12



Silja Guðmundsdóttir wickelte das Schultertuch fester um sich und trat im Dunkeln vor das Haus.

In Island unter dem Polarlicht geboren und aufgewachsen, waren ihr die fließenden und flirrenden Himmelsbänder über Norwegen immer ein Gruß ihrer Heimat gewesen, wehmütig und tröstlich zugleich. Bis ihr Reiz verblasst war, genau wie Siljas Heimweh.

Heute jedoch hatte es sogar unter den Vorhängen hindurchgeschimmert, im Lampenschein ihres Schlafzimmers, und Silja nach draußen gezogen, bevor sie zu Bett ging, so intensiv leuchteten diese Nordlichter; es war wirklich ein besonderer September.

Zu spät bemerkte sie Grischas Silhouette vor dem Haus.

In den letzten Tagen hatte sie versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, so gut es eben möglich war unter demselben Dach, am selben Tisch. Seinetwegen jetzt wieder hineinzugehen wäre ihr lächerlich vorgekommen; schließlich war er nur ein Bursche, der für sie arbeitete, wie sie sich immer wieder sagte.

Silja nickte ihm knapp zu und richtete dann den Blick erneut auf das grüne Strömen des Lichts unter dem Sternenhimmel.

»Wo ich herkomme«, hörte sie Grischa nach einer Weile leise sagen, »soll das Polarlicht schlechtes Wetter bringen. Selbst wenn an allen Tagen, die folgen, die Sonne scheint, beharrt man weiter darauf, dass diese Lichter nichts Gutes bedeuten. So tief hat sich der Glaube in den Köpfen festgesetzt.«

Seine Stimme klang sanft. Silja erinnerte sich an ihre unfreundlichen Gedanken in den letzten Tagen, ihre Feindseligkeit ihm gegenüber, und ihre Wangen wurden heiß.

»Wo ich herkomme«, begann sie, wie zum Trotz, und verstummte dann jäh.

Wo sie herkam, in Island, waren die Wellen der Polarlichter eine überirdische Kraft, die eine Geburt vorantrieb. Nur hinsehen durfte man nicht, während man in den Wehen lag, damit das Kind nicht schielend zur Welt kam oder Schlimmeres geschah.

Silja hatte alles richtig gemacht, eine leichte Geburt gehabt und ihr Kind dennoch verloren.

»Für die Saami, das Hirtenvolk hier«, setzte sie neu an, »sind es die Seelen der Toten.«

Silja wollte gern glauben, dass ihre kleine Tochter jetzt dort oben war.

Sie schlang die Arme fester um sich und sprach hastig weiter, wie auf der Flucht.

»Man soll nicht über die Lichter sprechen, sagen die Saami. Auch nicht unter ihnen tanzen oder singen oder ein Liedchen pfeifen. Nichts, was ihre Aufmerksamkeit wecken könnte. Sonst recken sie sich zu uns herunter und tragen uns in den Himmel hinauf.«

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Grischa den Kopf in den Nacken legte. Ein Lachen entfuhr ihm, nicht viel lauter als ein Atemzug.

»Ich hätte nichts dagegen, in diesem Licht in den Himmel hinaufzufliegen.«

Unwillkürlich wanderte auch Siljas Blick weiter nach oben. In dieses betörend magische Wogen vor dem sternenübersäten Nachtschwarz, das in den Wellen des Sunds sein Echo fand, und sie stimmte in Grischas Lachen ein; vorsichtig erst, dann wie befreit.

Silja Guðmundsdóttir war eine schöne Frau, das hatte Grischa immer schon gedacht. Von einer zupackenden Kraft und dabei anmutig, als wäre sie stets im Einklang mit dem, was sie tat. Ihr Gesicht mit den breiten Wangenknochen war offen, während ihre Augen nichts von dem preisgaben, was dahinter vorgehen mochte; rätselhafte Augen waren es.

Etwas in ihr hatte sich gelöst unter dem Polarlicht wie die Strähne hellen Haares aus ihren hochgesteckten Zöpfen.

Seidig war diese Strähne zwischen seinen Fingern, als er sie hinter Siljas Ohr schob. Wie eines der Lichtbänder am Himmel, ihr Blick unter zusammengezogenen Brauen erstaunt und fast scheu.

Unwiderstehlich.

Grischa zögerte, dann beugte er sich vor, und ihr Mund, sonst dünn und flach, fühlte sich unter seinem weich und voll an. Wie Butter und Sahne und Wachholder duftete ihre Haut, schmeckte dieser Kuss von ihr.

Sie stemmte die Hand gegen seine Brust und schob ihn weg.

»Was willst du? Geld? Oder gleich das ganze Haus?«

Grischa schüttelte den Kopf, noch nicht einmal gekränkt, nur verwundert. »Nur dich.«

Silja bog den Kopf zurück.

»Ich bin zu alt für dich. Such dir dafür irgendwo ein hübsches junges Ding.«

»Ich will nur dich«, wiederholte er fast hilflos.

Wie sehr er sie wollte, das konnte Silja fühlen, als er sie um die Taille fasste und an sich zog, behutsam und doch eigensinnig, und sie noch einmal küsste.

Nicht besitzergreifend wie die Männer, die glaubten, weil sie als Bettlerin aus Island gekommen war und froh sein konnte um jede Arbeit, müsste sich ihre Dankbarkeit auch auf andere Dinge erstrecken. Nicht mit der Unverschämtheit manchen Gastes, der zu einem weichen Bett und Essen auf dem Tisch und frischer Wäsche noch andere Dienste erwartete.

Respektvoll und zärtlich waren Grischas Küsse und umwarben Silja, bis ihr Widerstand schmolz wie der Schnee auf den Bergen im April.

»Ich kann dir nichts versprechen«, murmelte sie gegen seinen Mund und meinte diese Nacht und morgen und immer.

Grischa nickte, und sie nahm ihn bei der Hand.

Er wollte nicht, dass sie das Licht löschte, während er sich mit ihrem Haar beschäftigte, jede Nadel und Flechte löste, bis es ihren Rücken hinabfloss, er sich dann unter Küssen Mieder und Bluse und Rock und Unterzeug widmete.

Es machte Silja verlegen, dass er sie so sah. Die weiche Schwere, die sich gegen Jahre harter körperlicher Arbeit durchgesetzt hatte. Die Dellen und Grübchen, Fissuren und Äderchen; Spuren des Kindes, das sie in sich getragen und geboren und nur so kurz genährt hatte.

Das Staunen in seinen Augen über das, was sie war, beschämte sie, und wie dünn und feinnervig ihre Haut plötzlich schien, unter seinen Händen, seinen Lippen, die von neugieriger Behutsamkeit waren, ungestüm und manchmal noch unbeholfen.

Unanständig schön war er, sobald er das Hemd über seinen Kopf gezogen hatte, die Hose abgestreift, in aller prachtvollen Stärke eines jungen Mannes. Erst als er ihre Hand nahm und auf seine Brust legte, dort, wo sein Herz schnell und kräftig pochte, traute sie sich, seine Muskeln nachzuzeichnen und das Gesicht an ihn zu schmiegen. In seinen Geruch nach Salzwasser und Erde einzutauchen.

Als ob sie selbst zu Wasser würde, unruhig und strudelnd und überquellend. Ein Meer, das Grischa umspülte und mit sich zog und schließlich in den eigenen Wellen aufging.

Einen Arm um Siljas Schultern gelegt, schlief Grischa.

Silja fragte sich, ob es immer so war, dass der Mann danach sofort in tiefen Schlaf fiel, während die Frau noch wach blieb. Ob es schon so gewesen war, ehe die Menschen Häuser bauten oder Zelte aufstellten, und warum es ausgerechnet dieser Moment war, der die Frau zur Wächterin über den Mann machte, in den Schatten der Nacht.

Schockierend jung war Grischas Gesicht im Flackern des Polarlichts, während sein Körper der eines Mannes war.

Silja spürte ein Aufflackern von Neid auf seine Jugend. Einen Zorn auf die Zeit, die so ungerecht war zum weiblichen Geschlecht.

Wie es wohl gewesen wäre, Grischa zu begegnen, als sie noch fünfzehn Jahre alt war, achtzehn, zwanzig? Anstelle von Reidar Ingvarsson, der eine gute Art von Mann schien, schon in den Dreißigern, solide und nüchtern, in einer Ehe, die Anstand und Sicherheit versprach.

Sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie es war, mit einem Mann verheiratet zu sein, der so trocken war wie ein Stockfisch, in Wind und Sonne gehärtet. Die meiste Zeit allein zu sein in einem Tromsø, das damals noch keine hundert Seelen zählte, während Reidar Ingvarsson in Russland Klippfisch gegen Korn, Salz und Erbsen eintauschte, manchmal sogar Zuckerzeug mitbrachte, ein Luxus in der Zeit der Not.

Bis er eines Tages einfach nicht heimkehrte und Silja mit diesem Haus zurückließ, aber ohne einen Skilling, es zu unterhalten.

Grischas andere Hand lag auf ihrer Scham, noch feucht von ihnen beiden; eine Geste, fast intimer als das, was sie miteinander getan hatten. Und obwohl sie ihm so nahe war, Haut an Haut, sein weiches Geschlecht warm an ihrem Schenkel, schien er sich mit jedem Atemzug von ihr zu entfernen.

Wie in diesen Augenblicken, wenn er die Schuhe und Stiefel der Gäste putzte, die er so tadellos pflegte wie seine eigenen, immer ganz auf seine Arbeit konzentriert, und doch schien sein Blick dabei eine Welt auszumessen, die nur er allein sehen konnte.

Seit sie zum ersten Mal ein Zimmer vermietet hatte, hatte Silja gelernt, dass Männer viel über sich verrieten. Ob sie ihre zweite Hose ordentlich über den Stuhl hängten oder auf den Boden warfen und wie zerwühlt sie morgens das Bett verließen. Ob sie Silja in die Augen sahen, wenn sie den Teller vor sie hinstellte, und wie sie ihre Rechnung beglichen – großspurig, knauserig, dankbar.

Kleine Gesten, die von Einsamkeit und Heimweh erzählten, von Hoffnungen und Aufbruchstimmung und Enttäuschungen, von Selbstüberschätzung und geradliniger Ehrlichkeit.

Grischa war wie ein Regenguss in einem langen und trockenen Sommer. Man konnte nicht anders, als hineinzulaufen, darin zu baden und zu jauchzen und zu lachen. Aber man wusste, dass es nicht von Dauer sein würde.

Genauso wenig wie man den Wind einfangen oder das Meer bezähmen konnte, und Silja fragte sich, ob Grischa das bereits selbst über sich wusste, jung, wie er war.

Ein leises Lächeln auf den Lippen, drückte Grischa sie im Schlaf fester an sich, und sein Glied regte sich sacht an ihr.

Silja blinzelte in den Widerschein des Polarlichts und vergoss ein paar Tränen auf Grischas Haut. Im Glück des Augenblicks. Für das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Für Grischa.

Vor allem aber für die Frau, die ihr Herz an Grischa verlieren und auf schmerzhafte Weise lernen würde, dass er nicht einer war, der für immer blieb.

Unter blauem Himmel gingen Katya und Grischa den winddurchkämmten Hügel hinter Tromsø hinauf. Zwischen den Viehweiden, von Holzpflöcken und knorrigen Ästen umzäunt, und über die sumpfigen Wiesen, die unter der Sonne der letzten Tage ausgetrocknet waren; in der Ferne funkelte einer der Weiher.

Katya war glücklich, dass sie ihren Bruder heute einmal ganz für sich hatte. Verstohlen beobachtete sie ihn, während sie nebeneinanderher wanderten und in die Hocke gingen, um die orangeroten Multbeeren zu pflücken.

Etwas hatte sich verändert zwischen ihrem Bruder und Silja Guðmundsdóttir. Etwas Zartes, vertraut Behutsames hatte sich in ihre Blicke geschlichen und färbte ihre Stimmen; Silja Guðmundsdóttir summte sogar vor sich hin, während sie kochte oder die Hemden der Gäste plättete.

Irgendwann hielt Katya es nicht mehr aus und sprach das aus, was ihr auf der Seele lag.

»Werdet ihr heiraten, Fru Guðmundsdóttir und du?«

Auf Grischas Gesicht stand ehrliche Verblüffung. »Wie kommst du darauf?«

Katya ließ eine Handvoll der Beeren in den Korb gleiten.

»Weil du so oft bei ihr unten die Nacht verbringst.«

Grischa musste lachen. »Nein, wir heiraten bestimmt nicht.«

Katya nickte, aber aus ihrer konzentrierten Miene konnte er herauslesen, dass es sie weiter beschäftigte.

»Wir haben uns nur gern, Silja Guðmundsdóttir und ich«, erklärte er, während er seine Multbeeren denen Katyas hinzufügte.

Katya nickte wieder, schwächer dieses Mal und mit gerunzelter Stirn.

»Ich dachte nur«, begann sie nach einer Weile zögerlich, »wenn ihr heiraten würdet … dann bräuchtest du über den Sommer nicht mehr zur See zu fahren. Wir hätten doch auch so genug zum Leben, zu dritt.«

Grischas Augen wanderten über den Kirchturm und die Schindeldächer Tromsøs zu den Schiffen, die durch den Sund glitten, die Bergrücken dahinter teils in ihrem rostbraunen und stumpfgrünen Herbstkleid, teils felsig nackt. Nicht mehr lang, dann würde dort oben der erste Schnee liegen.

»Ich werde dieses Mal auch im Winter nicht hier sein, Katyuscha.«

Katyas blaue Augen bohrten sich in ihn.

Ragnar Eriksson, der in Tromsø mit Pelzen und Leder handelte, hatte ihm nicht so viel für die grönländischen Felle gezahlt wie erhofft, aber Grischa hatte trotzdem Gewinn gemacht. Und Ragnar Eriksson hatte ihn auch gefragt, ob er sich vorstellen könnte, den Winter im Norden zu verbringen.

»In zwei Wochen steche ich in See. Bevor das Eis kommt. Nach Spitzbergen, auf eine Jagdhütte im Krossfjord, zusammen mit drei oder vier anderen Männern. Um Polarfüchse zu jagen.«

»Im Winter?« Katyas Blick verriet Zweifel.

»Das Winterfell ist dichter und schöner als das des Sommers und bringt dementsprechend mehr ein. Die Mütze und die Handschuhe, die ich dir mitgebracht habe, sind auch aus dem Winterpelz des Fuchses.«

Eine steile Falte zwischen den Brauen, zupfte Katya stumm weiter Multbeeren von den Stängeln; ihr war beklommen zumute.

»Wird es immer so sein«, fragte sie nach einer längeren Pause, »dass du die längste Zeit des Jahres fort bist?«

Grischa riss einen Grashalm ab und drehte ihn zwischen den Fingern.

»Bist du denn nicht glücklich hier, Katyuscha?«

Die kleinen Perlenkugeln der Multbeeren in der hohlen Hand, sah Katya über die Wiesen hinweg zu den Wäldern, die in der Sonne golden leuchteten.

Sie mochte die Berge, zwischen denen sich eine blaue Weite öffnete, wohin sie auch den Blick wandte. Den Wind und den Duft des Meeres und dass die Sommer hier wärmer waren als zu Hause in Russland.

Der Winter war es, der sie enttäuschte.

Nur etwas mehr als eintausend norwegische Landmil vom Nordpol entfernt, lag Tromsø in dem Teil der Erde, den die Vermesser der Welt mit Polarkreis bezeichnet hatten. Aber die Winter hier waren sanfter als die, in denen Katya aufgewachsen war, watteweich und weiß wie das Fell eines Polarfuchses; das Meer schwächte die Macht von Väterchen Frost ab.

Katya hatte nie wieder das Eis singen hören, seit sie hier lebte.

Es war ein gutes Leben, das sie hier hatte, und trotzdem fehlte etwas.

Etwas, das darüber hinausging, dass sie ihren Bruder vermisste, wenn er zur See fuhr. Wie in einer der Geschichten ihres Großvaters, in der ein Wunsch, den man erfüllt bekam, immer weitere Wünsche nach sich zog.

Sie wandte den Kopf, ihre Augen groß und klar und durchscheinend.

»Ich will mehr, Grischa. Mehr Schnee. Mehr Eis. Mehr von der Welt.«

Grischa lachte auf. »Ich will auch mehr. Von allem.«

Seit er davon gekostet hatte, wusste er nicht, wonach ihn stärker hungerte – nach dem Geschmack des Abenteuers oder dem des Geldes.

»Eines Tages bringe ich dich dorthin, ins Eis und in den Schnee. Wohin du willst. Und wenn es bis ans Ende der Welt ist.«

Den Kopf gesenkt, ließ Katya die Beeren in den Korb kullern. Die Erinnerungen an ihre Fahrt in das Nordmeer waren zwar verblasst, aber nicht vergessen.

»Und wie soll das gehen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich verspreche es dir trotzdem.«

Katya schwieg verdrossen. Nicht einmal Grischas Stimme, die leise ihren Namen sagte, und auch nicht, wie er sie dabei anstupste, konnte ihr eine Regung entlocken. Erst als er sie bei der Hand fasste, blickte sie auf.

In diesem Moment, in dem sie einander in die Augen sahen und Grischa sein Versprechen wiederholte, begriffen sie beide, das Katya sein Anker auf dieser Welt war. Zu ihr würde Grischa immer zurückkehren, wohin es ihn auch zog, wo immer sie dann auch sein mochte.

Das einzige Band, das niemals brüchig werden würde, niemals reißen.

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