DRITTES KAPITEL

In Düsseldorf war man unterdessen nicht untätig gewesen. Dr. Portz hatte sein Hauptquartier hinter seinem Schreibtisch aufgeschlagen, von dem aus er mit dem Genie eines nie Kriege verlierenden Feldherrn die feindlichen Heere gewissermaßen als übergeordneter Schlachtenlenker beobachtete und führte.

Borkum liegt rund tausend Kilometer von Paris entfernt. Aber diese tausend Kilometer werden täglich, stündlich vielleicht, von den beiden Ehefrischlern überbrückt, denn sie denken an sich, sechs Wochen lang, und diese sechs Wochen sollen ihnen eine Qual werden, so qualvoll, daß sie mit ausgebreiteten Armen aufeinander zulaufen und ihre eigene Dummheit verfluchen.

Das war eigentlich der Grundplan Dr. Portz'. Auf ihn aufbauend entwickelte er eine Theorie.

Die hervorstechendste Eigenschaft liebender, verheirateter Frauen ist die Eifersucht. Die gefährlichste Eigenschaft liebender, verheirateter Männer ist das Mißtrauen.

Wenn man beides teuflisch schürt, mit immer neuen Situationen füttert, wenn man Rätsel aufbaut und halbe Lösungen verkündet, wenn der menschliche Kessel bis zum Überdruck aufgeheizt wird, um dann irgendwo ein Ventil zu ziehen und etwas Luft abzulassen, wenn man also zwei Menschen, die sich lieben, durch die Fegefeuer von Eifersucht laufen läßt, werden sie mit ausgeglühter, reiner Liebe daraus hervorgehen.

Es folgt dann etwas, was man die verblüffendste Eigenschaft von Eheleuten nennt: Was wie eine Tragödie aussah, wandelt sich zu einer seufzenden Versöhnung.

Dr. Portz war bereit, diese im Kern sehr gefährliche Theorie in die Praxis umzusetzen. Er wollte Sabine und Peter die Gelegenheit geben, sich auf einem einsamen Fleck dieser Erde, nämlich im Herzen, ob mit oder wider Willen, vor die Alternative zu stellen: Entweder — oder!

Assessor Bornemeyer war nur zum Teil eingeweiht. Er stand vor dem Chefschreibtisch, hager, blaß, farblos. Er arbeitet sicherlich zuviel, dachte Dr. Portz, als er ihn betrachtete. Dieser Mann ist ein Novum. Es gibt wenig Juristen, die sich überarbeiten.

«Bornemeyer«, sagte Dr. Portz und blätterte in seinen Notizen.»Haben wir in den nächsten sechs Wochen ganz wichtige Termine?«

«Wenn kein Mord passiert, nein.«

Portz nickte. Eine Seele von Mensch, dieser Bornemeyer.

«Und sonst?«

«Die Ehescheidungssache Direktor Basser.«

Dr. Portz winkte ab.»Unwichtig. Basser nimmt alles auf sich und findet seine Frau ab. Nur die Frau will nicht. Aber das ist nur eine Frage der Abfindungshöhe. Bei den Wirtschaftswunder-Bassers löst sich das Leben in Zahlen auf. «Portz putzte sich die Nase.»Nur Bas-ser ist plötzlich knauserig geworden. Nicht bei seinen Amouren, nein, bei seiner Frau. Da spielt er den bankrotten Fabrikbesitzer. Aber lassen Sie mal, das ist alles kein Problem. Sie müssen sich eines merken, Bornemeyer: Ehemänner sind immer zu anderen Frauen generös.«

«Wer es sich leisten kann.«

«Sie sind von einer ohnmächtigen Frivolität, Bornemeyer. Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Aber sehen Sie mal her. «Er schob dem blassen Assessor einen dicht beschriebenen Zettel zu.».Da ist etwas Besonderes für Sie! Sie fahren nach Borkum.«

«Ich?«

Bornemeyer schüttelte den Kopf.

«Auf Kosten der Firma!«

«Das hört sich wahrhaftiger an.«

«Und Sie übernehmen dort eine delikate Aufgabe: Sie werden Frau Sabine Sacher überwachen.«

Bornemeyer schob seine dicke Hornbrille über die Nasenwurzel auf und nieder. Verständnislos sah er seinen Chef an.

«Das ist doch wohl ein gut gelungener Scherz«, stotterte er.

«Zum Scherzen haben Sie Zeit, wenn Sie Ihren Auftrag ausgeführt haben. Es ist eine Realität, Bornemeyer: Sie reisen nach Borkum und beschatten Frau Sacher. Sie werden aufmerksam wie ein Mäuslein sein! Herr Sacher ist verreist. Allein. Und Frau Sacher ist nun auch verreist. Allein nach Borkum. Alleinreisende Frauen aber sind gefährdet wie Hermeline. Herden von Jägern laufen ihnen nach. Herr Sacher, der verständlicherweise sehr besorgte Ehemann, will nun durch uns über jeden Schritt seiner angebeteten Frau genau unterrichtet werden. Alles, was Sie also in Borkum sehen, melden wir gleich weiter nach Paris.«

«Paris?«Bornemeyer sah seinen Chef mit schräg gehaltenem Kopf an.»Herr Sacher befindet sich in Paris?«

«Das gefällt Ihnen wohl nicht, was?«

«Paris«, sagte Bornemeyer gedehnt und blinzelte hinter seiner Hornbrille.

«Lassen Sie Ihre erogenen Gedanken zu Hause, Bornemeyer. Herr Sacher ist rein geschäftlich in Paris.«

«Wäre es nicht logischer, den Ehemann beobachten zu lassen?«

«So etwas tut man nicht.«

«Wen vertreten wir eigentlich: Herrn oder Frau Sacher?«

«Beide.«

«Aber. «Bornemeyer begann zu stottern.»Das geht doch nicht. Wir können doch als Anwalt nicht Partei und Gegenpartei.«

Dr. Portz schüttelte den Kopf und starrte zu dem langen Bornemeyer empor.

Der Junge hat eine Auffassung vom Leben, dachte er. Voller Ideale. Voll erlernter Moral! Wie will er mit diesem Ballast bloß weiterkommen?

«Bornemeyer«, sagte er ernst.»Sie sind zu mir gekommen, um sich bei mir einzuarbeiten. In einen schweren Beruf, Bornemeyer. Sie wollen einmal ein guter Anwalt werden. Sehr schön. Das Zeug dazu haben Sie. Sie sind fleißig. Sie sind gewissenhaft. Sie sind ein Arbeitstier. Sie sind korrekt. Sie denken geradlinig. Alles sehr schön und sehr fleißig. Aber manchmal denken Sie zu schulmäßig. Das Leben verlangt oft Improvisationen. Ja, es ist selbst fast nur eine Improvisation. Nicht allein auf die Korrektheiten kommt es oft an, sondern viel öfter auf die Extempores. Und noch eine Weisheit gebe ich Ihnen mit auf den Lebensweg: Wenn jemals jemand bewacht werden muß, ist es stets die Frau!«

«Aber das ist doch völlig unlogisch!«

«Logisch, Bornemeyer, logisch! Denken Sie um! In welcher Welt leben Sie überhaupt? Haben Sie schon ein Leben gesehen, das logisch abläuft? Nichts durchbricht die Gesetze der Logik so oft und gründlich wie das menschliche Dasein. Blicken Sie doch in unsere Akten, Bornemeyer. Kramen Sie in unserem Archiv herum, blasen Sie den Staub der letzten zehn Jahre von den Deckeln und lesen Sie. Es ist ein babylonischer Turmbau aus Unlogik, Inkonsequenz und menschlichen Schwächen. Wenn das Leben immer und ewig logisch wäre, pfui Deibel, wie langweilig wäre es dann. Und verdienen würden wir auch nichts.«

Dr. Portz winkte ab. Sein Gesicht war gerötet.

Hoffnungsloser Fall, wirklich, dachte er. Ein Jurist mit solchen überlebten Idealen ist wie ein Schornsteinfeger mit Schwindelgefühlen.

Als unsere Großväter noch Vollbärte trugen und unsere Großmütterchen Fischbeinstäbchen in den hohen Kragen, da war dieser Bornemeyer richtig am Platze. Aber Nietenhosen, auch geistige, verlangen eine Umstellung der Lebensmoral.

«Reden wir von etwas anderem«, sagte er mit Energie.»Es bleibt dabei: Sie fahren auf Kosten der Firma nach Borkum. Sie werden zum Schatten von Frau Sacher. Sie lassen sie nicht aus den Augen. Sie kleben sich an ihre Fersen!«

«Und nachts?«

«Nachts wird sie schlafen.«

«Nehmen wir an, daß Frau Sacher nicht des Nachts.«

«Bornemeyer! Sie komplizieren wieder alles! Natürlich schläft sie!«

«Natürlich. Aber es kann sein, daß.«

«Wenn Sie immer hinter ihr bleiben, werden Sie ja sehen, was sie tut. Mein Gott, muß ich Ihnen alles vorkauen? Sie passen auf, weiter nichts! Und wenn Frau Sacher von Borkum wegfahren sollte, Sie fahren hinterher! Alles wird bezahlt! Und wenn's bis nach Rio de Janeiro ist.«

«Wer bezahlt es denn?«

«Der Ehemann! Eine Ehe zu scheiden, ist relativ billig, eine Ehe zu flicken, ist teurer, als einem Haus einen neuen Balkon zu geben. «Dr. Portz schnaufte. Lange Reden machten ihn kurzatmig. Er wog vierzig Pfund zuviel, das war es. Und weil er es wußte, hielt er nicht gerne lange Reden.

«Jeden dritten Tag schicken Sie mir einen Bericht, einen genauen Bericht! Mit allen Einzelheiten, Uhrzeiten, Orten und, falls vorhanden, mit Angaben der Zeugen.«

«Wie Sie es wünschen. «Assessor Bornemeyer fuhr sich mit dem Zeigefinger in den Hemdkragen. Er schien plötzlich zu eng geworden zu sein. Er schwitzte sogar.

«Und wenn mich die gnädige Frau wiedererkennt?«

«Menschenskind, Bornemeyer! Lesen Sie mehr Wallace oder Agatha Christie! Natürlich werden Sie nicht als Assessor Bornemeyer nach Borkum gehen. Kleben Sie sich einen Bart an.«

«Einen Bart?«sagte Bornemeyer. Ein gelbsuchterregender Widerwille schwang in seiner Stimme.

«Lassen Sie sich die Haare färben, sprechen Sie französisch, kriechen Sie in eine andere Haut. Auf jeden Fall, wie Sie's schaffen, ist mir egal, melden Sie mir pünktlich, was Sie sehen!«

Bornemeyer zuckte mit den Schultern.»Ich werde alles versuchen. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß ich nicht gut französisch spreche.«

«Dann reden Sie italienisch oder Sanskrit, zum Teufel!«

«Vom Italienischen kenne ich nur das Wort Amore.«

«Normalerweise genügt das auch! Aber hier, Himmel noch mal, lassen Sie sich etwas einfallen!«Dr. Portz sprang auf und stützte sich mit beiden Armen auf seinen Schreibtisch. Er sah Bornemeyer an, als wolle er ihn hypnotisieren.»Sie fahren noch heute mit dem Nachtzug nach Emden, Außenhafen, und können morgen früh mit der Flut auf Borkum sein. Frau Sacher wohnt in der Pension >Seeadler<.

Sie ziehen in die >Seeschwalbe<.«

«Sehr poetisch.«

«Von mir aus dichten Sie auch! Nur vergessen Sie mir eines nicht: erster Bericht am 12.!«

«Und ich habe völlig freie Hand?«

«Völlig. «Dr. Portz schielte zu Bornemeyer empor.

«Und alles bezahlt die Firma?«

«Alles. Natürlich keine Eskapaden! Aber sonst ist alles gedeckt. Sie können sich am Strand als Kraftmensch bewundern lassen oder als Wunderesser. Das ist mir wurscht! Es muß nur eins dabei herauskommen: Frau Sacher darf keine Minute aus den Augen gelassen werden.«

Bornemeyer nickte. Er begann auf einmal zu lächeln und strahlte Dr. Portz an.

«Aber.«

«Was aber?«

«Es könnte sein, daß ein WC zwei Ausgänge hat. Was dann?«

«Hinaus!«

Kopfschüttelnd sah Dr. Portz seinem Assessor nach. Jetzt ist er in Hochstimmung, dachte er bitter. Er hat seinen Chef mit einem sauren Witz aus der Fassung gebracht. Davon zehrt er ein Jahr lang.

Er ging an das breite Fenster und sah hinab auf das bewegte Straßenleben der Alleestraße. Dieser Bornemeyer, sinnierte er. Es ist fast so, als gehöre er zu der Kategorie der stillen Wasser. Erst wenn man einen Stein hineinwirft, sieht man, wie weit er Kreise ziehen kann, nur ist man erschrocken, wie tief dieser stille See ist!

Während in der Kanzlei Bornemeyer seine Aktentasche einpackte, seinen Büromantel in den Schrank hängte, die Thermosflasche in seinen Schreibtisch schloß und unter den verblüfften Augen des Bürovorstehers und dreier Tippmädchen seinen Schlipsknoten höher zog und sogar ein Stäubchen von seinem Jackett bürstete:»Ich fahre jetzt in Urlaub!«sagte er dabei lässig und verbreitete greifbares Entsetzen, denn man hielt ihn für übergeschnappt, saß Dr. Portz schon wieder hinter seinem Schreibtisch und schrieb mit der Hand einen Brief.

Nach Paris. Aber nicht an Peter Sacher.

Er schrieb an einen Maitre Emile Caravecchi.

Das war ein französischer Kollege, den er von einem Studienaustausch seit seinen Studentenjahren kannte.

Maitre Caravecchi wohnte gegenüber dem Gare Montparnasse. Nicht weit von der Rue de Sevres.

Dr. Portz begann seinen Brief mit:»Mon cher ami. «und schloß ihn mit dem Satz:»Ich lege Ihnen ans Herz, Herrn Sacher in glühenden Farben zu schildern, was ich Ihnen in Abständen von drei Tagen aus Borkum über seine Frau melde. Tun Sie noch was dabei, es schadet nicht. Werden Sie voller Fantasie. Ein Franzose ist ja ein Genie, wenn es um die Untreue einer Frau geht! Verhindern Sie aber auf jeden Fall, daß der Sacher vor dem 28. August wieder nach Düsseldorf fährt, oder gar nach Borkum! Herzlichst und immer zu Gegendiensten in Deutschland bereit — Ihr Portz.«

Den Brief ließ er in seinem Büro kuvertieren. Da niemand Französisch konnte, schaltete die Gefahr einer Kenntnisnahme durch das Personal aus.

Dann rieb er sich die Hände und war sehr zufrieden.

Er vergaß dabei ganz den Spruch, daß man den Tag nicht vor dem Abend zu loben hat.

Assessor Bornemeyer fuhr mit der Straßenbahn nach Derendorf. Dort bewohnte er ein möbliertes Zimmer bei einer Postobersekretärswitwe, mit Kochgelegenheit, Badbenutzung und Fernsehgenehmigung.

Die Witwe war nicht zu Hause. Bornemeyer schrieb einen Zettel und steckte ihn an die Scheibe des Küchenschrankes.

>Bin für sechs Wochen verreist. Sie können meine Marmelade und meine Eier essen, damit sie nicht faul werden.

Bornemeyer.<

Dann packte er nur das Notwendigste in einen großen Koffer, nahm sich auf der Straße, zur Gewöhnung an den neuen, geliehenen Reichtum, eine Taxe und ratterte in die Stadt zurück.

In einem eleganten Herrenbekleidungsgeschäft in der Nähe des Corneliusplatzes wurde er kritisch begrüßt. Sein Vulkanfiberkoffer paßte nicht unter die Kristalleuchter, die ihn grell beschienen. Eine Verkäuferin trat auf ihn zu… der elegante Herr im dunkelgrauen Zweireiher blieb im Hintergrund und war etwas konsterniert. Um einen Schlips für zweifünfzig zu kaufen, betritt man diesen Laden nicht!

Er wurde aber sehr rührsam, als Bornemeyer laut und bestimmt seine Wünsche äußerte: zwei englische Anzüge, einige dazu passende Seidenhemden, Strümpfe, Taschentücher, Ziertücher, einen Trenchcoat neuester Linie, eine Kamelhaar-Sportkappe, diskrete Krawatten, kurzum alles, was aus einem mittelmäßigen Spießer einen internationalen Beau macht!

Bornemeyer hatte keinerlei Gewissensbisse mehr. Dr. Portz hatte ihm einige Blankoschecks mitgegeben. Wer sich sechs Jahre kaum um seine Frau gekümmert hat, soll im siebten merken, daß er verheiratet ist!

Nach der Einkleidung, Bornemeyer lernte aus eigener Sicht den Satz >Kleider machen Leute< kennen und bestätigt, ging er, diesmal mit einem hellen, herrlichen Lederkoffer für Luftreisende, in ein bekanntes Lokal der Düsseldorfer Altstadt, aß ein Steak auf englisch, ließ sich das internationale Hotelverzeichnis bringen und studierte in schöpferischer Stille die angegebenen Vorzüge seiner >See-schwalbe< auf Borkum und seine eigene Rolle.

Ich werde ab jetzt ein steinreicher Autohändler aus Genua sein. Ich heiße klangvoll: Signore Ermano Ferro.

Das Geld hatte er, die Kleidung auch. Es fehlte nur noch das Aussehen. Das notwendige Temperament traute sich Bornemeyer in einem Anfall von Größenwahn zu.

Nach dem Abendessen gab er seinen Koffer als Reisegepäck auf (ein vornehmer Mann schleppt sich nicht mit einem Koffer herum), bummelte dann noch etwas, als Abschied gewissermaßen, über die

Königsallee und ging dann zu einem bekannten Friseur.

«Seien Sie nicht erstaunt«, sagte Bornemeyer,»wenn Sie jetzt meine Wünsche hören: Ich möchte einen kleinen, schwarzen Bart unter der Nase, aber nicht einen in unlieber historischer Erinnerung, sondern so einen schmalen, frauenmordenden, wissen Sie, einen mittelbraunen, nicht abfärbenden, südländischen Teint und pechschwarze, glänzende Haare. Sie verstehen?«

Der Friseur nickte und sah sich um. Es hatte den Anschein, daß er Hilfe suchte. Bornemeyer lachte.

«Nein, Sie denken falsch«, sagte er.»Ich bin kein gesuchter Verbrecher. Ich bin auch kein aus der Heilanstalt Entsprungener. Ich bin Assessor Bornemeyer, die rechte Hand von Dr. Portz.«

«Kenne ich«, sagte der Friseur aufatmend.

«Und ich bin lediglich verliebt. Das ist alles. Das Mädchen möchte einen südländischen Typ.«

Wer hat mehr Verständnis für Verliebte als ein Düsseldorfer Friseur? Verliebte und Verrückte sind Zwillinge.

Der Friseur lachte zurück und nickte.

«Ich werde aus Ihnen einen Italiener zaubern, wie er im Bilderbuch stehen könnte.«

Zwei Stunden hielt Bornemeyer die Prozedur aus. Er wurde gewaschen, geschnitten, gefärbt, unter Heißlufthauben gesetzt, mit Lok-kenwicklern gespickt, massiert, wieder heiß beblasen, kurzum: Die Geburt des neuen Menschen ging durch das Fegefeuer der Geduld und Duldung.

Der Spiegel aber wurde zum Zauberkasten. Bornemeyer benötigte einige Zeit, um zu begreifen, daß er es war, dessen Verwandlung er betrachtete.

Das blasse Gesicht wurde südländisch braun.

Das strohige Haar glänzte pechschwarz in kleinen, geringelten Lok-ken.

Unter der Nase, sie war fast römisch, leuchtete ein schmales, flottes Bärtchen.

Kaum begriff er das Phänomen, daß seine Augen leuchteten und

Blitze schossen.

«Wunderbar«, sagte er, ehrlich erschüttert.»Einfach wunderbar!«

Er kam sich fast unheimlich vor.

Die dicke Hornbrille, die er trug, verschwand in der Jackentasche. Ein glitzerndes Monokel warf die Strahlen der Lampe zurück.

Ermano Ferro aus Genua erhob sich aus dem Friseurstuhl.

Der kleine Assessor Hubert Bornemeyer blieb in Düsseldorf zurück.

Noch einmal warf Bornemeyer einen Blick in den Zauberspiegel. Dann reckte er sich. Sein Mund, unter dem flotten Schnurrbart, bekam ein maliziöses Lächeln. Toll, dachte Bornemeyer. Einfach toll. Was solch ein Schnurrbart macht! Vielleicht liegt hier ein Geheimnis der nahen Vergangenheit.

«Exzellent«, sagte Bornemeyer-Ferro zu dem Friseur und bezahlte mit großer Geste.»Sie aben ganzes Arbeit geleistet. Isch binn Ihnen serr dankbarr.«

Der Friseur bog sich vor Lachen.»Arrivederci, signore«, rief er und hielt die Tür auf.

Würdevoll verließ Bornemeyer den Salon. Der Friseur starrte ihm nach, wie er mit durchgedrücktem Kreuz davonging.

«Es muß auch solche geben!«sagte er zu sich.»Was wäre das Leben ohne Idioten?«

Bornemeyer-Ferro ging über die Graf-Adolf-Straße. Er sah wohlgefällig, wie die Mädchen ihm nachblickten und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten. Da wölbte er die Brust noch mehr hinaus, lächelte den Mädchen zu und nahm mit seligem Herzen wahr, daß sie erröteten.

Ermano Ferro ging zum Bahnhof zurück. Seine Umwandlung war vollendet. Im Wartesaal 1. Klasse ließ er die Kellner springen wie Känguruhs. Es war eine Wonne, nur mit dem Finger zu winken, um zu sehen, wie Leben in die träge Masse Mensch kam.

Als Assessor Bornemeyer war man eine Null. Aber ein bißchen brauner Teint, ein Menjoubärtchen und die Haltung eines Menschen, dem Geld nur Ballast bedeutet — und die Welt liegt auf dem Bauch.

Der Schnellzug nach Emden lief ein. Ermano Ferro stieg in ein Abteil der 1. Klasse. Vorher hatte er auf dem Bahnsteig an einem Wagen eine Tüte mit Weintrauben gekauft. Der Schaffner des Wagens trug ihm die Tüte nach ins Abteil. Der Kellner stellte ihm nach einem fachkundigen Blick unaufgefordert eine Reiseflasche Chianti auf das Fenstertablett. Es war fast verwunderlich, daß sein Schlafwagenabteil nicht bekränzt war.

Draußen auf dem Bahnsteig leuchtete das grüne Schild des Aufsichtsbeamten auf. Sein Pfeifsignal durchschnitt die helle Sommernacht.

«Sitzen Sie bequem?«fragte der Schlafwagen-Schaffner besorgt. Er-mano Ferro nickte.

Weich fuhr der Zug an.

Die Lichter Düsseldorfs versanken in der Nacht. Die rheinische Tiefebene öffnete sich.

Wie eine leuchtende Schlange raste der Zug dem fernen Meer entgegen.

Ermano Ferro lehnte sich zurück, trank einen Schluck Chianti und fühlte zögernd, ob sich der Schnurrbart nicht verschoben hatte.

Er fuhr einem Abenteuer entgegen, von dem der kleine Assessor Bornemeyer vor zehn Stunden nicht einmal zu träumen gewagt hätte.

Wie eine riesige, blankpolierte Muschel liegt die Insel im Meer.

Lang und groß sind die Wellen, die ihre Nord- und Südseite umbranden, denn sie kommen aus der Weite des Atlantik. Unzählbar sind die Vögel und Möwen, die um die Spitze Hoge Hörn im Osten kreischen; schaurig und erregend sind die Sagen um die Wolde-Dünen, wo Störtebeker, der größte Seeräuber in deutschen Gewässern, seinen heimlichen Ruheplatz erwählte.

Der Leuchtturm mit seinem Zaun aus Walfischkinnladen leuchtet weit über die See. Wie träumende Schwäne gleiten die Segeljachten durch die blaue Wasserschlange von Tüßkendoerkill. Durch die Dünen, zum Muschelfeld hin, vorbei am Jägerheim und Sturmeck jagt die Kavalkade übermütiger Reiter. Auf den algengrünen, glitschigen Steinen der Buhnen hocken die Angler. Auf den Riffen und Sandbänken sonnen sich träge die grauen Leiber der Seehunde. Musik klingt aus den großen, weißen Hotels über die viertausend Meter lange Strandpromenade.

Es ist schon ein herrliches Stückchen Erde, aber von all dem sieht man wenig, wenn das Schiff im Hafen anlegt. Auch der Bäderdampfer >Frisia< mit seinen wie schwarze Trauben auf dem Deck zusammengeballten und zur Insel hinüberstarrenden Passagieren erfüllte nur teilweise die Erwartungen der neuen Kurgäste. Von ferne hatten sie die Hotelpaläste gesehen, jetzt waren es nur Dünen und kleinere Häuser, eine schmucke Inselbahn und Fischerboote mit eingerollten Segeln, wie sie zu Hunderten auch im Hafen von Emden lagen.

Über die Gangway schritt Sabine Sacher auf die Insel. Sie hatte sich auf dem Schiff umgezogen. In einem weißen, tief ausgeschnittenen Leinenkleid mit weißen flachen Schuhen, die schwarzen Haare mit einem Seidenband zusammengebunden und aus der Stirn hinausgehoben, so daß sie wie eine Krone um den Kopf lagen, sah sie unternehmungslustig und appetitlich jung aus.

An Land sah sie sich ein wenig hilflos um. Ihre Koffer wurden von einem Steward auf das Pflaster gesetzt, ein Heer von Gepäckträgern machte Jagd auf Kunden. Hotelboys mit Schildern ihrer Hotels wan-derten an der Mole hin und her und sammelten ihre Gäste zu einem Häuflein. Die ersten Bekanntschaften wurden geschlossen. Die Erwartungsfreude machte freudig und redselig.

Von der Pension >Seeadler< war niemand gekommen. Sabine wartete, bis alle Gepäckträger und Boys besetzt waren, dann nahm sie ihre Koffer selbst und schleppte sie zum kleinen Bahnhof der Inselbahn, die bereits zum zweitenmal pfiff und zum Einsteigen aufforderte.

Eine Gruppe Pfadfinder zog mit Lauten und Harmonikas an ihr vorbei. Vor einem der Inselbahnwagen küßte sich ein Ehepaar. Der Ehemann war gerade angekommen. Zwei Kinder, braun wie Mulatten, kamen herbeigelaufen und brüllten» Vati! Vati! Vati!«Überall war Glück und Freude, nur sie war allein.

Bevor Sabine Sacher in die Inselbahn stieg, sah sie zurück zum Schiff. Postwagen und Pferdefuhrwerke waren herangefahren, die Rückladung wurde hineingetragen.

Umkehren, war ihr Gedanke. Mit dem gleichen Schiff zurück zur Küste und von dort nach Düsseldorf. Was sollte sie hier allein unter glücklichen Menschen? Niemand kannte sie, wie ausgestoßen stand sie abseits. Im >Seeadler< würde es nicht anders sein. Sie schielte hinüber zu dem jungen Ehepaar. Er hatte sie untergefaßt. Ihre Augen leuchteten. Wie verliebt sie sind, durchfuhr es Sabine. Und zwei entzückende Kinder haben sie. Wenn Peter hier wäre.

Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken. Er ist in Paris. Er langweilt sich bestimmt nicht. Man muß eben das Abenteuer suchen, wenn es einem nicht entgegenkommt!

«Wo soll'n die Koffer hin?«fragte einer der Gepäckträger. Sabine war der letzte Gast, der noch nicht eingestiegen war. Die kleine Lok pfiff zum drittenmal. Mahnend, dringend.»Wohnen Sie in einem Insulanerhaus oder im Hotel? Wir müssen schnell machen, die Bahn fährt gleich ab.«

«Pension >Seeadler<«, sagte Sabine leise. Wenn ich bloß nicht losheule, dachte sie. Ich bin nahe davor.

«Das ist am Südstrand. Bitte, beeilen. Einsteigen!«

Der Gepäckträger hob die Koffer in den Wagen. Den letzten schob er noch hinein, weil der Zug nach einem kurzen Pfiff anfuhr. Sabine warf dem nachrennenden Träger einen Geldschein zu. Sie wußte nicht, wieviel es war. Als sie in die Tasche griff, war er zwischen ihren Fingern. Der Träger fing den Schein auf. Verblüfft starrte er den Schein an, dann riß er seine Mütze vom Kopf und schwenkte sie grüßend der freigiebigen Dame nach.

Sabine Sacher zwängte sich auf einen schmalen Sitzplatz inmitten schwitzender, fröhlich erzählender, nach Sonnenöl riechender

Menschen. Mißmutig starrte sie hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft der Insel.

Die Wolde-Dünen zogen vorüber, die Spitze des Leuchtturmes schob sich hervor, und dann tauchten inmitten von Strandhafer und saftigen Wiesen, sanften Dünen und goldenem Sand die ersten weißen Häuser auf. Ihre roten Dächer leuchteten in der Sonne. Es war ein fantastisches Farbenspiel, das lustig machte und ferienfreudig.

Vorbei am hohen Kurmittelhaus ratterte das Bähnchen und hielt inmitten des Zentrums. Vor dem nahen Kurtheater stauten sich die Gäste. Die Luxushotels am Strand ließen ihre blanken Fenster blitzen. Es war, als habe man die Insel zur Begrüßung der neuen Gäste geschrubbt und gewienert. Selbst das Meer hatte ein Sonntagskleid an. Es war flach, sonnendurchglitzert und träge.

Sabine Sacher sah dies alles nur mit halbem Verständnis für die Schönheit. Sie stand auf dem Trittbrett des Bähnchens und blickte den Hotelboys entgegen, die wieder an der Endstation standen. Ein kleiner Fischerjunge trabte durch das bunte Gewimmel. Über seinem Kopf trug er mit beiden Händen ein großes Schild. >Seeadler<. Neben ihm trabte ein anderer Junge. Auf seinem weißen Schild an einer Holzlatte leuchtete es: >Seeschwalbe<.

Sabine winkte dem ersten Jungen zu und sprang vom Trittbrett.»Hierher!«rief sie.»Hierher!«

«Zu uns?«fragte der Junge und holte sein Schild ein.»Ihr Name?«

«Sabine Sacher.«

Der Junge zog aus der Hosentasche eine zerknitterte Liste und fuhr mit seinem Zeigefinger die Namenkolonnen hinab. Dann nickte er und steckte das Papier wieder in die Hosentasche.

«Stimmt. «Er lächelte verzeihend zu Sabine.»Ich soll nämlich vorsichtig sein, sagt der Portier. Wir sind für zehn Wochen total ausverkauft.«

Er nahm Sabines Koffer, lud sie auf einen kleinen, flachen Handwagen, spannte sich wie ein Kuli in die Deichsel und rannte vor ihr her, dem Südstrand zu, der irgendwo hinter den großen weißen Steinklötzen der Hotels liegen mußte.

Die Pension >Seeadler< war sehr gut, bürgerliche Küche< versprach ein großes Schild, aber wer die ausgehängte Speisekarte las, mußte sich sagen, daß das deutsche Bürgertum ungemein wohlhabend sein mußte. Der Portier kam aus der Tür, als der moderne Kuli schwitzend, aber fröhlich grinsend hielt. Sogar ein Geschäftsführer im schwarzen Anzug zeigte sich in der Tür und repräsentierte allein schon durch seine Erscheinung und sein Vorhandensein.

Dann stand Sabine Sacher in ihrem Zimmer, das sechs Wochen lang ihre neue Heimat sein sollte. Eine Klause des Nachdenkens, der Sehnsucht nach Peter, der Läuterung und des endgültigen Entschlusses, wie es weitergehen sollte.

Es war ein großes Zimmer mit zwei Betten. Das zweite Bett kam Sabine wie ein Hohn vor, wie eine sechs Wochen lange Qual. Wer 42 Nächte neben einem leeren Bett schlafen muß und es anders haben könnte, braucht starke Nerven, dies durchzustehen. Es war eine Selbstkasteiung.

Ein breites Fenster bildete die Wand zum Meer hin. Bunt karierte Gardinen hingen davor, zugezogen, damit die Hitze nicht in den Raum flutete. Sabine zog sie zurück. Vor ihr breitete sich der weiße Sandstrand aus, bespickt mit Strandkörben und gestreiften Strandzelten.

Sabine drehte sich weg und betrachtete das Zimmer. Ein großer Doppelschrank, doppelte Waschbecken, um einen runden Tisch zwei Sesselchen, das Doppelbett, doppelte Nachttischlampen, doppelte Handtücher, Zahngläser, doppelte Bettvorleger, doppelte Speisekarten für den Abend, alles doppelt.

«Hier werde ich verrückt«, sagte Sabine leise und setzte sich auf das Bett.

Ihr Blick fiel auf einen handgemalten Spruch, der neben der Tür hing. Es war eine Holzscheibe, auf die man geschrieben hatte:

Des Lebens ganze Würze ist, daß du mal froh und lustig bist.

Sie sprang auf, riß die Gardine zurück und stieß die breiten Fensterflügel weit auf. Der warme Seewind blies ins Zimmer und zerzauste ihre Haare. Sie beugte sich hinaus, tief atmend, als ersticke sie in diesem Zimmer, in dem alles doppelt war.

Dort unten ist der Strand, dachte Sabine. Dort springen sie herum, braun, lebenslustig, fern aller Sorgen, ganz Kinder in Gottes Hand. Ihr Lachen übertönt das Brausen des Meeres; die Buntheit ihrer Bälle und Badeanzüge sind wie Tupfen auf einer riesigen Leinwand. Und ich stehe hier am Fenster, starre wie ein Sträfling hinab in das Leben und warte, warte.

Warten? Auf was eigentlich? Auf ein Wunder? Es gibt keine Wunder mehr. Früher war die Liebe ein Wunder, der erste Kuß, das erste große Erleben, das Glück, gemeinsam zu sein. Aber dann kam der Alltag, und in einer siebenjährigen Ehe gibt es keine Wunder mehr. Vielleicht nur noch eins, würde Peter in seinem bitteren Sarkasmus sagen: Das Wunder, daß alles sieben Jahre lang gedauert hat.

Sabine trat vom Fenster weg und sah zurück ins Zimmer. Das breite Doppelbett erschreckte sie plötzlich. Zu Hause in Düsseldorf hatte jeder sein eigenes Schlafzimmer. Nie hatten sie daran gedacht, daß ein Haus noch so groß und weit sein kann, wenn nur die Ehebetten wenig Platz einnahmen. Vielleicht hatte man alles falsch gemacht, von Anfang an. Nicht Ferien von der Ehe wären nötig gewesen, um die Trägheit aus ihrem Zusammensein zu schütteln, sondern Ferien in der Ehe mußten es sein! Eheferien zu zweit, allein irgendwo in der Einsamkeit, fern aller Telefone und Briefträger, Zeitungen und Radios. Dort hätte sich vielleicht finden lassen, was sie suchten: sich selbst.

Sabine schüttelte den Kopf. Sie band das Seidenband neu um ihre zerzausten Locken. Nicht daran denken. Hier ist Borkum. Und man ist allein mit einem Doppelbett.

Sie packte die Koffer aus und legte sich dann auf die Daunendecke des Bettes, die Arme unter dem Nacken verschränkt. An der weißgetünchten Decke spiegelte sich die Sonne in bizarren, durch das Gardinenmuster aufgerissenen Formen.

Müdigkeit überfiel Sabine. Trauer, Einsamkeit, Schmerz, alles drückte sie nieder.

Aber auch Trotz.

Sie begann zu grübeln.

Es gibt erwiesenermaßen auf der Welt nichts Gefährlicheres als eine grübelnde Frau. Was Helden nicht wagten, was Philosophen nicht erdachten, was selbst Politikern nicht einfiel (gibt es noch eine Steigerung?), das gebiert der Haß im Hirn einer grübelnden Frau.

Zwischen Melancholie und Weltzerstörung schwingt der Pendel des rätselhaften menschlichen Gemütes. Als Agrippina grübelte, starb Claudius wenig später an Gift. Das Grübeln einer Dubarry kostete Ludwig den Kopf.

Männer — laßt eure Frauen nie grübeln!

Sabines Grübelei war allerdings einfacherer Natur und frei von zerstörerischen Elementen. Sie dachte nur an Rache.

Es sollte eine absolut weibliche Rache werden, aufgebaut auf die natürlichen Reize, die Gott dem Weibe schenkte.

Peter in Paris, sie in Borkum. Das gleicht sich aus. Wenn er ein Mädchen küßt, ohne daß ihm das Gewissen schlägt, dann durfte auch sie die Lippen spitzen.

Auch auf dieser Insel wird es Männer geben, die zu gerne einer Sabine Sacher nette Worte ins Ohr und unter die Schläfenhärchen flüstern.

Sie sprang vom Bett hoch und eilte an den Schrank, in den sie gerade ihre Kleider gehängt hatte. Sie zog sich um. In einem Seidenkleid mit großem, blutrotem Klatschmohn auf weißem Grund stand sie dann vor dem Spiegel und drehte sich. Ihre schönen, noch weißen Schultern lagen frei über dem rotbordigen Ausschnitt.

Ich habe eine schöne Haut, dachte sie. Manches zwanzig Jahre jüngere Mädchen würde froh sein, sie zu haben. Es würde gerne ein paar Jahre hergeben für diese glatte, reine Haut.

Sie lachte in den Spiegel. Noch etwas verzerrt, aber ihr Mund war schön. Die Lippen glänzten rot.

Peter muß blind sein, dachte sie gehässig.

Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in mich verlieben.

Es dämmerte schon, als Sabine Sacher von einem Spaziergang über die Strandpromenade und am Strand zurückkehrte.

Ein Kellner wies ihr ihren Tischplatz an, den sie jetzt sechs Wochen lang behalten würde. Eine Serviettentasche lag bereits auf ihrem Platz. S. Sacher stand darauf. Nicht Frau S. Sacher. Das beruhigte sie. Es war ja möglich, daß ein interessierter Mann schon die Aufschrift gelesen hatte.

Der Tisch stand an einem großen Fenster. Ungehindert ging der Blick über das im Abendrot orangeflimmernde Meer. Als sie sich setzte, warf der Widerschein einen roten Schimmer auch auf ihr Haar.

Sabine schielte zu den anderen Tischen. Sie sah, wie man sie anblickte. Sie war die Neue, die Fremde, die Interessante, die noch vom Geheimnis der Anonymität Umgebene. Ein Herr im mittleren Alter, der in der Ecke saß, bewegte leicht nickend den Kopf. Die erste Annäherung, das erste Zeichen.

Lächelnd senkte Sabine Sacher den Blick. Der Kellner servierte das Gedeck. Im Radio am Büfett spielte ein kleines Streichorchester ein Menuett von Scarlatti.

Das Leben ist doch so einfach, dachte Sabine. Nur unsere dummen Gedanken komplizieren es so.

Um diese Stunde fuhr der letzte Bäderdampfer des Tages im Hafen von Borkum ein. Es war die >Kaiser Wilhelm<, ein altes, aber immer noch tapferes Schiff, das durch die Abendflut schlingerte und keuchend festmachte.

An Deck stand der Italiener Ermano Ferro alias Assessor Bornemeyer. Er schwitzte reichlich und sah sehr zerknittert aus. Das rollende Meer war ihm nicht sympathisch. Um es sympathischer zu finden, hatte er getrunken und gegessen. Das wirkte sich jetzt nachteilig aus. Nicht, daß er seekrank war, aber das Gefühl, über etwas hinwegzufahren, das im Notfälle keine Balken hatte, erzeugte in seinem immer aufVorsicht eingestellten Gemüt unangenehme Schau-er.

Auch die Inselbahn, die auffordernd pfiff, erweckte Mißtrauen in ihm. Sogar die Insel selbst kam ihm feindlich vor. Sie war dunkel, einsam, drückend.

Eingedenk seiner neuen gesellschaftlichen Stellung aber bewahrte er Haltung. Mit hochmütigem Nicken ließ er sein Gepäck zum Zug tragen und geriet an den gleichen Träger, der von Sabine Sacher den Geldschein zugeworfen bekommen hatte. Daß ein so vornehmer Herr ihm nur zwanzig Pfennig Trinkgeld gab, begriff er gar nicht. Ehe er sich von diesem Schock seiner Menschenkenntnis erholt hatte, pfiff die Lok zum drittenmal und zog an.

Ermano Ferro hatte viel Platz im Zug. Nur wenige Gäste waren mit diesem letzten Schiff gekommen. Meistens wurden jetzt Konservenkisten, Postsäcke, Bierkästen und Gemüsekörbe befördert.

Der Schaffner leuchtete die Karte Ferros an und verbeugte sich leicht.

«Bitte, der Herr«, sagte er.»Prego, signore…«

Ferro nickte gnädig. Er lehnte sich an das Fenster und sah hinaus auf die Dünen, die dunkel und voller Geheimnisse an ihm vorbeiglitten. Seine bisher gehemmte Fantasie blühte auf. Er dachte an Liebespaare an einsamen Stellen, an heiße Küsse im Büschelgras, an Seufzer, die der warme Seewind wegtrug. Ihm wurde schwül unter der Kopfhaut. Er öffnete das Fenster und steckte den Kopf in den Zugwind.

Wie wird es erst am Strand sein, grübelte er. Glänzende Strandfeste, schöne Frauen in knappen Badeanzügen, weiße Sandburgen mit lockenden Sirenen, Wind, Sonne, blaues Meer und eine Frau Sacher, die er bewachen mußte.

Er nahm sich vor, von der Bewachung soviel Zeit abzuzweigen, um eigene Sehnsüchte im Rahmen des Erlaubten befriedigen zu können. Die Firma zahlte es ja. Solch eine Gelegenheit fällt einem Bornemeyer nur einmal in den Schoß.

Der Lichtfinger des Leuchtturmes glitt über den Nachthimmel. Dort, wo der Strand mit den Luxushotels lag, war die Nacht fahl.

Tausendfaches Licht verscheuchte die Dunkelheit.

Ermano Ferro strich sich über sein Menjoubärtchen. Er fing die Blicke einiger Mädchen auf, die mit ihm im Abteil saßen und tuschelten. Als er sie anblickte, wurden sie rot und nestelten an Taschen, Rocksäumen, Haaren und taten sonstwas Dummes.

In Bornemeyer-Ferro blühte eine Riesenblume auf. Die Blume des Selbstbewußtseins. Ich muß doch ein interessanter Mann sein, frohlockte er innerlich. An Abenteuern wird es nicht fehlen. Teufel auch, daß man das nicht früher entdeckte!

Er blickte zur Seite auf die näherkommende Stadt Borkum. Zeit seines Lebens hatte er gehungert. Nie hatte er Freude gekannt, nie konnte er sagen: Ich bin glücklich. Das Studium hatte er sich mühsam durch Nachhilfestunden verdient. Seine Bude, ein Zimmerchen unter dem Dach, direkt unter den mit Zement verschmierten Dachpfannen, bezahlte eine Fabrik, in der er in den Semesterferien Schrauben drehte und Federn stanzte. Das war in Bonn so und auch in Heidelberg. Immer war er außerhalb gestanden, sehnsüchtig zwar, aber sich abfindend mit dem Schicksal, der arme Sohn einer noch ärmeren Witwe zu sein. Nie hatte er feste Freunde, denn die wollten alle etwas erleben, nie konnte er einen Kommers besuchen, nur eins hatte er immer, und das verließ ihn nicht bis zu dem Tage, an dem er auf Kosten seiner Firma nach Borkum fahren durfte: Er hatte Hunger, nach einem Braten, nach Schönheit, nach Geld, nach Leben, manchmal auch nach Liebe.

Nun aber war er Ermano Ferro, Autohändler aus Genua. Sein Bankkonto schien astronomisch zu sein. Er konnte alles haben, was sein Herz begehrte. Es gab keine Schranken mehr, hinter denen das Wunderland der erfüllten Wünsche lag. Nur eine trübe Wolke zog über allem Glück hinweg: Wieder, wie bei seiner armseligen Studentenbude, bezahlte es ein anderer. Zwar nur sechs Wochen lang. Aber seit siebzehn Jahren waren es immer nur Wochen, in denen er einmal durch die Gunst anderer frei von Sorgen sein durfte. Er kam sich wie ein Ausgehaltener vor, wie eine Dirne des Schicksals.

Die Kleinbahn hielt schnaufend am Kurmittelhaus. Ein Lichtermeer umfing Ermano Ferro. Das kannte er von Düsseldorf her, aber die großen Hotels, die lange gläserne Wandelhalle, die Cafes und Bars, das Spielkasino, das Kurtheater, die Strandpromenade und die weißen Villen, dieser ganze konzentrierte Reichtum auf ein paar Quadratmetern, umfing Bornemeyer wie mit eisernen, hemmenden Klammern.

Nicht klein werden, sagte er zu sich. Nur nicht wieder zurückfallen in die Welt subalterner Nickemänner. Einem Ermano Ferro imponiert dieser Reichtum gar nicht, er findet ihn höchstens fade.

Ein Boy der Pension >Seeschwalbe< nahm seinen Koffer in Empfang. Er fragte nicht lange, denn einen Ferro konnte man nicht übersehen. Reichtum hat eine Ausstrahlung, die von einer 1.000-Watt-Birne nie erreicht wird.

Während der Boy vor Ferro zur Pension trabte und sich ausrechnete, was er wohl von dem schwerreichen Italiener an Trinkgeld bekommen würde und was man sich dafür kaufen sollte, wandelte Bornemeyer unter den sprechenden Blicken junger und älterer alleingehender Damen über die erleuchteten Straßen, ab und zu sein Bärtchen streichelnd, mokant lächelnd und Abenteuerversprechungen ausstreuend.

Die >Seeschwalbe< war ein Zweigunternehmen des >Seeadlers<. Sie hatten den gleichen Besitzer, die gleichen Ansichtskarten, das gleiche bürgerliche Essen< und die gleichen vornehmen Gepflogenheiten. Pension >Seeschwalbe< hatte dementsprechend auch eine besondere Kategorie von Stammgästen: Höhere Beamte, pensionierte Gerichtsräte, Prokuristen mittlerer Betriebe und Geschäftsleute mit Filialen.

In diese lautere Gesellschaft mit gediegenen Ansichten und moralischem Korsett trat nun ein Millionär! Das war eine Sensation, die die Direktion nicht nur zu würdigen wußte, sondern etwas aus der Fassung brachte.

Als vor einem Tag der italienische Millionär Ermano Ferro sich aus Düsseldorf anmeldete, auf Empfehlung eines Freundes, sagte er noch, hatte die Direktion der >Seeschwalbe< bedenkenlos zugesagt.

Ein solcher Fisch an der Angel wiegt mehr als drei verärgerte Postinspektoren. Das ist nun mal so im Leben, daß mit dem Angebot die Moral abnimmt.

«Wir werden das schon regeln«, sagte die Direktion, als der Geschäftsführer der >Seeschwalbe< händeringend den Ausverkauf des Hauses meldete.»Wir werden einen anderen Gast woanders unterbringen.«

«Aber wenn der Gast nicht will?«

«Er wird wollen! Wir werden ein besseres Zimmer anbieten, in einem Luxushotel! Wir schaffen es schon.«

Das dachte die Direktion. Um einen Renommiergast zu bekommen, muß man Opfer bringen. Außerdem würde man alle Mehrausgaben auf sein Essen aufschlagen. Das war einfach. Der speziell zu seiner Bedienung angewiesene Kellner würde bei jeder Rechnung lediglich das Tagesdatum dazurechnen.

Abgesehen davon würde man von allen anderen Pensionen beneidet werden, es sprach sich herum, wer in der >Seeschwalbe< wohnte, man wurde empfohlen. Was tut man nicht alles für die Hebung des Niveaus!

Aber die Rechnung ging nicht auf. Der Beamte, der hinausgesetzt werden sollte, ging nicht. Er war ein Postoberinspektor und wollte, entgegen seines Berufes, nichts von einer Beförderung wissen.»Ich bleibe«, sagte er.»Was soll ich in einem Luxushotel! Ich wohne seit drei Jahren hier!«

«Aber wir bezahlen es!«rief die Direktion im Chor.

«Ich fühle mich im Luxus nicht wohl!«sagte der Oberinspektor und ging auf sein Zimmer, wo er sich einschloß. Das war sein gutes Recht. Er hatte vierzehn Tage im voraus bezahlt.

Und der Millionär stand vor der Tür! Die Direktion verglich ihre Uhren wie vor einer Schlacht und raufte sich dann die Haare. In wenigen Stunden kam der Genueser an! Was sind Stunden, wenn das Recht auf Seiten des Gegners steht?

Vermittlungen schlugen fehl. Der eingeschlossene Beamte las seine Zeitung, rauchte eine Zigarre und ging ins Bett, als man ihm, höchste Stufe der Schikane, das Licht im Zimmer absperrte, indem man die Sicherung herausdrehte.

Der Geschäftsführer der >Seeschwalbe< lehnte jede Verantwortung ab. Die Direktion wurde bleichsichtig und führte erregte Gespräche mit dem Schwesterunternehmen >Seeadler<. Dabei erwies sich, daß es eigentlich nur eine einzige Gelegenheit gab, den wertvollen Gast für das Unternehmen zu retten. Man mußte ein einzeln belegtes Doppelzimmer als Zweibettzimmer vermieten.

Dieser Ausweg erzeugte im >Seeadler< eine Gänsehaut. Aber es blieb keine Zeit, sich mit dieser körperlichen Reaktion zu beschäftigen. Durch das Telefon flog der Ruf:»Er kommt!«Und damit war die Situation nicht mehr zu retten.

Ermano Ferro betrat hinter dem Boy die kleine Halle der Pension. Der Portier, der Geschäftsführer, der zweite Direktor (der erste Direktor hatte plötzlich einen Schwindelanfall bekommen und ließ sich wegen Blutleere im Gehirn entschuldigen) und der Oberkellner stürzten auf ihn zu und versuchten, ihn italienisch zu begrüßen.

Bornemeyer-Ferro winkte gelassen ab. Seine Haltung, seine Bewegungen, sein Gesicht waren zurückhaltende Vornehmheit. Er musterte die Gäste, die im Speisesaal saßen und durch die Glastür zu ihm hinstarrten.

«Ich spreche deutsch«, sagte er mit einem deutlichen südländischen Akzent. Er hatte ihn geübt, und mittlerweile fand er diese Aussprache selbst irgendwie betörend.»Ich möchte sofort auf mein Zimmer.«

Der Geschäftsführer drehte sich herum. Er schwitzte kalt und bekam rote Ringe vor den Augen. Der zweite Direktor klingelte diskret, aber intensiv nach dem ersten Direktor. Blutleere im Gehirn hin und Blutleere her. Hier muß der Chef selbst die Suppe auslöffeln.

Der erste Direktor kam. Er knickte in der Mitte ein, hieß Erma-no Ferro herzlich willkommen, was die anderen auch getan hatten, und stellte dann mit Entzücken fest, daß Ferro wie er ein Monokel trug.

Es ist eine Tatsache, daß gleiches Leid oder gleiche Freude eine

Seelenverwandtschaft hervorrufen. Ein Mann, der ein Monokel liebt, kann einem anderen Mann, der auch solch eine blitzende Scheibe vor dem Auge balanciert, nicht böse sein. Es wäre wider die Natur.

«Signore wollen auf das Zimmer?«sagte der erste Direktor stockend. Dabei musterte er giftig den zweiten Direktor. Welche Memmen, hieß dieser Blick. Man muß einer solchen Situation gewachsen sein. Er winkte lässig und sah dabei den Boy an.

«Wie Sie wünschen, Signore! Boy — führe den Herrn Ferro auf sein Zimmer!«

Der angesprochene Boy starrte den Direktor dumm an. Der Geschäftsführer lehnte sich gegen die Wand. Ermano Ferro sah sich um. Sein Hochmut ging in die Potenz.

«Ist etwas nicht in Ordnung?«fragte er hellhörig.»Haben Sie etwa gar kein Zimmer mehr frei?«Er sah den zweiten Direktor, den ersten Direktor, den Boy und verstand.»Meine Herren — das wäre eine Couchonerie!«

Der erste Direktor nickte. Er war dankbar, daß Ferro nicht laut von >Schweinerei< geredet hatte, sondern den vornehmen französischen Ausdruck benutzte. Der Mann hat Kinderstube, dachte der Direktor.

«Etwas Unvorhergesehenes ist eingetreten. Wir hatten Ihr Zimmer bis gestern belegt. Der Gast sollte gestern ausziehen. Er hatte es fest versprochen! Aber nun bleibt er! Er bleibt trotz unserer dringendsten Vorstellungen. Er hat eine Verlängerungswoche bezahlt — über sein Reisebüro, und wir haben diese Nachricht erst heute mit der Morgenpost bekommen!«Das war herrlich gelogen, aber glaubhaft. Der erste Direktor warf einen Blick in die Runde. Seht, so rettet man seine Haut!

Ermano Ferro war steif wie ein Pfahl. Er räusperte sich nur und machte:»Hähäm.«

«Wir konnten Ihnen leider keine Nachricht mehr geben, kein Telegramm, rein gar nichts — wir kannten ja nicht Ihren Aufenthalt auf Ihrer großen Deutschlandreise.«

«Dann kann ich also in den Dünen schlafen?«donnerte Erma-no Ferro. Er rollte mit den Augen und ließ das Monokel in die hohle Hand fallen. Das bedeutet bei Monokelträgern den Ausdruck tiefster Empörung. Der erste Direktor erbleichte. Sein Monokel fiel nicht in die Hand, sondern auf den Boden, wo es leise klirrend zerschellte.

«Ich soll wirklich«, Ferro holte Atem. Das Bewußtsein, ein steinreicher Mann zu sein, verlieh Bornemeyer unwahrscheinliche Kräfte.»Nie, meine Herren! Nie! Ich habe von Ihnen eine Zusage. Juristisch gesehen.«

«Aber Signore Ferro!«Der erste Direktor hob beide Hände. So beschwört man Schlangen, dachte Ferro.»Eher überlasse ich Ihnen mein Bett!«

«Ich möchte sauber schlafen«, sagte Ferro gemein. Der erste Direktor seufzte verzweifelt.

«Aber, wir haben ein Bett für Sie. Ein herrliches Bett. Mit Schaumgummiauflagen! Nur«, er druckste herum und sah hilfesuchend in die Runde. Wer aber sollte helfen von diesen Memmen?» Nur müßten Sie das Zimmer mit einem anderen Gast teilen.«

«Das Bett?«schrie Ferro-Bornemeyer.

«Das Zimmer, Signore! Natürlich nur so lange, bis der rabiate Gast Ihr Zimmer hier geräumt hat. Vielleicht zwei oder drei Tage… bis dahin werden wir den Oberinspektor aus dem Hause haben.«

«Teilen?«Ferro warf seinen weichen Hut auf die Rezeptionstheke.»Ich soll für mein Geld ein Zimmer teilen? Ich soll das Schnarchen eines anderen.? Nein! Ich verklage Sie!«

«Es ist ein Doppelzimmer, Signore! Selbstverständlich stellen wir die Betten auseinander!«

«Aber das Schnarchen stellen Sie nicht auseinander.«

«Die Dame schnarcht nicht.«

Bornemeyer-Ferro zog die Augenbrauen hoch. Er begriff noch nicht ganz.

«Wer ist mein Bettnachbar? Wie heißt der Herr?«

Der erste Direktor atmete auf. Er lächelte sogar verschmitzt. Jaja, die Italiener. Heißes Blut haben die Burschen.

«Wir haben natürlich an alles gedacht, Signore. Der Herr ist eine

Dame.«

Ferro hustete. Er hatte sich nicht verhört. Er sollte mit einer Dame ein Doppelzimmer teilen! Er sollte mit ihr in einem Doppelbett schlafen! So Seite an Seite, wie ein Ehepaar! Ferro-Bornemeyer atmete schneller. Juristisch gedacht ist das eine vollendete Kuppelei. Menschlich gedacht, ist das eine Zumutung. Männlich gedacht aber ist das ein nie wiederkehrendes Angebot!

Ermano Ferro rieb sich nachdenklich den Menjoubart. Er blickte die erwartungsvollen Direktoren scharf an. Sein Gesicht war verschlossen, aber nicht mehr kriegerisch wie vordem.

«Ist sie hübsch?«fragte er arrogant.

«Sehr, Signore, sehr!«

Die Direktoren warfen sich verschwörerische Blicke zu. Der Geschäftsführer grunzte, der Boy grinste. Gewonnen, jubelten sie innerlich im Chor. Das südländische Temperament ist angesprochen. Jetzt könnten wir ihm die Badewanne anbieten, wenn eine Frau darinnen sitzt.

Ferro-Bornemeyer wollte sichergehen. Er senkte den Kopf und starrte die Direktoren an.

«Jung?«

«Im pikanten Alter, Signore.«

«Ledig?«

«Nein! Aber allein auf Borkum.«

«Und der Ehemann?«

«Weit weg.«

«Olala!«Ferro leckte sich über die Unterlippe. Was man so alles erlebt, dachte er. Für Geld bekommt man fix und fertige Ehebetten mit im Preis eingeschlossener Ehe serviert. Für sechs Wochen, eine Ehe auf Zeit gewissermaßen. Das ist juristisch zwar. Er schaltete ab und nahm seinen Hut von der Theke. Opfer muß man bringen, beruhigte er sein Gewissen. Für die Firma muß man alles tun!

«Wenn es sein muß«, sagte er gedehnt,»bitte! Ich opfere mich! Bleibt mir anderes übrig? Nur, was sagt die Dame dazu?«

«Sie wird nicht nein sagen.«

«Charmant. Damen, die nicht nein sagen, sind wie betaute Rosen. «Er strich sich wieder über sein Bärtchen und registrierte, daß sein fades Bonmot Beifall fand und bald die Runde machen würde.»Meine Herren, ich danke Ihnen, daß Sie hier kein Zimmer frei hatten. Ich werde Sie meinen südamerikanischen Freunden weiterempfehlen.«

Er wandte sich ab, ging in den Speiseraum und setzte sich an einen freien Tisch. Die Blicke der zu Abend speisenden Gäste folgten ihm, als hingen sie an einem Marionettenstrick. Das ist er, dachte man interessiert. So sieht man also aus, wenn man einige Millionen im Rücken hat. Wie sein Monokel blitzt. Diese adelige Schlankheit der Figur. Dieser federnde, feurige Schritt. Dieser schmale, aristokratische Kopf.»So sah Dante aus«, flüsterte ein Mädchen ihrer Freundin zu.

Während Ferro nach der Abendkarte das beste Souper zusammenstellte und aus der Weinkarte eine der exquisitesten Flaschen auswählte, beendete die Direktion nebenan in der Pension >Seead-ler< eine kurze, schicksalsschwere Unterredung.

Die angesprochene Dame hatte nach einigem Zögern eingewilligt. Sie bekam als Ausdruck des Dankes und der Anerkennung ihres großen Opfers von der Direktion einen riesigen Strauß Blumen, drei Handküsse und die Versicherung, daß man nie und nimmer eine charmantere Dame zu Gesicht bekommen würde.

Dann zog erwartungsvolle Stille durch die beiden Pensionen. Die Möglichkeiten, die sich jetzt ergaben, waren so vielfältig, daß jeder der Beteiligten sich einen Sack voll zurechtlegen konnte.

Zugreise, Dampferüberfahrt, Ratternder Kleinbahn, seelische Erregung, Abendessen und vorzüglicher Wein hatten Ferro stark belastet. Er spürte es an den Augen. Sie drückten gegen den Hintergrund, ließen ihn mit den Wimpern flattern und begannen zu tränen.

Er gähnte hinter der vorgehaltenen Serviette, erhob sich und verließ den Speiseraum. In der Halle wartete bereits ein Boy mit dem Gepäck. Als er Ferro aus dem Saal treten sah, trug er es ihm nach.

Ermano Ferro blieb stehen.»Wieso?«rief er und zeigte auf seine wegeilenden Koffer.»Ich denke, ich bekomme ein Zimmer mit Dame?«

«Prego, signore. «Der Geschäftsführer verbeugte sich mehrmals. Die Direktoren waren in ihren Privatbüros und betranken sich ob des herrlichen Sieges.»Das Zimmer ist im Nebenhaus. In unserem Schwesterunternehmen >Seeadler<.«

«Seeadler?«Ferro-Bornemeyer kniff das Auge fester zu. Das Monokel wäre ihm sonst gefallen.»Das nenne ich Glück. Wahrhaftig! Gehen wir!«

Doch bevor er dem Boy folgte, holte er aus der Rocktasche ein kleines, schwarzes Notizbuch und, gewissenhaft, wie es Dr. Portz von ihm verlangte, trug er in einer nur von ihm lesbaren Handschrift das meldungswürdige Ereignis skizzenhaft ein:

>12. - 22.10. Zimmerwechsel von der Schwalbe zum Adler. Ziehe in das gleiche Haus wie Frau S.S. Hoffe, sie heute noch zu sehen. Die Gelegenheit ist einmalige

Mit einem freundlichen Kopfnicken, ein fettes Trinkgeld wäre allen lieber gewesen, verabschiedete er sich von dem Geschäftsführer und dem Portier und ging dem draußen in der Nacht vor dem Haus wartenden Boy nach.

Es waren nur wenige Schritte. Aber Ferro nahm sie in Zeitlupe. Er kostete das Gefühl des Überlegenen aus.

Im >Seeadler< war man bereits auf alles eingerichtet. Wie nach langen Übungen am Reck vollzog sich die Kür.

Ermano Ferro sah bei seinem Eintreten im >Seeadler< gesenkte Köpfe, devot gekrümmte Rücken, einen anderen Geschäftsführer im schwarzen Anzug und zwei Boys, die seine Koffer über eine mit einem roten Teppich belegte Treppe nach oben trugen. Hinauf ins Doppelzimmer, hinein ins Paradies.

Ferro eilte hinterher. Die erklärenden Worte, die ihm nachschwirrten, hörte er nicht mehr. Er stürmte durch die offene Tür in das große Zimmer, klopfenden Herzens und ein Bonmot suchend, mit dem er sich der bestimmt wartenden Dame vorstellen wollte.

Aber das Zimmer enttäuschte auf den ersten Blick. Was Ferro zunächst sah, war eine große, hohe, bunte spanische Wand, die man quer in das Zimmer gestellt hatte und die den Raum in zwei gleiche Teile trennte. Es gehörte keine große Fantasie dazu, hinter dieser großgeblümten Stoffwand ein zweites Bett, einen Waschtisch, einen Schrank und einen Sessel zu vermuten. Das gleiche Mobiliar stand im Ferroschen Teil. Nur das große Fenster gehörte beiden Bewohnern gemeinsam. Jeder hatte einen Flügel, über den er frei verfügen konnte.

Ermano Ferro gab den Boys zwei Mark Trinkgeld und winkte ihnen zu, ihn allein zu lassen. Dann setzte er sich auf sein Bett, starrte die spanische Wand an, tippte mit dem Finger gegen den Stoff und holte ein Taschenmesser aus der Tasche. Aufgeklappt legte er es auf die Bettdecke. Hindernisse sind dazu da, daß man sie überwindet, hatte schon sein Mathematiklehrer gesagt, als er vor den Logarithmen versagte.

Zunächst verhielt sich Ferro-Bornemeyer ganz still. Er wußte nicht, ob er allein war oder ob >sie< jenseits der Blumen schon in den Federn lag und ebenfalls zu ihm hinüberlauschte. Wir warten vielleicht beide, was der andere jetzt wohl tut, dachte Ferro. Unsicherheit überfiel ihn. Es ist ein verdammt dummes Gefühl, in einem Zimmer zu sein, ohne zu wissen, ob man allein ist.

Ermano Ferro räusperte sich.

Stille.

Er räusperte sich stärker.

Männlich stärker. Nachhaltig.

Räuspernde Männer kann man nicht überhören. Das Räuspern eines Mannes ist wie der verhaltene Brunftschrei eines Hirsches. Ihn zu verstehen bedarf es keiner Vorbildung.

Ferro lauschte.

Stille.

Leise zog er die Schuhe aus und schlich auf Strümpfen zu der spanischen Wand. Zentimeterweise tastete er den Stoff ab; er suchte an den Stellen, wo er an die Holzleisten genagelt war, ein Loch, eine undichte Stelle, einen Stoffehler.

Nichts.

Enttäuscht ging er zum Bett zurück und setzte sich wieder.

Zu hoch ist sie auch, grübelte er. Hinüberblicken kann man nicht. Wozu gibt man mir ein Doppelzimmer, wenn man solch eine dumme Stoffwand dazwischen stellt? Was soll dieses entehrende Mißtrauen?

Ich werde mich morgen bei der Direktion beschweren und meine Zusage einer Empfehlung an meine südamerikanischen Freunde zurückziehen.

Ein neuer Gedanke kam ihm. Er ging ans Fenster und schloß einen Fensterflügel. Dann angelte er um die Wand herum und versuchte, den zweiten Flügel zu erhaschen. Was er sah, war die Ecke eines weißen Kleiderschrankes.

Und es blieb still.

Wütend ging er zurück zu seinem Bett. Nicht mal ein Balkon ist vor dem Fenster! Es blieb nur das Taschenmesser, etwas brutal und plebejisch. Außerdem war jetzt klar, daß er allein im Zimmer war. Einen um die Wand tastenden Männerarm kann man nicht übersehen. So etwas nimmt keine Frau widerspruchslos hin.

Was soll man jetzt tun, dachte Ferro. Warten? Sich ausziehen und ins Bett legen? Das könnte die Dame als eine zu deutliche Aufforderung ansehen.

Sollte man hinterher in die Halle gehen und etwas für die Firma tun? Irgendwo und irgendwann würde man Frau Sabine Sacher sehen und versuchen, sich ihr zu nähern.

Ermano Ferro entschloß sich nach längerem Nachdenken für das Warten. Er setzte sich in den Sessel, knipste das gemeinsame Dek-kenlicht an und las in der Abendzeitung, die die Direktion auf den Tisch gelegt hatte.

Nach wenigen Zeilen legte er sie wieder zurück. Seine Nerven zitterten. Woher soll ein Mann die Ruhe zur Lektüre nehmen, wenn gleich nebenan eine Frau sich auszuziehen beginnt? Nervös fingerte er sich eine Zigarette aus der Schachtel, die er sonst nur für Mandanten dabeihatte, und paffte vor sich hin.

Ferro-Bornemeyer bekam einen erotischen Komplex. Er träumte, er malte sich die Zukunft aus, als sei er ein Toulouse-Lautrec. Er schwelgte in Bildern und übertraf Rubens'sche Frauenideale.

Sie soll hübsch sein, dachte er selig. Vielleicht ist sie blond, blond war schon immer seine stille Sehnsucht. Als Student wohnte er einmal bei einem Bierausfahrer, der eine blonde Tochter hatte. Sie hatte ihn nie beachtet, weil er arm und blaß war. Aber das Blond ihres Haares hatte ihn zu heimlichen Gedichten angeregt und blieb in ihm haften.

Gleich wird sie hinter der spanischen Wand sein, träumte er weiter, und sich ausziehen. Es wird rascheln, erst das Kleid, dann die seidenen Dessous, leise wird das flordünne Nachthemd rauschen, ein Hauch von Blüten wird durch das Zimmer schweben, süß, betörend, lockend, ihr Parfüm, sie wird sich die Haare kämmen, ein jeder Strich des Kammes durch die Locken wird knistern vor Elektrizität und Temperament, dann wird das Bett knarren, vielleicht seufzt sie auch einmal, sehnsuchtsvoll, begehrend, und dann löscht sie das Licht und schläft.

Oder, Ferro zog die Stirn in Falten, sie wird sich die Zähne putzen, gurgeln, daß es rasselt, wird ins Waschbecken spucken wie ein Kutscher, sich hinlegen und schnarchen, daß die spanische Wand sich bläht.

Eines wird es auf jeden Fall sein: ein Abenteuer.

Um seine Gedanken nicht ganz entgleiten zu lassen, griff er wieder zur Zeitung und zwang sich, zu lesen. Mitten in einem Artikel über die Konjunktur von mageren Schlachtschweinen klappte die Zimmertür. Er hörte, wie leichte Schritte den einen Teil des Zimmers durchquerten.

Ferro-Bornemeyer warf die Zeitung weit weg.

Sie!

Im Zimmer!

Sie war gekommen!

Ferro hielt den Atem an. Es kam ihm vor, als bliese er mit sei-nen Bronchien Posaune.

Zunächst geschah nichts. Gar nichts.

Sie ging zum Schrank, öffnete die Schranktür und hängte etwas über einen Bügel.

Dann war es still. Ferro schnaufte die angehaltene Luft aus. Jetzt, dachte er, jetzt! Daß der Schlafpartner schon im Raume war, wußte sie, denn das Licht brannte ja. Außerdem lag der Rauch seiner Zigarette süßlich im Zimmer. Regte dieser männliche Geruch sie nicht auf?

Ferro konstatierte einen Anknüpfungspunkt. Er sorgte für eine Geräuschkulisse. Er erhob sich aus seinem Sessel und ließ ihn laut knarren. Die Dame hinter der spanischen Wand lächelte leicht. Das konnte er nicht sehen. Es war überhaupt gut, daß er nichts sah.

Ferro streckte den Kopf witternd vor. Nichts! Die Dame sprach nicht das erste Wort. Statt dessen ging sie zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Man hörte es am Knirschen der Fingergelenke. Der Duft von einem starken Eau de Cologne verfeinerte die Atmosphäre. Ferro-Bornemeyer schnupperte wie ein kleiner Hund hinter einem größeren Bruder und murmelte halblaut:»Ahh!«Dann knitterte er die Zeitung zusammen, beugte sich über das Bett und ließ eine Matratze knarren.

Nichts.

Stille.

Da! Seide raschelte.

Sie zieht sich aus! Wonne, Wonne, sie zieht sich bereits aus!

Ferro-Bornemeyer fühlte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Er wollte ihn hinunterschlucken, aber der Kloß war eigensinnig und klammerte sich in der Speiseröhre fest. Ferro fuhr sich mit beiden Händen in die gefärbten Haare und raufte sie sich. Seine an sich schon durch das Warten überzüchtete Fantasie schlug Kapriolen. Bilder unerhörter Lebensnähe drängten sich ihm auf und zerfetzten sein Gehirn.

Wieder raschelte es. Leiser, dezenter.

Ferro hielt sich die Ohren zu. Sein verzweifeltes Räuspern, das er gegen die spanische Wand schickte, klang wie ein Stöhnen.

Zwei nackte Füße tappten zum Fenster. Ein schlanker, weißer, nackter Arm tauchte für Sekunden auf und öffnete das Fenster wieder, das Ferro geschlossen hatte. Dann trippelten die nackten Füße zurück, tapp, tapp, tapp.

«Ich kann Tabakqualm im Schlafzimmer nicht vertragen.«

Ferro-Bornemeyer zuckte empor, als sei er angestochen. Ihre Stimme! Ihr erstes Wort! Und welch eine Stimme! Energisch und doch voller Melodie! Was sie gesagt hatte, wußte Ferro in diesem Augenblick schon nicht mehr. In ihm schwang allein nur der Klang wieder.

«Gnädige Frau.«

Ferro klapperte fast mit den Zähnen. Er stand an der spanischen Wand. Mut und Erregung trieben ihm den Schweiß auf die Stirn.

«Bitte?«

«Ich muß Sie tausendfach um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten mache. Aber die Hotelleitung, diabolo, Signora, hatte mir mein eigenes Zimmer versprochen und dieses Versprechen gebrochen! Welche Freveltat. Versprechungen sind dazu da, daß man sie hält!«Ferro-Bornemeyer freute sich über diesen doppelsinnigen Satz. Teufel noch mal, was war man doch für ein Kerl! Mutig sprach er weiter:»Ich war untröstlich, als ich erfuhr, daß ich für wenige Tage nur Ihr Zimmer teilen muß. Glauben Sie mir, ich bin unschuldig. «Er stutzte und fügte schnell hinzu:»…daran! Ich verspreche Ihnen, nicht zu schnarchen.«

«Hoffentlich.«

«Sie verzeihen mir?«

«Muß ich ja schon. «Sie lachte. Oh, welch ein Lachen. So lachten die Houris in Mohammeds Paradies.»Wenn Sie schön brav hinter der Wand bleiben, können wir gute Nachbarn werden.«

«Ich schwöre es Ihnen. Ich bin ein milder Mensch.«

«Danke. Ich wußte, daß Sie ein Ehrenmann sind. Ich habe dies nicht anders erwartet, auch wenn es nur wenige Ehrenmänner gibt. «Ihre Stimme wurde fragend. Sie muß neben dem Bett stehen, dach-te Ferro-Bornemeyer. In einem durchsichtigen Nachtgewand. Durch seine Schläfen brauste ein Wasserfall.»Man sagte mir, Sie seien Italiener?«

«Sehr recht, gnädige Frau. «Ferro warf sich in die Brust. Sie konnte es nicht sehen, aber sie mußte es am Klang seiner gewichtigen Stimme hören.»Mein Name ist Ermano Ferro, Genua, Automobile en gros und en detail. Größe 1,86, schlank, schwarzlockig, braunhäutig, liebenswürdig, bestimmt Ihr Typ und, das wichtigste, nicht verheiratet…«

Sie lachte wieder. Wie herrlich muß sie aussehen, wenn sie lacht. Und dazu in einem durchsichtigen Nachthemd.

«So genaue Auskünfte wollte ich nicht haben. Um aber auf Ihre letzte Bemerkung zu kommen: Halten Sie es für so wichtig, nicht verheiratet zu sein?«

«Entschieden, Signora! Ein unverheirateter Mann hat immer noch die Chance, bedenkenlos zu lieben.«

«Ein verheirateter nicht?«

«Nicht ohne Skrupel. Vor allem ist es gefahrvoller.«

«Es soll aber Männer geben, die mutig genug sind, allen Gefahren zu trotzen.«

Ferro fuhr sich wieder durch die Haare. Ein tolles Weib, röchelte es in ihm. Er fühlte es heiß durch seine Adern toben. Wenn eine Frau in einem durchsichtigen Nachthemd solche Nachtgespräche führt, werden selbst Greise wieder frühlingsfroh.

«Diese Männer, Signora, sind ein Ideal! Casanova war solch ein Ideal! Und Don Juan. Aber sie sind selten. Immerhin waren aber diese Ausnahmen Südländer wie ich.«

Seine Kühnheit machte ihn trunken. Wie ich mich entwickele, dachte er. Ich werde zum Titanen!

«Es soll aber auch >ideale Frauen< geben, nicht wahr?«fragte sie voller Koketterie.

«Sie sind die Blüten, über die unsere Herzen ins Nirwana wandeln. Sie sind der Samt, von deren Weichheit unsere Hände träumen.«

Ihre Stimme girrte leise.»Man merkt, daß Sie Südländer sind. So romantisch, so voller Bilder. Sie malen mit den Worten. Unterhalten wir uns morgen beim Kaffee weiter?«

«Ich werde die Nacht über wach liegen, wenn ich daran denke, Signora.«

Sie lachte wieder. Es waren Kaskaden, die über silberne Steine herabperlten.»Dann, gute Nacht, Signore Ferro.«

Ferro-Bornemeyer hörte, wie sie in ihr Bett stieg. Eine Hand klopfte die Federn. Jetzt wühlt sie ihren blonden Lockenkopf in die Kissen. Oh!

Ferro stand an der spanischen Wand und suchte noch einmal verzweifelt nach einem Loch in dem Stoff. Das Taschenmesser hielt er in der Hand wie ein Mörder.

«Nicht doch, nicht doch, Signore Ferro!«sagte die Stimme. Es war, als schüttele die Dame dabei den Kopf.»Die Wand hat keinen Fehler. Ich kann Ihren Schatten sehen.«

Resignierend trat Ferro an sein Bett zurück und knöpfte sein Oberhemd auf. Wie alt mag sie sein, grübelte er. Wenn sie nun häßlich wie eine Wurzel ist?

«Wenn ich Sie wiedersehen soll, Signora«, sagte er tief atmend,»wäre es herrlich, wenn Sie Ihre Anonymität lüften würden und mir Ihren Namen nennen.«

«Ach! Das hat die Direktion nicht getan?«Sie zögerte ein wenig. Jetzt denkt sie nach. Ferro stieg aus seiner Hose. Er hatte sich an die Wand gestellt, damit sie im Schattenbild nicht den hoseaus-ziehenden Mann sah.»Eigentlich ist das ja kein Geheimnis, wo wir jetzt sogar zusammen schlafen. Also: Ich bin eine Deutsche, komme aus dem Westen und bin verheiratet.«

«Eine besonders würzige Mischung. «Ferro entledigte sich seiner Unterhose.»Und Ihr Name, Signora?«

«Sabine Sacher.«

Hinter der spanischen Wand klirrte etwas. Glas zerbrach auf dem Boden. Aus Ferros Auge war das Monokel gefallen. Entsetzt, starr, ungläubig und zitternd saß er auf seinem Bett. Völlige Hilflosigkeit

überfiel ihn.

Das ist doch unmöglich, dachte er. Das kann doch nur absoluter Wahnsinn sein. Eine Halluzination. Ich schlafe mit einer Frau, die ich bewachen soll. Das Problem wurde brennend. Er war ausgeschickt worden, ein ehewidriges Verhalten der Frau Sacher zu berichten, und jetzt wurde er selbst ehewidrig. Diese Erkenntnis machte ihn wehrlos und kopfscheu.

«Sabine Sacher«, sagte er mit letzter Kraft.»Danke. Danke bestens. Ich bin entzückt. «Oh, dachte er dabei. Oh, armer Bornemeyer!» Bis morgen früh also. Gute Nacht.«

Er kroch in sein Bett, rollte sich wie ein Igel zusammen und merkte, daß er fror, obgleich vom Meer her ein warmer Wind ins Zimmer wehte. Er fror erbärmlich. Er zitterte, weil er sich selbst leid tat.

Beim Schein der Nachttischlampe nahm er sein kleines Notizbuch, schaute auf die Armbanduhr und trug mit bebender Hand gewissenhaft ein:

>12. -23, Uhr. Schlafe mit Sabine Sacher zusammen. Gespräch sehr charmant. Verabredung für morgen früh zum Kaffee.<

Dann warf er das Buch in eine Ecke und knipste die Lampe aus. Hinter der spanischen Wand hörte er die leisen, regelmäßigen Atemzüge Sabine Sachers. Sie schlief schon. Natürlich schlief sie. Wer so sorglos von der Ehe Ferien macht, hat ein Recht auf Müdigkeit.

Ferro-Bornemeyer lag noch lange wach und starrte an die Decke. Sein Pech gebar selbstzerfleischende Gedanken. Immer war das Schicksal gegen ihn. Immer wurde er getreten. Für sein Schicksal mußte er einen doppelten Hintern haben.

Draußen rauschte das Meer an den Strand. Hochflut. Lachen klang durch die Nacht. In den Strandkörben saßen die Liebespaare und bewunderten den Mond. Ferne Tanzmusik verwebte sich mit dem müden Kreischen einiger später Möwen.

Ferro-Bornemeyer schlief ein, als es dämmerte.

Er träumte unruhig. Wenigstens der Traum entschädigte ihn für die Wirklichkeit.

Die Fahrt durch Paris war schön und langweilig zugleich. Zwar tat der französisch-berlinische Chauffeur alles, um Peter Sacher die Kostbarkeiten der Stadt zu zeigen und auch in jene Gebiete zu fahren, wo beim Einbruch der Dämmerung das Leben erst beginnt. Aber alles dieses zu sehen vom Rücksitz eines Autos aus, allein, mißmutig und gedanklich zwischen Sabine auf Borkum und Coucou auf der Couch hin und her pendelnd, hinterläßt nicht mehr als eine große Leere.

Vor einem kleinen Restaurant in der Rue Etienne ließ Peter sich deshalb absetzen, bezahlte den Fahrer mit einem dicken Trinkgeld und versprach, die Telefonnummer, die der Chauffeur ihm gab, bestimmt anzurufen, wenn er Hilfe und fachmännischen Rat für das Pariser Nachtleben brauchte.

«Ick kenne die tollsten Puppen!«sagte der Chauffeur.»Jerade, wo Sie Architekt sind, da kennen Se doch wat von Formen und Körperbau, wat?«

Peter Sacher nickte und ging in das Restaurant. Er aß zu Mittag, studierte die Mittagszeitungen und las etwas von einem Galopprennen auf dem Pariser Rennplatz Longchamps.

Longchamps, dachte er. Das hat einen Namen unter den europäischen Turfplätzen. Dort trifft sich die Eleganz von Paris. Dort sieht man schöne Pferde und Frauen. Dort muß etwas los sein, was die trüben Gedanken verscheucht.

Wer Laie im Pferdesport ist, wer es nur kennt aus den Wochenschauen und Filmen, hat schnell einen etwas verschrobenen Eindruck von diesem Sport. Auch Peter Sacher machte darin keine Ausnahme. Er las noch einmal die große Anzeige in der Zeitung und legte sie dann zur Seite.

Was braucht man alles für Longchamps, überlegte er.

Zuerst einen grauen Zylinder.

Das ist das markanteste auf den Rennplätzen, wie es im Film immer gezeigt wird: grauer Zylinder, hellgrauer Cut, weiße Gamaschen. Dazu ein Fernglas. Eine dicke Starterliste. Totozettel, Buchmacheradressen und eine dicke Brieftasche voller Geld. Die dazugehörigen schönen Frauen stellen sich dann von selbst ein.

So dachte Peter Sacher. Man sieht, er war ein Laie des Pferdesports. Außerdem stand es so in der Zeitung, die er in der Hand hielt. Ein großes Werbebild war neben dem Text: Es zeigte einige sehr vornehme Herren im grauen Cut mit Zylinder und herrlich schöne Frauen in luftigen Sommerkleidern und breiten, aus Nylon hingehauchten Hüten.

Es stand außer Zweifel, daß ein Rennen in Longchamps zu den großen gesellschaftlichen Ereignissen gehörte und dazu auch den äußeren Rahmen verlangte.

Er bezahlte und trat hinaus auf die sonnenheiße Rue Etienne. An der Ecke zur Avenue de l'Opera parkte eine Taxe. Es war der fran-zösisierte Berliner. Von der Sonnenglut erschlafft, saß er auf dem Fahrersitz, den Kopf zurückgelehnt und schlief. Sein Schnarchen, das aus dem offenen Mund entwich, war gewaltig, der Anblick nicht gerade ästhetisch.

Peter drückte auf die Hupe. Grell schrie sie auf. Der Chauffeur fuhr empor, mit stieren Augen boxte er um sich.»Alarm!«schrie er.»Alarm!«Dann wurde sein Gehirn klar, und er erkannte seinen deutschen Fahrgast.

«Det is'n Ding!«schrie er.»Ick schlafe ein, träum von die Mäd-cher, und Se wecken mir, als ich jrade zujreifen will. Sacre bleu! Wat is, Landsmann? Noch mal en bißchen durch Paris, oder zur Tagesabsteige, wat?«

Peter Sacher setzte sich wieder auf seinen Rücksitz.»Hinaus nach Longchamps — was halten Sie von der Idee?«

«Schön. Da sind die dicken Brocken. Die kosten aber Jeld, Herr Architekt! Die haben alle ihre eijene Wohnung.«

«Pferde will ich sehen! Sonst nichts. Ich brauche aber dazu noch einige Kleinigkeiten. Vor allem die nötige Kleidung.«

Der Berliner lachte breit.»Vastehe! Grauer Bibi, wat? Graue Schwalbenschwänze und weiße Treter. Sie, ich weeß 'n Geschäft, die so 'n Dreh verleihen. Kleene Kaution und pro Tag 1.500 Franken. Det is billiger, als sich die Klamotten zu koofen! Ick fahr Se hin, wat?!«

Er fuhr los, kreuz und quer durch Paris. In einer dunklen Gegend in der Nähe der Rue Riquet hielten sie vor einem kleinen, düsteren, schmutzigen Kleiderladen. In seiner blinden Schaufensterscheibe spiegelten sich der Schmutz der Straße und die grauen Fassaden der Häuser. Hinter dieser Scheibe sah man lange Ständer mit gebrauchten Anzügen aller Farben und Formen. Selbst Uniformen hingen da aus vier Jahrhunderten. Der Fundus eines Trödlers.

«Hier?«fragte Peter Sacher gedehnt und rieb sich die Nase.

«Ja.«

«Das sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus.«

«Hier leihen sich die verarmten Grafen ihre Fräcke, wenn sie einmal eingeladen werden. Sylvester holte hier der Fürst Odnisuppoff seine zaristische Uniform. In allen Zeitungen war er abgebildet, weil die sowjetische Botschaft Protest gegen dieses öffentliche Auftreten einlegte. Und der Marquis von Sustiere leihte sich.«

Peter winkte ab.»Ich glaub' es Ihnen. Aber wenn man so durch die dreckige Scheibe guckt?«

«Det is eben Paris, Landsmann! Det vastehen de Fremden nicht. Hier is det Schmutzigste det Reellste. Je mehr Kronleuchter, um so jrößer de Gauner! Sehn Se sich die Buchläden an. An der Seine die Karren, det sin die Joldjruben! Da kann man wat Schönes koofen für 'n paar Centimes. Da kommen se von den Universitäten, olle Professoren, und kramen in den dreckigen Karren herum.«

Er stieg aus, ging zur Tür des kleinen Ladens und zog an der Schelle. Es schepperte grell, die rostigen Türangeln quietschten, als er die Tür öffnete. Peter Sacher folgte ihm. Daß es so etwas noch im 20. Jahrhundert gibt, dachte er.

Aus dem Halbdunkel des Hinterladens schoß ein rundes Männlein hervor. Es hatte einen riesigen Kopf, der nur aus ineinandergedrehten Haaren zu bestehen schien. In diesem Gewirr von Bart,

Löwenmähne, Ohren und Mundschlitz schwankte eine große Goldbrille.

Er betrachtete die Eintretenden ganz genau. Jetzt schätzt er den Preis, dachte Peter. Dann wurde er von einem Wortschwall überschüttet. Er kam mit einem Luftzug, der nach Zwiebeln roch. Der Chauffeur nickte und brüllte dazwischen. Gleich schlagen sie sich, durchfuhr es Peter. Aber nichts dergleichen geschah. Der kleine Mann schien im Bilde zu sein und rannte wieselschnell davon.

Zwischen den Regalen entstand eine Unruhe. Kleider wurden hin und her geschoben, es raschelte laut. Ständer und Stangen schwankten, irgendwo krachte es laut, als fiele eine Decke ein, dann kam das Männlein auch schon zurück, über dem Arm die Ausstattung eines Gentleman tragend.

Grauer Cut, hellgrauer Zylinder, schwarze Lackschuhe, weiße, hohe Gamaschen. Alles breitete es auf einer schmutzigen Glastheke aus, unter der Talmischmuck in Haufen lag. Mit glänzenden Augen strich es die Revers des Cuts glatt und machte die Geste eines Eroberers, der seinem König einen Erdteil vor die Füße legt.

«S'il vous plait!«

«Bon. «Peter Sacher nahm den Cut, zog seine Jacke aus und probierte ihn an. Der kleine Mann schien ein vortreffliches Augenmaß zu haben. Er schlug die Hände begeistert zusammen und sprang in die Luft wie ein hingeworfener Gummiball.

«Excellent!«rief er schrill.»Un comte!«

«Wie 'n Jraf«, dolmetschte der berlinische Franzose.»Det is wirklich wahr. Se sehen aus! Piekfein! Se haben de richtige Cutfijur. «Er stülpte Peter noch den grauen Zylinder auf den Kopf und schob ihn vor einen großen, blinden, fleckigen Spiegel, dessen unterer Silberbelag abblätterte.»Der schönste Mann von Longchamps. Wat!? Det jibt Chancen bei die Weiber.«

«Ich will Pferde sehen!«sagte Peter Sacher noch einmal betont.

«Det sajen se alle, die nach Paris kommen.«

Peter zog den Cut aus und setzte den Zylinder ab. Er zahlte die Hinterlegungssumme, die der Chauffeur nach einem erregten Han-del mit dem Männlein nannte, sah dann sein gräfliches Aussehen in rohes Packpapier verpackt und verließ den Laden mit dem Gefühl, die Pariser nie verstehen zu lernen.

Im Wagen, das Paket auf den Knien, tippte er dem Fahrer auf die Schulter.

«Jetzt müssen wir irgendwohin, wo ich mich unauffällig umziehen kann. Die Rennen beginnen in einer Stunde. Um nach Hause zu fahren, ist es jetzt zu spät.«

Im geheimen fürchtete er, daß Coucou zurückgekommen war. Mit Coucou aber nach Longchamps zu fahren, schien ihm unmöglich. Man sah Coucou an, wer sie war.

«Det werd'n wir och jleich haben«, sagte der Chauffeur. Die Taxe raste in einem mörderischen Tempo durch die belebten Straßen, bremste kreischend vor den Ampeln, schlidderte am Canal de l'Ourcq vorbei. Peter Sacher schloß die Augen. Er hatte nicht mehr die Nerven, das anzusehen, was er selbst in Düsseldorf tat, wie Sabine behauptete, die neben ihm saß und es deshalb wissen mußte.

«Hier ist's«, sagte der Chauffeur. Peter öffnete die Augen. Sie standen vor dem Gare de l'Est.

Mit seinem Paket unter dem Arm verschwand Peter im Gewühl der Reisenden. Auf der Bahnhofs-Toilette zog er sich um. Wie einst der Hauptmann von Köpenick, verließ er wenig später den ungesellschaftlichen Ort in eleganter Gesellschaftskleidung.

In dem kleinen Spiegel vor dem Waschbecken — einmal Waschen 30 Francs — kämmte er sich sorgfältig, setzte dann seinen hellgrauen Zylinder auf, gab dem Toilettenwärter, der ihn sprachlos beobachtete, ein fürstliches Trinkgeld und verließ dann den Gare de l'Est.

Auf dem Bahnhofsvorplatz stand der Chauffeur und verneigte sich tief.

«Herr Jraf, die Pferde sin jesattelt! Wenn Se jetzt noch am Toto 'ne Stange Jeld jewinnen, taufe ick mir um und nenne mir nur noch Nulpe.«

Dann fuhren sie langsam, wie es sich für die sichtbare Würde gehörte, durch das sonnenflimmernde Paris hinaus in den Bois de Bou-logne.

Am Rande dieses Pariser Stadtwaldes liegt die Rennbahn von Long-champs. Mit einem Blick auf die Seine Fleuve, mit seiner überdachten Tribüne, den weiß eingefaßten Kurvenplätzen, den Totoständen und dem weißen Start-und-Ziel-Haus ist das große Oval der Rennbahn eine Arena der Haute Couture, eine Naturbühne schöner Frauen in Kleidern von Dior, Fath und Schiaparelli, ein Zirkus männlicher Raubtiere und ein Irrgarten dummer Eitelkeiten.

Auf Longchamps gesehen und bemerkt zu werden, ist der Höhepunkt der Saison. Eine Frau, über die man in Longchamps nicht spricht, verliert ihr gesellschaftliches Renomme.

Das alles hatte Peter Sacher einmal gelesen. Es war ein bissiger Kommentar, dessen er sich jetzt erinnerte. Aber als sie langsam in die Allee de Longchamps einbogen und sich in den Korso der eleganten Wagen einreihten, eine popelige Taxe unter den chromblitzenden Ungeheuern der Straße, verstand Peter, was es hieß, mit Anstand und Würde borniert zu sein.

Zwischen schattigen Bäumen fuhren sie im Schrittempo dahin, bewunderten die Garderoben der Damen in den offenen Luxuskabrioletts, die ihre Liebhaber auf Wechsel laufen hatten, ließen sich bewundern und ahnten, welchen Glanz sie in Longchamps selbst zu erwarten hatten.

Am Eingang zur Rennbahn, umgeben von riesigen Parkplätzen und den Begleiterscheinungen der Zivilisation in Gestalt von nicht zählbaren Verkaufsbuden für Andenken (trabendes Pferdchen aus Gips nur 100 Francs), Eis, türkischen Honig, belegte Brötchen und eindeutige Zeitschriften in neutralem Einband, hielt die Taxe an. Der Chauffeur drehte sich grinsend um und nickte.

«Da sind mer! Und nun viel Spaß, Landsmann! Meine Nummer haben Se ja noch, wat?«

Peter bezahlte schnell, stieg aus dem Wagen, reckte sich diskret, setzte den Zylinder gerade und sah sich um. Hinter ihm fuhr der Wagen an, zu früh, denn Peter Sacher wirbelte herum und winkte verzweifelt dem wegrasenden Auto nach.

Eine Feststellung raubte alle Haltung, die sein Äußeres darbot.

Er war neben einigen Rennstallbesitzern einer der wenigen Besucher des Rennens in grauem Zylinder und grauem Hut. Niemand dagegen trug weiße Gamaschen. Die Männer hatten der Hitze wegen ihre Röcke irgendwo aufgehängt…im Hemd, die Ärmel hochgerollt, standen sie neben ihren eleganten Damen.

Peter Sacher stand verlassen vor dem Eingang. Hunderte von Blik-ken sahen zu ihm hin. Man beobachtete ihn. Man bewunderte ihn: Bei der Hitze formvollendet! Er war zum Mittelpunkt geworden.

Mit steifen Knien ging Peter zum Eingang und löste eine Karte. Die Blicke folgten ihm. Er spürte sie in seinem Rücken. Wie tausend Nadeln stach es ihm im Nacken.

Alte Schule, dachte man. Und schwer reich. Wer bei 30 Grad im Schatten um seiner Kleidung und Vornehmheit willen schwitzt, muß so viel Geld haben, daß er schon gar keine körperlichen Bedürfnisse mehr hat.

Einige Damen, leider etwas zu auffällig geschminkt, um zur first class zu gehören, schoben sich an ihn heran und lächelten ihm zu. Ein Buchmacher stürzte auf ihn zu. Er zeigte ihm eine lange Liste mit Pferdenamen und nannte Zahlen. Als er hintereinander französisch, englisch, spanisch, italienisch, deutsch und russisch gesprochen hatte und der graue Mann noch immer schwieg, zog er sich schulterzuckend zurück.

Ein Nabob, dachte er. Man sollte auch noch indisch lernen.

Ein Herr, der eine Binde mit der Aufschrift >Rennleitung< um den Arm trug, kam auf ihn zugeeilt.

«Comtede Reilly?«fragte er mit einer tiefen Verneigung. Peter schüttelte den Kopf. Mit heiserer Stimme sagte er schwach:

«Non.«

Dann fiel ihm ein, daß ein Franzose immer für Höflichkeiten aufgeschlossen ist. Er verneigte sich ebenfalls leicht und stellte sich vor:»Peter Sacher.«

Der Herr von der Rennleitung zerschmolz.

«Oh!«rief er enthusiastisch.»Monsieur Sacher?!«Sein Deutsch war grauenvoll, aber Peter verstand es und erbleichte.»Ich kenne Österreich! Ich war ein Jahr lang dort. Wien, oh, Wien! Ein Märchen, Monsieur Sacher. Und in Ihrem Hause habe ich oft gesessen und Kaffee getrunken! Ein wunderschönes Haus, das Hotel Sacher. Und die Torte! Die Sacher-Torte, eine Erfindung Ihrer Frau Mama, nicht wahr? Ein Gedicht! Noch nie habe ich solch eine Torte gegessen! Sie zergeht auf der Zunge! Welche Ehre, Sie hier zu sehen, Monsieur Sacher. «Er winkte einer Platzanweiserin.»Für Monsieur Sacher eine Loge!«rief er laut, damit es alle hörten.

Peter wurde es unheimlich. Er drückte dem Herrn von der Rennleitung die Hand, schielte zu den anderen Besuchern und sah, daß einige Herren ihren Damen erklärten, was ein Sacher für Österreich und Wien bedeutet, und ging schnell der Platzanweiserin nach auf die Tribüne.

Dann saß er in der Loge, hatte ein dickes Programmheft vor sich liegen und kam sich wie eingesperrt vor. Eine unsinnige Wut auf alle Filme überkam ihn, die Rennplatzbesucher nur in Cuts mit grauem Zylinder darstellten.

Verstohlen blickte er sich um. Der französische Hochadel saß um ihn herum. Die roten Bändchen der Ehrenlegion schimmerten in den Knopflöchern. Die Damen sahen aus, als wollten sie mit ihrer unwirklichen Schönheit beweisen, welch häßliche Zwerge doch die Männer sind. Es war, als konzentrierte sich das Interesse nicht auf die Pferde, sondern um den zugeknöpften, graubetuchten Gast, der einsam in einer Ehrenloge saß, standhaft schwitzte und so vornehm war, daß er weder rechts noch links schaute.

Peter Sacher tastete nach seinem Fernglas. Es baumelte vor der Brust und schien einen Zentner zu wiegen. Wenn ich es jetzt an die Augen halte, brechen mir die Arme ab, dachte er. Ich bin völlig vernichtet. Ich bin eine Witzfigur. Wenn es nur einen Ausweg gäbe, unbemerkt wegzukommen. Aber wer ist unbemerkt, wenn er einen hellgrauen Zylinder, grauen Cut und weiße Gamaschen trägt?

Von >Start und Ziel< leuchtete die Tafel mit den Namen der Pferde des ersten Rennens. Auf den Tribünen war ein Kommen und

Gehen zum Totalisator. Die Buchmacher und ihre Gehilfen schrien sich zu, die letzten Wetten wurden abgeschlossen. Die Pferde wurden hereingeführt und stellten sich hinter der Startleine auf. Die bunten Seidentrikots und runden Kappen der Jockeys glänzten wie Ölfarbflecke, die von einer Palette gelaufen waren. Ein vieltausendfaches Stimmengewirr lag über dem riesigen Oval der Rennbahn. Irgendwo klingelte hell eine Glocke. Das Seil schnellte in die Höhe, die Pferde rasten über die in der Sonne flimmernde Bahn.

Rufe gellten auf. Noch einmal nahmen die Buchmacher Wetten an. Hunderte von Ferngläsern verfolgten die wirbelnden Beine.

Allein Peter Sacher hatte den ersten Start verpaßt.

Er hatte Streit.

Streitobjekt war ein hellbrauner, süßer Seidenlanghaardackel. Er war in die Ehrenloge geschlüpft, hatte die weißen Gamaschen Peters beschnuppert und dann mit hochgezogenen Lefzen und blek-kenden Zähnen angebellt.

Zunächst hatte Peter nichts von seinem Logengast bemerkt. Er studierte die Startliste und schwitzte erbärmlich.

Der Dackel hatte, nachdem er in die Loge geschlüpft war, zunächst den fremden Menschen genau betrachtet. Dann hatte er die weißen Gamaschen erst beschnuppert, intensiv beleckt, mit den Zähnen darüber gekratzt, bis er seine nasse, spitze Schnauze unter das graue Hosenbein schob. Hier kam er an eine glatte, schwitzende Haut, was ihn reizte, ebenfalls liebevoll zu lecken.

Die erste Reaktion ahnungsloser, beleckter Menschen ist ein Tritt. Das aber empfand das Hündchen als ungerecht. Er war liebevoll gewesen und wurde dafür getreten. Außerdem verletzte der Tritt die Umgangsformen des Hundes. Wenn Menschen sich vorstellen, sagen sie ihren Namen; ein Hund kann nicht sprechen. Er stellt sich durch heftiges Schwanzwedeln, Beschnuppern und Belecken vor. Sage mir, wie du riechst, und ich sage dir, wer du bist.

Peter Sacher hatte in seiner Situation keinen Sinn für Tierpsychologie. Er war bis unter die Haarwurzeln verärgert und verbat sich energisch das Beschnuppern und Belecken seines Beines. Nach Art der Menschen trat er also. Der Dackel, tief beleidigt, biß grimmig in den vorschnellenden Schuh.

Dann bellte er. Grell, wild, sich überschlagend.

Von den Nebenlogen schaute der französische Hochadel hinüber. Er war konsterniert. Das Kläffen des Hundes störte die durch Wetten gestützte Weihe des Rennens. Man wollte Amira siegen sehen, aber keinen Dackel im Amoklauf.

Peter Sacher erkannte, daß sein Bleiben nur noch eine Provokation sein würde. Während die Pferde unten in die Zielgerade einliefen, verließ er die Loge.

Der Dackel, einmal aus der Fassung geraten über soviel menschliche Unhöflichkeit, folgte ihm geifernd.

Wütend ging Peter von der Tribüne zum weißgestrichenen Zaun, der das Rennfeld einsäumte. Dann hob er seinen Stock und versuchte, den kläffenden Hund zu verscheuchen.

Hunde haben etwas gegen Stöcke. Ihre tiefe Abneigung teilen sie da mit den Kindern. Auch der wilde Dackel verdoppelte sein Bellen, umkreiste den grauen Mann, sträubte die Rückenhaare und schnappte nach dem Stock, wenn er in seine Nähe kam.

Eine helle Stimme ließ Peter und Hund aufblicken.

«Papillon! Papillon!«rief sie.»Hierher! Kommst du wohl! Läßt du den alten Mann in Ruhe!«

Peter Sacher zuckte zusammen, als sei ihm ein Felsstein auf den Kopf gefallen. Alter Mann! Er gab dem Dackel noch einen Stockhieb, dem er geschickt auswich. Dann drehte er sich um und sah die Sprecherin giftig an.

Eine Dame in einem weißen Seidenkleid bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sie trug einen großen, mit bunten Bändern garnierten Strohhut, hatte schwarze Locken, ein schmales, ebenmäßiges Gesicht, war jung und von exklusiver Figur und blitzte aus schwarzen Augen den grauen Mann an.

«Mon papillon!«sagte sie laut und fast verächtlich.»Ein so liebes Hündchen zu schlagen! Sie Rohling!«

Peter Sacher wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dazu nahm er den grauen Zylinder vom Kopf. Es war ihm, als sei er von einem Eisenring befreit worden. Verwundert musterte ihn die Junge. Sie hatte den Dackel auf den Arm genommen und streichelte noch immer sein gesträubtes Fell.

Ihr Mund ist blutrot, dachte Peter verwirrt. Ihr Gesicht hat etwas Puppenhaftes an sich. So gleichmäßig. So schön. In ihrem Kosmetiksalon müssen Könner sitzen.

Er ist bestimmt ein Engländer, dachte sie. Und ein Rohköstler. Er sieht so aus. Sie hatte etwas gegen Rohköstler, denn ihr Vater war ein Pariser Metzgermeister. Außerdem kann nur ein Engländer so konservativ auf einem Rennplatz stehen. Und so alt, wie er von weitem aussah, ist er auch nicht. Die angegrauten Schläfen sind im Gegenteil genau das, was zu ihm paßt.

Sie lächelte ein wenig. Dann sprach sie, warum, das wußte sie selbst nicht, in deutscher Sprache weiter.

«Was 'aben Sie gemacht mit meinem 'und?«

«Ich?«Peter Sacher verbeugte sich leicht und setzte seinen Zylinder wieder auf.»Fragen Sie lieber, was Ihr reizender Köter mit mir gemacht hat. Er bellte mich an.«

«Das ist sein Recht gutes.«

«Er beschnupperte mich.«

«Weiß wer, wie Sie riechen?«

«Er schnappte nach meinen Füßen.«

«Er kann nicht leiden weiße Gamaschen.«

«Madame! Ich bitte Sie!«Peter Sacher errötete mehr als durch die glühende Hitze.»Ich kann ja nicht jeden Hund fragen, ob ihm meine Kleidung zusagt.«

«Leider. «Die Dame nahm eine silberne Kette aus der Kleidtasche und befestigte ihren Papillon daran. Dann setzte sie ihn wieder auf die Erde.»Manchmal 'unde 'aben einen besseren Geschmack als Menschen.«

«Soll das ein Angriff auf meine Person sein?«

Die junge Dame schüttelte den Kopf. Hochmütig kann das Biest auch sein, dachte Peter wütend.

«Monsieur, glauben Sie so zu sein interessant, daß ich mich beschäftigen würde mit Ihrer Kleidung?«

«Warum nicht. «Peter war mit Gift geladen bis zur Mundhöhle. Er sah auf seine weißen Gamaschen und verfluchte den Gedanken, nach Longchamps gegangen zu sein.»Ich habe gelesen, daß sich mit den Jahren Hund und Herrin gleichen!«

«Charmant!«

Die Dame lachte laut und bog sich dabei etwas zurück.

Sie lacht mich aus, dachte Peter Sacher. Ich bin ein Clown in ihren Augen. Er biß sich auf die Unterlippe und riß den grauen Zylinder vom Kopf.

Was schon seine Jugend überschattet hatte, brach wieder in ihm aus. Unsicherheit Frauen gegenüber, Hemmungen, Komplexe und zaghaftes Tasten nach den richtigen Worten. Immer hatte ihm etwas von der siegenden Frechheit gefehlt, die Frauen so lieben und von der sie sich so gerne erobern lassen. Männliche Frechheit ist für sie das Salz des Flirts. Jeder andere Mann, der in Longchamps von dem Hund einer reizenden Dame attackiert wird, hätte sich anders benommen als Peter Sacher.

Peter sah das ein. Eine große Gleichgültigkeit vor der Meinung seiner Umgebung und den Blicken der Oberen Tausend überfiel ihn. Er sah auf seinen grauen Zylinder in seiner Hand, dann hob er den Arm und schleuderte das Monstrum weit von sich. Der Zylinder rollte über den Rasen und blieb an einer Pferdetränke traurig liegen. Die junge Dame starrte Peter entsetzt an.

«Aber warum denn?«stotterte sie.»Isch Sie nicht beleidigen wollte.«

Peter fühlte sich befreit. Er riß sich den Plastron, die breite Cutkrawatte, ab und warf sie dem Zylinder nach. Erleichtert knöpfte er das Hemd auf. Ein Herr, der an ihnen vorbeiging, beschleunigte die Schritte. Ein Gentleman, der in grauem Cut seinen Zylinder wegwirft und das Hemd aufreißt, muß einen Wahnsinnsanfall bekommen haben.

«Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich machen«, sagte Peter. Er faßte die junge Dame am Arm und zog sie aus der starrenden Menge weg auf eine Wiese, wo sie unbeobachtet waren. Papillon folgte ihnen knurrend.

«Lassen Sie mich erklären, warum ich aussehe wie ein Clown. Ich bin nicht nach Paris gekommen, um etwas zu erleben. Ich hatte die Absicht, sechs Wochen auszuspannen, abzuschalten, an nichts anderes zu denken als an mich!«Ich lüge schon wieder, dachte Peter. An Sabine sollte ich denken. Er sah das ihm gespannt zuhörende Puppengesicht an und sprach tapfer weiter.»Ich wollte so etwas wie Glück in Paris suchen. Verstehen Sie das?«

«Oh, oui! Paris ist eine glückliche Stadt.«

Sie beugte sich zu dem Dackel hinab und streichelte ihm über das seidige Fell. Peter sah auf ihre bloßen, braunen Schultern. Ihre Haut war glatt, als sei sie gewachst.

«Ich bin noch nie gestreichelt worden«, sagte er.

«Wünschen Sie, daß isch es tue hier auf Rennplatz?«

«Der Neid wäre zu groß, Madame.«

«Kommen Sie«, sagte sie einfach, wandte sich ab und ging. Peter hatte Mühe, ihr zu folgen. Sein verwildertes Aussehen, das ihm den Anschein einer mühsam überstandenen Schlägerei gab, bei der man ihm das Hemd zerrissen und die Krawatte zerfetzt haben mußte, ließ ihm alle Blicke folgen. Auf dem Parkplatz sah er schon von weitem die Taxe des französisierten Berliners stehen. Mit langen Schritten, die junge Dame fast nachziehend, eilte er auf den Wagen zu, riß die Tür auf, schob die Dame samt dem um sich beißenden Dackel hinein, rannte um den Wagen herum, warf sich auf seinen Sitz und stieß dem sprachlosen Berliner in die Schulter.

«Fahren Sie! Schnell!«

Der Wagen schoß vom Parkplatz weg, hinaus auf die Allee, wo er notgedrungen wegen der promenierenden Menschen das Tempo verlangsamen mußte. Peter sah sich um. Es war verwunderlich, daß ihnen niemand wie einem Gangsterwagen folgte.

Der Berliner sah sich kurz um. Sein Gesicht war verschlossen.»Wohin?«»25. Rue Championnet«, sagte die Dame.

«Das ist auf dem Montmartre, nicht wahr, Madame?«

«Oui.«

Wieder raste der Wagen quer durch Paris. Die Sonne brannte auf das Autodach. Es roch penetrant nach Benzin und heißem Öl. Der Dackel hatte die Pfoten auf den Vordersitz gelegt und leckte dem Chauffeur den Nacken. Bis auf das Schmatzen des Hundes war es still im Wagen. Die Dame und Peter Sacher sahen, jeder auf seiner Seite, aus dem Fenster. Ab und zu schielten sie zu sich hin. Wenn sie sahen, daß der andere es auch tat, wandten sie schnell wieder die Köpfe zur Scheibe.

Die Bäume im Parc de Monceau waren staubig und saftlos. Ihre Blätter waren wie versengt. In den Haustüren von Batignolles saßen auf Rohrstühlen die Concierges und rauchten ihre Pfeifen oder algerische Zigaretten. Einige schliefen im Schatten der Balkone, neben sich ihre struppigen Hunde. Es war einfach zu heiß, um in den Wohnungen zu bleiben.

Rue Championnet. Nummer 25. Ein hohes Haus. Ein halbes Glasdach. Ein Atelier. Ein typisches Montmartrehaus.

Die junge Dame stieg aus, nahm ihren Papillon auf den Arm und ging ins Haus. Peter bezahlte die Fahrt.

«Eigentlich könnte ich Sie für sechs Wochen mieten«, sagte er krampfhaft fröhlich.

Der Berliner nahm das Geld ungezählt und steckte es in die Tasche. Dann kratzte er sich den Kopf und sah auf das Haus Nr. 25.

«Woll'n Se 'nen Rat haben, Landsmann?«

«Wenn er was wert ist.«

«Det is' keene von denen. Ick hab nen Blick dafür. Passen Se uff, Landsmann! Nich alles, was aufn Montmartre wohnt, is dat, wat man sich von Paris vorstellt und für Jugendliche verboten is. Soll ick warten, oder?«

«Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«

«Ick habe meenen ständigen Stand am Gare St. Lazare.«

«Danke, Berliner.«

«Nischt for ungut.«

Der Wagen fuhr davon. Peter Sacher stand allein auf der Straße und zögerte, ins Haus zu gehen. Er mußte plötzlich an Sabine denken und schämte sich. Die Haustür öffnete sich wieder. Der Puppenkopf sah hinaus.

«Hier ist kühl«, sagte er. Peter nickte. In mir nicht, mein Mädchen. Ich bin bestimmt der erste Mann deiner Bekanntschaft, der zögert.

Im Hausflur blieb er stehen und sah die steile Treppe empor. Sie verlor sich in einem Halbdunkel.

«Ganz oben!«sagte die Dame. Papillon war nicht zu sehen. Er war anscheinend schon emporgelaufen.

«Gehen wir«, sagte Peter heiser. Er stieg voran, sechs Stockwerke hoch. Ganz oben blieb er vor einer großen Bohlentür stehen. Pa-pillon saß davor und wedelte mit dem Schwanz.

«Voila!«sagte die Dame. Sie schloß die Tür auf, stieß sie weit zurück und winkte einladend mit der Hand.»Entrez.«

Ein weiter Raum mit einem schrägen Glasdach öffnete sich vor Peter. Staffeleien und viele Gemälde und Skizzen an den Wänden machten das Zimmer bunt und wohnlich. Sie verdeckten die roh geputzte und gekalkte Wand.

In der Ecke des Zimmers stand eine Couch. Davor ein runder Tisch, bedeckt mit Paletten. Drei Sessel, zwei Hocker. Hinter einem zurückgezogenen Vorhang sah er einige Regale mit Töpfen und Geschirr. Auf einem verbeulten Blechtisch stand ein zweiflammiger Gaskocher. An in den Wänden eingeschlagenen Haken hingen Kleider und Unterwäsche frei zwischen einigen Gemälden. Auf dem Atelierboden lag ein handgewebter Teppich. In einer alten Truhe ahnte man die Bettwäsche. Vor dem großen Glasfenster standen Blumen in bunt bemalten Töpfen. Bis an die Decke stieß das große Fenster. Man hatte das Gefühl, unter freiem Himmel zu sitzen.

Papillon war auf die Couch gesprungen und hatte sich grollend zusammengerollt. Die junge Dame ging Peter voraus, zog einen Sonnenvorhang halb vor das Fenster und wandte sich um.

Lächelnd sah sie, wie Peter Sacher die Wände entlang ging, Bild

nach Bild betrachtend. Vor einem Männerakt blieb er stehen.

«Soso«, sagte er.»Das malen Sie auch?«

«Er heißt Rene.«

«Ihr Geliebter.«

«Mein Modell!«

«Das dürfte doch das gleiche sein.«

Er hatte plötzlich eine sinnlose Wut auf diesen Rene und wandte sich schroff ab. Die junge Dame hob die Schultern.

«Sie scheinen zu verstehen ebensowenig von Malerei wie von Pferderennen.«

«Ein Mann, der sich so, so, na, eben so malen läßt! Ich bitte Sie!«

«Wenn Sie hätten gute Figur, würde ich Sie bitten, sich auch so, so, malen zu lassen!«

«Ich habe eine gute Figur!«sagte Peter schroff. Er war ins Innere getroffen.

«Es gefällt Ihnen nicht bei mir?«fragte die junge Dame. Sie ging zu dem Aktbild und nahm es von der Wand.»Wir können es wegnehmen. Ist es so besser?«

«Wesentlich. «Peter lächelte. Im Winkel seines Herzens hatte er Angst vor dem, was noch entstehen konnte.»Es ist das Paris, das ich suchte.«

«Fast 'abe ich es gewußt.«

Sie ging an ihm vorbei, zog den Sonnenvorhang ganz vor das riesige Fenster und knöpfte ihr Kleid am Hals zwei Knöpfe weiter auf. Rot-weiße Streifen lagen über dem Dielenboden. Die Sonne schien den Vorhangstoff zu durchglühen.

«Setzen Sie sich doch. Papillon tut Ihnen nichts mehr. Er 'at Sie bereits 'alb in sein Leben aufgenommen.«

«Das geht aber schnell. «Peter schluckte.

«In Paris wissen wir zu genau, wie schnell die Zeit vergeht. Wir nützen sie. Setzen Sie sich bitte.«

«Nicht, bevor ich weiß, wer Sie sind, Madame.«

«Ich bin Yvonne Sandou. Sagt Ihnen das etwas?«

«Yvonne Sandou. Eine Melodie in Moll.«»Namen sind so dumm im Leben. Wir lernen doch keine Namen kennen, sondern Menschen. Daß ihr immer nach den Namen fragen müßt. Yvonne genügt doch. Und Sie?«

«Bei euch würde man mich Pierre nennen.«

«Nur Pierre?«

Peter lächelte.»Was sind Namen, Yvonne?«Sie nickte zurück und wandte sich ab.»Yvonne und Pierre, klingt das nicht wie ein Lied eurer Troubadours?«

«Sie sangen von Liebe, Pierre.«

«Und jeder verstand sie.«

Yvonne ging hinter den Vorhang der Küche. Sie nahm den Strohhut vom Kopf, schüttelte den Kopf, um die Haare zu lockern und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Peter sah ihr zu. Er saß auf der Couch, die Hände zwischen den Knien, wie ein befangener Schüler vor seinem Direktor. Die Streifen des Sonnenvorhanges fielen über seinen grauen Cut. Es sah schrecklich aus. Yvonne sah ihn mitleidig an.

«Ziehen Sie doch aus dies schreckliche Ding, Monsieur«, sagte sie. Darauf griff sie hinter den Vorhang und warf Peter einige Kleidungsstücke zu. Eine blaue, enge Hose, ein gelbes Baumwollhemd, flache Sandalen.

Peter betrachtete die Dinge mit Abscheu.

«Von Rene?«fragte er widerspenstig.

«Von Francois!«

«Noch ein Liebhaber?«

«Mein Bruder! Er dient jetzt in Algerien bei den Panzern. In einem Jahr ist seine Dienstzeit um.«

«Verzeihen Sie. Ich bin schrecklich unmodern.«

«Wo haben Sie eigentlich Ihre richtige Kleidung?«

«Im Schließfach 178 des Gare de l'Est.«

«Die holen wir morgen ab! Ziehen Sie die Sachen an! Oder schämen Sie sich vor einem Mädchen?«

«Nicht, wenn es schon Männerakte gemalt hat!«sagte Peter giftig.

Er legte seinen Cut ab, zögerte einen Augenblick, ehe er die Hosen auszog, dann stieg er in die blaue Hose, streifte das gelbe Hemd über und angelte nach den Sandalen. Als er einen Blick in den Spiegel warf, der seitlich des Vorhangs an der Wand hing, sah er sich wieder als armer Maler. Nur die Baskenmütze und die Zigarette im Mundwinkel fehlten. Auch so eine dumme Kinomode, dachte er wütend. Immer haben die Maler im Film Baskenmützen und Zigaretten im Mundwinkel.

«Wie viele Männer vor mir haben das schon getragen?«fragte er, weil er nicht kampflos untergehen wollte.

«Warum fragen Sie, Pierre?«

«Es interessiert mich. Ich will mich moralisch umstellen.«

«Eifersüchtig?«

«Man könnte eifersüchtig werden, wenn man sich in Sie verliebt, Yvonne! Zu denken, daß in dieser Hose und diesem Hemd ein anderer.«

Yvonne lächelte mild. Sie stand in der >Küche< und schraubte eine Kohlensäurepatrone in einen alten Syphon.

«Trinken Sie einen eisgekühlten Whisky-Soda mit mir?«fragte sie statt einer Antwort.

«Sehr gern. Nur, woher habt ihr armen Maler einen echten Whisky? Sie haben wohl einen reichen amerikanischen Freund, Yvonne?«

«Vielleicht.«

«Es wäre peinlich, ihm hier zu begegnen. Vielleicht sogar in seiner Hose.«

Yvonne lächelte wieder.»Glauben Sie, Pierre«, sagte sie milde,»ich ließe Sie bei mir einen Whisky trinken, wenn Charly in der Nähe ist?«

«Aha! Charly heißt die Kanaille!«

Peter Sacher setzte sich ernüchtert in einen Sessel. Er wollte die Beine übereinanderlegen, aber in einer Naht der engen Hose krachte es. Da ließ er es sein und saß steif wie in einem Korsett.

Yvonne spülte zwei Gläser. Sie trällerte dabei ein Liedchen. Sie schien völlig enthemmt zu sein. Ohne Moral. Eigentlich war es herr-lich.

Peter stand auf und trat an das große Fenster. Er schob den Sonnenvorhang etwas zurück und sah hinaus. Vor ihm waren die dampfenden Dächer von Paris. Der Kuppelturm des Sacre-Creur ragte über sie hinaus. Er blitzte, als sei er mit Glassplittern übersät, in denen sich jetzt die Sonne spiegelte. Auf einem Balkon unter dem Dach des gegenüberliegenden Hauses lag ein nacktes Mädchen auf einer roten Decke und sonnte sich.

«Wirklich. Eine schöne Gegend.«

Hinter ihm lachte Yvonne auf.»Liegt Margot wieder in der Sonne?«

Verlegen drehte sich Peter vom Fenster weg. Yvonne stand hinter ihm. Sie zog den Vorhang wieder vor die Glaswand und hakte sich bei ihm unter.

«Komm«, sagte sie zärtlich,»trink mit mir einen Whisky.«

Sie setzte sich Peter gegenüber auf die Couch und zog die Beine an. Wie Coucou, durchfuhr es ihn. Aber sie ist noch schöner. Noch gefährlicher. Er hielt sein Glas hin und sah zu, wie das Sodawasser sprudelnd in den Whisky schoß. Mit einem Zug leerte er das Glas und setzte es dann hart auf den Tisch. Es klirrte laut.

Yvonne hatte dunkle, glänzende Augen, als sie ihn ansah.

«Warum bist du eigentlich nach Paris gekommen, Pierre?«

«Ich wollte einen Freund besuchen.«

«Nur deshalb?«Sie nahm seine Hand und hielt sie hoch.»Du bist verheiratet.«

Peter zuckte zusammen. Eine Viertelstunde lang hatte er nicht an Sabine gedacht, und gerade Yvonne erinnerte ihn an sie. Hatte sie es verdient, daß er jetzt in einem Montmartre-Atelier um seine Fassung rang? Immerhin hatte sie ein Zimmer mit Doppelbett, und das hier ist nur eine einschläfrige Couch! Bei mir ist nichts vorausgeplant!

«Verheiratet? Ja. «Er zog die Hand zurück und streifte den Ring vom Finger, steckte ihn in die Hosentasche und bereute es gleichzeitig.»Oder auch nein. Wie du willst, Yvonne.«»Du 'ast deine Frau verlassen?«

«Wir haben uns beide verlassen.«

Yvonne schüttelte den Kopf, Sie verstand ihn nicht.

«Du gehörst zu den berühmten Ehemännern, die sooo unglücklich sind? Das ich dir nicht traue zu. Non! Ich verstehe es nicht.«

«Ich auch nicht, Yvonne. Das ist es ja!«Er stand auf und ging an den Sonnenvorhang. Er wagte nicht, ihn zur Seite zu schieben. Margot gegenüber konnte sich noch immer sonnen, und das verwirrte ihn wieder.»Wir sind jetzt sieben Jahre verheiratet. Wir lieben uns. Ist das nicht merkwürdig?«

«O non, das ist ja Sinn von Ehe.«

«Aber wir haben uns nichts zu sagen! Verstehst du?«

«Non! Wer liebt, 'at immer zu sagen, und nicht nur mit Wort. Immer, Pierre.«

Peter Sacher hob hilflos die Arme.»Wie könntest du es auch verstehen? Du bist ein anderer Mensch. Du lebst in Paris, in dir ist ein seliger Hauch von Lebenskunst. Ihr habt das Denken in der Liebe abgeschafft, ihr liebt nur. Und das ist besser, viel, viel besser.«

«Und jetzt bist du gekommen nach Paris, um zu lieben eine andere Frau?«

«Nein. Ich wollte sechs Wochen allein sein und denken. Über alles nachdenken. Siehst du, das ist ja das Dumme an uns, wir wollen eine Liebe retten durch Grübeln! Sabine ist genauso.«

«Sabine ist sie?«

«Ja. «In einem Doppelzimmer, dachte er giftig.

Yvonne war aufgestanden und auf ihn zugekommen. Jetzt nahm sie seine Hand und streichelte sie.»Ich glaube, du denkst schon wieder, Pierre.«

Er nickte. Plötzlich zog er ihre Hand empor und küßte sie. Yvonne ließ es geschehen. Aber sie wehrte sich, als er sie zu sich heranzog, sich niederbeugte und ihre Lippen küssen wollte.

«Nein, Pierre«, sagte sie leise und drehte den Kopf zur Seite.»Nicht.«

«Ich will vergessen, Yvonne.«

«Du kannst sie nicht vergessen. Das ist Lüge. Du willst nur Ra-che nehmen für gekränkten Stolz. Aber isch bin keine Rache, isch bin Frau wie Sabine.«

«Du bist eine wundervolle Frau!«

Sie sah ihn einwenig traurig an.»Warum bist du nicht wundervoller Mann, Pierre?«

Später saßen sie wieder nebeneinander auf der Couch und tranken stumm ihren Whisky-Soda. Die Sonne verblaßte langsam. Sie versank wie ein glühendes rundes Stück Eisen hinter den Dächern. Die Ziegel wurden violett. Der Sonnenvorhang vor der Fensterwand war zurückgezogen. Fahlheit verbreitete sich im Zimmer. Auf einem Kissen lag Papillon und schnarchte leise.

Peter Sacher stellte sein Glas zurück und erhob sich.

«Jetzt werde ich wohl gehen müssen«, sagte er laut.»Ich werde aus dem Schließfach 178 meine Kleider holen und.«

«Und dann?«Yvonne hielt seine schlaff am Körper herunterhängende Hand fest.»Warum du gehen müssen, Pierre? Wartet Freund auf dich?«

«Er ist verreist. «Er entzog ihr seine Hand.»Aber dein Amerikaner könnte kommen.«

«Es gibt keinen Amerikaner. «Yvonnes Lächeln war starr.»Es war alles nur Scherz, Pierre. Kleiner Scherz, um Schutz zu 'aben. Meine Freunde sind die Farben, die Sterne, der Mond, die Sonne, die Schwalben, ab und zu der Hunger und die Tauben, die jeden Morgen 'erüberkommen von Sacre-Creur und ihre Brotkrumen 'olen.«

«Du bist ganz allein, Yvonne? Du?«

«Isch 'aben meine Kunst. «In ihren Augen flimmerte es.

«Und, und die Liebe?«

«Sie kommt und geht, wie Tag und Nacht. Sie ist Natur wie Regen und Sonne.«

«Und die große Liebe, die bleibende?«

Yvonne lächelte schwach.»Glaubst du noch an Wunder, Pierre?«

Peter setzte sich wieder und blickte in sein leeres Glas. Yvonnes Nüchternheit dem Leben gegenüber, ihre Illusionslosigkeit, obwohl sie Künstlerin war, stießen ihn in eine andere Welt. Es mag stimmen, dachte er. Wir denken alle zu romantisch. Aber was wäre das Leben ohne dieses bißchen Traum? Mein Gott, wäre es wert, zu leben, ohne die kleine Illusion, unsterblich lieben zu können?

Er sah zur Seite. Die Nähe Yvonnes, ihre nackten Arme, die er an seinen Händen fühlte, der Duft ihres Haares, der Schwung ihrer Brüste und die kleinen Füße, die nackt in Pantoffeln aus bemaltem Ziegenleder staken, das weite Atelier mit den vielen Bildern, die Glaswand, vor der die Nacht von Paris stand — es war ihm, als habe er gar nicht anders gelebt als in der Nähe Yvonnes. Es war alles plötzlich so selbstverständlich. Trotzdem sprang er auf und griff nach seiner hellgrauen Cuthose.

«Ich werde gehen«, sagte er rauh.

Yvonne schüttelte den Kopf.»Bitte, bleib, Pierre.«

«Ich kann nicht, Yvonne. Ich habe schon einmal gesagt, ich bin schrecklich unmodern.«

«Nur dein schrecklicher, äußerer Panzer, Pierre. Da, im Herzen, leg die Hand drauf und fühl es, Pierre, da bist du nicht unmodern. Da bist du nur ein Mensch, wie sie waren seit tausend Jahren.«

Peter Sacher blieb.

Sie machte ein Abendessen. Die letzten Büchsen öffnete sie. Es gab Thunfisch, Weißbrot, etwas Käse und ein Stückchen mageren Speck. Dazu tranken sie aus kleinen Wassergläsern Wermutwein.

«Warum hast du mich mitgenommen in deine Wohnung?«fragte Peter. Er hatte den Arm um ihre nackten Schultern gelegt. Sie hat eine Haut wie ein Pfirsich, dachte er.

«Du tatest mir leid, Pierre.«

«Ich tat dir leid! Aber wieso denn?«

«Wie du da standest mit deinem grauen Cut, mit dem 'ohen, schrecklichen Zylinder auf dem Kopf, Gesicht rot wie Tomate, und alle Leute dich gucken an und lachen 'inter vorgehaltenes Programm, da dachte isch: Armes Kerl! Weiß nicht, wie dumm er aussieht. Da 'abe isch geschickt Papillon zu dir.«

«Was?«Peter Sacher fuhr herum und riß Yvonne an sich.»Du hast den Dackel auf mich gehetzt? Welch ein Luder bist du. Das kostet einen Kuß, Yvonne.«

Er wollte sie küssen, aber Yvonne bog den Kopf wieder zurück.

«Wie rauh du bist, du deutscher Barbar. «Mit beiden Händen fuhr sie ihm in die Haare und schüttelte seinen Kopf.»Nicht einmal küssen kannst du! Was soll denken deine Sabine, wenn du zurückkommst aus Paris und kannst nicht einmal richtig küssen? Schon deshalb mußt du bleiben, du dummer, lieber, wilder Pierre. Ich will dich küssen lehren, mon ami, und deine Sabine wird glücklich sein.«

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