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Vom tiefen Schnee dieses Winters umgeben, keimte ein Gedanke in Grischa auf. Ein Pflänzchen, das im bitteren Frost nur umso kräftiger wuchs.

Er würde sein Leben in die eigenen Hände nehmen und fortgehen.

So tief wurzelte dieser Plan bald in Grischa, dass auch die Bäche aus Schmelzwasser, die den großen See am Ende des Winters anschwellen ließen, ihn nicht wegspülen konnten.

Voller Tatkraft warf er sich in die Arbeit im Stall, im Wald und auf den Äckern, das Brennen in seinen Muskeln wie ein Zeichen, dass er genauso stark und unbeugsam war wie die Natur nach ihrem Winterschlaf. Und während die neugeborene Sonne auf ihrer Bahn höher kletterte, zählte Grischa die Tage. Bis er sicher sein konnte, dass das milde Wetter halten würde.

Grischa legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Die Luft roch würzig, nach frisch aufgebrochener Erde und dem ersten Grün; mit jeder Faser hatte er diesen Frühling herbeigesehnt.

Junge Grashalme glänzten zwischen den Feldsteinen, einige davon bereits von Flechten und Moos überzogen. Jakov, der Eisschnitzer, war hier begraben und seine Frau. Ebenso die Brüder und die Schwestern, die lange vor Grischa zur Welt gekommen und gleich wieder gegangen waren. Die Großmutter. Seine Mutter und zuletzt der Großvater.

Großvater hätte sicher bemerkt, was Grischa vorhatte. Ihn beiseitegenommen und ein ernstes Wort mit ihm geredet. Als ob Grischa nicht wüsste, dass er dabei war, das Gesetz zu brechen, das ihn an diesen Boden band.

Deshalb war er noch einmal an das Grab des Großvaters gekommen. Um sich zu verabschieden und Abbitte zu leisten. Für so etwas wie einen Segen.

»Ich wünschte, ich könnte es dir erklären«, murmelte Grischa. »Und dass du eines Tages trotzdem stolz auf mich gewesen wärst.«

»Mir fehlt Deduschka auch.«

Grischa hob den Kopf. Unsicher, wie lange seine Schwester schon dastand, nickte er nur.

Flaumfedern hatten sich in ihren Haaren verfangen, Spuren von Ruß und Mehl zogen sich über ihre Wange. In ihrem Rock klaffte ein Riss, den sie bestimmt heute Abend nach dem Essen noch flicken würde, auch wenn ihr schon beinahe die Augen zufielen.

Katya verdiente etwas Besseres. Hübsche Kleider für den Alltag und ein feines Gewand für Festtage und bunte Bänder für ihren Zopf. Und Zuckerzeug, Grischa wünschte sich Zuckerzeug für Katya, wie es dem Hörensagen nach welches im Haus des Grundherrn gab, ohne dass Grischa eine genauere Vorstellung davon hatte.

Klein und verwundbar wirkte sie, wie sie so dastand. Zu klein für eine solche Flucht, bei dem Gedanken daran wurde sogar ihm flau im Bauch. Ihm graute davor, Katya schutzlos dem Vater und den Brüdern zu überlassen, ihrer groben Männlichkeit. Aber er hatte keine andere Wahl.

Grischa zögerte, dann holte er sein Messer hervor.

»Das ist jetzt deines.«

Misstrauisch sah Katya ihn an.

»Warum willst du mir dein Messer schenken?«

Es war ein schönes Werkzeug, eine nützliche Waffe, der Griff aus poliertem Holz. Vom Großvater hatte er es bekommen, der ihm gezeigt hatte, wie er die herausschnappende Klinge scharf und glänzend hielt und wie er die Feder ersetzen konnte, sollte diese einmal brechen. Grischas wertvollster Besitz; bis aufs Blut hatte er dieses Messer gegen die Brüder verteidigt.

»Es hat früher einmal Urgroßvater gehört. Er hat damit das Eis geschnitzt. Ich dachte, du solltest es an meiner Stelle haben.«

Katyas Augen verdunkelten sich, und sie senkte den Blick.

Grischa hatte sich verändert seit dem Winter. Wie ausgehöhlt kam er ihr manchmal vor, nur noch eine körperliche Hülle, die bei den Mahlzeiten mit am Tisch saß und nachts auf dem Strohsack neben ihr schlief. Dass er ihr jetzt diesen Schatz überließ, verhieß nichts Gutes.

Widerstrebend und ohne ihrem Bruder in die Augen zu sehen, nahm sie das Messer entgegen.

»Ich werde gut darauf aufpassen«, sagte sie und gab sich selbst das Versprechen, auch auf Grischa zu achten.

Grischa tat so, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag. Wie immer fütterte er gegen Abend das Vieh im Stall und tränkte es. Saß wie immer zum Essen am Tisch und schmunzelte sogar über einen schmutzigen Witz, den Boris erzählte, für den dieser sich dann eine Ohrfeige des Vaters einhandelte.

Fast schien es ihm selbst, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag, eine gewöhnliche Nacht; sein Magen, der sich immer wieder aufgeregt zusammenzog, erinnerte ihn jedoch ein ums andere Mal daran, dass dem nicht so war.

Grischa starrte ins Dunkel.

Es war schwer, nach einem Tag auf dem Feld die Augen offen zu halten, inmitten der eintönigen Schlafgeräusche im Raum.

So leicht wäre es, sich auch in den Schlaf fallen zu lassen. Noch einen Tag, noch eine Nacht verstreichen zu lassen. Fügsam wie ein Schaf einfach weiterzumachen wie bisher und darauf zu hoffen, dass sich von selbst etwas änderte.

Katyas Atemzüge neben ihm waren tief, vollkommen arglos, und seine Brust krampfte sich zusammen. Er wünschte, sie wäre noch klein genug, um sie auf den Schultern tragen zu können. Schon groß genug, dass er sie bei der Hand nehmen und mit ihr zusammen fortgehen könnte.

Grischa hatte Angst. Eine Angst, die sich spitz in seine Knochen ritzte, ihm den Magen umdrehte. Doch noch größere Angst hatte er, den richtigen Moment zu verpassen. Dass sein Mut ausflockte wie saure Milch.

Behutsam schob er sich vom Strohsack herunter. Die Schuhe in der Hand, tastete er sich durch den finsteren Raum und schloss geräuschlos die Tür hinter sich.

Katyas ruhiger Atem brach jäh ab, und sie schlug die Augen auf.

In der Scheune holte Grischa sein Bündel aus dem Versteck zwischen den Strohballen. Die Dunkelheit machte es ihm leicht, keinen Blick zurückzuwerfen. Er dachte nur noch daran, was vor ihm lag, während er sich in die Nacht hinausstahl und sich von der Schwärze des Waldes verschlucken ließ.

Sanft gluckernd spiegelte der See den Nachthimmel wider, und wie schlaftrunken riefen die Wasservögel lockend in die Finsternis. Umso ungestümer kam Grischa sein eigener Herzschlag vor, von fiebrigem Glück und bangem Mut.

Solange er sich am Wasser hielt, würde er nicht nur zu trinken haben und sich von dem Reichtum an Fischen ernähren können – das Wasser wies ihm auch den Weg. Erst das Ufer des Sees, dann der Fluss, der darin seinen Ursprung hatte. Ihm würde Grischa folgen, immer in Richtung der untergehenden Sonne, bis nach Sankt Petersburg hinein. Ein Marsch von einigen Tagen, vielleicht auch Wochen; darin waren die Erzählungen des Großvaters ungenau gewesen.

Die Nacht brachte eine verborgene Seite der Welt hervor. Gewichtig und still, aber keineswegs tot. Jedes Flüstern und Rascheln hatte etwas Dringliches und wechselte dabei ständig die Richtung, aus der es kam. Sogar die Luft war eine andere, von einer krautigen Schärfe, auf Grischas Zunge wie ein Vorgeschmack der Freiheit. Umso kräftiger schritt er aus, das Bündel an einem Stock geschultert.

Unter den Geräuschen des Waldes blieb ein Knistern beharrlich hinter ihm. Federleicht und nicht ganz gleichmäßig, ließ es sich auch nicht abschütteln. Unwillkürlich zogen sich seine Schulterblätter zusammen.

Er war nicht allein. Etwas hatte sich an seine Fersen geheftet wie ein vergessener Gedanke. Umso spürbarer, je länger er unterwegs war. Ein Schatten, der sich hinter ihm verdichtete, aber nie näher kam.

Grischa schlüpfte lautlos ins Gebüsch und streifte das Bündel langsam vom Stock. In Augenblicken wie diesem hatte er auf sein Messer vertraut; jetzt musste der Stock genügen. Beide Hände fest um das Holz geschlossen, wartete er mit angehaltenem Atem.

Ein kleiner Schatten war es, der sich durch das hohe Gras des Ufers schob. Ein blasses Gesicht, Augen, die suchend hin und her huschten.

Grischa brach aus den Sträuchern hervor und packte seine Schwester am Arm.

»Warum läufst du mir nach?«

Katya zuckte nicht einmal zusammen, ruhig und ernst war sie. »Wo gehst du hin?«

Beschämt über seine eigene Grobheit, ließ Grischa ihren Arm wieder los. »Fort von hier.«

»Ohne mich?«

Im Nachtlicht waren ihre Augen dunkle Brunnen.

»Ich hole dich nach, Katyuscha. Versprochen.«

Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte sie leicht am Arm; unwillig zog Katya die Schulter zurück.

»Wann?«

Fünf Jahre würde er nicht mehr zurückkehren können, als Verbrecher gesucht. Ein Geächteter, den jeder im Russischen Reich festsetzen durfte, um ihn der Gerichtsbarkeit zu überstellen. Erst nach diesen fünf Jahren würde seine Flucht vergeben sein, und er wäre ganz und gar ein freier Mann.

Sofern er es jemals bis nach Sankt Petersburg schaffte, ans Meer.

»Wann, Grischa?«

»Sobald ich kann.«

Eine Antwort zwischen Irgendwann und Nie und wie Wasser in Katyas Händen.

»Ich komme mit.«

»Das geht nicht! Der Weg ist zu weit für dich. Lauf wieder nach Hause, Katyuscha.«

Katya hatte nicht gewusst, dass Zorn so heftig über einem zusammenschlagen konnte, bis man fast den Boden unter den Füßen verlor.

»Du kannst mich nicht zurücklassen!« Sie stieß ihn vor die Brust. »Hörst du, Grischa? Du kannst mich nicht hierlassen!«

»Ich kann dich auch nicht mitnehmen!« Er brüllte fast.

Ein heiseres Echo kam aus den Kehlen der Vögel, die mit heftig schlagenden Flügeln das Wasser aufschäumten.

Katya wich zurück, ihre Augen schmal; die letzte Warnung einer Katze vor dem Krallenhieb.

»Wenn du gehst, gehe ich auch.«

Sie wirbelte herum, stürmte an ihm vorbei, und ihre Silhouette stanzte zwischen den Gräsern den Weg aus, den Grischa allein hatte nehmen wollen.

Grischa stieß einen Fluch aus und hieb auf Blätter und Gräser ein.

Mit Katya würde er ungleich länger nach Sankt Petersburg brauchen. Und selbst wenn ihn auf dem Gehöft niemand vermisste, nach Katya würden sie bestimmt suchen. Seine einzige Chance, sie zur Umkehr zu bewegen, wäre, mit ihr zusammen nach Hause zurückzukehren. Wo sie sicherlich auf der Hut bleiben würde, damit er sich nicht noch einmal ohne sie davonstahl.

Falls er den Mut dafür noch einmal aufbrächte.

Voller Ingrimm klaubte er schließlich sein Bündel aus dem Gebüsch und stapfte hinter dem Schatten seiner Schwester her.

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