mit unter ihren nehmen und ihn dadurch viel dichter an sich heranlassen, als sie eigentlich wollte.

«Ich bin barfuß in eine Glasscherbe getreten«, erklärte er,»und muß mich an einer ganz blöden Stelle geschnitten haben. Es wollte gar nicht aufhören zu bluten.«

«Tut es weh?«

«Es geht. Jetzt ist es sowieso nicht mehr schlimm. «Er nahm ihren Arm, drückte ihn.»Denn jetzt bist du ja bei mir.«

Selten hatte sie ein so starkes Bedürfnis gespürt, einfach davonzulaufen.

Sie landeten in einem kleinen Bistro, in dem außer ihnen nur noch zwei alte Damen saßen, die einen Schnaps nach dem anderen kippten und lautstark über das schlechte Wetter klagten. Ein übellauniges junges Mädchen gammelte hinter der Theke herum und empfand es ganz offensichtlich als Zumutung, an einem Tag wie diesem auch noch arbeiten zu müssen.

Laura und Christopher bestellten ihr Essen, wobei Christopher abwartete, was Laura wählte, und sich ihr dann anschloß. Für gewöhnlich trank Laura mittags noch keinen Alkohol, aber es erschien ihr erlaubt, in einer solchen Situation eine Ausnahme zu machen, und so entschied sie sich für einen Viertelliter Weißwein. Hierbei folgte Christopher ihr nicht; er hielt sich an Mineralwasser.

Sie redeten über dies und das, und Christopher wurde immer unruhiger; schließlich begriff Laura, daß es an ihr war, das entscheidende Thema anzuschneiden, daß er es nicht fertigbringen würde, von sich aus darüber zu sprechen.

So einfühlsam und schonend sie nur konnte, erklärte sie ihm, daß es keine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gab.

Als sie fertig war, hatte er den letzten Rest Farbe im Gesicht verloren und sah aus, als werde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.

«Vielleicht solltest du einen Schnaps bestellen«, meinte Laura besorgt, aber er ignorierte ihre Worte und fragte:»Warum? Warum nur?«

Sie wußte, daß er nicht den Schnaps meinte.

«Das habe ich doch erklärt. «Sie hatte ihm alle ihre Gründe auseinandergesetzt, jedoch schon damit gerechnet, daß er nachfragen würde.

«Es ist alles zu schnell gegangen. Ich bin mir über meine Zukunft einfach nicht im klaren. Im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, jemals wieder eine Beziehung zu einem Mann einzugehen.«

«Aber…«

«Ich habe mich in den Jahren meiner Ehe mit Peter völlig aus den Augen verloren. Ich habe sein Leben gelebt, nicht einen Moment lang mein eigenes. Ich muß erst wieder herausfinden, wer ich bin, was ich möchte, wie ich mir mein Leben vorstelle. Wie soll ich mich an jemanden binden, ohne über mich selbst Bescheid zu wissen?«

In seinen Augen glomm ein Funke, den sie nicht zu deuten wußte. Hätte sie nicht gewußt, daß dies im Moment wohl kaum der Fall sein konnte, sie hätte gemeint, Haß zu erkennen.

«Selbsterfahrung«, murmelte er.»Selbstverwirklichung. Auch du.«

«Wäre das so ungewöhnlich? In meiner Situation?«

Die übellaunige Kellnerin brachte das Essen, zwei Teller mit dampfender Zwiebelsuppe und käseüberbackenen Weißbrotscheiben darin. Es sah nicht so aus, als werde Christopher in der Lage sein, auch nur einen Bissen hinunterzubringen.

Als das Mädchen wieder weg war, fuhr Laura fort:»Es sind Schlagworte, ich weiß. Und manchmal kann man sie nicht mehr hören. Es geht für mich wirklich nicht darum, mich an einen Modetrend anzuhängen. Aber wie haben denn die letzten Jahre für mich ausgesehen? Meinen Beruf mußte ich aufgeben. Ich mußte in ein Haus und in einen Vorort ziehen, in dem ich gar nicht leben wollte. Mein Mann hat mich komplett von seinem Leben ausgeschlossen, aus guten Gründen, wie ich nun weiß. Er wird ermordet, und ich erfahre, daß ich vor dem finanziellen Ruin stehe, daß er sich ins Ausland hat absetzen wollen, daß er mich seit Jahren mit einer gemeinsamen Bekannten betrogen hat. Er hätte mich und unser Kind eiskalt in dem Schlamassel sitzen lassen, den er angerichtet hat. Wie muß ich mich fühlen? Kannst du dir das nicht vorstellen? Kannst du mir nicht zugestehen, daß ich mein Vertrauen in Männer, in Partnerschaft oder gar Ehe erst einmal verloren habe? Und lange Zeit brauchen werde, es wieder aufzubauen?«

Er neigte sich nach vorn. Ein Hauch von Farbe stieg in seine Wangen.»Aber das ist es doch! Dabei möchte ich dir helfen. Ich möchte dir dein Vertrauen zurückgeben. Du sollst das Schlechte in deinem Leben vergessen und begreifen, daß es andere Männer als Peter gibt!«

Sie schüttelte den Kopf.»Diesen Weg muß ich selbst gehen. Ich werde Zeit brauchen, und die möchte ich mir auch nehmen. Ich kann einfach nicht ohne jeden Übergang unter die Fittiche des nächsten Mannes kriechen.«

«Ich bin doch ganz anders als Peter. Ich würde dich niemals betrügen. Nie hintergehen. Nie verlassen.«

«Ich weiß. Aber auf deine Art…«, sie wählte ihre Worte vorsichtig,»… auf deine Art würdest auch du mich einengen.«

«Niemals!«Er griff über den Tisch nach ihrer Hand, hielt sie fest. Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz angenommen.»Niemals würde ich dich einengen! Ich möchte dich nicht formen, nicht unterwerfen, dich nicht zu meiner Marionette machen, oder was immer du denken magst. Wenn es das ist, wovor du Angst hast, dann vergiß es. Ich liebe dich als der Mensch, der du bist, ohne Wenn und Aber. Es gibt nichts, was ich an dir ändern möchte. Ich möchte nur glücklich mit dir sein, ganz fest zu dir gehören, in einer Familie mit dir leben. Mit dir und Sophie. An deine Tochter mußt du doch auch denken. Es ist nicht gut für ein Kind, ohne Vater aufzuwachsen. Und sie ist klein genug, daß sie mich als ihren Vater ohne Probleme akzeptieren würde. Ihr Umfeld wäre viel gesünder als irgendeines, das du ihr bieten kannst!«

Er redete schnell und hämmernd auf sie ein. Und er kam ihr schon wieder zu nah. Buchstäblich, indem er ihre Hand hielt, aber auch durch seine Eindringlichkeit, mit der er ihr jedes Wort in den Kopf hineinzubohren schien. Sie wußte jetzt, weshalb sie sich nie wirklich wohl fühlte in seiner Gegenwart: Er war bedrängend, immer, ganz gleich, was er tat oder sagte. Er schien sie einzusaugen, zu verschlingen, zu einem Teil von sich zu machen. Er ließ sie atemlos werden und erweckte stets das Bedürfnis in ihr, sich zurückzuziehen, Abstand einzulegen, einen Graben zu schaufeln. Was er jedoch nicht zuließ.

Vielleicht war es das, dachte sie, was seine Frau von ihm fortgetrieben hat.

Sie wußte sich nicht mehr zu helfen, und sie hatte den Eindruck, das Gespräch könnte endlos und erschöpfend werden.

«Ich liebe dich nicht, Christopher«, sagte sie leise und starrte dabei in ihren Suppenteller, als gebe es darin etwas zu entdecken.

Er zog seine Hand zurück.»Wie meinst du das?«

Sie sah ihn noch immer nicht an.»Wie ich es sage. Ich liebe dich nicht.«

Beim zweiten Mal sagte sich der Satz schon einfacher. Ich liebe dich nicht. Sie fühlte Erleichterung. Es war heraus, sie hatte es hinter sich gebracht. Sie brauchte nicht mehr lange zu reden, zu argumentieren, sich mit seinen Widerworten auseinanderzusetzen. Was sie gesagt hatte, stimmte: daß ihre Selbstfindung wichtig war und ihre Unabhängigkeit, daß sie sich so rasch nicht binden konnte und Zeit für sich brauchte. Aber das Wesentlichere und Entscheidende war, daß sie Christopher nicht liebte. Nie lieben würde, und daß deshalb weitere Gespräche überflüssig waren.

Sie lehnte sich zurück, atmete tief durch, befreit von einer schweren Last, und hob endlich den Blick.

Er war — und das hätte sie eigentlich für unmöglich gehalten — noch blasser geworden. Es war die Farbe von Kalk, die sein Gesicht überzogen hatte. Er schwitzte stark, und seine Hände zitterten. Er hielt sich an seinem Wasserglas fest, jeden Moment würde es zwischen seinen bebenden Fingern zersplittern.

«Mein Gott«, sagte sie leise,»du mußt es doch gewußt haben.«

«Darf ich dich etwas fragen?«Seine Stimme klang, verglichen mit seinem Aussehen, erstaunlich fest und sachlich.»Weshalb hast du dich mir hingegeben? Vorgestern abend?«

Unter anderen Umständen hätte sie gekichert über die altmodische Formulierung, aber in diesem Fall war Heiterkeit natürlich nicht angebracht. Besser war es zudem, nicht die Wahrheit zu sagen; sie hatte Christopher für eine späte Rache an ihrem Ehemann und damit als Therapie für ihre enttäuschte und gedemütigte Seele benutzt, und das durfte er keinesfalls wissen.

«Begehren«, sagte sie,»Sehnsucht nach Nähe und Wärme. Du mußt das doch kennen. Jeder hat schon mal aus allein diesen Gründen mit jemandem geschlafen.«

Er schüttelte den Kopf.»Ich nicht. Ich habe es immer nur aus Liebe getan. Und immer nur, weil ich eine Bindung und eine gemeinsame Zukunft wollte.«

Sie hob hilflos die Schultern.»Es tut mir sehr leid. Hätte ich gewußt, daß du so viel mehr darin siehst, hätte ich das nicht getan. Ich habe es einfach zu spät begriffen.«

Die mißgelaunte Kellnerin trat an ihren Tisch.

«Stimmt was nicht mit der Suppe? Sie essen ja gar nichts.«

Christopher schrak zusammen, so als habe er völlig vergessen, daß sich noch andere Menschen auf der Welt befanden. Er sah das Mädchen fassungslos an. Laura schob die Teller zur Seite.»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie,»wir haben nur zu spät festgestellt, daß wir keinen Hunger haben.«

Das Mädchen trug die Teller beleidigt in die Küche zurück.

Christopher strich seine Haare aus der Stirn. Der Haaransatz war klatschnaß.

«Du hast mein Leben zerstört«, murmelte er.»Meine Zukunft. Meine Hoffnung. Alles zerstört.«

Sie spürte Ärger in sich keimen. Zu keinem Moment war sie für sein Leben, seine Zukunft, seine Hoffnung verantwortlich gewesen. Sie hatte den Fehler gemacht, mit ihm zu schlafen, aber daraus konnte er keine Verpflichtung für sie ableiten, ihn zu heiraten.

Gott sei Dank, daß ich morgen abreisen kann, dachte sie, hütete sich jedoch, dies laut zu sagen.

Er sah sie sehr eindringlich an. Seine Augen schienen in die ihren eintauchen zu wollen.

Er ist schon wieder zu nah!

«Wäre es möglich«, fragte er, und er sprach dabei jedes einzelne Wort sehr sorgfältig und betont aus,»daß du es dir noch anders überlegst? Daß du jetzt verwirrt und überwältigt bist, und deshalb Dinge sagst, die… nun, die irgendwann ganz anders aussehen?«

Sie schüttelte den Kopf. Inzwischen wollte sie ihm nur noch entkommen. Sie wollte ihm nichts Verbindliches, Tröstendes mehr sagen, wollte ihm keine vage Hoffnung geben, um die Härte des Augenblickes zu mildern. Sie wollte weg, und am liebsten wollte sie ihn nie wiedersehen.

«Nein. Ich bin weder verwirrt noch überwältigt. Ich habe dir gesagt, was zu sagen ist. Es wird sich nichts ändern. «Sie schob ihren Stuhl ein Stück zurück, um anzudeuten, daß sie das Treffen als beendet ansah.

Sein Blick kam ihr jetzt sehr eigentümlich vor, ohne daß sie genau hätte sagen können, worin das Sonderbare bestand. Irgendwie schien er nicht einfach nur traurig, zerstört, enttäuscht. Fast meinte sie Mitleid in seinen Zügen zu entdecken — Mitleid mit ihr?

Und wenn schon. Wenn er meint, ich sei zu bedauern, weil ich die Ehre, seine hau zu werden, ausgeschlagen habe, dann soll er das ruhig denken. Meinetwegen kann er eine Kerze für mich anzünden. Hauptsache, ich bin heil aus diesem Schlamassel herausgekommen!

Sie kramte ihren Geldbeutel hervor, suchte ein paar Scheine zusammen und legte sie auf den Tisch. Sie stand auf. Christopher machte keine Anstalten, sich ebenfalls zu erheben, um ihr einen Abschiedskuß zu geben, und zum ersten Mal heute war sie ihm dankbar.

«Also, ich gehe dann. Leb wohl, Christopher. Ich wünsche dir alles Gute!«

Sein Blick veränderte sich nicht. Etwas darin verursachte ihr Gänsehaut.»Alles Gute, Laura«, sagte er.

Sie verließ das Restaurant mit schnellen Schritten, und erst draußen, als sie tief Luft holte, merkte sie, daß sie in den letzten Minuten nicht mehr richtig hatte atmen können. Daß sie es in Christophers Gegenwart nie gekonnt hatte.

Vorbei und vergessen, sagte sie sich.

Doch das Gefühl der Beklemmung wollte sich noch nicht verabschieden.

26

Cathérine legte den Brief zur Seite, den sie gerade zum zehnten Mal an diesem Tag gelesen hatte. Er tat ihr gut, und wahrscheinlich griff sie deshalb immer wieder danach. Der Pfarrer des kleinen Dorfes, in das sie ziehen wollte, hatte ihr geantwortet. Sie hatte ihn früher oft bei ihrer Tante angetroffen, hatte mit ihm geredet und manchmal sogar Spaziergänge unternommen. Der einzige Mensch, vor dem sie sich nicht ihrer schlechten Haut und ihrer unförmigen Figur wegen schämte. Er war damals ein Mann in den mittleren Jahren gewesen, inzwischen mußte er ein älterer Herr sein. Zum Glück war er noch immer der Pfarrer des Dorfes, und er hatte sich auch sofort an sie erinnert, als er ihren Brief erhielt. So schrieb er jedenfalls.

Sie hatte ihn gefragt, ob er ihr helfen könne, eine Unterkunft zu finden, hatte auch angedeutet, über ein wenig Geld aus dem Verkauf ihrer Wohnung zu verfügen. Viel bekam sie für die heruntergewohnte Bude natürlich nicht, aber zumindest stand sie nicht mittellos da. Vielleicht würde sie irgendwo auch eine Arbeit finden, denn es täte ihr auf keinen Fall gut, den ganzen Tag nur daheim zu sitzen.

Der Pfarrer schrieb, daß es ein leerstehendes Häuschen im Dorf gebe,»ganz nah bei dem ehemaligen Haus Ihrer Tante«. Die Besitzerin sei in ein Altenheim umgezogen und wolle vermieten, und er werde gern ein gutes Wort für sie, Catherine, einlegen. Zum Schluß fügte er noch hinzu:»Ich denke, es ist ein guter Entschluß von Ihnen, hierherzukommen. Ich hatte immer den Eindruck, daß Sie für unsere Gegend ein gewisses Heimatgefühl empfinden, vielleicht mehr für die Küste, an der Sie leben. Sicher folgen Sie einer inneren Stimme, und aus meiner Lebenserfahrung weiß ich, daß man durchaus auf das hören sollte, was das Herz rät. Wir freuen uns jedenfalls auf Sie!«

Der letzte Satz trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Sie las ihn wieder und wieder und spürte zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ein Stück Hoffnung darauf, daß das Leben auch für sie noch ein kleines Maß an Glück oder wenigstens Zufriedenheit bereithalten könnte.

Sie hatte vorgehabt, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, und sie war, unterstützt durch den Brief des Pfarrers, auch überzeugt gewesen, daß ihr das gelingen würde.

Aber nun, da der Nachmittag anbrach — es war fast drei Uhr, wurde sie unruhig. Es fehlte ihr etwas — etwas, das offenbar schon sehr viel mehr zu einem Bestandteil ihres Lebens geworden war als sie hatte wahrhaben wollen. Es war fast wie ein Zwang.

Sie lief in der Wohnung hin und her, las immer wieder den Brief des Pfarrers und versuchte, sich in ihre neue Zukunft hineinzutragen. Es gelang ihr immer schlechter, und irgendwann gab sie den aussichtslosen Kampf auf. Schließlich würde sie nicht mehr lange hier sein, und in den wenigen verbleibenden Wochen konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Insgesamt hatten all diese Dinge keine Auswirkung mehr auf ihr weiteres Leben.

Sie nahm ihre Tasche und ihren Autoschlüssel und verließ das Haus.

27

Ihm war heiß, und zugleich fror er. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi. Sein verletzter Fuß tat weh, und sein Kopf schmerzte, und manchmal meinte er, Stimmen zu hören. Als stehe jemand hinter ihm und spreche ihn an, aber jedesmal, wenn er herumfuhr, war niemand da. Irgendwann begriff er, daß die Stimmen nur in seinem Gehirn existierten, aber es gelang ihm nicht, zu verstehen, was sie sagten.

Nach dem Mittagessen — nachdem sie ihn hingerichtet und zerstückelt und mit Füßen getreten hatte, die gottverdammte Hure — war er sehr ruhig nach Hause gefahren und hatte sich vergewissert, daß die obere Kellertür noch immer verschlossen war, denn da gab es ja noch die Kreatur, die sich dort unten verbarrikadiert hielt. Zum Glück hatte der Keller nirgendwo Fenster, sie konnte also nur hier oben heraus, und da hatte er den Schlüssel dreimal herumgedreht. Das wirklich Ärgerliche war, daß er nicht mehr ohne weiteres in seinen Keller konnte, denn er mußte damit rechnen, daß sie, mit einer Metallstange oder etwas Ähnlichem bewaffnet, hinter einer Ecke auf ihn lauerte. Sie konnte dort unten jetzt Nahrung und Wasser finden; neben dem Raum mit den Einmachgläsern, in dem sie gesteckt hatte, gab es einen richtigen Vorratsraum mit Nudelpaketen und Fertigsoßen — denn davon ernährte er sich hauptsächlich — und einer Tiefkühltruhe. Zum größten Teil nützten ihr die Dinge allerdings nichts, weil sie sie nicht backen, kochen oder grillen konnte, aber sie würde auch Kästen mit Mineralwasser und Cola vorfinden. Nicht zu vergessen seinen Weinkeller. Wahrscheinlich ließ es sich die Schlampe richtig gut gehen. Falls sie sich aus ihrem Versteck herauswagte.

Er hatte nach unten gelauscht, jedoch keinen Laut vernommen. Er mußte das Problem natürlich lösen, und wenn er Giftgas in den Keller pumpte, aber er würde sich ein wenig später damit beschäftigen. Es gab Vordringlicheres.

Die Angelegenheit belastete ihn enorm, und anderthalb Stunden verbrachte er nur damit, in seinem Haus herumzulaufen, die Treppen hinauf und hinunter, in alle Räume, außer in den Keller. In seinem Fuß pochte der Schmerz immer heftiger, aber in seiner Erregung empfand er ihn als etwas, das nicht wirklich zu ihm gehörte. In den ehemaligen Kinderzimmern, in denen er nie etwas verändert hatte seit jenem furchtbaren Tag, schossen ihm die Tränen in die Augen. Wieviel Leben, wieviel Wärme hätte die kleine Sophie hier wieder hereingetragen. Welch eine wunderbare Kindheit hätte er ihr bereitet! Eines Tages konnte sie sich bei ihrer Mutter dafür bedanken, vaterlos und ohne Familie aufgewachsen zu sein. Er blieb stehen, weil ihm einfiel, daß sie sich bei ihrer Mutter vermutlich für gar nichts mehr würde Bedanken können, und wieder überkam ihn die Verzweiflung, weil ihn selbst graute vor dem, was er würde tun müssen, und weil er doch wußte, daß es keinen anderen Ausweg gab. Sie selbst hatte ihm keinen gelassen.

Irgendwann fand er sich tränenüberströmt auf dem Rand seiner Badewanne im ersten Stock wieder, immer der gleiche Kampf, immer wieder dieses Ringen, dieses Suchen nach einer anderen Lösung, und immer wieder das scheitern, weil er am Ende kapitulierte und tat, was er tun mußte. Gegen vier Uhr hatte er es nicht mehr ausgehalten, hatte noch einmal die Kellertür überprüft — wenn sie nur endlich krepierte dort unten! — und war mit dem Auto zum Quartier Colette hinübergefahren, hatte den Wagen am Fuß des Weges stehen gelassen, der zu ihrem Haus hinaufführte, und war bis zur letzten Biegung gelaufen. Von dort konnte er das Haus sehen, und er merkte, wie er sich förmlich festsaugte daran, wie tief ihn der Gedanke an die Frau erfüllte, die dort jetzt im Wohnzimmer am Kamin saß oder die Küche aufräumte oder vielleicht auf dem Bett lag und über ihr Leben nachdachte. Er empfand Liebe für sie, aber auch Verachtung, denn sie war nicht besser als alle anderen, und aus Erfahrung wußte er, daß die Verachtung langsam, Stunde um Stunde, in Haß umschlagen würde, und daß der Haß irgendwann unerbittlich und durch nichts mehr zu besänftigen sein würde. Ende der Woche. Fast war er sicher, daß es an Ende dieser Woche geschehen würde.

Damit begannen dann das Frieren und die Kopfschmerzen, und seine Beine wurden weich, die Stimmen sprachen mit ihm, und er wußte, daß er wieder an jenem Punkt angelangt war, an dem er sein Leben als Scherbenhaufen empfand und keine Hoffnung sah.

Wie seltsam, dachte er, daß es immer wieder mir passiert, als ob ein unausweichliches, sehr düsteres Schicksal über mir liegt. Er versuchte herauszufinden, ob die Stimmen etwas dazu sagten, ob sie eine Antwort gaben, aber noch immer konnte er sie nicht verstehen.

Wenige Minuten nach halb fünf bewegte er sich näher auf das Haus zu, schleppend jetzt, weil die Schmerzen in seinem Fuß explodierten. Es hatte zu regnen aufgehört, aber es ging kein Wind, und so konnte die dichte Wolkendecke nicht aufreißen.

Der schöne Spätsommer war endgültig vorüber.

Wie traurig, dachte er, und wie passend.

Erst als er nur noch hundert Meter vom Haus entfernt war, entdeckte er den Wagen, der direkt vor dem großen Einfahrtstor parkte. Von seinem ersten Standort aus war er nicht zu sehen gewesen. Ein Auto mit französischem Kennzeichen. Er runzelte die Stirn.Gab es einen anderen Mann in ihrem Leben?

Bevor dieser Gedanke wirklich von ihm Besitz ergreifen konnte, verließ ein Mann das Grundstück und stieg in das Auto. Der kurze Blick auf ihn hatte genügt, Christopher zu beruhigen — zumindest was die Möglichkeit eines zweiten Liebhabers in Lauras Leben anging. Er kannte den Makler Alphonse, jedenfalls vom Sehen, war oft an dessen Büro vorbeigekommen. Er konnte jedoch ziemlich sicher annehmen, daß er umgekehrt Monsieur Alphonse nicht bekannt war.

Als das Auto den Weg entlangkam, hielt er es an. Monsieur Alphonse kurbelte die Scheibe hinunter.»Ja, bitte?«

Christopher bemühte sich, freundlich zu lächeln. Er hoffte, daß der andere nicht merkte, wie sehr er schwitzte.»Sie haben doch das Maklerbüro unten in St. Cyr?«

«Ja.«

«Ich sah Sie gerade aus dem Haus dort kommen und dachte, fragen kostet ja nichts… Da wird nicht zufällig etwas verkauft? Ich bin nämlich auf der Suche nach einem geeigneten Objekt…«

Monsieur Alphonse zuckte mit den Schultern.»Die Dame wollte erst einmal den Marktwert wissen. Sie hat wohl noch ein paar Dinge abzuwickeln und wird dann über den Verkauf entscheiden. Im Fall eines Verkaufs wird sie mich beauftragen. Sie können mich ja…«, er kramte eine Visitenkarte hervor und reichte sie Christopher,»… Sie können mich ja nächste Woche noch mal anrufen, dann weiß ich vielleicht mehr.«

Christopher nahm die Karte, Seine Hände zitterten stark.»Sie meinen, nächste Woche könnte sich schon etwas entschieden haben?«

Sie spricht schon mit Maklern. Sie will hier wirklich die Zelte abbrechen.

«Keine Ahnung. Die Dame fährt jedenfalls schon morgen nach Deutschland zurück — sie ist nämlich Deutsche, wissen Sie, und das hier ist nur das Ferienhaus. Na ja, jedenfalls gibt’s da wohl irgendwelche Probleme, und wie lange sie damit zu tun hat, weiß ich nicht.«

Christopher trat zur Seite, und der Wagen des Maklers fuhr langsam den Berg hinunter. Ob Monsieur Alphonse sich noch verabschiedet hatte, hatte Christopher nicht mitbekommen. Er stand wie erstarrt, und das Kärtchen, das er soeben erhalten hatte, flatterte langsam zu Boden.

Morgen. Sie würde morgen abreisen.

Sie hatte ihm kein Wort davon gesagt. Sie befand ihn nicht einmal für wert, solche Informationen mitgeteilt zu bekommen. Klammheimlich hatte sie sich aus dem Staub machen wollen, hatte ihn abschütteln wollen wie ein lästiges Insekt.

Aber nun war er ihr einen Schritt voraus. Er kannte ihre Pläne, während sie nicht wußte, daß er sie kannte. Kein Gedanke mehr an das Ende der Woche. Ihm blieb nur der heutige Abend.

28

Es war kurz nach halb neun, wobei Monique nicht sicher wußte, ob es Abend oder Morgen war. Wenn sie jedoch davon ausging, daß der Mann, der sie gefangenhielt, tagsüber zu ihr gekommen war, anstatt mitten in der Nacht herumzugeistern, mußte es nach ihrer Berechnung Abend sein. Aber im Grunde war alles möglich, und ohnehin hätte die eine wie die andere Variante das tödliche Risiko kaum vermindert. Sie hatte nichts als die vage Hoffnung, daß er um diese — angenommene — Tageszeit möglicherweise ausgegangen war. Offenbar lebte er ja allein, und alleinlebende Männer gingen häufig am Abend zum Essen weg. Oder in eine Kneipe.

Oder sie sitzen vor dem Fernseher, dachte sie und wußte, daß sie sich auf einem hauchfeinen Grat bewegte. Rechts und links lauerte der Tod.

Als sie die Tür zu ihrem Versteck aufschloß und in den Gang trat, rechnete sie jede Sekunde damit, gepackt und niedergeschlagen zu werden. Oder ein Messer in den Bauch zu bekommen. Oder ihm einfach nur gegenüberzustehen und in sein wahnsinniges Gesicht zu blicken. Denn er war verrückt. In seinen Augen hatte sie gesehen, daß er krank war.

Doch sie hatte keine Wahl, als wenigstens den Versuch zu wagen. Er konnte abwarten, bis sie da unten verschimmelte. Er saß am längeren Hebel.

Sie hoffte, ein Kellerfenster zu entdecken, das sich öffnen ließ. Vielleicht gelang es ihr, durch einen Lichtschacht nach draußen zu entkommen. Intensiv dachte sie an das Häuschen auf dem Land, an den Garten mit dem Pfirsichbaum. An Katzen und Hühner. An all das, weswegen sie um jeden Preis weiterleben wollte.

Der Gang lag dunkel und bedrohlich vor ihr. Sie wagte nicht, das Licht einzuschalten, vielleicht hätte er das bemerkt, wenn er im Haus war. Sie ließ nur die Tür zu ihrem Versteck ein Stück weit offen stehen, so daß ein Schimmer von dort in den Gang fiel und sie wenigstens schattenhaft ihren Weg erahnen konnte.

Der Keller war riesig und verwinkelt, und er verfügte über nicht ein einziges Fenster, wie sie nach einer halben Ewigkeit deprimiert feststellte. Sie hatte in jeden Raum geschaut, einige Male sogar für Sekunden das Licht eingeschaltet, um sicherzugehen, aber außer geschlossenen Steinmauern hatte sie nichts entdecken können. Es gab keine Fenster in diesem Keller, keine Schächte. Sie hatte einen gut gefüllten Vorratsraum entdeckt und einige Kisten mit Getränken, wofür sie in den Tagen zuvor Gott auf Knien gedankt hätte, aber jetzt nahm sie nur rasch ein paar Schlucke aus einer Wasserflasche. Sie war zu nervös, um sich länger aufzuhalten. Jeden Moment konnte er hinter ihr auftauchen.

Das ist eine Situation, in die ein Mensch nicht geraten sollte, dachte sie.

Ihr blieb nur noch der Ausweg über die Kellertreppe. Garantiert hatte er die Tür oben verschlossen, aber die Frage war, ob es ihr gelang, sie aufzubrechen. Was nur mit erheblichem Lärm geschehen konnte und in seinen, ohnehin geringen Erfolgsaussichten, einzig davon abhing, daß der Täter nicht im Haus war. Was sie wiederum nicht herausfinden konnte.

Was soll ich nur tun? Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch länger hier unten sitze und warte. Ohne zu wissen, worauf eigentlich, denn meine Situation wird sich nicht ändern. Sie wird morgen nicht anders sein als heute, und nächste Woche auch nicht.

Sie setzte sich auf eine der Getränkekisten und fing an zu weinen.

29

Um zehn Minuten nach neun wußte Christopher, daß er nicht länger warten konnte. Eigentlich hatte er um halb elf oder um elf aufbrechen wollen, aber seine Unruhe war mit dem frühen Einbruch der Dunkelheit immer heftiger geworden, und nachdem draußen schwarze Nacht herrschte, konnte er sich kaum mehr zügeln. Eine eigentümliche Angst hatte ihn befallen: Wenn sie früher aufbrach, wenn sie die Nacht durchfahren wollte… dann konnte sie schon weg sein, und vielleicht wurde es allerhöchste Zeit für ihn.

Er hatte zwei Gläser Rotwein getrunken, um sich zu entspannen, aber es hatte nicht wirklich etwas genützt. Sein verletzter Fuß wurde zunehmend zu einem Problem. Er war geschwollen und pochte, und das Bein fühlte sich bis fast zum Knie hinauf heiß an. Natürlich konnte er darauf keine Rücksicht nehmen, nicht jetzt, in seiner Situation, aber er fürchtete, daß er in den nächsten Tagen dringend einen Arzt würde aufsuchen müssen und daß dieser ihm etwas Unangenehmes sagen würde.

Aber darüber muß ich später nachdenken, sagte er sich.

Er hatte nur einen Schuh angezogen, über den geschwollenen Fuß hatte er statt dessen mehrere Strümpfe übereinander gestreift. Unangenehm bei dem nassen Wetter draußen, aber es würde gehen, und es war letztlich auch nicht wichtig. Sein Leben war zerstört. Nasse Strümpfe hatten daneben keinerlei Bedeutung.

Er begutachtete seine Ausrüstung: eine Taschenlampe, ein Dietrich. An dem Abend, als er für Laura und sich gekocht hatte, war er in den Keller gegangen, während sie duschte, um Wein zu holen, und dabei hatte er die Tür, die nach draußen führte, überprüft. Hatte er da bereits geahnt, daß er wieder würde tun müssen, wovor ihm so graute? Er verbot sich sofort, darüber nachzudenken. Er hatte gleich erkannt, daß er die Tür mit Leichtigkeit würde aufbrechen können. Er hatte also nicht einen ihrer Schlüssel entwenden und nachmachen lassen müssen. Bei Camille, deren Haus gesichert gewesen war wie Fort Knox, war es so gewesen. Aber da hatte er auch mehr Zeit gehabt. Einen ganzen Sommer lang, um alles vorzubereiten. Bei Laura drängte die Zeit.

Das Seil, mit dem er die Tat ausführen würde, ausführen mußte, hatte er im Auto. Er war bereit, und wozu sollte er noch länger warten?

Er wollte gerade die Haustür öffnen und in den dunklen, verregneten Abend hinaustreten, da vernahm er ein Geräusch. Er konnte es nicht sofort einordnen, aber dann begriff er, daß es von der Kellertreppe herkam. Jemand kratzte vorsichtig an der Tür, fingerte an dem Schloß herum.

Die Kreatur! Die widerliche Kreatur, die er dort unten eingesperrt hatte, versuchte, an die Oberfläche zu gelangen. Die Person, die er gerade am wenigsten brauchen konnte. Die verantwortlich war für den rasenden Schmerz in seinem Fuß.

Ganz leise trat er an die Kellertür heran. So leise es jedenfalls ging mit dem schleifenden Fuß. Die Kreatur mußte direkt hinter der Tür stehen und wurde in ihrer Verzweiflung nun auch mutiger: Sie machte sich lauter und deutlicher an dem Schloß zu schaffen. Sie versuchte es aufzubrechen. Den Geräuschen nach zu schließen, benutzte sie nicht nur ihre Fingernägel. Sie hatte irgend etwas in der Hand, ein Stück Eisen, zumindest ein Stück Blech. Nicht schwierig, so etwas im Keller aufzutreiben. Er mußte vorsichtig sein.

Die Kellertür ging nach innen auf. Und der Absatz, auf dem man stehen konnte, ehe die Treppe begann, war sehr schmal. Die Treppe selbst war steil und uneben, aus groben Steinen gebaut.

Es gab kein Geländer. Er erinnerte sich, wie Carolin darüber immer gejammert hatte.

«Eines Tages stürzt sich dort jemand zu Tode«, hatte sie oft gesagt.

Er drehte den Schlüssel um und stieß die Tür kraftvoll auf, ehe er lange überlegen oder zögern konnte.

Er sah noch ihr entsetztes Gesicht. Ihre weit aufgerissenen Augen. Ihre Arme, die plötzlich wild ruderten und ins Leere griffen. Er hörte das Klirren, als ihr der Wagenheber aus den Händen fiel und die Treppe hinunterpolterte. Stufe um Stufe.

Er sah sie um ihr Gleichgewicht kämpfen und wußte, daß sie verloren hatte. Er hatte sie zu hart und zu unvorbereitet getroffen. Sie würde innerhalb von Sekunden dem Wagenheber in die Tiefe des Kellers folgen.

Er sah sie stürzen, sah sie sich überschlagen, hörte die dumpfen Laute, mit denen ihr Kopf auf die Steinstufen schlug. Er hörte sie schreien. Er wußte, daß sie sterben würde.

Das einzige, was er nicht wußte, war, daß sie in der Sekunde, ehe sie das Bewußtsein verlor, an einen Garten mit einem Pfirsichbaum dachte.

Aber das hätte ihn auch nicht im mindesten interessiert.

30

Nadine war überrascht, das Chez Nadine erneut geschlossen vorzufinden, als sie um zwanzig vor zehn am Abend dort eintraf. Sie hatte die Uhrzeit für passend befunden: Um diese Jahreszeit kamen eher Einheimische zum Essen, und diese aßen spät, meist erst ab neun Uhr. Zwischen neun und halb elf würde Henri unabkömmlich sein. Ein kurzes, klärendes Gespräch in der Küche — sie wollte ihn dabei nun auch definitiv um eine schnelle, einvernehmliche Scheidung bitten —, dann würde sie die letzten Sachen packen und verschwinden.

Soweit ihr Plan. Aber wie sie erkennen mußte, hatte er sich einer Aussprache wiederum entzogen. Nirgends im Haus brannte Licht, und auch sein Auto stand nicht auf dem Hinterhof. Er war fort, und das womöglich für längere Zeit.

Sie war frustriert, weil sie gehofft hatte, die Dinge endlich regeln zu können und sie damit vom Tisch zu haben, und sie fragte sich, ob er gezielt auf Zeitgewinn einarbeitete, und was er damit erreichen wollte. Und wo mochte er sich überhaupt aufhalten?

Bei Cousine Cathérine — trotz deren Trennungsabsichten?

Am Ende wird er gleichzeitig von den beiden Frauen in seinem Leben verlassen, dachte sie, während sie die Tür zum Lokal aufschloß und nach dem Lichtschalter tastete, aber so kommt es ja meistens.

Der vertraute Geruch nach Strohblumen, Holztischen und provenzalischen Gewürzen und Kräutern empfing sie. Trotz allem heimatliche Düfte, die ihr Leben von nun an nicht länger begleiten würden. Sie überlegte, ob sich ein Anflug von Wehmut in ihr Gemüt geschlichen hatte, schob diesen Gedanken aber rasch wieder beiseite. Wenn alles so gegangen wäre, wie es hätte gehen sollen, wäre sie schon lange fort, und zwischen ihr und dem Chez Nadine läge der ganze Atlantik.

Ihr Koffer stand noch dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Sie hatte von ihrer Mutter zwei Reisetaschen mitgebracht, in die sie noch einige Kleidungsstücke, Schuhe und persönliche Gegenstände packen würde.

Als sie die Treppe hinaufgehen wollte, entdeckte sie das weiße Kuvert, das an der zweiten Stufe lehnte. Es stand kein Name darauf, aber sie nahm an, daß es für sie gedacht war, und so zog sie den sauber gefalteten Briefbogen heraus. Sie erkannte sogleich Henris Schrift. In kurzen Worten teilte er ihr mit, daß das Ende für sie beide gekommen sei und daß er diese Entwicklung akzeptiere. Die Situation stelle sich für ihn als sehr belastend dar, und so werde er nun» zu der einzigen Frau fahren, die mich je geliebt und verstanden hat«. Sie, Nadine, möge das bitte respektieren.

Sie stutzte nur einen Moment, dann begriff sie, daß er natürlich seine Mutter meinte. Ein Mann wie Henri hatte keine Geliebte. Er ging zu seiner Mutter, und das bedeutete, er befand sich auf dem Weg nach Neapel oder war vielleicht schon dort angekommen. Er war weit weg und würde so schnell auch nicht wiederkommen.

Sie steckte den Brief in den Umschlag zurück, legte ihn auf die Treppe, setzte sich auf eine Stufe.

Sie fragte sich, was sie empfand. Seltsamerweise fühlte sie sich ein wenig allein. Peter tot, und Henri fort. Kraftlosigkeit lähmte sie.

Sie blieb auf der Treppe sitzen und starrte die gegenüberliegende Wand an.

31

Laura war schon um neun Uhr ins Bett gegangen, hatte noch eine halbe Stunde gelesen und dann sehr müde das Licht ausgeschaltet. Sie hatte vor, am nächsten Morgen um halb sechs aufzustehen, verderbliche Lebensmittel wegzuwerfen, das Haus abzuschließen und um halb sieben im Auto zu sitzen und die Heimfahrt anzutreten. Sie würde dann gegen vier Uhr am Nachmittag zu Hause ankommen. Zeit genug, Sophie bei ihrer Mutter abzuholen und noch ein wenig mit ihr zu spielen und dann den Abend über Anrufe abzuhören und die eingegangene Post zu sichten. Sie hatte viel zu tun, war aber voller Tatendrang. Es war besser, als noch länger sinnlos in Südfrankreich herumzusitzen.

So erschöpft sie gewesen war, es gelang ihr nicht, einzuschlafen, als sie im Dunkeln lag. So vieles ging ihr im Kopf herum. Da war die Vorfreude auf Sophie und daneben bedrängende Bilder aus ihrem Leben mit Peter. Gedanken an all die Lügen und Halbwahrheiten, die ihre letzten Jahre begleitet hatten und von denen sie nicht wußte, ob das schon alle gewesen waren. Worauf würde sie noch stoßen? Wie viele Abgründe mochten da noch lauern?

Und dann, wie würde ihr neues Leben aussehen? Würde es gutgehen, sie und Sophie bei Anne in der Wohnung? Anne und sie waren nicht mehr Anfang zwanzig. Jeder hatte ein völlig eigenes Leben geführt, jahrelang. Es war etwas anderes, ob man sich am Telefon nach wie vor gut verstand oder ob man unter einem Dach wohnte.

Es wäre in jedem Fall von Vorteil, schnell eigenes Geld zu verdienen, dachte sie, damit ich unabhängig bin und für mich und Sophie bald selbst eine Wohnung mieten kann.

Das Gespräch mit Monsieur Alphonse hatte ihr gut getan. Er meinte, daß sie umgerechnet an die neunhunderttausend Mark für Haus und Grundstück bekommen konnte. Eine Menge Geld, aber die Frage war, wie hoch Peter das Anwesen beliehen hatte. Und wie weit würde sie überhaupt in Anspruch genommen werden für seine Schulden? Sie hatten damals ohne Gütertrennungsvereinbarung geheiratet.

Als erstes, überlegte sie, brauche ich einen guten Anwalt Ganz langsam dämmerte sie ein. Der Gedanke an einen Anwalt beruhigte sie. Schluß mit den Spekulationen Endlich würde ihr jemand sagen können, wie ihre Situation aussah Sie konnte schlafen. Der Wecker war gestellt. Sie konnte ganz ruhig schlafen.

Das Geräusch — ein eigenartiges Knarren, das nicht zu den üblichen abendlichen Geräuschen des Hauses paßte — hätte sie beinahe in einen beginnenden Traum eingearbeitet Aber es wiederholte sich gleich darauf, um einiges lauter als zuvor und ließ sie im Bett hochschrecken. Sie starrte in die Dunkelheit und fragte sich, ob sie sich geirrt hatte. Um sie herum herrschte völlige Stille.

Da war nichts, sagte sie sich, aber der Schlaf war nun wie weggeblasen, und ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt. An den Armen hatte sie eine Gänsehaut bekommen. Sie war in höchster Alarmbereitschaft, und sie hoffte, daß dies auf Hysterie gründete und nicht auf einem stimmigen Instinkt.

Sie stand auf, verzichtete aber darauf, das Licht anzuschalten. Auf bloßen Füßen tappte sie hinaus auf die Galerie, von der aus man hinunter in das große Wohnzimmer blicken konnte. Der Raum lag still vor ihr. Sie hatte die Läden nicht geschlossen, und für Sekunden fiel ein blasses Mondlicht durch die Fenster herein. Hin und wieder riß der Wind Lücken in die Wolken, aber es regnete noch immer stark.

Der Bewegungsmelder im Garten war nicht angesprungen.

Irgend etwas regte sich in ihrem Gedächtnis… undeutlich nur… irgend etwas, das mit dem Bewegungsmelder zu tun hatte, doch sie kam nicht darauf, was es war.

«Unsinn«, sagte sie laut,»hier ist nichts. Ich habe geträumt.«

Aber sie wußte, daß sie nicht geträumt hatte.

Da sie sicher war, jetzt nicht einschlafen zu können, zögerte sie, ins Schlafzimmer zurückzukehren. Vielleicht würde es ihr gut tun, einen heißen Kakao zu trinken.

Sie knipste nun doch die kleine Stehlampe auf der Galerie an und wollte gerade die Treppe hinuntergehen, da hörte sie wieder etwas. Eine Art Knarren, das aber anders klang als das Geräusch, mit dem der Wind an den Fensterläden rüttelte. Das Haus hatte Laute, die sie gut kannte und sofort einzuordnen wußte, aber dieser gehörte nicht dazu.

Es hatte sich angehört, als sei jemand im Keller.

«Unsinn«, sagte sie noch einmal, jetzt aber fast flüsternd, während ihr Hals plötzlich ganz eng wurde und sie Schwierigkeiten hatte zu schlucken.

Der Kellertür, die sich seitlich am Haus befand, hatte sie nie getraut. Ein ziemlich wackliges Ding aus Holz mit einem einfachen Schloß. Sie hatte Peter ein paarmal darauf angesprochen, ihn gebeten, dort irgendeine Sicherheitsvorrichtung zu schaffen, aber es war dann immer wieder vergessen worden, und da sie mit Peter zusammen nicht wirklich Angst gehabt hatte, hatte sie nicht nachdrücklich gedrängt. Jetzt dachte sie, daß es niemandem schwerfallen konnte, durch diese Tür ins Haus zu gelangen. Man mußte, um dorthin zu kommen, nicht einmal die Lichtschranke passieren, die man sonst unweigerlich auslöste, wenn man sich der Haustür näherte. Und deshalb konnte es sein, daß sie sich keineswegs täuschte.

Jemand war im Keller.

Ihr nächster Gedanke war, sofort das Haus zu verlassen, aber sie wagte sich nicht die Treppe hinunter und durch das Wohnzimmer zur Tür, denn dort unten konnte der Fremde jede Sekunde vor ihr stehen. Wenn sie sich im Schlafzimmer verbarrikadierte, gewann sie Zeit, aber nicht für lange, denn wenn er die Kellertür aufgebrochen hatte, gelang ihm das auch mit der Schlafzimmertür. Und sie hatte dort drin kein Telefon, um Hilfe herbeizuholen.

Sie vernahm das eigenartige Geräusch aus dem Keller erneut und war jetzt sicher, daß die Holzstiegen knarrten, die von unten heraufführten.

Für ein paar Sekunden lahmte die Angst sie völlig. Sie konnte ihre Füße nicht bewegen, den Kopf nicht drehen, nicht schlucken und nicht atmen. Sie stand nur da und wartete auf das Verhängnis und dachte, daß sie sich in einem aberwitzigen Alptraum befand.

Dann plötzlich kam Leben in sie. Mit zwei Schritten war sie am Telefon, riß den Hörer hoch.

Die Polizei. Sie mußte die Polizei rufen. Wie, verdammt, lautete der Notruf der französischen Polizei?

In ihrem Kopf herrschte Leere, aber es konnte auch sein, daß sie die Nummer noch nie gewußt hatte. Wann hatten sie je die Polizei gebraucht? Wann hatten sie sich schon um solche Dinge gekümmert? Irgendwo hatte sie einen Zettel mit der Nummer von Kommissar Bertin, aber vermutlich lag der beim Telefon im Wohnzimmer oder steckte in ihrer Handtasche, von der sie nicht wußte, wo sie war.

Lieber Gott, hilf mir. Laß mich eine Nummer wissen.

Es gab eine einzige Nummer aus der Gegend, die sie auswendig kannte. Weil sie sie in besseren Zeiten so oft gewählt hatte.

Die Nummer des Chez Nadine.

Ihr blieb nichts anderes übrig. Ihre Finger zitterten, als sie die Zahlen tippte.

Wenn niemand zu Hause war, war sie verloren.

32

Nadine wußte nicht, wie lange sie auf der Treppe gesessen hatte. Es mochten Minuten gewesen sein, es konnte aber auch länger gedauert haben. Sie hatte vor sich hin gestarrt, und durch ihren Kopf waren Bilder gezogen; Erinnerungen aus den vergangenen Jahren, Erinnerungen an Henri, an ihr gemeinsames Leben in diesem Haus, an das Meer aus Tränen, das sie hier in diesen Räumen vergossen hatte. Mit einer sie seltsam anmutenden Teilnahmslosigkeit war sie den Bildern gefolgt, die eine Bilanz ihres bisherigen Lebens darstellten. Die Ruhe, mit der sie das Debakel betrachtete, stellte erstmals einen Schritt fort von der üblichen Selbstzerfleischung dar, mit der sie sich sonst peinigte. Vielleicht einen Schritt hin zu der Fähigkeit, das Geschehene ohne Beschönigung, aber auch ohne Selbsthaß zu akzeptieren,

Als das Telefon plötzlich schrillte, schrak sie zusammen und wäre fast auf die Füße gesprungen. Hatte der Apparat schon immer so laut geklingelt? Oder schien es nur so, weil es im Chez Nadine noch nie so still gewesen war wie an diesem späten Abend?

Sie hatte nicht vor, sich zu melden, denn sie empfand sich nicht mehr als zu diesem Haus gehörig, aber dann dachte sie, daß es wahrscheinlich Marie war, die sich Sorgen machte, weil ihre Tochter immer noch nicht zurückgekehrt war, und die sich noch mehr aufregen würde, wenn niemand ans Telefon kam, und so erhob sie sich schwerfällig und hob den Hörer ab.

«Ja?«fragte sie.

Von der anderen Seite kam ein Flüstern, das sie nicht verstand und von dem sie nicht ausmachen konnte, wem es gehörte. Im ersten Moment dachte sie, es sei Henri, betrunken und weinerlich, und fast hätte sie laut geflucht vor Ärger, weil sie sich gemeldet hatte. Aber dann vernahm sie in all dem Gestammel einen vollständigen Satz.

«Ich bin es. Laura.«

«Laura?«Der letzte Mensch, mit dem sie reden wollte, noch weniger als mit einem durchgeknallten Henri.»Laura, ich verstehe dich ganz schlecht.«

Sie wollte schon auflegen. Einfach auflegen und nicht mehr drangehen, wenn es wieder klingelte. Aber irgend etwas hielt sie zurück. Später dachte sie, daß sie Lauras Angst und Verzweiflung wohl gespürt hatte.

«Bitte hilf mir. «Sie wisperte nur.»Es ist jemand Haus.«

«In deinem Haus? Wer denn? Laura, kannst du nicht lauter sprechen? Hast du etwas getrunken?«

«Du mußt…«Das eigenartige Gespräch wurde mitten im Satz abgebrochen.

Nadine lauschte noch einen Moment lang in den Hörer, legte dann auf. War das wirklich Laura gewesen? Die Stimme hatte sie in diesem Flüsterton nicht erkennen können, aber ein deutscher Akzent war es auf jeden Fall gewesen. Sie schaute auf die Uhr: Es war zehn Minuten nach zehn. Weshalb rief Laura um diese Zeit bei ihr an? Und benahm sich so eigenartig? Warum redete sie nicht laut und deutlich?

Betrunken, dachte Nadine, sie war einfach betrunken.

Ob sie etwas weiß?

Wahrscheinlich wußte sie alles. Der Kommissar, der sie vernommen hatte, war vermutlich auch bei Laura gewesen. Vielleicht hatte Laura heute, an diesem Tag, erfahren, daß ihr Mann ein Verhältnis gehabt hatte, daß er dicht davor gewesen war, mit einer anderen Frau im Ausland ein neues Leben zu beginnen. Daß die Frau eine gute Bekannte, fast eine Freundin war.

So etwas mußte schrecklich weh tun.

Oder hatte sie es vorher schon gewußt?

Zum erstenmal stellte sich Nadine diese Frage. Peter hatte immer behauptet, Laura habe keine Ahnung, aber es war tatsächlich eher selten, daß eine Ehefrau über den Zeitraum von vier Jahren hinweg nicht mitbekam, daß ihr Mann fremdging. Obwohl die räumliche Distanz zwischen ihr, Nadine, und Peter wiederum zu groß gewesen war, um häufige Treffen zu erlauben. Über Monate war Peter abends pünktlich vom Büro nach Hause gekommen. Der klassische Fremdgeher mit Überstunden und ständigen Geschäftsessen war er nie gewesen.

Wenn sie’s nicht wußte, dann weiß sie es jetzt, dachte Nadine, und dann hat sie sich wahrscheinlich komplett vollaufen lassen, und das letzte, was sie geschafft hat, war, meine Nummer zu wählen. Kein Wunder, daß ich ihr im Kopf herumgehe.

Sie zündete sich eine Zigarette an und setzte sich wieder auf die Treppe.

33

Erst um Viertel nach zehn konnte Pauline das Hotel verlassen. Es hatte Ärger gegeben; in der Wäschekammer fehlte eine beträchtliche Anzahl an Handtüchern, und die Chefin selbst hatte sich der Sache angenommen. Die Zimmermädchen wurden angewiesen, strikt darauf zu achten, daß sie immer dieselbe Anzahl an Handtüchern aus den Zimmern herausholten, die sie zuvor hineingelegt hatten. Pauline hatte wie auf glühenden Kohlen gesessen. Stephane wartete draußen im Regen und war vermutlich miserabler Laune; mit jeder Minute, die verging, durchweichte er mehr, und am Ende würde sich noch herausstellen, daß alles ohnehin nur Einbildung ihrerseits gewesen war. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er die halbe Nacht auf ihr herumhacken würde. Das hatte er früher auch schon getan, wenn ihm etwas nicht paßte, wenn sie das Essen nicht zu seiner Zufriedenheit gekocht oder den Wein abends nicht kalt genug serviert hatte, aber es hatte ihr nicht allzuviel ausgemacht. Sie hatte abgeschaltet, und irgendwann war er auch wieder still gewesen. Neuerdings hingegen hatte sie das Gefühl, in Tränen ausbrechen zu müssen, wenn er sie nur schief ansah. Es war erstaunlich, was in relativ kurzer Zeit aus ihren Nerven geworden war. Kaum hatte sie das Berard endlich verlassen, begann sie natürlich schon wieder daran zu zweifeln, daß Stephane wirklich da war. Die ganze Zeit über hatte sie sich ausgemalt, wie er im Regen stand und sie mit jeder Sekunde mehr haßte, und nun plötzlich war sie überzeugt, daß er gar nicht erst erschienen war. Sie kannte ihn, er war außerordentlich bequem, und sein Feierabend mit einer Flasche Wein vor dem Fernseher war ihm heilig. Weshalb sollte er sich in einer kalten Oktobernacht in den Regen stellen und den Hirngespinsten seiner Frau nachforschen?

Es war kein Mensch zu sehen auf der Straße, es regnete dünn und gleichmäßig. Der Wind frischte langsam auf; im Lauf der Nacht würde es wohl noch richtig stürmisch werden. Der schwarze Asphalt glänzte vor Nässe. Pauline spannte ihren Schirm auf. Sie brauchte zehn Minuten für den Heimweg. Er führte durch schmale Gassen, vorbei an Toreinfahrten und Mauervorsprüngen. Tausend Möglichkeiten für den Täter, sich zu verstecken und ihr aufzulauern. Sie merkte, wie eine Gänsehaut ihren Körper überzog und sich ein eigenartiges Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Vielleicht hatte sie nur noch wenige Minuten zu leben.

Am liebsten hätte sie laut nach Stephane gerufen. Ihn gebeten, sich zu zeigen, neben ihr herzugehen. Ihr zu zeigen, daß er wirklich da war.

Aber sie traute sich nicht. Denn wenn er da war, wenn er hier irgendwo stand und wartete und fror, dann würde er außer sich sein vor Wut, wenn sie alles verdarb. Wenn sie seinen Plan umwarf. Er würde sich kein zweites Mal bereit erklären, ihr zu helfen.

Sie ging los. Ihre Absätze klackten auf der Straße. Darüber hinaus konnte sie nichts hören, nur die Geräusche des Regens natürlich, das Rauschen und Gluckern. Er bot eine wunderbare Gelegenheit, sich unbemerkt anzuschleichen. Sie hätte es nicht bemerkt. Nicht ehe sich eine Hand um ihren Hals…

Sie beschleunigte ihren Schritt. Stephane würde fluchen, aber ihre Nerven waren jetzt dicht vor dem Zerreißen. Am liebsten wäre sie gerannt. Wenn sie zu Hause war — falls sie je dort ankam —, würde sie sich übergeben, das spürte sie bereits. Ihr Magen benahm sich wie auf einer Achterbahn.

Die letzten Meter rannte sie tatsächlich. Sie stieß das Tor auf, lief den Gartenweg entlang, kramte zugleich hektisch in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie sah, wie die Haustür aufgerissen wurde, eine Gestalt, die sie im Gegenlicht nur als Schatten erkennen konnte, herauskam und um das Haus herum im Garten verschwand. Sie begriff nicht, was sich abspielte, und wußte nur, daß sie es nicht mehr bis zur Toilette schaffen würde.

Die Handtasche entglitt ihr und fiel auf den nassen Weg. Sie beugte sich zur Seite und erbrach sich in die Oleanderbüsche. Wieder und wieder.

Kotzte ihre Angst heraus, ihre Frustration und die Trostlosigkeit ihres Daseins. Sank auf die Knie und machte weiter und empfand ein eigenartiges Gefühl von Erleichterung.»Ich kann das nicht glauben!«sagte Stephane.»Wenn ich jeden hier erwartet hätte — dich ganz bestimmt nicht!«

Pauline, die mit weichen Knien den Gartenweg entlangschlich, bot sich ein seltsames Bild: Stephane, der aus dem hinteren Teil des Gartens auftauchte und eine riesige, nasse Gestalt halb hinter sich herschleifte, halb vor sich herschob, die sich, als sie beide in den Lichtkegel des aus der geöffneten Haustür fallenden Scheins traten, als eine dicke Frau im dunklen Regencape entpuppte. Die Kapuze, die sie tief in die Stirn gezogen hatte, rutschte soeben vom Kopf. Die Frau hatte wirres Haar und ein bleiches, von häßlichen Narben entstelltes Gesicht. Sie wirkte zu Tode erschrocken.

«Stephane«, fragte Pauline,»was ist passiert?«

«Das wüßte ich auch gern«, antwortete Stephane grimmig. Er trug die graue Strickjacke, in die er sich an kühlen Abenden hüllte, und seine Filzpantoffeln. Pauline versuchte diese Fakten in ihrem Kopf einzuordnen. Er war doch hinter ihr gewesen? Er war doch nicht in Pantoffeln losgegangen?

«Und zwar«, fuhr er fort,»wüßte ich das gerne von dir!«

Er stieß die große, dicke Frau an.»Was, zum Teufel, hattest du hier in unserem Garten zu suchen?«

Die Frau antwortete nicht. Sie hob nur die Hand und bemühte sich vergeblich, ihre struppigen Haare zu glätten.

«Ich schätze, das hier ist dein Killer«, sagte Stephane zu Pauline gewandt,»Cathérine Michaud. Oder heißt du anders jetzt? Du hattest doch geheiratet?«

Zum erstenmal öffnete die Frau den Mund.»Nein. Ich habe nicht geheiratet.«

«Aber du sagtest doch…«

Sie schüttelte den Kopf.

«Wer ist sie?«fragte Pauline.

«Eine alte Bekannte«, sagte Stephane.»Hatte sich mal eingebildet, ich würde sie heiraten. Und inzwischen ist sie offenbar durchgeknallt. Oder hast du«, er sah jetzt wieder Cathérine an,»eine richtig gute Erklärung für diesen Auftritt hier?«

«Hast du vor Berard gewartet, Stephane?«fragte Pauline. Ihr Kopf schmerzte, und im Mund hatte sie einen schlechten Geschmack.

«Natürlich nicht«, sagte Stephane empört,»glaubst du, ich stelle mich bei diesem Wetter vor ein Hotel und hole mir eine Lungenentzündung?«

«Und wenn ich wirklich dem Mörder begegnet wäre?«Sie fühlte sich sehr einsam. Sehr kalt. Sehr leer.

«Den Mörder siehst du doch hier! Ich habe plötzlich einen Schatten am Fenster bemerkt, bin hinausgestürzt und habe sie gerade noch erwischt. Sie wollte schon hinten durch den Garten über die Mauer. Was bei ihrer Leibesfülle natürlich nicht ganz einfach ist. Immerhin wissen wir jetzt, daß du nicht an Wahnvorstellungen gelitten hast, Pauline. Es ist wirklich jemand ums Haus herumgeschlichen. Denn das war ja heute nicht das erste Mal, nicht wahr, Cathérine?«

Pauline sah Cathérine an.»Sind Sie mir heute gefolgt?«

«Nein. Ich habe hier gewartet. Auf der Terrasse.«

«Ich hätte gute Lust, dich zur Polizei zu schleppen, Cathérine«, dröhnte Stephane.»Was, um alles in der Welt, sollte das denn?«

Cathérine wandte langsam den Kopf zu ihm hin. Pauline fand, daß sie tragisch aussah, zerstört, besiegt.»Ich wollte einfach nur wissen, wie ihr lebt.«

«Wie wir leben?«

«Ich hätte sie sein können«, sagte Cathérine mit einem Blick auf Pauline,»und ich versuchte, ein Stück mit euch zu leben. Ich kam jeden Tag hierher. «Sie senkte den Kopf.»Ich wollte niemandem etwas antun.«

«Sie ist tatsächlich durchgeknallt!«sagte Stephane.»Du wolltest niemandem etwas antun? Weißt du, was du mit Pauline gemacht hast? Sie dachte schon, dieser Verrückte ist hinter ihr her, der Leute erdrosselt. Sie hat keine Nacht mehr geschlafen, sie war ein Nervenbündel, wir hatten nichts als Streit… und das alles nur wegen einer Verrückten, die selber keinen Kerl abgekriegt hat und deshalb meint, es bringt ihr etwas, wenn sie bei anderen Menschen durchs Fenster späht und sich vorstellt, sie würde dazugehören! O Gott, Cathérine, ich mache ja heute noch drei Kreuze, daß ich damals so schnell das Weite gesucht habe!«

«Es tut mir leid«, sagte Cathérine zu Pauline,»ich wollte Sie nicht ängstigen. Es ist nur so, daß ich… ich habe einfach niemanden.«

«Und das ist ja wohl kein Wunder«, höhnte Stephane,»schau dich doch nur an!«Er schüttelte sich vor Abscheu. Pauline fand, daß er sehr selbstgerecht aussah mit seinem dicken Bauch und dem empörten Gesichtsausdruck.»Du warst schon damals häßlich wie die Nacht, aber es ist dir tatsächlich gelungen, das noch zu steigern. Du bist ein Monstrum, und du solltest dich endlich damit abfinden. Mir zu erzählen, du seist verheiratet! Und ich Trottel glaube das auch noch! Einen solchen Notstand kann überhaupt kein Mann haben, daß er sich mit dir einließe!«

Pauline sah, daß die Nerven in den Schläfen der Frau zu pochen begannen. Sie hatte noch nie ausgeprägt über die Fähigkeit verfügt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, aber in dem Moment stellte sie sich vor, was in dieser Catherine vorgehen mußte, wenn sie solche Worte hörte, und sie konnte nicht anders, als Mitleid mit ihr zu empfinden. Zumal es bestimmt nicht das erste Mal war; es mochte nicht in der gleichen Direktheit und Derbheit geschehen sein, aber ganz sicher hatte sie ihr Leben lang höhnische oder herablassende Blicke und taktlose, demütigende Bemerkungen ertragen müssen. Wie lebenswert mochte sie ein solches Dasein empfinden?

Wie verzweifelt mußte man sein, um zu tun, was sie getan hatte: wochenlang in einem fremden Garten kauern, durch ein fremdes Fenster spähen, sich zum unsichtbaren Beobachter eines fremden Lebens zu machen, um ein eigenes ungelebtes Leben zu kompensieren? Und wer war die Frau, mit der sie die Identifikation gesucht hatte? Die Frau, deren Handtasche auf dem Gartenweg lag, wo sie sie hatte fallen lassen, um sich in den Oleander hinein zu übergeben, weil die Angst sie aufgefressen hatte in den letzten Wochen. Die Frau, die von ihrem eigenen Mann ständig im Stich gelassen wurde, sogar am heutigen Abend, entgegen seinem festen Versprechen.

«Darf ich gehen?«fragte Cathérine mit dünner Stimme. Sie war gebrochen, gedemütigt und hoffnungslos.

«Geh«, sagte Stephane,»geh zum Teufel und laß dich nie wieder in unserer Nähe blicken! Hast du verstanden? Beim nächsten Mal lasse ich dich einsperren. «Er brüllte plötzlich:»Nun hau schon ab!«

Sie warf Pauline noch einen kurzen Blick zu und hastete den nassen Gartenweg entlang. Sie hörten, wie das Tor ins Schloß fiel.

«Daß mir die noch mal in die Quere kommt!«sagte Stephane.»Ich sag’s ja immer: Für jeden Fehler im Leben zahlst du irgendwann. Ich war damals viel zu gutmütig. Ich hätte sie nach unserem ersten Abend schon stehen lassen sollen!«Er hob fröstelnd die Schultern.»Was soll’s. Letztlich kann sie einem einfach nur leid tun.«

Das Gefühl der Kälte und Leere war schlimmer geworden und drohte Pauline zu überwältigen.

Warum hatte er nicht bei Berard gewartet? Warum nur hatte er das nicht getan!

Sie sah in die Nacht, in der Cathérine verschwunden war.

«Warum sie?«fragte sie» Warum kann sie einem leid tun? Sie ist dir schließlich entkommen.«

Sie lief an ihm vorbei ins Haus.

34

Nadine hatte um genau halb elf das Chez Nadine verlassen, sorgfältig die Tür hinter sich abgesperrt und sich gefragt, weshalb sie sich dort solange aufgehalten hatte. Vielleicht war es wirklich ein Abschiednehmen gewesen, und dann konnte sie sich jetzt sage», sie hatte es gründlich zelebriert. Vorbei. Aus. Sie würde nie mehr zurückkommen. Sie hatte sogar Henris Brief liegengelassen. Sie mochte nichts von ihm mit hinübernehmen in ihr neues Leben.

Ihr neues Leben. Wenn sie doch nur wenigstens die allerkleinste Vorstellung hätte, wie es aussehen sollte.

Als sie die dunkle Landstraße entlangfuhr, fiel ihr wieder Lauras Anruf ein. Irgend etwas daran ließ sie einfach nicht los. Was sollte der Satz: Es ist jemand im Haus? War sie so betrunken, daß sie Geräusche, Schritte, Stimmen hörte? Manche sahen weiße Mäuse. Laura vielleicht glaubte sich einer Horde Einbrecher gegenüber.

Nicht einer Horde. Es ist jemand im Hans. Sie hatte nicht so geklungen, als übertreibe sie hemmungslos.

Nadine wußte, daß sie nicht die mindeste Lust hatte, sich ausgerechnet um Laura zu kümmern. Laura hatte sie immer strapaziert. Sie hatte sie gehaßt, weil sie zwischen ihr und Peter stand, aber sie hatte Freundschaft heucheln müssen, um nicht verdächtig zu erscheinen. Es war anstrengend und ermüdend gewesen. Sie wollte Laura in ihrem ganzen Leben nicht wiedersehen.

Sie umrundete den großen Kreisverkehr in St. Cyr, schlug die Richtung nach La Cadiére ein. Es regnete beharrlich, sie ließ die Scheibenwischer in rascherem Tempo über die Windschutzscheibe gleiten. Wenn sie Lauras Anruf ignorierte, würde sie die ganze Nacht ein dummes Gefühl haben, aber wenn sie zu ihr hinfuhr, hatte sie wahrscheinlich eine betrunkene, heulende, zeternde Frau am Hals, die von ihr wissen wollte, wieso sie vier Jahre lang mit ihrem Mann geschlafen und am Ende eine Flucht mit ihm ins Ausland geplant hatte. Denn natürlich würde sie ihr die Schuld geben. Ehefrauen redeten sich in Fällen wie diesem gern ein, daß der treulose Gatte in Wahrheit nur das hilflose Opfer einer raffinierten Verführerin gewesen war.

«Verdammt«, sagte sie und schlug mit der Faust auf das Lenkrad,»noch jetzt macht sie mir Scherereien. Sie wird nie aufhören, ärgerlich und lästig für mich zu sein!«

Sie war kurz vor La Cadiére angelangt. Sie konnte jetzt geradeaus weiterfahren, den Rand des Ortes streifen und auf der anderen Seite die Autobahnbrücke überqueren, um auf die Straße nach Le Beausset zu gelangen. Das war der Weg, den sie seit Jahren immer nahm, denn die Alternative, an dieser Stelle links abzubiegen, die Autobahn bereits hier zu überqueren und auf der anderen Seite weiterzufahren, brachte sie allzu nah an das Quartier Colette und damit an Peters Haus heran. Seit sie mit ihm eine Beziehung unterhalten hatte, hatte sie diese Strecke gemieden, und jetzt, nach seinem Tod, mochte sie die Gegend noch weniger.

Also geradeaus.

In letzter Sekunde riß sie das Steuer herum, und da sie kurz zuvor noch Gas gegeben hatte, nahm sie die Kurve viel zu schnell. Fast wäre sie auf der nassen Fahrbahn geschleudert und gegen die Leitplanke geknallt. Ein Auto, das ihr von La Cadiére entgegenkam und dessen Fahrer überraschend mit der Tatsache konfrontiert wurde, daß sie nicht geradeaus, sondern nach links fuhr, konnte gerade noch mit quietschenden Reifen bremsen.

Nadine bekam ihren Wagen unter Kontrolle und überquerte die Brücke.

Es war besser, als die ganze Nacht nicht zu schlafen.

Sie würde nachsehen, was mit Laura los war, und dann würde sie so rasch wie möglich zu ihrer Mutter fahren.

Auf gar keinen Fall würde sie sich auf ein Gespräch einlassen.

35

Als sie noch ein Kind gewesen war, zwölf Jahre alt vielleicht, hatte sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben: Ich bin so froh, daß ich Henri habe. Er ist mein einziger Freund. Er versteht mich. Ich glaube nicht, daß es etwas gibt, was ich ihm nicht sagen könnte. Und egal, wie schlecht es mir geht, er sagt immer etwas, das mir das Gefühl gibt, daß alles nicht so schlimm ist.

Das ist der Tiefpunkt, dachte sie, der absolute Tiefpunkt meines bisherigen Lebens. All die Demütigungen und Tiefschläge der vergangenen Jahre waren nur das Vorspiel. Jetzt habe ich den Tiefpunkt erreicht.

Ihre Hände zitterten, und alle Gegenstände sah sie wie von fern: das Lenkrad, der Schalthebel, der Rückspiegel, an dem ein kleines Äffchen aus Stoff schaukelte, die Scheibenwischer, die quietschend über die Scheibe glitten. Sicher hätte jeder ihr geraten, jetzt nicht Auto zu fahren. Aber ihr war das gleichgültig. Und wenn sie einen Unfall baute, dann baute sie ihn eben. Sie konnte nicht entstellter sein, als sie schon war. Sie konnte nicht toter sein.

Wann immer ihr die Szene in dem dunklen Garten wieder in den Sinn kam, versuchte sie die Bilder sofort zu stoppen.

Ich will nicht darüber nachdenken. Ich muß nicht darüber nachdenken. Es ist geschehen, und es ist vorbei.

Das Schlimme war, daß sie Stephanes Stimme nicht abschalten konnte. Sie dröhnte in ihren Ohren.

Du bist ein Monstrum. Du warst schon damals häßlich. Einen solchen Notstand könnte ein Mann gar nicht haben, daß er sich mit dir einließe!

«Ich will das nicht hören!«sagte sie laut.

Es irritierte sie, daß das Zittern ihrer Hände immer schlimmer wurde und daß immer noch alles so weit weg schien. Auf einer fast unterbewußten Ebene ahnte sie, daß sie einen Zusammenbruch haben würde und daß sie dann nicht allein sein durfte. Sie hatte schon oft in ihrem Leben über Selbstmord nachgedacht, wenn die Akne sie wieder so sehr quälte, wenn das Getuschel der Menschen besonders schlimm wurde, wenn die Einsamkeit ihrer Wohnung sie fast erdrückte. Irgendwann hatte sie gespürt, daß sie in der Lage dazu wäre, gäbe es nur einen Auslöser, der über das gewohnte Maß an Leid hinausginge.

Vielleicht war er jetzt eingetreten.

Sie hatte versucht, die Angelegenheit zu bagatellisieren, als sie durch den Regen zu ihrem Auto gehastet war, Stephanes Brüllen hinter sich:»Nun hau schon ab!«

Einmal wäre sie fast ausgerutscht und hingefallen, und dann bekam sie den Schlüssel nicht ins Schloß. Sie sagte sich, daß es natürlich dumm gewesen war, was sie getan hatte, und daß deshalb Stephanes Reaktion so heftig ausfiel. Seine Frau hatte offenbar in größter Angst gelebt.

«Sie hat gedacht, ich sei der Killer!«sagte sie laut und lachte schrill, aber das Lachen war allzu dicht an der Grenze zum Weinen, und sie brach es rasch ab. Sie bekam endlich die Wagentür auf und setzte sich ins Auto — eine große, fette Raupe kriecht in ihre Behausung, war der Gedanke, der sie dabei begleitete —, und dann brauchte sie wiederum eine Weile, um das Zündschloß zu erwischen. Als wäre ich betrunken, dachte sie. Als wie krank würde wohl ein Psychiater sie einstufen nach dieser Tat? Sie war von Stephane damals gnadenlos abserviert worden, und nun ging sie hin und identifizierte sich so stark mit der Frau, die er schließlich geheiratet hatte, daß sie süchtig wurde nach täglichen Bespitzelungen und Überwachungen. Es war irgendwann zu einer festen Einrichtung geworden, die sie nicht mehr missen mochte, die zu ihrem Alltag gehörte und ihm Struktur gab, vor allem dann, wenn sie nicht ins Chez Nadine gehen durfte. Einfach mal sehen, was Pauline so trieb… Daheim, an ihrem Arbeitsplatz… Sie hatte schließlich recht gut über deren Gewohnheiten Bescheid gewußt, kannte ihre Tagesabläufe, die Uhrzeiten, an denen bestimmte Dinge geschahen. Ein paarmal war sie ihr sogar mit dem Wagen gefolgt, hatte verschiedene Autos gemietet, um nicht identifizierbar zu sein.

Sie war Paulines Schatten gewesen, und als Schatten hatte sie ein Stuck Zugehörigkeit gefühlt. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte ein wenig von dem Leben gelebt, das sie an der Seite Stephanes erwartet hätte. Nicht, daß er der Mann gewesen wäre, den sie je hätte lieben können. Aber er war die einzige Rettung gewesen, die sie einmal, für kurze Zeit, hatte wittern dürfen.

Sie erinnerte sich, daß sie an diesem Tag gar nicht hatte gehen wollen, es schließlich jedoch nicht ausgehalten hatte, darauf zu verzichten.

Vermutlich war sie ziemlich krank. Ziemlich gestört. Vermutlich war es das Beste, einfach Schluß zu machen.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf tickte das Credo ihrer Kindheit. Henri brachte die Dinge in Ordnung. Henri war die Quelle von Trost und Zuversicht. In Henris Armen konnte sie weinen und schluchzen und dabei spüren, wie die Kälte um sie herum langsam nachließ. Er war ihr Zuhause. Ihre Zuflucht.

Und er würde sie verstehen. Er hatte sie immer verstanden.

Sie hatte ihm gesagt, daß sie weggehen und nie mehr wiederkommen würde, und seine Erleichterung war für sie nicht zu übersehen gewesen. Es hatte weh getan, aber sie wußte, daß es dabei nicht um sie ging, sondern um den Teufel, den er geheiratet hatte. Er war erleichtert gewesen, weil er sich eine Verbesserung seiner Beziehung zu Nadine versprach. Womit er sich irren würde, das hatte sie genau gewußt, aber den Weg mußte er allein gehen, den Irrtum selbst herausfinden.

Sie hörte ein Schluchzen und brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß sie es war, die diesen trostlosen Laut ausgestoßen hatte. Alles hatte sich von ihr entfernt, sogar sie selbst.

Wie habe ich nur so etwas tun können? Wie konnte ich mich nur so weit erniedrigen?

Sie konnte in letzter Sekunde bremsen und würde sich später darüber wundern, daß sie noch so geistesgegenwärtig reagiert hatte. Sie war an der Kreuzung unterhalb des Berges von La Cadiére angelangt, und sie wußte nicht genau, weshalb sie geglaubt hatte, das ihr entgegenkommende Auto werde geradeaus weiterfahren. Wahrscheinlich hatte es nicht geblinkt, obwohl sie das nicht mit Sicherheit hätte sagen können. Völlig unerwartet jedenfalls riß der Fahrer plötzlich das Steuer herum und bog direkt vor Cathérines Nase nach links ab. Ihr Auto rutschte auf der nassen Fahrbahn, kam jedoch zum Stehen.

Das Zittern ihrer Hände wurde stärker.

Es war Nadines Auto, das dort gerade so rücksichtslos um die Kurve gejagt war, sie erkannte die Nummer. Die Fahrweise entsprach allerdings weit mehr der von Henri; Manöver dieser Art waren typisch für ihn, und schon manchmal hatten sie deswegen heftig gestritten.

Aber was sollte Henri um diese Zeit hier? Oder Nadine? Die Richtung, in der das Auto verschwunden war, war eindeutig: Quartier Colette. Dort, wo der Mann, mit dem Nadine Henri so gequält hatte, sein Haus gehabt hatte. Aber weshalb sollte einer von ihnen jetzt noch dorthin fahren? Nach allem, was geschehen war?

Ihr Gesicht war naß. Sie merkte, daß sie weinte.

36

Nadine fuhr den kurvigen Weg zu Peters Haus hinauf und sagte sich, daß es einfach idiotisch war, was sie tat. Nie wieder hatte sie auch nur in die Nähe dieses Ortes kommen wollen, und sehr rasch merkte sie nun auch, daß es ihr nicht gut tat. Eigentlich mußte sie alles daransetzen, dieses Kapitel ihres Lebens zu vergessen, um endlich nach vorn schauen zu können, und es riß zweifellos alte Wunden auf, sein Territorium wieder zu betreten. Noch dazu jenen Bereich, der für sein Eheleben reserviert gewesen war. Und wie sehr hatte sie all die Jahre unter dem Umstand gelitten, daß er verheiratet war und sich nicht trennen mochte.

Sie sah nicht ein, daß sie auch nur einen einzigen Finger für Laura, die dumme Kuh, krumm machen sollte, und fast wäre sie umgedreht, hätte es sich anders überlegt und wäre gleich nach Le Beausset gefahren. Daß sie es nicht tat, lag nur an der Enge des Serpentinenwegs. Es war unmöglich, einfach zu wenden. Die nächste Gelegenheit würde sich ihr erst wieder oben in der Einfahrt von Peters Haus bieten.

Sie fluchte leise. Der Regen wurde stärker. Es war so dunkel. Es war absolut absurd, daß sie hier herumgeisterte.

Sie hätte einfach noch einmal bei Laura zurückrufen sollen, sich vergewissern, was los war. Ihre Scheu, ihr Unbehagen gegenüber der Frau, in deren Ehe sie eingebrochen war, hatten sie zurückgehalten. Ihr Handy hatte sie nicht dabei. Sie mußte ihr jetzt entweder direkt gegenübertreten oder die Sache vergessen und sich davonmachen.

Das Tor zum Grundstück war nur angelehnt, sie konnte es öffnen, indem sie es mit der Stoßstange ihres Autos sacht anstieß. Sie würde im weiträumigen, kiesbestreuten Hof wenden und dann machen, daß sie fortkam.

Sie warf einen Blick auf das Haus. Es war fast dunkel, aber irgendwo im Wohnzimmer mußte ein Licht brennen. Wahrscheinlich oben auf der Galerie. Sie erinnerte sich an den Abend, an dem sie dort gesessen und auf Peter gewartet hatte. Es war die gleiche Jahreszeit gewesen. Es war der Beginn von allem gewesen.

Peter war jetzt tot. Er war nicht einfach an einem Infarkt gestorben oder bei einem Verkehrsunfall. Er war einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen. Man hatte ihn in die Berge verschleppt und dort auf brutalste Weise niedergemetzelt, ihn wie einen Haufen Unrat in ein Gebüsch geworfen.

Niemand verstand, weshalb das geschehen war, aber irgend jemand hatte ihn sich ausgesucht, und er hatte dafür einen Grund gehabt.

Ein ungutes Gefühl beschlich sie, während sie so im Auto saß und durch den Regen zu dem dunklen Haus hinüberstarrte. Jetzt hatte seine Frau bei ihr angerufen und ins Telefon gewispert:»Es ist jemand im Haus.«

Entschlossen stieg sie aus, schrak nur kurz vor dem Wind zurück, der jetzt sehr stark geworden war. Wenigstens konnte sie einmal versuchen, durch eines der Fenster hineinzublicken. Vielleicht sah sie Laura einfach nur sturzbesoffen auf dem Sofa hocken, dann konnte sie sich immer noch unbemerkt davonschleichen. Was sie tun wollte, wenn sie irgend etwas anderes sah, wußte sie nicht Im Grunde erwartete sie es auch noch nicht. Es war nur dieses Gefühl der Beunruhigung sie mußte sich Gewißheit verschaffen.

Der Regen durchnäßte sie schnell, als sie durch den Garten zum Haus lief. Sie hatte keine Jacke angezogen und fror erbärmlich. Als der Bewegungsmelder ansprang und Scheinwerfer die Nacht um sie herum in gleißendes Licht tauchten, erschrak sie und blieb stehen. Sie hatte vergessen, daß es so etwas hier gab, und nun mußte sie warten, bis sie wieder erloschen, sonst stand sie selbst auf dem Präsentierteller, wenn sie versuchte ins Wohnzimmer zu spähen. Sie wünschte, sie wäre nicht heute am Abend ins Chez Nadine gegangen. Dann hätte sie nichts von all dem mitbekommen und wäre auch nicht verantwortlich.

Sie atmete erleichtert auf, als es wieder dunkel um sie wurde. Endlich war sie an der überdachten Terrasse und fand Schutz vor dem Regen. Sie bewegte sich möglichst lautlos, wobei sie dachte, daß sie im Grunde weniger Angst hatte vor einem Einbrecher, als davor, von Laura entdeckt und mit Anklagen und Vorwürfen überschüttet zu werden. Was daneben noch an Furcht in ihr war, schob sie zur Seite.

Sie hatte die große Fensterfront fast erreicht, da nahm sie ein Geräusch hinter sich wahr. Zumindest glaubte sie das, aber später dachte sie, daß das Prasseln des Regens auf dem Dach eigentlich zu laut gewesen war, als daß sie wirklich etwas anderes hätte hören können. Vielleicht hatte sie auch aus den Augenwinkeln eine Bewegung registriert.

Es war zu spät, um zu reagieren.

Jemand preßte ihr von hinten eine Hand auf den Mund, hielt ihre Arme wie mit einem Schraubstock umklammert und versuchte, sie ins Haus zu schleifen.

37

Laura hatte geglaubt, ein Auto gehört zu haben, aber sie war nicht ganz sicher; das Rauschen des Regens und das Heulen des Windes, der sich langsam zum Sturm steigerte, machten es fast unmöglich, andere Geräusche wahrzunehmen. Sie lehnte sich zum Fenster hinaus und schrie, aber sie konnte selbst merken, wie ihre Stimme von dem Tosen in dieser Nacht sofort verschluckt wurde. Wenn es Nadine war, die da kam, lief sie direkt in die Falle.

Laura hatte auf der Galerie gestanden, das kurze, gewisperte Telefonat geführt und hektisch den Hörer auf die Gabel geworfen, als sie sah, daß sich die Kellertür vorsichtig und lautlos öffnete. Als sie Christopher erblickte, tat sie einen überraschten Atemzug, im selben Moment, da er den schwachen Lichtschein wahrnahm und nach oben blickte. Sie sahen einander für einige Sekunden schweigend an.

Laura hatte zunächst nicht an eine echte Gefahr geglaubt, sondern gedacht, dies sei ein weiterer Versuch Christophers, mit ihr zu sprechen und sie zu einer gemeinsamen Zukunft zu bewegen. Und zwar einer, der absolut zu weit ging. Er konnte nicht nachts durch ihren Keller einsteigen und ein Gespräch erzwingen wollen, das sie ihm freiwillig nicht gewährt hätte.

«Verschwinde«, sagte sie,»tu so etwas nie wieder. Es gibt keine Zukunft für uns. Ich habe dir das heute mittag gesagt, und seitdem hat sich nichts geändert.«

Er bewegte sich langsam auf die Treppe zu. Er hinkte stark.»Es gibt keine Zukunft für dich, Laura«, sagte er,»leider. Es tut mir wirklich sehr leid.«

Da hatte sie zum erstenmal seinen Wahnsinn erkannt. Nicht allein in seinen Worten, sondern in seiner Stimme.

Sie war einen Schritt zurückgewichen.

«Komm nicht hier herauf«, sagte sie.

Er stand nun am Fuß der Treppe.

«Doch«, erklärte er,»genau das tue ich. Ich komme jetzt herauf.«

Sie war ins Schlafzimmer geflüchtet, hatte die Tür zugeschlagen, den Schlüssel herumgedreht. Sie wußte, daß sie damit nur wenig Zeit gewann. Die Tür aufzubrechen würde ihm kaum Schwierigkeiten bereiten. Und sie hatte kein Telefon hier drin. Das Fenster lag zu hoch. Bei einem Sprung hinunter würde sie sich ein Bein brechen.

«Mach auf«, sagte er von draußen. Er hatte überraschend lange für die Treppe gebraucht. Sie schloß daraus, daß ihm sein verletzter Fuß wirklich schwer zu schaffen machte und daß sie, sollte sich eine Gelegenheit zum Weglaufen ergeben, wahrscheinlich schneller wäre als er. Ein Vorteil, der ihr in ihrer augenblicklichen Situation jedoch nichts nutzte.

«Laura, ich werde dich töten, und das weißt du«, sagte er.»Wenn es nicht jetzt passiert, dann in zehn Minuten oder in einer halben Stunde, je nachdem, wie ich mich entscheide. Aber es wird passieren. Du könntest uns beiden einen Kampf ersparen.«

Sie lehnte an der Wand und wünschte verzweifelt, aufzuwachen und zu wissen, daß sie einen schrecklichen Alptraum gehabt hatte, der jedoch nicht das mindeste mit der Wirklichkeit zu tun hatte.

Lieber Gott, dachte sie, was soll ich denn nur machen? Was soll ich nur machen?

In ihrer Panik lief sie nun doch zum Fenster, öffnete es, schrie um Hilfe und wußte dabei, daß niemand sie hören konnte. Die Häuser lagen hier viel zu weit auseinander, getrennt von riesigen, parkähnlichen Gärten, und der Wind zerstückelte ihre Worte und Laute. Sie blickte hinunter. Der Regen schlug ihr ins Gesicht. Tief unter ihr lag schwarz und schweigend der Garten. Der Hang, an dem sich das Grundstück befand, fiel an dieser Stelle besonders steil ab.

Er hatte gehört, daß sie das Fenster öffnete.

«Tu es nicht«, sagte er fast gelangweilt,»du brichst dir mit Sicherheit ein paar Knochen. Ich habe ein leichtes Spiel dann mit dir da draußen, aber für dich wird alles noch schlimmer.«

Sie schaute nach oben. Die Frage war, ob es ihr gelingen könnte, vom Fensterbrett aus das Dach zu erklimmen. Mit seinem verletzten Fuß wäre es sicher äußerst schwierig für ihn, hinterherzuklettern. Außerdem konnte sie ihn von oben daran hindern, überhaupt nur die Hände an die Dachziegel zu legen.

Aber ich komme selbst nicht hoch, dachte sie verzweifelt.

Das Dach war naß und glitschig, ebenso das Fensterbrett. Und es hätte bedeutet, einen Klimmzug zu machen, mit dem sie ihr gesamtes Gewicht hinaufhievte und sich dann wenigstens bis zur Hüfte über das Dach hinausstemmte. Es war hoffnungslos. Sie wußte, daß sie das nicht schaffen konnte.

Ihre einzige, winzige Chance bestand darin, daß Nadine etwas unternehmen würde. Falls sie überhaupt begriffen hatte. Ich verstehe dich schlecht, hatte sie gesagt, und: Kannst du nicht lauter sprechen? Und sie hatte sie gefragt, ob sie betrunken sei. Falls sie zu diesem Schluß gelangte, würde sie gar nichts tun. Und auch sonst: Rief jemand wegen eines so ominösen Anrufs gleich die Polizei? Vielleicht schickte sie Henri hierher. Oder besprach sich mit Kommissar Bertin. War Bertin um diese Zeit zu erreichen?

«Jetzt öffne schon die Tür«, sagte Christoph von draußen.

Hinhalten, dachte sie, ich muß ihn hinhalten. Vielleicht kommt doch jemand. Ich habe ja keine andere Möglichkeit.

Sie war erstaunt, daß ihre Stimme ihr überhaupt gehorchte.»Hast du Peter getötet?«fragte sie.

«Ja. Es war notwendig geworden. Ich hätte es viel früher tun müssen.«

«Warum?«Was sie am meisten erschütterte war die Selbstverständlichkeit, mit der er sprach. Nach seinem Gefühl hatte er nichts getan, was unrecht gewesen wäre Er hatte etwas getan, was einfach getan werden mußte.

«Er hat eure Familie zerstört. Er hat ein Verhältnis begonnen. Aber zumindest hat er all die Jahre noch zu dir und Sophie gehalten. Er ist immer wieder zu euch zurückgekehrt Dann jedoch…«

«Du wußtest, daß er vorhatte, ins Ausland zu gehen?«Sie erinnerte sich, wie überrascht er gewirkt hatte, als sie ihm davon erzählte. Er war ein guter Schauspieler. Und auf eine schizophrene Art hielt er seine Taten auf der einen Seite für zwingend und gerecht, andererseits wußte er jedoch daß er sie vertuschen mußte und keinen Verdacht auf sich lenken durfte.

«Ich habe es an jenem Abend erfahren. An dem Abend, an dem ich ihn dann getötet habe, meine ich.«

«Wie hast du es erfahren?«Bring ihn zum Reden. Halte ihn auf, solange du kannst.

«Er hat mich angerufen. Er war vor dem Chez Nadine angekommen, wollte hineingehen. Ich fragte, mußt du gleich als erstes zu ihr? Und er antwortete, daß sie vielleicht gar nicht mehr da sei. Sie würden sich am Abend woanders treffen. Ich sagte, aha, aber vorher darf ihr Mann dich noch bekochen, hättest du dir nicht etwas Geschmackvolleres ausdenken können? Und plötzlich schrie er, er wisse nicht mehr aus noch ein, er müsse einfach an den Ort, an dem er sie das erste Mal getroffen habe, ob sie nun noch da sei oder nicht; er müsse den Ort sehen, um zu wissen, ob er das Richtige tue. Aber vielleicht sei es sowieso das Falsche, vielleicht habe er immer das Falsche getan, aber sein Leben sei nun verpfuscht, und alles sei egal. Und dann wurde er ganz ruhig und sagte, er habe sich nur von mir verabschieden wollen. Er werde mit Nadine das Land verlassen und nie mehr wiederkommen.«

«Und das wolltest du verhindern?«Sie sah sich hektisch im Schlafzimmer um. Gab es etwas, das sie als Seil benutzen konnte, um aus dem Fenster zu klettern? In Filmen und Büchern zerrissen sie in solchen Fällen das Bettlaken und knoteten die Streifen aneinander. Unglücklicherweise würde er es hören, wenn sie damit anfinge. Er würde ihr nicht die Zeit lassen, die sie brauchte.

«Was interessiert dich das?«fragte Christopher.»Das alles kann dir doch jetzt gleich sein!«

«Er war mein Mann. Jahrelang haben wir unser Leben geteilt. Mich interessieren seine letzten Stunden.«

Das schien ihm einzuleuchten.

«Ich sagte ihm, er solle sich das noch einmal überlegen, aber er meinte, er habe keine Wahl. Dann brach er das Gespräch ab. Ich konnte es nicht fassen. Wie kann ein Mann von seiner Familie fortgehen? Ich lief in meinem Haus hin und her. Ich dachte an dich und Sophie. An diese zauberhafte kleine Familie…«, er klang nun wirklich verzweifelt,»und ich wußte, ich darf es nicht zulassen. Also fuhr ich zum Chez Nadine.«

«Du wolltest es für mich tun?«Es gab in diesem verdammten Zimmer nichts, was sich zum Abseilen geeignet hatte. Wie stolz war sie immer auf ihr Einrichtungstalent gewesen. Fehlanzeige. Für die Zukunft sollte sie sich merken: In jedem Raum ein Telefon und ein Kletterseil. Und eine Pistole.

Für welche Zukunft?

«Was meinst du?«fragte Christophe,»Was meinst du mit: Du wolltest es für mich tun?«

«Du wolltest ihn für mich töten?«

«Ich wollte mit ihm reden. Ich wollte diese Familie erhalten. Wie sieht denn die Welt aus? Wohin sind wir denn gekommen? Überall Scheidungen. Jede dritte Ehe schafft es nicht. Man bemüht sich doch auch gar nicht. Es ist ja so einfach heute. Man heiratet, man läßt sich scheiden. Kein Problem. Früher war man hinterher nicht mehr gesellschaftsfähig. Früher hatte das Konsequenzen. Früher haben die Menschen auch Krisen gehabt. Aber sie rannten nicht gleich zum Anwalt. Sie standen es durch, sie probierten es von neuem miteinander. Und wie oft schafften sie es!«

«Natürlich. So sehe ich das auch.«

Die Welt ist im Großen so, wie ihre kleinsten Zellen sind. Und die kleinste Zelle ist die Familie. Ist sie kaputt, ist auch die Welt kaputt.«

«Ja. Das leuchtet mir ein. «Sie fragte sich, ob sie es schaffen konnte, sich zu seiner Komplizin zu machen. Sie mußte die Nerven behalten. Sie merkte, daß die Innenfläche ihrer linken Hand blutete, so tief hatte sie ihre Fingernägel hineingegraben.

«Dir leuchtet das überhaupt nicht ein«, sagte er spöttisch,»sonst hättest du nicht beschlossen, dein Kind allein großzuziehen und im übrigen auf den Selbstverwirklichungstrip zu gehen. Dich zu finden. Herauszubekommen, wer du eigentlich bist! Gott, wie ich diese Sätze kenne! Wie ich sie hasse! Du bist um nichts besser als meine Mutter!«

«Das ist nicht wahr. Mir ging das doch nur alles viel zu schnell. Ich habe noch kaum begriffen, daß ich Witwe bin, da soll ich schon wieder heiraten. Christopher, das würde niemand so einfach bewältigen.«

«Ich habe dich gefragt. Erinnerst du dich? Heute mittag in dem Restaurant. Ich fragte dich, ob die Dinge irgendwann anders aussehen könnten. Du hast geantwortet, nichts werde sich ändern.«

Sie stöhnte leise. Was sollte sie jetzt sagen, ohne unglaubwürdig zu wirken?

«Christopher, wenn du mich jetzt tötest, wächst mein Kind als Vollwaise auf. Du hast Sophie schon den Vater genommen, und…«

Sie hatte das Falsche gesagt. Er brüllte sie plötzlich an.

«Nein! Du hast nichts begriffen! Gar nichts! Ihr Vater wollte sie verlassen. Er wollte dich verlassen. Ihr wart ihm scheißegal. Er hat sich einen Dreck darum geschert, was aus euch wird. Ich habe keinen Unschuldigen getötet!«Seine Stimme überschlug sich fast.»Ich habe keinen Unschuldigen getötet!«

«Natürlich nicht. Ich weiß. Das habe ich dir auch nie unterstellt.«

«Er kam gerade aus dem Chez Nadine, als ich vorfuhr. Er wollte zu seinem Auto. Ich sagte ihm, er soll bei mir einsteigen, wir müßten reden. Er war sofort bereit. Ich merkte, daß er dringend jemanden suchte, mit dem er reden konnte. Er wollte sein Gewissen erleichtern, wollte die Absolution haben… wollte, daß ich ihm sage, ja, alter Junge, ich verstehe dich, tu es, geh mit ihr weg. Ich fragte ihn, ob er sie gesehen hat in der Pizzeria, und er sagte, nein, sie warte wohl schon am Treffpunkt. Ich fuhr mit ihm los. Er redete und redete, über sein verkorkstes Leben, seine beschissene Beziehung, das Recht eines jeden Menschen, irgendwann einmal einen kompletten Neuanfang zu wagen. Er merkte gar nicht, daß ich hinauf in die Berge fuhr, daß wir plötzlich weit weg von allem und ganz allein waren. Ich sagte, komm, laß uns ein paar Schritte laufen, das wird dir gut tun, und er trottete hinter mir her, die Aktentasche mit seinem letzten Geld in der Hand, er hatte solche Panik, die könnte ihm geklaut werden, und redete immer noch, und ich dachte, du redest dich mehr und mehr um dein ganzes blödes Leben. Wir gerieten immer tiefer in die Einsamkeit, und schließlich wollte er umkehren, wurde nervös wegen seiner Geliebten, die sich irgendwo den Arsch abfror, während sie auf ihn wartete, und außerdem fing es an zu regnen. Wir drehten um, und nun ging er vor mir her. Ich hatte den Strick in der Innentasche meiner Jacke. Ich wußte, was ich zu tun hatte, ich hatte es wohl schon die ganze Zeit gewußt, sonst hätte ich es nicht mitgenommen. Es war nicht einfach. Er wehrte sich heftig. Er war ein sehr starker Mann. Ich hätte es vielleicht nicht geschafft, ihn zu töten, aber zum Glück hatte ich noch das Messer dabei. Mit dem Messer habe ich den Nutten die Kleider zerschnitten. Damit man sieht, wer und was sie sind, verstehst du?«

Seine Stimme war zunehmend gleichmütig geworden. Laura fror, und ihr war schlecht. Er war krank, er war vollkommen gestört. Sie würde ihn mit Bitten und Betteln nicht erreichen, und nicht mit Argumenten.

«Ich verstehe«, sagte sie. Sie fand, daß sie sich anhörte, als habe sie einen Ballen Watte verschluckt.

«Ich stach ihm das Messer in den Unterleib. Und in den Bauch. Immer wieder. Er wehrte sich dann nicht mehr. Er war dann tot.«

Klang etwas von Bedauern in seinen Worten mit? Sie hätte es nicht mit Sicherheit zu sagen vermocht. Aber schon veränderte sich seine Stimme. Sie wurde kalt und schneidend.»Und du kommst jetzt da raus. Andernfalls bin ich in zehn Minuten bei dir drinnen.«

Sie bemühte sich noch immer, mit ihm zu reden, wobei die größte Schwierigkeit darin bestand, ruhig zu bleiben und nicht in Tränen auszubrechen. Sie sah ein, daß sie verloren war. Was sie von ihm wußte, war, daß er es liebte, über seine Theorien von der Familie als höchstes und unantastbares Gut zu sprechen. Es gelang ihr, ihn noch einmal dazu zu bringen, von seiner Mutter zu erzählen, die ihn verlassen hatte, und von seinen Kindern, von der Unverschämtheit, mit der Scheidungsrichter bei der Vergabe des Sorgerechts die Gefühle der Väter mißachteten. Sie merkte, daß hier sein Wahnsinn wurzelte, daß ihn der Gedanke, von Jugend an Opfer eines großen, weltweiten Unrechts gewesen zu sein, beherrschte und peinigte. Er erzählte von Camille Raymond, für deren kleine Tochter er hätte dasein wollen und die ihn zurückgewiesen, seine Sehnsüchte mit Füßen getreten hätte. Sie begriff, daß sie und Sophie ihm seinen Seelenfrieden hätten zurückgeben können, so wie Camille Raymond und ihre kleine Tochter es gekonnt hätten, und daß er ihr so wenig wie Camille verzeihen würde, daß sie ihm diesen Trost verweigert hatten. Ihr fiel Anne ein, die sie auf die Parallelen zwischen ihr und Camille hingewiesen hatte, und sie begriff erst jetzt, wie wichtig ihm Frauen mit Kindern gewesen waren, und vor allem verwitwete Frauen, nicht geschiedene, denn einem verrückten Ehrenkodex folgend, hätte er wohl anderen Vätern nicht die Kinder weggenommen.

«Dann hatte Peter jedenfalls kein Verhältnis mit Camille Raymond?«fragte sie und dachte, wie unwichtig es eigentlich noch war, ihn in diesem Punkt zu rehabilitieren.

«Nein. Camille kannte er überhaupt nicht.«

«Ich hatte Angst, er hätte mich auch mit ihr betrogen. «Rede, rede, rede! Wenn du aufhörst zu reden, bist du tot!» Ich habe versucht, mit ihrer Putzfrau zu sprechen. Aber sie hat nicht reagiert.«

«Ich weiß«, sagte er gelassen,»die liegt mit gebrochenem Genick in meinem Keller. Ich habe neulich abends den Zettel weggetan, der bei deinem Telefon lag. Sie hat sich zu tief in Dinge gemischt, die sie nichts angingen.«

Ihre Zähne schlugen aufeinander. Wenn niemand diesen Verrückten überlebte, wie konnte sie glauben, daß es ihr gelingen sollte?

«Jetzt mach die Tür auf«, sagte er.

Und in diesem Moment hatten sie beide wahrgenommen, daß sich jemand dem Haus näherte.

38

Nach dem ersten Schreck, dem ersten Entsetzen wehrte sich Nadine mit allen Kräften. Sie glaubte, es sei Laura, die sie von hinten angefallen hatte, eine betrunkene, wütende, durchgedrehte Laura, die endlich hinter die ganze Geschichte um Nadine und Peter gekommen war. Aber sehr schnell begriff sie, daß sie es mit einem Mann zu tun hatte; ihr Gegner war zu groß und zu stark für eine Frau. Schließlich vernahm sie seine keuchende Stimme an ihrem Ohr:»Halt still, du Schlampe. Halt still, oder du bist tot!«

Er schleifte sie zur Haustür. Sie trat um sich, spuckte, biß, versuchte, die Hände frei zu bekommen. Ein Einbrecher wahrscheinlich. Ein gottverdammter Einbrecher. Und sie tappte ihm genau vor die Füße. Sicher hatte er das Licht des Bewegungsmelders gesehen. Kein Kunststück für ihn, sie hier abzufangen. Sie war so idiotisch gewesen. So abgrundtief dumm.

Die Wut auf sich selbst verlieh ihr stärkere Kräfte. Sie trat ihn mit aller Gewalt auf den Fuß und hörte ihn stöhnen vor Schmerz. Es gelang ihr, eine Hand loszureißen. Wie eine Schlange wand sie sich in seinen Armen. Sie hatte ihren Autoschlüssel in der Hand. Sie versuchte, ihn ihm ins Auge zu rammen.

Sie verfehlte das Auge knapp, aber das Metall schrammte über seine Schläfe und riß eine blutende Wunde. Er ließ auch ihre andere Hand los, faßte sich ins Gesicht. Für eine Sekunde war er außer Gefecht. Sie rannte an ihm vorbei in den Garten.

Das Licht sprang wieder an und beleuchtete die gespenstische Szenerie.

Sie riskierte es, sich umzuschauen. Er folgte ihr, aber es ging alles zu schnell, und sie war geblendet vom Licht, und so konnte sie nicht erkennen, wer er war. Er war ein auffallend großer und starker Mann, und sicher stärker und schneller als sie, aber er schien Probleme mit dem Laufen zu haben. Er zog ein Bein nach, konnte einen Fuß offenbar kaum aufsetzen. Hatte sie ihn mit ihrem Tritt so stark verletzt?

Sie rannte weiter. Einmal rutschte sie auf den Kieselsteinen, wäre beinahe hingefallen, konnte sich gerade noch fangen. Läge sie auf der Erde, wäre sie verloren. Trotz seiner Behinderung holte er auf. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich ständig.

Sie erreichte ihr Auto, riß die Fahrertür auf, fiel auf den Sitz. Sie hörte den Regen auf das Blechdach prasseln, aber lauter noch war ihr keuchender Atem. Sie fingerte am Zündschloß herum.

Sie merkte, daß sie den Schlüssel nicht mehr hatte.

Er mußte ihr aus der Hand gefallen sein, als sie ihren Angreifer damit attackiert hatte.

Schon hatte er den Wagen erreicht. Voller Panik drückte sie die Verriegelung an ihrer Tür, lehnte sich zur Beifahrerseite hinüber, um sie ebenfalls zu verschließen. Aber sie hätte mehr Hände und eine halbe Minute länger Zeit gebraucht. Schon riß er eine der hinteren Türen auf, griff hinein, zerrte sie an den Haaren auf ihren Sitz zurück. Er tat dies mit einer Brutalität, daß sie meinte, ihr Genick müsse brechen. Er löste die Verriegelung, öffnete ihre Tür und zog sie heraus. Seine Faust landete in ihrem Gesicht. Nadine fiel zu Boden, fühlte einen wilden Schmerz an Nase und Stirn, schmeckte Blut auf ihren aufgeplatzten Lippen. Er beugte sich über sie, packte sie vorn an ihrem Pullover, zog sie hoch und ließ zum zweiten Mal seine Faust in ihr Gesicht krachen. Sie sah Sterne, ging zu Boden, fühlte sich dann erneut nach oben gerissen.

Er würde sie totschlagen, und was sie fühlte, war ein fast ungläubiges Staunen darüber, daß so also das Ende aussah, daß ihr zugedacht war.

Während sie seine geballte Faust zum dritten Mal auf sich zukommen sah, verlor sie bereits die Besinnung.

39

Es dauerte eine ganze Weile, bis Laura es wagte, aus ihrem Zimmer zu kommen. Sie konnte jetzt nichts mehr hören und war fast sicher, daß Christopher das Haus verlassen hatte und bisher nicht zurückgekehrt war. Sie hatte den furchtbaren Verdacht, daß Nadine tatsächlich hierhergefahren war, um nach ihr zu sehen, und sie wagte sich kaum vorzustellen, was er ihr da draußen im Garten jetzt antat. Sie mußte unbedingt die Polizei anrufen. Was bedeutete, sie mußte die Treppe hinunter und an das Telefonbuch gelangen.

So leise wie möglich öffnete sie schließlich die Tür. Der laute Wind draußen und der Regen machten sie fast wahnsinnig, denn sie verhinderten, daß sie wirklich auf die Geräusche des Hauses lauschen konnte. Ihr schauderte bei dem Gedanken, Christopher wäre eine Stunde später in den Keller eingedrungen. Beim Tosen des Sturms hätte sie nichts gehört und wäre wahrscheinlich nicht aufgewacht. Er hätte sie in ihrem Bett überrascht, und sie hätte nicht die geringste Chance zur Gegenwehr gehabt.

Die Galerie und die Halle lagen leer vor ihr. Draußen im Garten brannte das Licht. Christopher schien sich nicht im Haus aufzuhalten, aber sie wußte, daß er jeden Moment wieder auftauchen konnte. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, durch den Keller zu fliehen, aber da sie keine Ahnung hatte, wo im Garten er sich befand, verwarf sie den Einfalt wieder. Die Gefahr, ihm dabei genau in die Arme zu laufen, war zu groß. Sie mußte unbedingt die Polizei anrufen, sich dann wieder im Schlafzimmer verbarrikadieren und hoffen, daß die Beamten eintrafen, ehe Christopher die Tür aufgebrochen hatte.

Sie huschte die Treppe hinunter, argwöhnisch die Haustür im Auge behaltend. Die war zugefallen, aber ein Blick zu dem Haken, der direkt daneben an der Wand angebracht war, sagte ihr, daß er den Schlüssel mit nach draußen genommen hatte. Er hatte es nicht riskiert, ausgesperrt zu werden. Den zweiten Hausschlüssel hatte Peter gehabt. Er mußte sich noch unter den persönlichen Habseligkeiten befinden, die von der französischen Polizei einbehalten worden waren.

Mit zitternden Fingern blätterte sie im Telefonbuch. Einmal rutschte es ihr auf den Boden, so sehr bebten ihre Hände. Auf der ersten Seite… eigentlich müßte die Polizei auf der ersten Seite zu finden sein…

Das Licht im Garten erlosch. Laura erschrak so sehr, daß sie fast das Telefonbuch hingeworfen hätte und die Treppe hinaufgelaufen wäre. Doch sie zwang sich zur Vernunft. Wenn er jetzt zum Haus zurückkam, zumindest zum Vordereingang, mußte er wieder die Schranke passieren. Damit wäre sie rechtzeitig gewarnt.

Sie hatte die magischen Worte Samu, Police und Pompiers entdeckt, Notarzt, Polizei und Feuerwehr, aber unglücklicherweise befanden sich dahinter keine Nummern. Sondern kleine Kreuze in verschiedenen Grautönen, die offenbar darauf hinweisen sollten, daß man irgendwo auf dieser Seite die jeweiligen Nummern in der entsprechenden Farbe oder in einem entsprechend schraffierten Feld finden würde.

Laura fluchte leise und dachte, daß wer immer dieses System erfunden haben mochte, offensichtlich nicht überlegt hatte, daß es bei Notrufen häufig um Notfälle und damit für manche Menschen um Sekunden ging, und daß ein heiteres Suchspiel daher womöglich fehl am Platz war. In panischer Hast irrten ihre Augen über die Buchseite. Endlich entdeckte sie einen Kreis, der in verschiedene Grauzonen unterteilt war, von denen die mittlere Farbstufe dem Kreuz hinter dem Wort Police entsprach. Darin eine große 17. Sie hatte die Nummer gefunden.

Sie hob den Hörer ab und wartete auf das Freizeichen und stellte fest, daß die Leitung tot war.

Im selben Moment, da sie bemerkte, daß er das Telefonkabel aus der Wand gerissen hatte, ging draußen im Garten wieder das Licht des Bewegungsmelders an.

Reflexartig durchzuckte sie die Erinnerung, die sich bislang nicht hatte fassen lassen: der Bewegungsmelder! Der Abend, an dem er plötzlich vor ihrem Fenster gestanden hatte. Ihre Irritation, von der sie nicht gewußt hatte, woher sie rührte.

Nun wußte sie es. Das Licht hätte angehen müssen. Er konnte sich nur von hinten durch den Garten dem Haus genähert haben, um sie ungestört beobachten zu können. Hätte sie nur genauer darüber nachgedacht! Dann hätte sie früher erkannt, daß etwas nicht stimmte mit ihm.

Keine Zeit, sich jetzt damit zu befassen! Ihr Handy! Wo, zum Teufel, hatte sie ihr Handy? In ihrer Handtasche vermutlich. Und wo war die Handtasche?

Ihre Blicke jagten im Zimmer herum. Wie üblich hatte sie sie irgendwo abgestellt, und ganz offensichtlich nicht im Wohnzimmer. Sie hörte ihn an der Tür und dachte, daß sie so verdammt leichtsinnig gewesen waren in all den Jahren. Warum hatten sie nie eine Sicherheitskette angebracht? Warum hatten sie immer geglaubt, daß ihnen schon nichts passieren würde?

Sie rannte die Treppe hinauf. Sie sah ihn zur Tür hereinkommen. Er war völlig durchweicht vom Regen und keuchte laut. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, jede Bewegung mußte ihm Qualen bereiten. Er hinkte sehr stark, schleppte sich eher vorwärts, als daß er lief. Er starrte zu ihr hoch.

«Du billige kleine Nutte«, sagte er,»gib doch endlich auf.«

Sie vermutete, daß er Nadine umgebracht hatte, was bedeutete, daß sie nun keine Hoffnung mehr haben konnte. Sie rannte in ihr Schlafzimmer, verschloß die Tür und versuchte mit aller Kraft, die schwere Kommode zu bewegen, um sie von innen gegen die Tür zu schieben. Es ging nur millimeterweise vorwärts, immer wieder mußte sie vor Erschöpfung innehalten. Dazwischen lauschte sie ins Haus. Zweimal hörte sie Treppenstufen knarren, er kam also herauf, aber es schien sehr langsam zu gehen. Was hatte er noch über seinen Fuß gesagt, am Mittag auf dem Parkplatz in La Madrague? Er sei in eine Glasscherbe getreten. Sie nahm an, daß sich die Wunde entzündet hatte, vielleicht hatte er sogar schon eine Blutvergiftung. Zweifellos litt er starke Schmerzen, und womöglich würde noch Fieber dazukommen, oder er fieberte sogar bereits jetzt. Er hatte nicht mehr allzuviel Kraft, das hatte sie sehen können; was immer er mit Nadine angestellt hatte, es hatte seine letzten Reserven aufgebraucht. Es würde ihn dreimal so viel Zeit kosten, in das Zimmer einzudringen, wie er normalerweise gebraucht hätte, aber am Schluß würde er es schaffen.

Er war vor der Tür angekommen. Trotz des Windes konnte sie ihn atmen hören. Es mußte ihm sehr schlecht gehen, aber das schien nicht zu bedeuten, daß er von seinem wahnsinnigen Vorhaben abließ.

Während sie qualvoll langsam die Kommode bewegte, machte er sich mit irgendeinem Gegenstand — sie vermutete, mit einem Messer — am Schloß zu schaffen. Er unterbrach immer wieder und rang nach Atem. Laura jedoch keuchte inzwischen nicht weniger als er. Mühsam wuchtete sie die schweren Schubladen heraus und konnte die Kommode dann leichter schieben. Sie rückte sie unter die Türklinke, wobei sie feststellte, daß sie zu niedrig war, diese zu blockieren. Die Chance bestand nur darin, daß der geschwächte Christopher nicht in der Lage sein würde, sie wegzuschieben. Eilig machte sie sich daran, die Schubladen hineinzuhieven. Der Schweiß lief ihr in Strömen über den Körper.

Sie war noch nicht fertig, da hörte sie, wie das Schloß klirrend nachgab. Die Kommode schwankte. Christophe drückte jetzt von der anderen Seite dagegen.

So schlecht es ihm gehen mochte, er war doch von äußerster Entschlossenheit, und die verlieh ihm die Kraft, das letzte aus sich herauszuholen. Aber auch Laura, von Todesangst beherrscht, gab nicht nach. Sie wuchtete die zweite Schublade an ihren Platz, und erhöhte damit erheblich das Gewicht, gegen das Christopher zu kämpfen hatte. Jetzt noch die dritte. Und wenn sie zusammenbrach. Sie würde es ihm so schwer machen, wie sie nur konnte.

Sie hatte nicht darauf geachtet, wieviel Zeit vergangen war, seitdem er aus dem Garten zurückgekommen war, aber sie hatte den Eindruck, daß es mindestens vierzig Minuten sein mußten. Eine halbe Ewigkeit. Und dennoch lagen noch unendliche Nachtstunden vor ihr. Sie wußte nicht, was sie sich davon versprach, wenn der Tag graute, aber sie sehnte sich danach, als würde er neue Hoffnung bringen.

Die dritte Schublade war an ihrem Platz, und trotzdem merkte Laura, daß das Gewicht nicht ausreichte. Sie preßte sich dagegen, aber ihre Kräfte schwanden rapide. Die Kommode bewegte sich stärker. Einmal konnte sie sogar Christophers verzerrtes Gesicht erkennen, so groß war der Türspalt schon geworden.

«Du bist gleich fällig«, quetschte er mühsam zwischen den Zähnen hervor,»du verdammtes Luder, ich bin gleich bei dir!«

Die Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie war so erschöpft. Sie war am Ende. Sie würde sterben.

Sie würde Sophie nie wiedersehen.

Als sie das Geräusch von Automotoren durch den Sturm hindurch hörte, hatte sie bereits aufgegeben, kauerte auf dem Bett und fand keine Kraft mehr.

Sie sah zuckendes Blaulicht, das sich an die Wände ihres Zimmers malte.

Die Polizei. Endlich die Polizei.

Sie trafen in letzter Sekunde ein. Wie sich später herausstellte, hatte Christopher den Schlüssel stecken lassen, und sie hatten sich ohne Schwierigkeiten die Haustür öffnen können. Sie kamen, als er fast im Zimmer war. Er hatte noch weitergekämpft, als sie schon die Treppe hinaufliefen.

Ein Beamter steckte den Kopf ins Zimmer.»Sind Sie in Ordnung, Madame?«

Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie konnte nichts dagegen machen. Sie lag einfach auf dem Bett und heulte. Als sie endlich den Mund aufmachen konnte, fragte sie:»Wo ist Nadine?«

«Sie meinen die Frau, die wir im Garten gefunden haben? Sie ist bewußtlos, aber sie lebt. Sie wird schon mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht.«

Irgendwie arbeitete ihr Kopf so langsam. Alles ging so schwerfällig voran. Als es ihr nach einer Weile erneut gelang, den Mund zu öffnen, fragte sie:»Wer hat Sie denn angerufen?«

«Das war eine Madame… Wie hieß sie noch gleich? Ach ja, Michaud. Madame Michaud. Cathérine Michaud. Kennen Sie sie?«

Sie versuchte sich zu erinnern, wer Cathérine Michaud war, aber nichts in ihrem Kopf funktionierte mehr. Sie hätte nicht einmal antworten können, wenn er sie nach ihrem eigenen Namen gefragt hätte. Stimmen und Geräusche traten in den Hintergrund. Sie hörte noch, wie jemand sagte — wahrscheinlich war es der freundliche Polizist, der zu ihr ins Zimmer gekommen war —»Ist der Arzt noch da? Ich glaube, sie klappt gleich zusammen.«

Dann wurde es dunkel um sie.


Donnerstag, 18. Oktober

40

«Sie dürfen aber nur kurz mit Madame Joly sprechen«, sagte die Schwester,»es geht ihr noch nicht gut, und die Polizei war vorhin schon bei ihr. Eigentlich braucht sie viel Ruhe.«

«Ich bleibe nicht lange«, versprach Laura,»aber einen Moment muß ich mit ihr reden.«

Die Schwester nickte und öffnete die Tür.

Nadine lag allein in dem Zimmer im Krankenhaus von Toulon. Ihr Gesicht sah abenteuerlich aus, stellte Laura beim Näherkommen fest. Um das rechte Auge herum war die Haut in allen Lilatönen verfärbt. Unterhalb der Nase klebte noch ein wenig blutiger Schorf. Die Oberlippe war dick geschwollen. Außerdem hatte sie, wie Laura von der Schwester wußte, eine kräftige Gehirnerschütterung davongetragen.

Nadine wandte vorsichtig den Kopf, wobei sich ihre Miene sofort schmerzlich verzog.

«Beweg dich nicht«, sagte Laura und trat an das Bett heran.

«Ach, du bist es«, murmelte Nadine.

«Ich komme gerade von der Polizei. Ich habe heute nacht bereits lange mit Bertin geredet, aber heute morgen hatte er immer noch ein paar Fragen. Dafür kann ich jetzt endlich nach Hause fahren. Ich muß sicher zu Christophers Prozeß noch mal wiederkommen, aber in der Zwischenzeit darf ich heim.«

«Vorhin war ein Polizist bei mir«, sagte Nadine. Das Sprechen fiel ihr schwer, und ihre Worte klangen ein wenig undeutlich. Sie zog eine Hand unter der Bettdecke hervor, berührte ihre geschwollene Lippe und zuckte dabei zusammen.»Du kannst mich sicher schlecht verstehen. Aber es geht nicht anders…«

«Ich verstehe dich schon. Aber du brauchst auch gar nichts zu sagen. Du hast bestimmt Schmerzen.«

«Ja«, sagte Nadine und sah plötzlich sehr erschöpft aus,»starke Schmerzen. Im Kopf. «Dennoch schien sie unbedingt reden zu wollen.

«Der Polizist hat mir erzählt… Christopher… Ich kann es kaum glauben. Er war der beste Freund von…«Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Aber der ungenannte Name hing plötzlich zwischen ihnen, schien den ganzen Raum auszufüllen mit einer Atmosphäre von Anspannung und kaum erträglichen Emotionen.

«Von Peter«, sagte Laura.

Nadine schwieg. Laura schaute zum Fenster, hinter dem eintönig der Regen rauschte. Toulon mit seinen häßlichen Hochhäusern, seinen Mietskasernen, sah noch trostloser aus als sonst.

Nach einer Weile meinte Nadine:»Der Beamte sagte, Cathérine hat die Polizei alarmiert. Ich habe allerdings nicht ganz begriffen, wie sie etwas von all dem mitbekommen konnte.«

«Sie war heute früh auch auf dem Präsidium. Soweit ich verstanden habe, hat sie zufällig dein Auto gesehen, als du zu mir fuhrst. Sie vermutete aber, daß es Henri wäre — wohl aufgrund deines Fahrstils. Sie wollte unbedingt zu Henri, wobei sie aber selbst bei der Polizei den Grund nicht nennen mochte.«

Nadine versuchte ein zynisches Lächeln, das kläglich mißlang und ihr entstelltes Gesicht noch befremdlicher aussehen ließ.»Vielleicht gab’s gar keinen bestimmten Grund. Sie wollte immer zu Henri. Ihr ganzes Leben lang.«

«Jedenfalls parkte sie in ihrem Auto vor unserem Tor, unschlüssig, was sie tun sollte. Sie hoffte, Henri käme heraus. Stattdessen sah sie dich. Und dank des Lichts, das zuvor angesprungen war, konnte sie genau verfolgen, wie du zusammengeschlagen wurdest. Sie fuhr den Berg hinunter und verständigte über ihr Handy die Polizei.«

Nadine verzog ihren geschwollenen Mund erneut zu einem fratzenhaften Grinsen.»Jede Wette, daß sie gezögert hat? Da ist bestimmt einige Zeit verstrichen. Mich dort liegen und sterben zu lassen hätte sich zu schön mit ihren Wünschen gedeckt. Ich war ihr immer im Weg.«

«Ich war dir auch im Weg«, sagte Laura,»und trotzdem wolltest du mir helfen.«

Nadine versuchte den Kopf zu heben, stöhnte jedoch und sank in ihr Kissen zurück.

«Bleib liegen«, sagte Laura,»du machst alles nur schlimmer, wenn du dich bewegst. «Sie sah, daß Nadine den Mund öffnete und kam ihr zuvor.»Bitte, sag dazu nichts. Ich weiß alles über Peter und dich. Und ich möchte nicht darüber sprechen, nicht mit dir.«

Jedenfalls nicht so, fügte sie in Gedanken hinzu. Dieser schwer verletzten Frau gegenüber vermochte sie keine Wut aufzubringen. Sie waren beide beinahe ums Leben gekommen. Sie fühlte sich leer und müde, unfähig zu hassen, unfähig auch zu jeder anderen Emotion. Die kaum überstandene Todesnähe schien alles relativiert zu haben. Irgendwann würde sie wieder voller Zorn sein auf Nadine, würde den ganzen Schmerz des Verrats und der Demütigung erneut spüren. Aber sie würde Nadine nicht wiedersehen, und sie beide würden einander nichts erklären. Und eigentlich wollte sie das auch nicht. Sie wollte keine Erklärung von Nadine haben. Keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung. Dann mußte sie auch kein Verständnis haben. Sie wollte es einfach stehen lassen, wie es war.

«Danke, daß du gestern nacht zu mir gekommen bist«, sagte sie,»das war es eigentlich, weshalb ich jetzt zu dir gekommen bin. Weil ich dir danken wollte.«

Nadine erwiderte nichts.

Laura war erleichtert, als die Schwester in der Tür erschien und ihr bedeutete, daß sie nun gehen müsse.

Es gab nichts zu sagen.

41

Cathérine war erstaunt, den Makler, den Sie mit dem Verkauf ihrer Wohnung beauftragt hatte in Begleitung eines jungen Pärchens vor ihrem Haus wartend anzutreffen.»Sie wollen sicher zu mir«, sagte sie. Der Makler sah sie gekränkt an.»Ich habe gestern den ganzen Nachmittag über versucht, Sie zu erreichen. Aber Sie waren nicht da! Jetzt bin ich auf gut Glück mit den Interessenten hergekommen.«

Cathérine sperrte die Tür auf.»Kommen Sie herein«

Bei dem Regen und dem trüben Wetter wirkte die Wohnung noch heruntergekommener und häßlicher als sonst, aber das Pärchen schien das kaum zu bemerken. Cathérine vermutete, daß die beiden kaum älter als zwanzig waren Sie wirkten ungeheuer verliebt ineinander und aufgeregt bei dem Gedanken, in eine eigene Wohnung zu ziehen.

«Wir werden das erste Mal zusammenleben«, sagte das Mädchen zu Cathérine.

Cathérine beteiligte sich nicht an der Führung, sie überließ es dem Makler, die Scheußlichkeit schönzureden. Sie zog ihre Schuhe aus, hängte die tropfnasse Jacke über die Badewanne. Sie war müde. Sie hatte kein Auge zugetan in der Nacht, und frühmorgens hatten zwei Polizeibeamte sie abgeholt und nach Toulon aufs Präsidium gefahren, wo ihre Aussage protokolliert wurde. Sie hatte Laura getroffen, die gespenstisch bleich war und in deren Augen noch immer die Schrecken der vergangenen Nacht standen.

«Danke«, hatte sie gesagt,»danke. Ich verdanke Ihnen mein Leben.«

Cathérine war wie überwältigt. Solch großen Dank hatte noch nie jemand ihr geschuldet. Sie fragte sich, was Henri sagen würde, wenn er alles erfuhr. Denn auch Nadine wäre tot, wenn sie nicht eingegriffen hätte.

Sie wußte später selbst nicht recht zu sagen, weshalb sie Nadines Auto gefolgt war. Es mußte an der verrückten Art gelegen haben, in der der Wagen um die Kurve geschleudert war. Es hatte eine Erinnerung wachgerufen, die viele Jahre zurücklag, irgendwo in der Zeit ihrer frühen Jugend, in der Zeit vor Nadine. Henri hatte sie oft im Auto mitgenommen, Henri, den seine Freunde den wildesten Fahrer der Côte nannten. Sie vereinbarten irgendein Ziel, Cassis oder Bandol, und fast jedesmal war sie auf seinen Trick hereingefallen, scheinbar an der entscheidenden Abzweigung vorbeizufahren.

«Halt, hier müssen wir rechts!«hatte sie gerufen, und er hatte gesagt:»Oh — das stimmt!«Und dann hatte er in voller Fahrt das Steuer herumgerissen, und sie waren um die Kurve gerast. Er hatte gelacht, und sie hatte geschrien. Manchmal hatte sie in sein Gelächter eingestimmt. Manchmal hatten sie auch heftig gestritten. Sie hatte erklärt, sie werde nie mehr in sein Auto steigen, aber sie hatte es natürlich doch wieder getan, und er hatte weiterhin seine Kunststücke vollführt.

Irgendwie war sie sicher gewesen, daß er in Nadines Auto saß, vielleicht auch deshalb, weil sie in ihrer Verzweiflung so heftig nach ihm verlangte, daß sie wollte, er möge es sein. Sie war ins Quartier Colette gefahren, bis hoch zum Haus der Deutschen, und dort hatte sie den Wagen auch schon innerhalb des Grundstücks stehen sehen. Sie selbst war draußen geblieben, ratlos, was sie als nächstes tun sollte. Ratlos auch, was Henri hier tat. Um diese Zeit. Mit seinem einstigen Nebenbuhler konnte er nicht mehr sprechen, der war tot. Gab es irgendeinen Gesprächsbedarf mit dessen Frau?

Und während sie noch wartete und sich fragte, wann er wohl herauskommen würde, tauchte plötzlich Nadine auf, kam den Abhang vom Haus heruntergerannt, gefolgt von einem Mann, der offenbar ein verletztes Bein hatte. Ohne die Situation wirklich zu begreifen, hatte sie sofort erkannt, daß Nadine in höchster Gefahr schwebte. Das Flutlicht im Garten präsentierte ihr eine Art hell erleuchteter Bühne, auf der sie jeden Ablauf genau verfolgen konnte. Nadine erreichte das Auto, sprang hinein, startete es jedoch nicht. Der Mann riß eine der hinteren Türen auf, beugte sich hinein, tauchte wieder auf, öffnete die Fahrertür und zerrte Nadine heraus.

Und dann schlug er sie zusammen, fast systematisch und mit äußerster Brutalität. Wenn sie am Boden lag, zog er sie in die Höhe und schmetterte ihr seine Faust ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Von Nadine kam nicht die geringste Gegenwehr mehr, und sie zeigte auch sonst keine Regung. Cathérine hatte den Eindruck, daß sie bewußtlos war.

Nadine war immer der Mensch gewesen, den sie am meisten auf der Welt haßte. Es gab fast nichts Schlechtes, Böses, das sie ihr nicht von Herzen gewünscht hätte. Und jetzt, da alles vorüber war und sie hier in ihrer Wohnung saß und teilnahmslos dem Geplapper des jungen Paares zuhörte, fragte sie sich, ob in der Nacht wohl eine Versuchung in ihr gewesen war, die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Wegzufahren und sich um nichts zu kümmern. Mochte er sie totschlagen. Mochte sie dort in der kalten, regnerischen Nacht sterben. Wen ging es etwas an?

Sie vermochte sich diese Frage kaum zu beantworten. Sie hatte eine Weile gebraucht, ehe sie ihren Wagen gewendet hatte und den Berg hinunter zur Hauptstraße gefahren war. Dort hatte sie immer noch reglos gesessen und in die Nacht gestarrt. Kostbare Minuten, wie sie jetzt wußte, die das Leben der deutschen Frau hätten kosten können. Aber sie hätte bis jetzt nicht sagen können, was mit ihr los gewesen war. War es der Schock dieses Abends, der sie lähmte, das Entdecktwerden durch Stephane, die Demütigung, die er ihr mit seinen Beschimpfungen zufügte? Oder hatte sie Zeit gebraucht, überhaupt zu begreifen, was sie da gesehen hatte?

Oder hatte sie Nadine einfach nicht helfen wollen?

Bei der Polizei hatte man sie gefragt, ob sie sofort ihren Notruf getätigt habe.

«Ich weiß nicht genau«, hatte sie geantwortet,»ich war zuerst wie erstarrt. Es vergingen sicher einige Minuten… ich konnte ja kaum fassen, was ich gesehen hatte.«

Niemand hatte sich darüber gewundert, man schien dies für eine normale Reaktion zu halten. Und zumindest vorläufig hatte niemand etwas über die Uhrzeit sagen können, zu der Nadine mißhandelt worden war: Die verletzte Nadine selbst nicht, und die geschockte und verstörte Deutsche auch nicht. Der Täter sagte sowieso nichts.

Aber Cathérine wußte, daß zwischen dem Moment, da Nadine niedergeschlagen worden war, und dem Eintreffen der Polizei mehr als eine Dreiviertelstunde vergangen war. Eine knappe Viertelstunde hatten die Beamten von St. Cyr herüber gebraucht. Irgendwo dazwischen war eine halbe Stunde im Dunkel der Nacht verlorengegangen.

Und im Dunkel der Erinnerungen.

Denn Cathérine wußte es wirklich nicht mehr.

Den Beamten, der sie vorhin von Toulon wieder nach La Ciotat zurückgefahren hatte, hatte sie gebeten, sie am Stadteingang unten am Kai abzusetzen. Ungeachtet des heftigen Regens hatte sie ein Stück laufen wollen, um nachzudenken. Herausgefunden hatte sie nichts.

Natürlich hatte sie den Beamten nicht die Wahrheit über ihren Abend in La Cadiére gesagt. Sie werde bald fortziehen, hatte sie erklärt, und sie sei an jenem Nachmittag und Abend m der Gegend herumgefahren, um Abschied zu nehmen.

«Ich saß in La Cadiére im Auto. Ich saß einfach dort und sagte einem Ort auf Wiedersehen, den ich immer sehr geliebt habe.«

«Es war stockdunkel«, hatte der Kommissar erstaunt gesagt,»es regnete, und es war kalt. Und Sie saßen einfach nur im Auto?«»Ja.«

Er hatte ihr nicht recht geglaubt, das hatte sie spüren können, aber da es wohl unerheblich war für den Fall, hatte er das Thema nicht weiterverfolgt.

Sie selbst dachte nun, daß ihr langes Zögern vielleicht auch mit dem schrecklichen Erlebnis in La Cadiére zu tun gehabt hatte. La Cadiére war nichts Besonderes gewesen. Es hatte den Höhepunkt dargestellt in einer lebenslangen Kette von Demütigungen, die auszuhalten sie hatte lernen müssen. Am Ende war es eine Art Linderung gewesen für all ihre Wunden, die Frau, die zu sein sie alles gegeben hätte, unter den Faustschlägen eines Mannes zusammenbrechen zu sehen. Die schöne, verwöhnte, begehrenswerte Nadine zu sehen wie sie wie ein weggeworfener Müllsack im Regen lag. Wie sie endlich bekam, was sie verdiente Der Makler streckte den Kopf ins Wohnzimmer.»Die sind ziemlich angetan«, zischte er ihr zu,»wenn wir noch ein bißchen im Preis nachgeben…«

«In Ordnung«, sagte Cathérine. Es konnte ihr nur recht sein, wenn die Angelegenheit schnell über die Bühne ging.

Das Pärchen kam nun auch heran. Selbst in den engen, verwinkelten Räumen bewegten sie sich nur Hand in Hand!

«Ich glaube, das könnten wir uns ganz kuschelig machen«, sagte das Mädchen. Ihr strahlender Blick suchte ständig den ihres Freundes.»Wir haben nämlich ein bißchen Geld geerbt, wissen Sie. Und das würden wir gern in ein eigenes Nest stecken.«

Ihrer beider Verliebtheit und ihr Leuchten ließen die Wohnung heller und freundlicher erscheinen.

Vielleicht war sie nie so häßlich, wie sie mir schien, dachte Cathérine, vielleicht hingen nur zuviel Einsamkeit und Schwermut zwischen ihren Wänden.

«Wegen des Preises…«, fing der junge Mann an.

«Da können wir uns sicher einigen«, sagte Cathérine.

Eines jedenfalls wußte sie: Jetzt, am Tag danach, war sie erleichtert, weil Nadine überleben würde. Froh, daß sie am Schluß doch eingegriffen und die Polizei gerufen hatte. Zum ersten Mal, seit sie sie kannte, dachte sie an Nadine nicht mit Haß, sondern mit einem Gefühl der Zufriedenheit. Und es war, als habe sie nach langen Jahren dadurch ein Stück Freiheit zurückbekommen.

«Wohin werden Sie gehen?«fragte das Mädchen.

Cathérine lächelte.»In die Normandie. In ein bezauberndes kleines Dorf. Der Pfarrer dort ist ein Freund von mir. «Noch während sie dies sagte, dachte sie: Wie dumm muß sich das anhören! Für eine junge, verliebte Frau. Daß ich mich auf den Pfarrer irgendeines weltabgeschiedenen Dorfes freue!

Aber sie war wirklich sehr nett.

«Wie hübsch«, meinte sie.

«Das finde ich auch«, sagte Cathérine.

42

Es kostete Laura einige Überwindung, die Tür aufzuschließen und das Haus zu betreten, in dem vor knapp zwölf Stunden so viel Schreckliches geschehen war. Der Beamte, der sie hierhergefahren hatte, hatte ihr Zaudern bemerkt und ihr angeboten, sie zu begleiten, aber sie hatte abgelehnt. Sie hatte plötzlich das Gefühl, die Anwesenheit eines Polizisten werde alles nur schlimmer machen.

Die Spurensicherung war bis morgens dagewesen, hatte jedoch kaum Unordnung hinterlassen. Die Kommode oben im Schlafzimmer stand noch halb vor die Tür gerückt, und Laura beschloß, sie so stehen zu lassen. Wenn sie geklärt hatte, was mit dem Haus passieren würde, mußte sie sowieso herkommen und ihre Möbel abholen lassen, und erst dann würde Monsieur Alphonse mit seinen Führungen beginnen. Sie würde die Putzfrau bitten, jemanden kommen zu lassen, der das kaputte Schloß in der Kellertür erneuerte.

«Das hatte er im Handumdrehen aufgebrochen«, hatte ein Beamter gesagt.»Dieses Schloß war so schlecht, daß Sie die Tür eigentlich auch gleich hätten offen lassen können. «Sie fragte sich, ob Christopher diese Einbruchsmöglichkeit schon ausspioniert hatte, als er sie besuchte. Mindestens einmal war er in den Keller gegangen, um eine Flasche Wein zu holen. Aber ebensogut konnte es sein, daß sie selbst oder Peter in den letzten Jahren in seiner Anwesenheit einmal davon gesprochen hatten. Sie dachte an Nadines fassungsloses Erstaunen, mit dem sie gesagt hatte:»Er war Peters bester Freund!«Als solcher hatte er am Familienleben teilgenommen. Über viele wichtige Dinge hatte er Bescheid gewußt.

Die Polizei hatte Monique Lafond tot in seinem Haus gefunden, das hatten sie Laura am Morgen gesagt. Er hatte nicht gelogen: Sie hatte sich das Genick gebrochen, als sie die steile Kellertreppe hinuntergestürzt war.

«Es sah so aus, als sei sie in dem Keller gefangengehalten worden«, hatte Bertin gesagt,»doch wie lange und warum wissen wir nicht. Sie hat für Camille Raymond gearbeitet. Ich nehme an, daß sie irgend etwas wußte, was für Monsieur Heymann gefährlich wurde. Deshalb mußte er sie aus dem Verkehr ziehen.«

Christopher selbst hatte noch keine Aussage gemacht. Bertin sagte, er schweige beharrlich auf alle Fragen. Sein Fuß hatte sich fürchterlich entzündet, es war eine Blutvergiftung hinzugekommen, und er hatte hohes Fieber. Wie Nadine lag auch er im Krankenhaus von Toulon; auf einer anderen Station jedoch und unter scharfer Bewachung.

«Unsere Leute haben Scherben und Blut im Keller gefunden«, hatte Bertin berichtet,»da ist wohl sein Unfall passiert. Möglicherweise in einem Kampf mit Mademoiselle Lafond. «Er hatte Laura sehr ernst angesehen.»Sie haben unglaubliches Glück gehabt. Ohne seine schwere Verletzung wäre die Sache wahrscheinlich anders ausgegangen. Er hatte Schmerzen und Fieber, und wohl nur deshalb konnte sich Madame Joly losreißen und in den Garten entwischen — und nur dadurch hat Cathérine Michaud mitbekommen, daß da etwas Schlimmes vor sich ging. Danach wäre er sicher sehr viel schneller in Ihr Zimmer eingedrungen. Die Polizei wäre zu spät gekommen, wäre er nicht so gehandikapt gewesen.«

An diese Worte mußte Laura nun denken, während sie ihre Koffer aus dem Schlafzimmer nach unten trug und durch das Haus ging, die Fensterläden schloß, die Blumen goß und sich vergewisserte, daß alles in Ordnung war. Bei allem, was ihr zugestoßen war in den letzten Wochen, hatte sie tatsächlich zum Schluß doch einen Schutzengel gehabt. Vielleicht auch in Gestalt der armen Monique, ohne deren Zutun Christopher seine Verletzung womöglich gar nicht gehabt hätte. Und natürlich auch in Gestalt von Nadine und Cathérine.

Mit Grauen betrachtete sie die Küchenablage, dachte an den Abend, an dem sie und Christopher sich hier geliebt hatten.

Ein Mörder. Sie hatte mit dem Mörder ihres Mannes geschlafen.

Schwer atmend lehnte sie sich an die Spüle, drehte den Wasserhahn auf und spritzte ein paar Tropfen in ihr Gesicht. Ihr war plötzlich schwindelig geworden, aber nach ein paar Minuten ging es ihr besser, sie konnte wieder klar sehen. Durch das Fenster schaute sie auf das Meer, das in eintönigem Grau mit dem Himmel verschmolz. Es regnete noch immer.

Sie hatte Bertin gefragt, was wohl mit Christopher geschehen würde. Bertin hatte gemeint, er werde eher in eine psychiatrische Anstalt kommen als in ein Gefängnis.

«Und wird man ihn je wieder herauslassen?«hatte sie gefragt.

Bertin hatte die Schultern gehoben.»Das kann man leider nicht genau sagen. Das Schlimme ist, daß solche Leute auch immer wieder auf allzu verständnisvolle Gutachter treffen, die ihnen einen geheilten Zustand attestieren — was nach meiner Überzeugung in jedem Fall ein hochriskantes Spiel mit dem Feuer bleibt. Das heißt, ich kann Ihnen nicht versprechen, daß er für immer hinter Schloß und Riegel landet.«

Die Worte klangen in ihr nach, während sie aus ihrer Küche über das verregnete Tal mit seinen vielen Weinstöcken und kleinen provenzalischen Häusern blickte. Wie sehr hatte sie diese Gegend geliebt, und wie schnell war ein Ort des Schreckens für sie daraus geworden. Ein Schrecken, der vielleicht noch nicht vorüber war. Natürlich würden Jahre vergehen. Aber irgendwann mußte sie vielleicht wieder Angst haben.

Jetzt nicht daran denken, befahl sie sich.

Sie würde ihre Nerven brauchen in den nächsten Wochen. Sie mußte den gewaltigen Schutthaufen ihres alten Lebens beiseite räumen und auf den Trümmern das neue Leben aufbauen. Die Alpträume vergessen. Vielleicht konnte sie dann ihrer Tochter sogar irgendwann einmal etwas Gutes über ihren Vater erzählen. Etwa davon, wie schön es gewesen war, mit ihm zusammen dieses Haus zu suchen, es zu finden, es einzurichten, darin zu leben.

Sie merkte plötzlich, daß sie weinte. Sie lehnte ihr heißes Gesicht gegen das kühle Glas der Fensterscheibe und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie ließ den Schmerz, die Enttäuschung, die Trauer über sich hereinbrechen, ließ sich überschwemmen davon. So heftig hatte sie erst einmal geweint, damals in Peters verlassenem Auto vor dem Chez Nadine, aber diesmal meinte sie, nie wieder aufhören zu können.

Als sie ein Klingeln hörte, hatte sie zunächst keine Ahnung, woher es kam. Erst nach einer Weile registrierte sie, daß es ihr Handy war, das läutete. Die Handtasche. Wie dringend hatte sie sie gesucht in der Nacht. Hier in der Küche stand sie also, auf einem Stuhl.

Ihre Tränen versiegten so plötzlich, wie sie gekommen waren. Sie kramte das Handy hervor und meldete sich.»Ja?

Hallo?«

«Du hast aber lange gebraucht«, sagte Anne,»wo bist du? Ich hoffe, schon ein ganzes Stück weit auf der Autobahn. Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Sie sagte, du wolltest heute abreisen?«

«Ich bin noch hier.«

«O Gott, das gibt’s doch nicht! Hast du verschlafen?«

«Meine Nacht war ein bißchen unruhig.«

«Dann sieh zu, daß du jetzt in die Gänge kommst!«sagte Anne. Mißtrauisch fügte sie hinzu:»Bist du erkältet? Du klingst so komisch.«

Laura wischte sich mit einem Ärmel ihres Pullovers über das nasse Gesicht.»Nein. Das muß an der Verbindung liegen.«

«Fahr gleich los, hörst du? Ich möchte dich so gern noch sehen heute abend. Ich freu mich so auf dich!«

«Ich freue mich auch auf dich. «Laura rieb sich ein letztes Mal die Augen.

«Ich bin schon fast bei dir«, sagte sie.

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