ZWEITES KAPITEL

Es gibt Städte, die man nie vergißt.

Es gibt Schönheiten, die keine Lippe beschreiben kann.

Es gibt Ewigkeiten in der Gegenwart.

Sie schwingen in Paris.

Wer einmal über die breiten Boulevards gegangen ist, wer den Schwalben im Jardin du Luxembourg zusah, wer am Arc de Triomp-he stand und vom Place d'Etoile hinabblickte auf die Champs-Elysees, der kann nicht vergessen, wie sein Herz schneller schlug und ein Hauch von Unsterblichkeit ihn mit leichtem Schauer umwehte.

Im Dunst des Morgens stößt die Spitze des Tour d'Eiffel in den Himmel, die Seine mit ihren hundert gebogenen Brücken, als sei sie der Brustkorb von Paris, plätschert an die Quader-Quais, auf denen unentwegt die Angler stehen, während unter den Brückenbögen die Bettler von ihrem Decken- und Zeitungslager kriechen.

Von der Seine-Insel dröhnen die hellen Schläge der Notre-Dame, und die Karren der Bücherhändler werden in die Morgensonne geschoben. Am Montmartre, am Boulevard de Clichy, stellen die Maler ihre Werke an die Häuserwände, rücken die Baskenmützen in den Nacken und drehen sich in der Tasche eine Zigarette aus schwarzem Tabak. Aus den dumpfen Häusern und Hinterhöfen von La Chapelle und La Vilette quellen die Heere der Ladenmädchen, Midinetten und Kellnerinnen und trippeln zu der Metro, die sie hineinträgt in den erwachenden Giganten aus Stein, Glas und Liebe.

Die ersten Milchwagen rattern durch die Straßen. Die Sonnendächer der Modehäuser und Juweliere leuchten in grellen Farben in der Sonne. Die roten Laternen in den Eingängen mancher Häuser der Querstraßen verblassen und erlöschen. Auf dem Cimetie-re du Pere-Lachaise sitzen die Bildhauer und meißeln an neuen Totenmalen. Am Hufeisensee des Parc des Buttes Chaumont drängen sich Maler und werfen kühne Studien in die Zeichenblocks, die sie für ein paar Francs verkaufen werden, um nicht zu verhungern. Aus dem Bois de Boulogne, aus den grünen Ufern des Lac Inferieur hervor kommen die letzten Liebespaare der warmen Sommernacht, noch trunken vom Zauber eines nach Blüten duftenden Paris.

Peter Sacher blickte auf seine Uhr.

Sieben Uhr zehn. Er war die Nacht hindurch gefahren, weil er nicht schlafen konnte. Der Gedanke, daß Sabine seit zwei Tagen in einem Doppelzimmer schlief, hatte ihn so zermürbt, daß er sich in seinen Wagen flüchtete und durch die Nacht schlich, das Radio mit vollster Lautstärke und einem Aschenbecher, der überquoll.

Jetzt stand er vor dem Gare du Nord und schüttelte den Kopf. Natürlich war Heinz v. Kletow nicht da… er hatte ja geschrieben, daß er mit dem Zug in Paris eintreffen würde. Von einer Autoreise war nie die Rede. Heinz würde also noch im Bett liegen, der Erwartung Peters wegen allein, und es war bestimmt eine Freude, ihn zu überraschen.

Peter Sacher entfaltete den Stadtplan von Paris und studierte die Straßen.

Rue de Sevres. Sie lag jenseits der Seine als Kreuzung des Boulevard des Invalides. Wie sich Heinz v. Kletow eine solch luxuriöse

Wohnung leisten konnte, war ein Rätsel. Das ganze Leben Kletows war ein Rätsel. Er hatte nie gearbeitet und besaß doch immer Geld. Er war ein Genie der Improvisation, aber vor korrekten Dingen zuckte er zurück wie vor Hochspannungsleitungen. Er hatte Schulden, und keiner nahm sie ihm übel. Sie gehörten zu seinem Typ. Keine Schulden zu haben war für ihn wie eine Krankheit. Sein Leben war ein einziger Kredit.

Peter Sacher faltete den Stadtplan wieder zusammen, stieg in seinen Wagen und fuhr langsam durch das erwachende Paris. Auf der Place de la Concorde, am Rande des Jardin des Tuileries, saßen schon die ersten Müßiggänger auf den Bänken in der Sonne und beobachteten das Morgengezänk der Spatzen. Zum Quai d'Orsay hin rollten die schweren Wagen der Regierung. Irgendeine Sitzung, dachte Peter. Die Menschen sind so friedlich, warum sind es die Regierungen nicht?

Er drehte einen weiten Bogen über den großen Platz, umfuhr den Obelisk, das Beutestück Napoleons I. aus seinem Ägyptenfeldzug, und fuhr dann über den Pont de la Concorde, über die schmutzige Seine, an der auch schon die Angler standen, als hätten sie die ganze Nacht über gefischt. Er rollte auf den Boulevard St. Germain, der Hochburg der Sartreschen Existentialisten.

Vor dem Hause Heinz v. Kletows hielt er. Er sah die hohe Fassade hinauf. Es war ein unschönes Haus, alt und mit vielen Schnörkeln an den Simsen. Die Holzjalousien waren zum großen Teil noch vor den Fenstern, einige schief, lückenhaft, mit verrosteten Halteketten.

Sie schliefen noch alle, dachte Peter. Hier ist die Nacht zum Leben da, und der Tag zum Schlafen. Die Welt steht hier kopf

Aus der großen und breiten Haustür trat ein Mann auf die Straße. Er war alt, hatte die übliche braune Baskenmütze auf den kurzen weißen Haaren und musterte kritisch das vor dem Hause parkende Auto.

Er erkannte die deutsche Nummer, spuckte einen Tabakkrümel auf die Straße und tippte mit dem Zeigefinger grüßend an den Le-derrand seiner Mütze.

«Monsieur Sacher?«fragte er.

«Ja. «Peter nickte verwundert. Dann fiel ihm ein, daß der alte Mann ja kein Deutsch verstand. Kühn sagte er:»Oui.«

«Pierre Sacher, Düsseldorf?«

«Oui!«

Peter sah in das Stückchen blauen Himmel, das in die Straße blickte. Er suchte angestrengt nach französischen Vokabeln, die er zum letztenmal vor über zwanzig Jahren auf dem Gymnasium reichlich desinteressiert gehört hatte. Man hätte sich einen Sprachführer mitnehmen sollen, dachte er. Wer weiß, was einem in Frankreich alles noch zustößt. Da ist man nun in Paris, kann oui, non und je t'ai-me, na ja, und eigentlich ist das auch genug. Damit kann man schon weiterkommen in Paris, vor allem mit dem letzten. Je t'aime ist eine Vokabel, die für tausend andere Worte gut ist.

Der alte Mann mit der Baskenmütze sah Sacher mit schiefem Kopf an. Er wartete auf etwas. Peter suchte krampfhaft nach Schulerinnerungen und hatte es endlich zusammen.

«Monsieur Kletow, est-il…«Er hing schon wieder fest. Mein Gott, wie heißt bloß >in seiner Wohnung

«Monsieur Kletow est en voyage«, sagte er mürrisch.

«Aha!«Peter nickte verständnisvoll.»Soso. Merci!«En voyage, dachte er dabei. Das Wort kenne ich. Das haben wir bestimmt in der Schule gehabt. Was heißt es denn bloß? Wäre man damals kein so mittelmäßiger Schüler im Französischen gewesen, könnte man jetzt flott parlieren. Aber damals hatte man mild über den Tölpel von Lehrer gelächelt, der einem weismachen wollte: Nicht für die Schule, für das Leben lernt ihr!

Peter beugte sich in seinen Wagen und zog den Zündschlüssel heraus. Er wollte Zeit gewinnen. Nachdenken.

Sein Blick fiel, als er die Autokarte auch noch zuklappte, auf das Titelblatt der Mappe. In drei Sprachen war da aufgedruckt: Für Rei-sende — For travellers — Pour Voyageurs -

Peter zuckte zurück und stieß sich den Kopf hart an der Fensterleiste des Wagens.

«Mein Freund ist verreist?«sagte er entsetzt.

«Oui!«

«Aber das geht doch nicht!«

«Pourquoi?«

Pourquoi heißt: warum. Was für eine Frage, dachte Peter. Da stehe ich jetzt allein in Paris und -

«Monsieur Kletow weiß doch, daß ich komme! Was soll ich denn jetzt in Paris? Wohin ist er denn? Wann kommt er denn wieder?«

Der alte Mann, einer jener unsterblichen Pariser Hausmeister, hob wieder die Schultern. Er nahm eine Zigarette mit schwarzem Tabak aus dem Rock und steckte sie sich an.»He?«fragte er und musterte Peter wie einen Steuerbeamten.

«Nix compris?«Peter nickte verzweifelt.»Natürlich nix compris! Ich auch nicht! Sauerei!«Er lehnte sich gegen den Wagen und steckte sich eine Zigarette an. Der Hausmeister sah wohlgefällig auf die deutsche Schachtel und schnupperte wie ein Hund durch die Luft, als Peter den Qualm des ersten Zuges aus dem Mund stieß.

«Zigarette?«fragte Sacher und hielt dem alten Mann die Schachtel hin.

«Merci bien.«

Gleichzeitig mit dem Griff zur Zigarette holte er mit der anderen Hand einen Schlüsselbund hervor und streckte ihn Peter entgegen.

«Pour vous, Monsieur Sacher.«

«Aha! Compris!«

Peter nahm den Schlüsselbund und schaukelte ihn in den Fingern. Alles klärt sich im Leben, dachte er. Heinz mußte plötzlich verreisen. Auch Männer seines Schlages sind ab und zu geschäftlich unterwegs. Vielleicht hat er einen anderen Freund, den er jetzt anpumpt, um mit mir einige schöne Tage in Paris zu verleben. Es war ja die alte Praxis Kletows, mit neu aufgerissenen Löchern uralte Löcher zu stopfen. Es gehörte schon eine Portion Genie dazu, genau die Löcher

aus den vielen herauszukennen, die an die Reihe kamen.

Peter Sacher gab dem alten Hausmeister noch eine Zigarette und einen zerknitterten Hundertfrancschein, ließ einen Schwall von Dankesworten, die er doch nicht verstand, an sich vorbeirauschen, und stieg dann die Treppen zur Wohnung Heinz v. Kletows empor.

Vorweg muß gesagt werden, daß Heinz v. Kletow zu jener genialen Art von Männern gehörte, die es mit vierzig Jahren noch fertigbringen, Junggeselle zu sein. Das lag nicht allein am Pariser Klima. Auch in Paris gibt es einige Hunderttausend Ehemänner und fühlen sich wohl dabei. Der Grund der fast schon pathologischen Eheabneigung Kletows lag näher und in ursächlichem Zusammenhang mit seinem besten Freund Peter Sacher. An einem Sommertage vor sieben Jahren hatte sich nämlich Peter Sacher kurz entschlossen, die gemeinsame Studentenliebe Sabine Heinberg zu einer Frau Sabine Sacher zu machen. Damals war es zu einer dramatischen Aussprache gekommen, nach der Kletow Deutschland verließ und sich in Paris niederließ. Er begann das Leben eines kultivierten Vagabunden zu führen, machte um alle heiratsfreudigen Mädchen einen weiten Bogen und verkehrte bald nur in jenen Pariser Kreisen, in denen der Gedanke an eine dauerhafte Bindung als völlig absurd angesehen wurde. Zwischen Montmartre und stillen, winkligen Ateliers oder den Kellerkneipen von St. Germain de Pres hin und her pendelnd, entwickelte Heinz v. Kletow eine eigenwillige, aber gründliche Methode zur Erforschung der Psyche der Stadt Paris. Sie endete damit, daß er in seinen bevorzugten Stadtvierteln mit jedem auf dem Duzfuß stand, die Mädchen Wetten abschlossen, wer am kommenden Abend zur Favoritin erklärt wurde, und die Wirte den besten Kognak unter der Theke hervorholten, wenn er im Lokal erschien. Und das alles, obgleich er auf Kredit soffiEr war eben ein Genie.

Das alles ist wichtig zu wissen. Und da Peter es wußte, wunderte er sich nicht über das, was er antraf, als er die Wohnungstür aufschloß und die kleine Diele betrat.

Schon die Wände dieses Vorraumes waren vollgeklebt mit aus-geschnittenen Magazinbildern, eindeutigen Fotos und Zeichnungen. Peter Sacher stellte seinen Koffer auf den Boden und sah sich um. Er war ehrlich erstaunt über die Vielzahl von verschiedenen Formen, die ein weiblicher Körper haben kann.

Na ja, dachte er. Heinz braucht keine Rücksicht auf eine Sabine zu nehmen. Es muß nur anstrengend sein, bei diesem Überangebot immer etwas Neues zu finden.

Er hängte seinen Trenchcoat an den Kleiderhaken, zögerte unbewußt einen Moment, ehe er die Zimmertür öffnete, und trat dann ein.

Zwei Flaschen Gin standen auf dem Tisch, leer natürlich. Zwei Aschenbecher liefen von Zigarettenasche und Kippen über. Daneben lagen, in malerischer Vertrautheit: ein zerbrochener Lippenstift, eine offene Puderdose mit rose Puder, ein abgerissenes schwarzes Strumpfband und eine hellrote Seidenschleife.

Dazwischen, an eine der Ginflaschen gelehnt, sah Peter das Kuvert eines Briefes.

Es roch nach Alkohol, süßem Parfüm, kaltem Zigarettenrauch und mildsaurem Schweiß.

Kopfschüttelnd warf sich Peter in einen der Sessel, nahm den Brief und riß das Kuvert auf.

Liebes Peterlein!

Sei nicht böse, wenn Du allein meine Burg bewohnen mußt. Ich habe die seltene Gelegenheit wahrgenommen, mich geschäftlich zu betätigen, und mußte deshalb nach Südfrankreich, nach Arles, fahren. Vielleicht kann ich in einer Woche wieder in Paris sein. Wenn nicht — so mach es Dir gemütlich. Geh ins Gasthaus essen — um die Ecke ist ein gutes und billiges. Trink meine Schnapsvorräte, spüle das Geschirr und sieh Dir Paris an. Der Concierge ist angewiesen, auf Dich und die Wohnung acht zugeben. Bis in einer Woche

Dein Heinz.

PS.: Wenn Coucou kommt, sei nett zu ihr und tröste sie, das kleine Vö-gelchen. Die Kleine ist herzensgut, süß und anschmiegsam, nur ein bißchen hysterisch. Wenn sie mit Gläsern nach Dir wirft, wirf nicht zurück, sondern geh in Deckung und sage bloß: Sei still, alte Ziege! Sie kann kein Deutsch und glaubt immer, das sei eine besonders nette Schmeichelei. Viel Spaß denn!

Heinz.

Peter Sacher warf den Brief zwischen Aschenbecher und Lippenstift auf den Tisch und lehnte sich zurück. Nachdenklich ging sein Blick über die beklebten Wände, die Galerie schöner Frauen und abgerutschten Geschmacks; dann öffnete er seinen Hemdkragen und zog den Schlipsknoten tiefer.

Es war schwül in der Wohnung. Die Fenster waren geschlossen, die Jalousien halb heruntergelassen. Das Geruchsgemisch lag wie klebriges Gas über allem und drückte auf den Kehlkopf.

Das also war Paris! Da ist man nun in einer sogenannten >Künst-lerwohnung<, hat sechs Wochen Ferien von Frau, Doppelbett und. Der Gedanke Doppelbett war ihm unbehaglich. Sabine hatte mittlerweile drei Nächte bereits in einem Doppelbett geschlafen, ohne daß Dr. Portz genaue Angaben machen konnte, wer in den zweiten Kissen lag! Das war beschämend, erregend, zermürbend und zum Explodieren.

Peter nahm sich vor, nach dem Frühstück gleich in Düsseldorf anzurufen. Mißmutig starrte er auf den Brief Kletows und auf die Reste junggeselliger Freizeitgestaltung. In was hatte er sich da eingelassen? Die galanteste Stadt der Erde stellte sich ihm hausbacken vor: eine Küche voller ungespülten Geschirrs, ein Wohnzimmer mit abgerissenem Strumpfband, das jeder Fantasie freien Lauf ins Ungezügelte ließ, ein noch nicht betretenes Schlafzimmer, vor dem Peter eine unbekannte Scheu empfand, wie ein Forscher, der vor einer neu entdeckten Grabkammer steht, und die Aussicht, das Leben eines Kneipenbesitzers führen zu müssen.

Was macht man eine Woche allein in Paris? Man stirbt vor Langeweile. Man kann kein Französisch, versteht nicht, was man liest,

kann nicht sagen, was man will und wird es so tun, wie alle Provinzler, die nach Paris kommen: Man stellt sich auf den Place de l'Opera, wartet dort, bis einer der Touristenwagen hält, und schließt sich einer Rundführung an.

Louvre, Tuilerien, Invalidendom, Notre-Dame, Sacre-Creur, Arc de Triomphe, Eiffelturm, Pantheon, Montmartre (mit leisem Schauer über dem Rücken, denn man hört ja soooo viel von ihm, sogar in der Oper wird's besungen), Pere Lachaise, die Champs-Elysees. Der übliche Weg mit kleinen Trinkgeldern für die jeweiligen Diener, Verwalter, Erklärer und Hinausführer. Abends dann ins Moulin Rouge, abgeschirmt gegen alle Anfechtungen, weil die Ehefrauen der anderen Geführten wachen Auges dabeisitzen und mit dem Kopf schütteln und» ksss ksss «machen vor sittlicher Empörung und nicht sehen, wie ihren Männern das Wasser im Munde steht. Vorher natürlich zwei Stunden Promenadenbesichtigung vom Cafe de la Paix aus mit Kommentaren über die neue Mode. Am nächsten Tag ein kühner Blick in die Palmenhalle des Ritz.

Qa 9'est Paris — Schauderhaft!

Peter erhob sich ächzend aus dem Sessel, nahm das abgerissene Strumpfband vom Tisch, roch daran, es duftete nach Rosen und süßem Laster, räumte dann die Gläser, den Lippenstift (er roch nach Himbeeren), die Puderdose (sie roch nach Kirschen), die vollen, überlaufenden Aschenbecher auf einen Teewagen und fuhr alles in die Küche.

Das Becken des Spültisches lief über von nicht abgewaschenem Geschirr. Es mußte von einer Woche sein, denn soviel Unrat kann auch ein Mann wie Heinz v. Kletow nicht an einem einzigen Tag hinterlassen. Es sei denn, sein Abgang war die Schlußpointe einer Orgie.

«Beginnen wir das Pariser Leben!«sagte Peter laut. Er sah in einen Spiegel, der über dem Küchenherd hing, und kam sich blöd wie nie vor. Dann band er sich eine Schürze um, die an einem Haken neben dem Schrank baumelte, ließ aus dem Boiler heißes Wasser in eines der Becken laufen, schüttete etwas Seifenpulver, das in einem Paket neben der Spüle stand, ins Wasser und begann, das Geschirr abzuwaschen.

Wie macht es Sabine, dachte er. Zuerst die nicht fettigen Teile, vor allem die Gläser. Dann die anderen Dinge, zuletzt die Bestecke in frischem Wasser.

Das erste Glas zersprang ihm in der Hand. Er nahm es ihm nicht übel, denn er hatte sich die Hände verbrannt. Das Wasser war zu heiß. Er ließ in einem scharfen Strahl kaltes Wasser zulaufen. Erstaunt sah er, daß das Wasser zu schäumen begann, daß der Schaum immer dichter und höher wurde, über den Beckenrand quoll, den Waschtisch hinablief wie eine Flut geschlagener Sahne. Das Seifenpulver, natürlich, dachte er. Er legte die Gläser in den Schaum, wo sie ins Grundlose versanken, drehte dann den Kaltwasserhahn ab und ging resignierend ins Wohnzimmer zurück.

Er stellte das Radio an, suchte flotte Musik, steckte sich eine Zigarette an und ging dann zur Küche zurück, als würde er hingerichtet. Er ließ die Tür offen, in der alten Erkenntnis, daß Musik den Arbeitsrhythmus fördert, und begann, die schwere Arbeit anzugreifen. Er spülte die Gläser und Teller, die Tassen und Bestecke, rannte einmal zurück ins Wohnzimmer und stellte das Radio sehr laut, weil eine Operettenmelodie von Strauß erklang, drehte beim Abtrocknen den Kelch eines Glases vom Stiel und focht einen Fünf-MinutenKampf mit einer Kaffeekanne aus, in deren Hals seine Hand beim Abtrocknen hineingerutscht war und nicht wieder herauswollte, sondern sich festgeklemmt hatte. Bevor er die Kanne am Beckenrand zerschlug, rutschte sie wieder heraus und die Kanne auf den Boden. Sie zersprang in tausend kleine, bunte Teile. Peter lächelte grausam. Er war in der Stimmung, lächelnd zu morden.

Mit den Schuhspitzen schob er die Kannentrümmer unter den Waschtisch. Plötzlich stutzte er. Hatte nicht eine Tür geklappt? Im Radio spielte man die Ouvertüre zum >Zigeunerbaron<. Soviel Peter wußte, war in der Partitur kein Türenknallen. Johann Strauß hatte noch nichts von moderner Musik geahnt.

Ich habe doch die Wohnung abgeschlossen, dachte Peter Sacher.

Aber vielleicht hat jemand einen zweiten Schlüssel. Noch kennt man nicht die Sitten der Kletowschen Behausung.

Er wollte die Schürze abbinden, um nicht ganz so blöde zu wirken, als er durch die Ouvertüre das Tappen von Schritten zu vernehmen meinte. Dann knirschte etwas im Wohnzimmer. Also doch, dachte Peter Sacher. Jemand ist in der Wohnung. Vielleicht ist es der Hausmeister -

Er band seine Schürze ab und wollte» Ich komme gleich «rufen, als ihm der unbekannte Gast zuvorkam. Eine helle Stimme rief:

«Cheri?«

«Prost!«sagte Peter Sacher. Er legte die Schürze zur Seite auf den Seifenschaum. Der Hausmeister hatte keine helle Stimme, und bestimmt würde er Kletow oder ihn nicht mit Cheri anreden.

Es mußte etwas getan werden. Peter rief zunächst zurück mit der Vokabel, die er flüssig konnte.

«Oui.«

Oui ist immer gut, wenn man Cheri genannt wird. Da kann es keine Komplikationen geben. Peter blieb in der Küche und sah in Richtung des Wohnzimmers. Bestimmt ist es Coucou, durchfuhr es ihn. Sie hat einen Schlüssel, natürlich hat sie ihn. Und Coucou kommt am frühen Morgen und ruft Cheri. Das beweist, daß sie von der Abreise Kletows nichts weiß.

Was schrieb doch Heinz? Sie ist leicht hysterisch und wirft gerne mit Gläsern. Die letztere Gefahr schaltete aus, denn die Gläser befanden sich in der Küche.

Langsam kam Peter Sacher aus der Küche in das Wohnzimmer. Er hatte den empfohlenen Satz >Sei still, alte Ziege!< schon auf der Zunge, als er erstarrt stehenblieb.

Auf der Couch saß ein Mädchen mit langen, blonden, aufgelösten Haaren. Sie hatte ein hauchdünnes, durchsichtiges Chiffon-nachthemdchen an, rote Saffianpantöffelchen an den zierlichen Füßen, eine rote Schleife im zerwühlten Haar, und dieses bezaubernde, angezogene und doch nackte Wesen rieb sich verschlafen die Augen, verzog den grellroten Mund zu einem süßen Gähnen und war so müde, daß es die Augen geschlossen hielt, als es sich etwas zurücklehnte und der Stoff des Nachthemdes völlig seine Berechtigung verlor. Sie saß da, als wüßte sie nicht, wo sie sich befände. Ein böser, böser Mann schien sie so in die rauhe Welt ausgesetzt zu haben.

Peter dachte an das abgerissene schwarze Strumpfband, an Lippenstift (riecht nach Himbeeren) und Puderdose (riecht nach Kirschen) und den Wirrwarr auf dem Tisch. Plötzlich paßte auch die überstürzte Abreise Kletows in dieses Sittenbild, der hinterlassene Brief und die teuflische Idee des Freundes Heinz, ihn in diese Situation hineinrutschen zu lassen.

Paris schien doch nicht langweilig zu werden.

Peter Sacher räusperte sich leise. Das war das einzige, wozu er in diesem Augenblick fähig war. An Vokabeln zu denken, verbat ihm der Anblick, den er still genoß. Das Mädchen lehnte sich weiter zurück, es streckte den Körper auf der Couch aus, das dünne Hemd-chen spannte sich wie eine zweite Haut. Peter biß sich auf die Unterlippe. Solch ein Anblick schmilzt Steine, dachte er.

«Cheri?«wiederholte sie mit geschlossenen Augen. Ihre Stimme girrte wie die eines Täubchens. Sie war hell, kindlich fast, und doch perlte sie über den Rücken wie eiskaltes Sprudelwasser.

«Je suis tres fatiguee.«

Fatiguee, das heißt müde. Peter Sacher nickte mehrmals. Kein Wunder, daß du müde bist, dachte er. Wer nur ein bißchen Fantasie walten läßt, hat genug, um sich gleich daneben zu legen. Er räusperte sich wieder. Seine Kehle war plötzlich trocken. Er wollte in die Ecke des Zimmers sehen, zur inneren Sammlung, aber sein Blick klebte an der zierlichen Figur auf der Couch, als hingen seine Augen an einem Magneten.

Das Mädchen rührte sich nicht. Es lag mit geschlossenen Augen, wölbte jetzt die Brust etwas höher und spitzte die Lippen wie ein Mäuslein.

«Un baiser, Henry«, sagte sie leise und zart wie schwingende Sommergräser im Wind.»Oh, mon troubadour, je t'aime.«

Peter steckte die Hände in die Hosentaschen. Sie waren im Weg und schwitzten zudem. Wie gut ich Französisch kann, dachte er. Ich habe jedes Wort verstanden. Teufel, was ist man doch für ein intelligenter Mensch.

Er trat einen Schritt vor und atmete tief. Jetzt müßte ein Wunder geschehen, dachte er. Die Tür müßte sich öffnen und Sabine hereinkommen. Diese Venus dort auf der Couch, mit gespitzten Lippen und knappem Hemdchen, nebenan ein Schlafzimmer, dessen Zustand sich noch meiner Information entzieht, aber dessen Anblick bestimmt umwerfend sein wird, die rauch-, parfüm- und alkoholgeschwängerte Wohnung, und ich allein in diesem süßsauren Pfuhl freien Lebens. Für Sabine würde es nur zweierlei geben: entweder die Erkenntnis, daß es besser sei, einen Mann nie mehr allein zu lassen, oder der Entschluß, endgültig einen Strich unter sieben dahingeschleppte Jahre zu ziehen.

Peter Sacher sah auf den blonden Lockenkopf und fand die Kraft, an die französische Sprache zu denken. Unsicher sagte er:

«Mademoiselle, je ne suis pas Henry.«

Der Satz schien gelungen zu sein. Ihm folgte aus aufgerissenen Lippen ein lauter, spitzer Aufschrei, der wie» Iiihh!«klang. Wie von einer Bogensehne abgeschossen, schnellte der schlanke Körper vor und warf sich Peter entgegen. Die müden Augen sprühten plötzlich Feuer, die Haare wirbelten um den schmalen Kopf.

«Ou est Henry?«schrie das Mädchen schrill. Danach riß es sich das dünne, unschuldige Hemdchen vom Körper, zerknüllte es, warf es in eine Ecke und ließ sich, der Nacktheit nicht achtend, in einen Sessel fallen, schwang die langen, schmalen Beine über die Lehne und trommelte mit den Fingern auf den schönen Schenkeln.

Peter sah zur Seite. Was zuviel ist, ist zuviel. Wenn das Folgende sich weiterhin in solchen Fortsetzungen abspielte, enthob die Handlung ihn jeglicher Antworten. Im übrigen aber war es eine hundsgemeine Gemeinheit von Heinz, eine solche Situation herbeizuführen. Schließlich war man sieben Jahre lang verheiratet, und Paris sollte der inneren Sammlung dienen. Und noch weniger Ehrgeiz hatte Pe-ter, aus der Erbmasse Heinz v. Kletows dieses Mädchen zu übernehmen.

«Ou est Henry?«zischte der Nackedei vom Sessel her wütend.

«Henry est perdu!«sagte Peter grober, als er wollte. Er rang nach Haltung und überlegener Männlichkeit.

«Perdu?«Das Mädchen warf die Arme zur Seite.»Oh — quel filou, quel malheur, oh, Monsieur, Monsieur!«

Auf einmal weinte sie. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, dick wie Kindermurmeln, und zogen Rillen in den Puder. Sie warf das Gesicht auf die Sessellehne und schluchzte herzerweichend.

Peter sah sich hilflos um. Ein nacktes Mädchen ist an sich schon ein etwas ausgefallener Morgenanfang. Ein weinendes nacktes Mädchen aber ist ein Superlativ davon. Er war rückhaltlos dazu bereit, mit Coucou einer Meinung zu sein, daß Heinz der größte Filou auf der Welt war. Das enthob ihn aber nicht der Pflicht, etwas Tröstendes zu sagen und sogar zu unternehmen.

Er tat zunächst das, was alle Männer tun, wenn Frauen bitterlich und herzzerreißend weinen: Er nahm sein Taschentuch aus dem Rock, sah schnell nach, ob es noch sauber war, schob dann seinen Zeigefinger unter Coucous Kinn, hob das Köpfchen empor (man sollte Heinz sieben Stunden lang ohrfeigen, solch einen Engel so seelisch zu verletzen!) und trocknete ihr die dicken Kindermurmeln ab.

«Nicht weinen«, sagte er leise. Auch das sagen schuldbewußte Männer immer. Der Tonfall ist sehr variabel. Bei Peter Sacher klang er wie ein sanftes Streicheln und leises Säuseln verführerischer Schmeicheleien.»Das ist dieser Heinz gar nicht wert. Glaub es mir. Er betrachtet die Frau nur als ein Spielzeug. Er ist ein Lustlümmel! Wie kann man vergessen, daß auch ein Mädchen wie du ein Herz und eine empfindsame Seele hat! Auch wenn dir die Francs lieber als alles andere auf der Welt sind. Du bist doch ein Mensch, der ab und zu wirklich zu lieben weiß. Du bist kein Tier, dem man das Fellchen kraulen kann und es dann wegstößt in den Zwinger. Nicht nur Schmerz und Freude empfindest du, sondern auch Einsamkeit,

Scham, Trauer, Verlassenheit und Liebe. Vor allem Liebe, du kleines, blondes Kätzchen. Vielleicht bist du vom Montparnasse oder aus Menilmontant, was geht es mich an? Heute bist du hier, gestern warst du vielleicht in der Rue de Tolbiac, morgen wirst du in einem Zimmer der Avenue de St. Mande schlafen. Und wer heute Henry ist, ist morgen Jacques oder Pierre oder Rene, c'est la vie!«

Das Mädchen blickte auf. Peter kam sich etwas dumm vor. Ich habe einen heillosen Schwulst dahergeredet, dachte er. Aber wer sie ansieht, verdammt, der wird blöd, poetisch, kindisch, überschwenglich, schnulzig. Warum sitzt sie auch so demonstrativ nackt im Sessel!

«Qu'est-ce que ma vie?«fragte Coucou mit großen Kulleraugen. Sie konnten so herrlich unschuldig blicken.

«Das alles, worum du jetzt weinst. «Peter richtete ihren weißen Körper auf. Er bemühte sich, dort anzufassen, wo ihn nicht selbst die Versuchung überkommen konnte. Dann zog er seine Jacke aus und hielt sie ihr hin.»S'il vous plait.«

«Merci, Monsieur.«

Coucou sah ihn groß an. Sie verstand es nicht. Männer benahmen sich bisher anders in ihrer Gegenwart. Daß jemand kam und sie bekleiden wollte, weil sie nackt war, ging über ihren Verstand. Es war etwas Neues.

Sie schlüpfte in den Rock, schlug die zu langen Ärmel um, kauerte sich dann mit hochgezogenen Beinen wieder in den Sessel, warf die langen Locken in den Nacken zurück und zog die Rockschöße über ihre bloßen Schenkel zusammen. Dabei sah sie Peter Sacher wie ein gefangenes Tier an. Ein fremder Mann muß immer wie ein Raubtier beobachtet werden. Sie kannte es nicht anders. Männer sind nun eben so.

Peter kratzte sich die Nase. Er war verlegen. Halb angezogen wirkte Coucou plötzlich geisteshemmend auf ihn.

«Un cafe?«fragte er mit rauher Stimme.

«Oui! Tres bien!«

Sie nickte und lächelte. Ihre kleinen, grellrot lackierten Zehen spiel-ten mit den Saffianpantoffeln und wippten auf und nieder. Im Radio spielte eine Blaskapelle einen Bauernmarsch. Coucou schien sehr musikalisch zu sein. Bei jedem Paukenschlag schlugen auch ihre Beine aus und wippten hoch. Es sah sehr kokett aus, von einer raffinierten Kindlichkeit.

Peter Sacher erinnerte sich an seinen Vorsatz, hart zu bleiben. Er räumte den Tisch ab, ging in die Küche, stellte den Heißwasserkocher an und suchte in einigen Blechbüchsen nach Kaffee. In der Büchse, auf der Zimt stand, war Kaffee. Er war bereits gemahlen. Peter blickte schnell zurück ins Zimmer. Die Küchentür verdeckte ihn vor Coucous Blicken. Da nahm er die halbgeleerte Flasche Gin, setzte sie an den Mund und trank einen langen Schluck. Brennend rann der scharfe Schnaps in ihn hinein und brannte die letzten verwirrenden Gedanken weg.

Aufatmend setzte Peter Sacher die Flasche ab. Das war für den ersten Schreck, dachte er. Wenn's so weitergeht, kehre ich mit einem Delirium nach Düsseldorf zurück.

Er stellte sich an den elektrischen Wasserkocher und sah zu, wie in dem gläsernen Behälter das Wasser zu sprudeln begann. Er schreckte erst auf, als hinter ihm ein Tapsen von nackten Füßen das leise Summen des Kochers unterbrach. Er schielte zur Seite. Coucou war in die Küche gekommen.

Sie hatte die Jacke wieder ausgezogen und ihr dünnes, durchsichtiges Nachthemdchen wieder übergestreift. Auf nackten Sohlen schwebte sie herum, lächelte Peter mit glänzenden Augen an, nahm Tassen, Untertassen und Teller aus dem Küchenschrank, stellte alles auf ein Tablett und trippelte wieder zurück ins Zimmer.

Von da ab nahm sie eine rege Wanderung auf. Zuckerdose, Milchkännchen, Kaffeelöffel, Kaffeekanne wurden einzeln weggetragen. Bei jedem Wiedererscheinen in der Küche hatte sie eine Wandlung vorgenommen. Erst war die rote Schleife wieder im Haar… dann trug sie lange, glitzernde Ohrringe (Ohrringe zu solch einem Nachthemd, überhaupt zum Nachthemd! Peter schüttelte innerlich den Kopf), bei der Kaffeekanne hatte sie hellblaue Pumps an, mit einem langen, dünnen Absatz, der über die Fliesen klapperte. Ihr Körper war dadurch gestreckt, die langen Schenkel tänzelten vor Peters Augen; er bemühte sich, nicht hinzusehen, aber irgendwie war in seinem Inneren ein Riß zwischen Wollen und Können.

Als Coucou wieder im Wohnzimmer war, nahm Peter noch einmal einen schnellen, aber herzhaften Schluck aus der Ginflasche. Warum hat Heinz sie allein gelassen und ist nach Arles geflüchtet (wenn das überhaupt wahr ist!)? Coucou scheint keine Gelegenheitsdame zu sein. Sie kennt sich zu gut im Haushalt aus. Sie benimmt sich wie zu Hause. Er stellte die Flasche zurück und sah das abgerissene Strumpfband auf dem Fensterbrett liegen. Eigentlich, sinnierte Peter, reißt man alten Freundinnen keine Strumpfbänder mehr ab. Aber wer kennt sich bei Heinz v. Kletow aus? Und wer weiß, zu welchen Exzessen Coucou neigt, wenn es überhaupt Cou-cou ist. So sicher ist das ja noch gar nicht.

Er nahm Puderdose, Lippenstift und abgerissenes Strumpfband und ging hinüber ins Wohnzimmer. Coucou, wenn sie's war, hatte den Tisch gedeckt. Die Tassen standen da, die Teller, die Bestecke. Aus Papierservietten hatte sie kleine Blüten geformt. Sie selbst saß kerzengerade, mit durchgedrücktem Kreuz auf der Couch. Das Nachthemd spannte sich wieder. Es war ein Luxus-Morgenkaffee.

Peter legte die gefundenen Gegenstände vor sie hin. Coucou, wenn sie's war, sah mit einem kurzen Blick über sie hinweg, dann lächelte sie wie verzeihend, ergriff mit einer wilden Bewegung das abgerissene Strumpfband und warf es in eine Ecke des Zimmers. Darauf klappte sie die Puderdose auf, betrachtete sich in dem kleinen Spiegel, stieß einen spitzen, piepsenden Schrei aus und fuhr sich schnell mit der Puderquaste über das verweinte und verwischte Gesicht.

Peter sah ihr interessiert zu. Junggesellenerinnerungen tauchten in ihm auf. Er mußte lächeln, und dieses Lächeln war es, was Coucou, wenn sie's war, ermutigte, mit den Augen zwinkernd auf den Platz neben sich zu zeigen.

«S'il vous plait.«

Peter nickte zu ihr hinab. Er zeigte auf sie und fragte:

«Coucou?«

«Moi?«

Ihre weißen, kleinen Zähne waren süß. Das Gebiß eines Mäuschens, dachte Peter.

«Ah! Oui! Je suis Coucou.«

«Et moi«, Peter suchte nach den Vokabeln. Man muß diesem schmählich verlassenen und sichtlich aufgelösten Geschöpf sagen, daß man Heinz' Freund ist, aber seine Handlungsweise zutiefst bedauert und ganz und gar auf der Seite der jungen Dame steht.»Moi, je suis Pierre!«Er zeigte auf sich. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Sie mußte ihn verstehen.»Et je suis un ami du Henry.«

«Oh, son ami?«Sie sprang plötzlich auf und ergriff seine Hand. Es ging so schnell, daß ein Rückzug unmöglich war. Außerdem gibt es eine entschuldbare Schrecksekunde und einen langen Verzögerungsweg, wenn ein dreiviertel nackter Körper auf einen zufliegt. Nur als Coucou Peters Hand küssen wollte, zog er sie schnell zurück.

«Nicht«, sagte er heiser.»Bitte, nein!«

«Oh!«sagte Coucou. Sie hockte auf der Sessellehne, warf plötzlich die Arme um Peters Hals, preßte ihre heißen, kleinen Hände gegen seine Wangen und küßte ihn auf den Mund. Ihre Lippen zitterten.

Sicherlich hat sie Fieber, dachte Peter als moralische Rechtfertigung gegenüber seinem Gewissen. Deshalb hielt er auch still und ärgerte sich nur maßlos, daß sein Herz wie eine Kesselpauke dröhnte.

Als Coucou seinen Kopf wieder losließ, trat er einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Also doch Himbeer, dachte er. Er schmeckt so, wie er riecht, der Lippenstift. Er schielte zu Coucou hinüber und suchte mit den Blicken ihre Lippen. Sie waren voll und sinnlich, fast zu voll für das schmale Gesicht unter den goldenen Haaren.

Etwas Fremdes, Eigenartiges drückte plötzlich in Peters Brust. Es war ihm, als sei die Zeit zurückgedreht, als sei er wieder ein flotter

Zwanziger. Es kribbelte in seinen Händen, und unter der Kopfhaut juckte es. Nur das Herz war lahm. Es kam bei der Belastung nicht mehr mit und brachte den Kreislauf durcheinander.

Coucou goß Kaffee ein. Sie zeigte auf Zuckerdose und Milch und nickte fragend. Peter nickte zurück. Da gab sie ihm zwei Stückchen Zucker und etwas Milch in den Kaffee.

Das ist bestimmt das Quantum von Heinz, dachte Peter. Und er ärgerte sich plötzlich darüber, daß Heinz sein Vorgänger war. Es war fast beleidigend.

Stumm saßen sie sich gegenüber und tranken ihren Kaffee. Von der Eglise Sulpice klangen neun helle Schläge.

«Neuve heure.«

Coucou erhob sich schnell. Sie beugte sich noch einmal über Peter, gab ihm einen Kuß, streichelte ihm über das Haar, sie ist elektrisch geladen, dachte er schaudernd dabei. In mir knistert es! Dann ging sie in das Schlafzimmer, wie es schien, ein wenig traurig, und zog hinter sich die Tür zu.

Peter Sacher lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Welch ein Affe bin ich, dachte er. Ich benehme mich wie aus Holz geschnitzt. Wirken sich sieben vergangene Jahre so katastrophal im Altern aus? Zugegeben, Sabine hätte es nicht verdient, wenn ich mich anders benommen hätte. Aber immerhin haben sieben vergangene Jahre sie nicht abgehalten, ein Doppelzimmer an der See zu mieten. Teufel auch, man ist verreist, um sich zu prüfen! Wer kann es einem verübeln, ein schlechter Lebensschüler zu sein?

Er wollte aufspringen, um ins Schlafzimmer zu gehen, und verpaßte Gelegenheiten nachzuholen, als Coucou angezogen ihm entgegenkam. Sie war frisiert und geschminkt, hatte ein helles, großgeblümtes Perlonkleid an und sah frisch und hübsch aus. Jung und raffiniert naiv.

«Adieu, monsieur«, sagte sie leise. Sie ist traurig, durchfuhr es Peter. Natürlich, wer mit solch einem Schluffen wie mir einen solchen Morgenkaffee trinken muß, hat das Recht, bittertraurig zu sein. Er wollte die Arme ausstrecken und Coucou an sich ziehen, aber sie war schon weitergegangen, um ihn herum und sah auf ein Bild, das auf der Anrichte des Zimmers stand. Es stellte Heinz v. Kletow dar, in einem weißen Tennisdreß, mit einem Zahnpasta-ReklameLächeln.

«Et, Henry«, sagte Coucou. Dann stockte sie wieder und machte eine wegwerfende Handbewegung.»Au revoir.«

Sie ging zur Tür, mit gesenktem Kopf. Aber bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um, nestelte in ihrer Handtasche und holte einen Schlüssel hervor. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie ihn Peter entgegen.

«La clef«, sagte sie traurig.»Pour Henry — «

«Behalte ihn doch!«antwortete Peter leise.»Ich bleibe doch sechs Wochen hier in Paris.«

Sie verstand ihn nicht. Da er sich nicht rührte, um den Schlüssel entgegenzunehmen, legte sie ihn auf einen Stuhl, wandte sich ab und ging. Sie hatte die Tür offengelassen. Peter hörte, wie sie die Flurtür öffnete, sie quietschte etwas (wird gleich geölt, dachte Peter mutig), dann klappte sie wieder ins Schloß. Es war ein Schlag, der deutlich sein Herz traf.

Coucou war gegangen.

Für immer?

Peter Sacher lief zum Fenster und sah durch die Gardine auf die stille Straße. Nur ein paar Handkarren rappelten über die Rue de Sevres.

Coucou kam aus dem Haus. Sie schaute sich um. Sie blickte die Hauswand empor, wandte sich dann schnell ab und trippelte mit eiligen Schritten davon. Niemand beachtete sie. Sie war ein Mädchen wie Hunderttausend in Paris. Sie trug ein buntes Fähnchen, ein knallrotes Mündchen und blanke, wissende Augen.

Coucou, dachte Peter. Sie trägt das Herz von Paris in ihrer kleinen Brust.

Wütend wandte er sich vom Fenster ab. Wenn Männer müde werden, flüchten sie sich in die Sentimentalität! Es ist abscheulich, alt zu werden.

Er trat an den Spiegel in der Diele. Die Betrachtung seines Ichs ermutigte ihn nicht sonderlich. Immerhin rannte er zurück ins Wohnzimmer, nahm das Bild Heinz v. Kletows, er sieht widerlich jung und frisch aus in seinem Tennisdreß, so gemein geladen mit Potenz, dachte Peter neidvoll, trug es in die Küche in den Abfalleimer.

Im Wohnzimmer entdeckte er auf dem Rauchtisch den Zettel Kle-tows.»Wenn Coucou kommt, sei nett zu ihr und tröste sie. Die Kleine ist herzensgut, nur ein bißchen hysterisch.«

Peter Sacher zerknüllte den Zettel und warf ihn in die Ecke zu dem abgerissenen schwarzen Strumpfband.

«Blöder Hund!«sagte er laut. Es war nicht ganz klar, ob er Heinz damit meinte.

Aber dann, nach einigem Zögern, weil er sich viehdumm und kindisch vorkam, bückte er sich, nahm das abgerissene Strumpfband Coucous aus der Ecke und steckte es in das innere Fach seiner Brieftasche.

Ich fahre nach Düsseldorf zurück, dachte er. Ich gehöre nicht nach Paris. Ich ersticke hier am eigenen Dilettantismus.

Die Eglise Sulpice schlug zehnmal. Unter dem Briefschlitz der Flurtür lag eine zusammengefaltete Zeitung. Peter hob sie auf, blätterte die letzte Seite um und las die Ankündigungen der Tagesveranstaltungen.

In der Oper spielte man >La Boheme<, in der Comedie Frangai-se Molieres >Le malade imaginaire<, im Theatre Sarah Bernhard eine Komödie Marcel Pagnols. Die Bars lockten mit Entkleidungsszenen, im Moulin Rouge spielte ein Neger-Tanzorchester.

Es war fad. Alles war so fad!

Am besten ist es, man nimmt sich eine Taxe und läßt sich rund und kreuz und quer durch Paris fahren, dachte Peter. Das ist besser, als mit dem eigenen Wagen durch eine fremde Stadt zu irren. Hinein in den Bois, langsam über die breiten Boulevards und Avenuen. Vielleicht überkommt einen dann das Fluidum, das die Abenteuermüdigkeit aus den Knochen treibt. Und wo ein schönes Mädchen über die Straßen trippelt, wo ein schlankes Bein unter der Mar-kise eines Cafes in der Sonne wippt, da kann man dem Chauffeur auf die Schulter tippen und sagen: Halt! Ich steige aus.

Austern mit Champagner. Eine Flasche Haut Sauterne. Einen Aperitif. Dazu das girrende Lachen eines Mädchens. Das müßte Paris sein.

Peter Sacher steckte die Zeitung in die Jackentasche. Als er den Rock zuknöpfte, merkte er, daß ihm der süßliche Duft von Cou-cous Parfüm entströmte. Er schnupperte an den Revers, an den Ärmeln, die noch umgestülpt waren und an den Schultern.

Coucou, dachte er. Du hast ihn auf der nackten Haut getragen. Hier drückten deine. Hastig streifte er die umgestülpten Ärmel herunter und schob das Kinn vor. Haltung, Peter! Bloß Haltung bewahren!

Aber seine Finger zitterten ein wenig, als sie im Treppenhaus den Schlüssel im Schloß herumdrehten.

Im Treppenhaus traf er auf den alten Concierge.»Bon jour, monsieur«, sagte er und blinzelte dabei frivol mit den Augen. Pariser Hausmeister sind großzügig und weltmännisch.

Peter grüßte verwirrt zurück. Er gab dem alten Mann die Schlüssel zur Wohnung und blieb ihm zwei Schritte entfernt, damit er nicht Coucou aus seiner Jacke roch.

«Ich fahre durch Paris«, sagte er.»Tour de Paris, compris?«

Der alte Mann nickte lächelnd, steckte die Schlüssel ein und setzte seine Arbeit des Treppenkehrens fort.

Über Paris lag eine grelle Sommersonne. Peter Sacher prallte fast zurück, als er den kühlen Hausflur verließ und auf die Straße trat. Der Asphalt war pappig. Die Autos zischten durch die Sonnenglut. Der Reifengummi stank wie verbrannt.

Drei Minuten ging Peter durch die Glut, dann winkte er eine Taxe heran. Knirschend, in den weichen Asphalt Rillen ziehend, hielt sie am Bordstein.

«Parlez-vous allemagne?«fragte Peter den Chauffeur.

Der Fahrer grinste.»Det will ick meenen!«

«Ein Berliner!«jubelte Peter Sacher. Er riß die Tür auf und warf sich neben dem Fahrer auf den Sitz.»Nun fahr mal los, Landsmann!«

«Und du kommst aus'n Rheinland, wat?«Der Wagen fuhr an.»Tja, so jeht's nu mal. Ick bin hier hängenjeblieben im Krieg, 'ne schicke Französin, weeste, die hat mir verborjen jehalten. Nu sind wir va-heeratet, zwee Bälger ham mer och. Und die sprechen wie ick Berlinisch. Mit französischen Knubbeln!«Er lachte wieder und sah Peter zwinkernd an.»Wo soll's denn hin am frühen Morjen? Kleene Puppe irjendwo im Lojis, wat?«

«Laß mich mit den Puppen hier in Ruhe. «Peter Sacher tupfte sich den Schweiß von der Stirn und kurbelte die Scheibe ganz herunter.»Einmal rund um Paris, Landsmann, und dann kreuz und quer dadurch, das ist alles, was ich von Paris will. Alles andere ist doch Käse.«

«Ach so. Frau Gemahlin ist mit und noch ein bißchen müde, wat?«Der Chauffeur beugte sich zu Peter hinüber.»Ick kenne da ein Cafe, von außen wie 'n seriöses Familiending. Aber im Hinterhaus! Junge, Junge! Der Frau Gemahlin zeigen wir die Rechnung als Alibi. Ein simples Cafechen kann niemand verwehren, wat?«

«Rund um Paris, weiter nichts. Und nun los.«

«Wie's beliebt. Aber ick mache mal ab und zu Station. Beim Essen kommt der Appetit. Wenn et nich jeblökt hätte, sagte der Wolf, hätt' ick det Schaf nie jefressen. Und hier gibt es Schäfchen, Junge, Junge.«

Der Wagen fuhr an und reihte sich ein in den breiten Strom der Autokolonnen am Boulevard des Invalides.

Peter Sacher lehnte sich zurück und blickte hinaus.

Das ist Paris.

International, froh, glücklich, unsterblich.

Eigentlich habe ich das gesucht. Nur das. Und nicht Coucou. Das Schäfchen.

Womit man nicht sagen will, daß ein Mann es ablehnt, ein Wolf zu sein.

Загрузка...