5

Nachdem sich Rialla in Richtung Stallungen aufgemacht hatte, hatte sich Tris vorsichtig durch den Burghof geschlichen und sich dabei hinter jedes Hindernis geduckt, das ihm Tarnung bieten konnte. Es war ganz so, wie wenn er in den Wäldern auf die Pirsch ging. Er war auf Westholdt zu bekannt, um geradewegs sein Ziel anzusteuern, wie es Rialla getan hatte, doch die Verstohlenheit war seine zweite Natur, und er kam auf diese Weise kaum langsamer voran als seine Begleiterin. Amüsiert stellte er fest, dass er die Herausforderung dieses Abenteuers genoss wie ein kleiner Junge.

Das höchste Gebäude auf Westholdt, der Turm, stand zwischen der Burgmauer und der Feste und warf einen Schatten auf das rechteckige, nahegelegene Wachhaus. Obwohl der Bergfried älter war als jedes andere Bauwerk rund um Westholdt – er stammte noch aus der Zeit der ursprünglichen Festungsanlage –, standen die alten Buckelquader, aus denen er errichtet worden war, noch immer schwer und fest an ihrem Platz.

Tris war gerade in den Schatten des Wachhauses gehuscht, als eine Männerstimme ihn erstarren ließ. Er versuchte, flach zu atmen, und presste seinen Körper eng an die grob behauene Holzwand, während drei Wachleute nah an ihm vorbeigingen. Zu nah für Tris’ Geschmack, der angesichts der sauren Wolke, welche die Männer umwehte, die Nase krauszog. Er wartete, bis die drei in ihrem Wohnquartier verschwunden waren, bevor er sich wieder aus der Dunkelheit hinauswagte und die kurze Strecke zurücklegte, die den Turm von dem Wachhaus trennte.

Im Turm selbst gab es keine Tür, nur einen weiten, offenen Durchgang; darin ein Wachmann, der in die Nacht hinausstarrte. Es war ein junger Bursche, den die nervöse Aura des frischen Rekruten umgab. Seine Hand ruhte am hölzernen Griff seines Schwertes, den er immer wieder fest umschloss.

Tris beschwor seine Magie, summte dabei leise, um seine Macht zu verstärken. Als die Magie kam, warf er sie sich über wie einen Umhang aus Stille und Dunkelheit. Ungesehen schlüpfte er so zwischen Wachmann und Durchgang ins Innere des Turms.

Der Bereich im Untergeschoss war beengt und schmucklos; durch die hohe Decke wirkte er fast leer. Er wurde durch eine Reihe Fackeln erhellt, die tanzende Schatten gegen die steingrauen Wände warfen.

In der Mitte des Raums ragte ein steinerner Hohlzylinder mit einem weiteren Durchgang in die Höhe; darin konnte Tris die enge Wendeltreppe erkennen, die nach oben führte. Gleich neben dem zentralen Stützpfeiler der Treppe saß ein Mann auf dem Boden, der erfahrener wirkte als sein Kamerad am Turmeingang. Geduldig schliff er die Klinge eines Messers mit einem Stein.

Tris bewegte sich entlang der Wand und erstarrte auf der Stelle, als der Mann am Treppenaufgang plötzlich aufsah und direkt in seine Richtung starrte. Offenbar hatte ihm sein Instinkt mitgeteilt, dass sich etwas an der Atmosphäre im Untergeschoss geändert haben musste.

»Nar!«, rief plötzlich die Wache vom Eingang. »Da draußen ist was!«

Der Veteran seufzte und legte den Wetzstein beiseite. Leichtfüßig stand er auf und ging ohne besondere Eile zu dem Wachposten beim Turmzugang. Tris ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und spurtete im nächsten Moment in die Sicherheit des Treppenhauses.

Die Oberfläche der steinernen Treppenstufen war unregelmäßig abgenutzt, und er war dankbar für die weichen Sohlen seiner Schuhe, mit deren Hilfe er sich sicher nach oben tasten konnte. Die gewundene Treppe und der sie umgebende massive Steinzylinder ließen Tris, der weite Wälder statt bedrückende Wehrkonstruktionen bevorzugte, sich außerordentlich unwohl fühlen.

Da der Turm sehr hoch war, brauchte er zwei ganze Umdrehungen auf der Wendeltreppe, bis sich ein weiterer Durchgang in das erste Obergeschoss öffnete. Aus dem, was Tris erkennen konnte, schloss er, dass diese schwach erleuchtete Kammer vom Grundriss her genauso aussah wie das Untergeschoss. Ein fahler Mondlichtstrahl fiel durch einen Fensterschlitz nahe der Decke, doch das meiste Licht im Raum rührte von einer kleinen Öllampe her.

Auf einer Bank nahe der Außenmauer hatte es sich ein Wachmann bequem gemacht, der im trüben Licht an einem kleinen Stück Holz herumschnitzte. Die Lampe selbst stand auf der Armlehne eines Stuhls und war dort mit dicken Lederriemen fixiert worden. Der Raum war angefüllt mit verschiedenen Werkzeugen, mit deren Hilfe man Gefangenen ein Geständnis »entlocken« konnte.

Tris schlich weiter die Wendeltreppe hinauf, die immer enger wurde, sodass bald nur noch eine Handbreit Platz war zwischen seiner Schulter und der Mauer des Treppenhauses. Das letzte Licht vom darunterliegenden Stockwerk verblasste, bis selbst Tris’ ausgezeichnete Nachtsicht nicht mehr von Nutzen war und er sich mit jeder neuen Stufe immer verlorener fühlte.

Sein Aufstieg endete mit einer Falltür, die in den Boden des über ihm liegenden Stockwerks eingelassen worden war. Was Tris wiederum nur feststellte, weil er sich an ihr den Kopf stieß. Sein Zauber reichte, um den Krach zu absorbieren, half aber nicht, den Schmerz zu unterdrücken. Er tastete den Rand der Falltür mit den Händen ab, bis er einen einfachen hölzernen Riegel berührte, den er öffnete. Er konnte die herabfallende Klappe gerade noch abfangen, bevor er sich ein zweites Mal den Kopf stieß.

Nachdem er die letzten Stufen durch die Luke erklommen hatte, fand sich Tris in einem kleinen runden Raum wieder. Er trat ein und zog die Falltür hinter sich zu. An der Oberseite gab es einen Riegel, obwohl dieser hier so konstruiert war, dass ein fester Ruck von unten ihn zerbrechen konnte.

Zufrieden, dass die Klappe gesichert war, befreite sich Tris von Schatten und Stille und beschwor ein Magierlicht, um sich ein wenig umzusehen.

Vier schwere, verriegelte und eisenbeschlagene Eichentüren waren in regelmäßigen Abständen in diesem Raum zu erkennen. Er öffnete den Mund, um zu rufen, überlegte es sich aber doch noch anders.

Es gab keinen Grund anzunehmen, dass Laeth der einzige hier im Turm eingeschlossene Gefangene war. Je weniger Lärm er bei der Suche nach dem Darraner verursachte, umso problemloser würde dessen Befreiung ablaufen.

Tris ging auf die erste Tür zu und legte seine Stirn an das Holz. Stein war kalt und tot für ihn, doch Holz war ihm ein alter Freund. Auf seine Bitte hin gab die Eiche ihm ihre Geheimnisse preis und erlaubte es ihm zu entdecken, was jenseits der Tür lag.

Die erste Zelle war leer, und Tris ging zur nächsten Tür. Als er seine Hand erhob, griff die Magie in dem kühlen Metall nach ihm. Ein Menschenmagier hatte die Schlösser verzaubert; kein grüner Magier hätte dergleichen mit Eisen anstellen können.

Die hier verwendete Magie war Tris so fremd, dass er nicht einmal ihre Natur zu erfassen vermochte. Was er allerdings durchaus erkennen konnte, war, dass der Magier die Eiche mit seinem Spruch nicht verdorben hatte. Indem er wieder seine Stirn gegen das Holz legte, wagte er einen Blick in die Zelle.

Wenn die Person dort nicht Laeth war, so war sie doch ein Mann in seiner Größe und mit seinem Gewicht, der zudem noch die Kleidung eines Adligen trug. Zudem war der Gefangene an Händen und Füßen gefesselt. Der ganzen Sache hier musste ein hässlicher Kampf vorausgegangen sein, denn man hatte viel Mühe darauf verwendet, dafür zu sorgen, dass sich der Insasse in seiner Zelle kaum mehr rühren konnte.

Tris legte seine flache Hand auf die Tür und sang leise in seiner eigenen Sprache vor sich hin. Mit einem unendlich müde klingenden Seufzer verwandelte sich das Holz in einen Haufen Sägespäne, bis nur noch die Metallriemen und das eiserne Schloss übrig waren.

Zu schnell blickte Laeth in das hereinfallende Licht und zog den Kopf zwischen die Schultern, um sich die geblendeten Augen trockenzuwischen.

Obwohl er in seiner jetzigen Lage ein ziemlich nutzloser, weil an Händen und Füßen gefesselter darranischer Edelmann war, war er doch auch ein ausgebildeter Kämpfer. Tris hatte in seinem Leben genügend Raubtiere getroffen, um zu wissen, dass sie in Gefangenschaft am gefährlichsten waren. Und so beschloss er, Laeth erst loszubinden, wenn dieser überzeugt war, dass er einen Freund vor sich hatte.

Vorsichtig öffnete Laeth seine Augen, nahm die fehlende Tür und das Magierlicht dahinter wahr und kam zu dem falschem Schluss. »Ich bin überrascht, wie schnell Sianims Meisterspion von meiner Inhaftierung erfahren hat«, zischte er.

»Soweit ich weiß, hat er das gar nicht«, erwiderte Tris ruhig und zog die schwebende Lichtquelle ein wenig näher an sich heran, damit Laeth ihn besser sehen konnte.

Die Augen des Darraners weiteten sich vor Überraschung, als er seinen Retter erkannte. Doch bevor er etwas sagen konnte, ertönte in der Etage unter ihnen ein lautes Krachen.

Tris erstarrte und stellte fest, dass auch Laeth stocksteif dasaß. Sie warteten, doch es blieb alles still.

Schließlich stieg Tris über die Haufen mit Sägemehl in die Zelle; das Magierlicht folgte ihm. Er lehnte seinen Stab gegen die Wand und hockte sich neben den ramponierten Darraner, um sich seine Ketten genauer anzusehen.

Sie waren, wie für solche Objekte üblich, aus minderwertigem Eisen gefertigt, dennoch war Eisen einschließlich seiner veredelten Brüder ausgesprochen resistent gegen Naturmagie. Mit genügend Zeit wäre der Heiler gewiss imstande gewesen, die Ketten zu zerstören, aber die Zeit war im Moment nicht ihr Verbündeter.

Tris zog einen Schlüsselring aus seiner Gürteltasche und fand einen Schlüssel, der in die Handschellen passte.

Eines Abends, nicht lang nach seinem Eintreffen in Tallonwald, hatte ein Mann an Tris’ Tür geklopft, der offenbar schlimm zusammengeschlagen worden war. Er blieb zwei Tage bei dem Heiler und war dann so plötzlich verschwunden, wie er erschienen war. Tris hatte am nächsten Morgen allerdings einen Schlüsselbund auf seinem Arbeitsplatz vorgefunden, offenbar gedacht als Bezahlung für seine Dienste. Als man sich in den Tagen danach erzählte, dass ein berüchtigter Dieb aus dem Gefängnis von Westholdt geflohen sei, war Tris nicht groß überrascht.

Seither hatte sich der Eisenring mit den diversen Generalschlüsseln schon einige Male als überaus nützlich erwiesen, sodass er ihn eigentlich ständig dabeihatte.

Die Handschellen waren übermäßig eng angelegt worden und hatten die Blutzirkulation ins Laeths Händen und Füßen behindert. Während Laeth nun versuchte, wieder Gefühl in seine Gliedmaßen zu bekommen, sah sich Tris ihn näher an. Der Darraner hatte einige Blutergüsse und Abschürfungen, insbesondere wo das Metall in sein Fleisch geschnitten hatte, aber am schlimmsten schienen die Schwellungen an den Gelenken zu sein.

Tris griff nach Laeths Händen, doch anstatt sie zu reiben, wie Laeth es versucht hatte, hielt er sie nur leicht und begann damit, das verletzte Gewebe zu heilen.

Der Darraner zog die Hände zurück und starrte sie an – vermutlich, wie Tris amüsiert feststellte, weil er sie noch nie hatte glühen sehen.

»Was …«, begann Laeth, doch dann riss er sich zusammen. Je weniger sie sprachen, desto besser; für alle offenen Fragen war später immer noch Zeit. Wenn sie es denn lebend aus der Feste schafften. Frustriert sah der Darraner den Heiler an, dann streckte er ihm erneut seine Hände hin.

Tris widmete sich der Wiederherstellung von Laeths Gliedmaßen. Sie war nicht so umfänglich, wie sie es hätte sein müssen, und Laeth hatte noch immer Schwierigkeiten, sich ohne Schmerzen zu bewegen. Blutergüsse und Gelenksteife waren kompliziert, und sie hatten sich ohnehin schon viel zu lange hier aufgehalten.

Indem er den Darraner stützte, schaffte es Tris, ihn durch den Zelleneingang in den Vorraum zu geleiten. Dort lehnte er Laeth gegen die Mauer, holte seinen Stab, berührte das Sägemehl mit dem Finger und konzentrierte sich.

Nach und nach begann der Holzstaub gelb zu schimmern, um sich dann wieder zusammenzusetzen. Wie ein Schwarm lebendiger Wesen glitt er hinauf zu dem Eisenrahmen, der die Holzbalken der Tür verstärkt hatte, bis ein safranfarbener Vorhang an der Stelle hing, wo zuvor die Zellentür gewesen war. Es folgte ein Geräusch, wie wenn jemand mit den Fingern schnippte, und die solide Eichentür hing wieder in den Angeln. Falls eine Wache hier oben nach dem Rechten sehen wollte, würde sie die Tür aufschließen müssen, um festzustellen, dass Laeth verschwunden war.

Tris brachte das Magierlicht zum Erlöschen und öffnete die Falltür. Unten lag der Turm still und dunkel da.

Der Heiler musste Laeth die ersten Stufen der Wendeltreppe hinabhelfen. Mit dem schweren Stab und dem noch schwereren Darraner im Arm war das eine ziemliche Plackerei. Sobald der Adlige wieder etwas standsicherer war, ließ Tris ihn los und ging auf der Treppe voran.

Nach der ersten Umrundung bedeutete der Heiler Laeth zu warten und stieg alleine weiter hinab. Er hatte vor, sich um die Wache auf dem Zwischengeschoss allein zu kümmern, sodass sie es nur noch mit den beiden im Untergeschoss aufnehmen mussten. Als er den ersten Stock erreichte, stellte er fest, dass sich hier etwas verändert hatte. Die Öllampe brannte nicht mehr, und das blasse Mondlicht, das durch die schartenartigen Fenster fiel, beschien eine verwaiste Sitzbank. Der Rest des Raums lag im Dunkeln.

Er hatte gehofft, die Wache hier allein zu überwältigen und so das Risiko eines Hilferufs auszuschließen. Doch der Mann war nicht mehr hier. Er würde Laeth holen müssen –

Tris hatte schon den ersten Schritt die Treppe hinauf gemacht, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte.

Er verhielt sich mucksmäuschenstill, lauerte auf das schwache Geräusch, auf das er nun instinktiv wartete. Etwas knallte in ein Möbelstück, schob es dabei ein Stück über den Boden. Tris duckte sich tief und hoffte, der Entdeckung zu entgehen. Seine neue Position erlaubte ihm einen Blick unter den Tisch und auf die Quelle des Geräuschs, das ihn ursprünglich alarmiert hatte.

Der kleine Windstoß, der durch die Fensterluke hereindrang, trug den typischen fauligen Gestank des Sumpfes und den süßlichen Geruch frischen Blutes zu ihm. Wie es schien, war ein weiteres Sumpfmonster in Westholdt unterwegs. Was nur bedeuten konnte, dass jemand ganz sichergehen wollte, dass Laeth sein Rendezvous mit dem Tod auch nicht verpasste.

Kniend und die Augen so schmal zusammengekniffen, dass das Weiße im Dunkeln nicht verräterisch aufleuchtete, wartete Tris. Plötzlich ruckte die Leiche des Wachmanns ein Stück über den Boden, als die Mörderkreatur ihren Griff wechselte, und der Heiler sah zum ersten Mal, womit genau er es zu tun hatte.

Irgendjemand hatte ihm einmal erzählt, dass die meisten Sumpfkreaturen von den Menschenzauberern der Frühzeit erschaffen worden waren – jenen, die mit ihrer unkontrollierten Magie fast die gesamte Welt zerstört hatten. Das Biest, das am Hals des toten Mannes saugte, war eindeutig unnatürlichen Ursprungs. Tris konnte die Verkehrtheit dieses Geschöpfs fast körperlich spüren, etwas, das selbst das gefährlichste Raubtier nicht in ihm auszulösen imstande war.

Aus der Ferne sah die Kreatur aus wie eine üppige nackte Frau. Doch Tris war ihr nah genug, um die spitzen Ohren und die fleischfarbenen Kiemen an ihrem Hals zu erkennen. Und dass ihr das seidige lange Haar nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus dem Rücken wuchs.

Die messerscharfen Krallen an ihren Händen und Füßen waren einziehbar und glitten vor und zurück, während sie sich an der Leiche gütlich tat. Die Augen waren fast genüsslich geschlossen.

Etwas am Hals der Kreatur begann plötzlich violett aufzuleuchten; das Licht wurde stärker und stärker. Es war eine Art Halsband, und sie schlug danach, ohne von ihrem Mahl abzulassen.

Doch das Leuchten wurde immer intensiver, und die Kreatur knurrte und fauchte und zog sich schließlich unwillig von dem toten Körper zurück; ein Blutstropfen rann aus ihrem Mundwinkel und fiel zu Boden wie eine einsame Träne. Gereizt riss das Biest an dem Halsband, doch es hielt stand.

Wie Tris feststellte, stank das Halsband förmlich vor Menschenmagie. Und er hätte seinen Kopf darauf verwettet, dass es einige Fluchgelübde enthielt, welche die Kreatur dazu zwangen, Laeth zu finden und zu töten.

Widerstrebend ließ sie die Leiche zurück und ging auf die Treppe zu. Tris erstarrte nur eine Armbreite von ihr entfernt zu Stein. Er hätte sie ziehen lassen, wäre Laeth nicht gewesen – geschwächt, unbewaffnet und auf der Treppe auf seinen Retter wartend.

Als sie an ihm vorbei war, erhob sich Tris geräuschlos und hielt seinen Stab bereit. Er wartete so lange wie möglich, bevor er angriff. Je mehr er über die Kreatur erfuhr, umso besser konnte er sie bekämpfen.

Tris sah, wie sie sich versteifte, als sie Laeth über sich erblickte. Er hatte sich auf den Stufen niedergelassen und war sich des Dramas, das sich weiter unten anbahnte, nicht im Geringsten bewusst. Die Kreatur fauchte. Tris konnte Laeth von seinem Platz aus nicht sehen, aber er konnte hören, wie der Darraner nun eilig die Treppe hinauf- und dann wieder hinabstieg.

Die Kreatur bellte leise, was vielleicht eine Art Lachen sein mochte, bevor sie ihre Magie wirkte. Der wortlose Zauber, den sie sang, war so stark, dass selbst Tris, der sich außerhalb ihres Magiefokus befand, den Sog noch spüren konnte.

Laeth bewegte sich an der Kreatur vorbei in den Raum, in dem sie kurz zuvor ihr Nachtmahl gehalten hatte. Die Sumpfbestie war ganz auf ihr nächstes Opfer fixiert und bemerkte deshalb den Heiler nicht, der neben ihr und von seiner eigenen Magie geschützt mit den Schatten verschmolz.

Laeth machte zwei Schritte in den Raum hinein, dann hielt er inne und presste sich beide Hände gegen die Ohren. Die Kreatur erhöhte die Intensität ihrer Betörung, beschwor bei ihrem Opfer sowohl körperliche als auch emotionale Begierde herauf. Schweiß trat auf die Stirn des Darraners, als er gegen die Verführung ankämpfte und sich gleichzeitig zwang, sich nicht von der Stelle zu rühren.

Genug, dachte Tris schließlich, und zog ihr das metallverstärkte Ende seines Stabes über den Kopf. Ein Schlag, der jeden Menschen auf der Stelle getötet hätte, doch sie wurde nur quer durch den Raum geschleudert und landete zwischen Tischen und Gerätschaften, deren Zweck im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln lag. Schweigend und schwungvoll kam sie wieder auf die Beine.

Sich an Laeths frühere Reaktion erinnernd, schloss Tris die Augen und beschwor einen hellen Blitz aus Magierlicht. Stark genug, um die Kreatur zu blenden. Gleichzeitig machte er zwei schnelle Schritte zur Seite. Sie verfehlte und schlug den Tisch direkt neben ihm zu Kleinholz, und er schwang abermals seinen Stab und traf sie an der Schulter.

Die Kreatur schien aufgrund der Dunkelheit weniger eingeschränkt zu sein als er, also beschwor er noch einmal ein erträglich helles Magierlicht.

Ihre Fangzähne waren beeindruckend, jedoch dünn und spitz, insofern eher dazu geeignet, sich in den Hals eines Opfers zu schlagen, als sich mit ihm einen großen Kampf zu liefern. Die Augen waren geschlitzt wie bei einer Katze und verrieten Tris, dass sich die Kreatur des Sumpfes im Halbdunkel wohler fühlte als im hellen Licht. Er hatte sie offenbar verletzt, denn einer ihrer Arme hing schlaff herunter, und das von ihrem Kopf tropfende Blut schränkte vermutlich die Sicht aus ihrem rechten Auge ein.

Auch der harte, rutschige Steinboden schien ihr nicht zu behagen; fast unsicher bewegte sie sich auf ihm voran. Tris war gerade zu dem Schluss gelangt, dass er hier und jetzt in vielerlei Hinsicht im Vorteil war, als sie mit ihrer funktionsfähigen Hand etwas nach ihm zu werfen schien.

Er riss seinen Eichenstab in die Höhe und fing den Schadzauber ab, absorbierte ihn größtenteils, wurde jedoch von der Wucht dessen, was übrig geblieben war, trotzdem gegen die Wand geschleudert.

Die Kreatur lachte und klang dabei ganz wie ein junges Mädchen. Wieder erhob sie die Hand, doch dann hielt sie abrupt inne. Ein überraschter Ausdruck trat in ihr Gesicht, bevor ihr ein Blutfaden aus dem Mund rann. Sie hustete kurz auf, dann fiel sie mit dem Gesicht nach vorn wie ein gefällter Baum. Im nächsten Moment trat Laeth aus den Schatten hinter den leblosen Körper, in der Hand eine blutverschmierte Metallstange mit gebogenem, spitzem Ende. Tris vermutete, dass die Waffe den Wachen als Folterinstrument gedient hatte.

Laeth sah auf die Leiche der Kreatur herab und meinte: »Glaube nicht, dass wir uns hier noch wegen irgendwelcher Wachleute Sorgen machen müssen.«

Tris schüttelte den Kopf. »Es sei denn, wir haben so viel Lärm gemacht, dass die Männer im Wachhaus alarmiert wurden. Wir sollten sehen, dass wir schleunigst von hier verschwinden.«

Laeth nickte zustimmend und folgte dem Heiler, inzwischen fast schon wieder so geschmeidig wie vor seiner Gefangenschaft.

Im Untergeschoss stießen sie auf die Leichen der anderen beiden Wachmänner, die nahe dem Eingang lagen. Tris ging um sie herum und trat hinaus in die Nacht. Laeth folgte ihm.

Der Heiler führte seinen Begleiter zur Außenmauer der Feste an die Stelle, über die er und Rialla in den Burghof gelangt waren. Langsam und ohne weitere Vorkommnisse erklomm Laeth die Festungsmauer. Tris wartete, bis der Darraner oben angekommen war, dann klemmte er sich seinen Stab unter den Gürtel und heftete sich an seine Fersen.

Sie hatten den schützenden Waldrand gerade erreicht, als die Alarmglocken von Westholdt losbimmelten. Laeth stutzte, doch Tris packte ihn am Arm und zog ihn tiefer ins Unterholz. Der Darraner wartete auf eine Erklärung, bis sie im Herzen des Waldes untergetaucht waren. Dort angekommen hielt er an und lehnte sich an einen Baumstamm, um zu verschnaufen.

»Meinen Dank für Euer rechtzeitiges Eingreifen, Heiler«, sagte er mit ungläubigem Blick. »Doch Ihr werdet entschuldigen, dass ich frage, warum Ihr das getan habt.«

Tris zuckte die Achseln und ließ sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder. »Glaubt Ihr an Prophezeiungen?«

»Was?«

»Man hat mir ein Rätsel aufgetragen«, fuhr der Heiler fort. »Demnach gilt es, einem Pfad zu folgen, der zu etwas für mich Wichtigem führt.«

»Und das Rätsel erfordert, dass Ihr Euer Leben riskiert für jemanden, dem gegenüber Ihr offenbar eine tiefe Abneigung hegt? Für einen Mann gar, der des Mordes am Lord der Feste angeklagt ist?«, hakte Laeth ungläubig nach.

Tris lächelte listig. »Nun, Laeth von Sianim«, sagte er, »meine heutigen Taten mögen vielleicht der Tatsache geschuldet sein, dass Eure Verbündete die einzige Person ist, die mich in ›Drachenraub‹ zu schlagen vermag.«

»Rialla?«, fragte Laeth, und sein Ton wurde eindringlicher. »Wo ist sie? Ist sie in Sicherheit«

Tris nickte. »Es geht ihr gut.« Er zögerte und fügte dann ehrlicherweise hinzu: »Hoffe ich zumindest. Sie sollte uns mit den Pferden bei meiner Hütte erwarten. Eure Lady ist übrigens auch dort.«

»Marri?« Erleichterung und Überraschung gleichermaßen schwangen in diesem Wort mit.

»Ja, sie kam, um Rialla mitzuteilen, dass man Euch am Morgen in Stücke reißen würde«, sagte Tris.

»Aber hat sie euch auch erzählt, dass Lord Jarroh beabsichtigt, sie wegen Verschwörung im Zusammenhang mit dem Mord an ihrem Gatten anzuklagen? Dass sie bis zum Prozess eigentlich in ihrem Zimmer eingeschlossen werden sollte? Dieses dumme Ding kam in meine Gemächer, um mich vor etwas zu warnen, das zu diesem Zeitpunkt schon jeder Idiot begriffen hatte, und dabei hat man sie beobachtet. Aber das habt Ihr bestimmt auch schon gehört. Und dann hat sie auch noch darauf bestanden, mich im Gefangenenturm aufzusuchen, und damit alles nur noch schlimmer gemacht.« Laeth schüttelte verdrießlich den Kopf, doch es hatte auch Bewunderung in seinen Worten mitgeschwungen.

Tris lächelte und legte den Kopf schief, als er sagte: »Tja, zu dumm aber auch, dann müsst Ihr sie wohl mit Euch nach Sianim nehmen.«

Laeth sah den Heiler einen Moment lang schweigend an, dann grinste er ebenfalls. »Ein wahrer Jammer, nicht wahr? Das arme Mädchen …« Er straffte sich, und sein Blick wurde wieder ernster. »Sollten wir nicht weitergehen? Könnte gut sein, dass die von der Feste im Dorf eine Suche von Tür zu Tür einleiten. Soweit ich mich erinnere, wird das immer als Erstes gemacht, wenn jemand aus dem Gefangenenturm entkommt.«

»Sie werden damit bis zum Morgengrauen warten. Bei Nacht übersieht man allzu leicht jemanden, der sich in den Schatten verbirgt«, meinte Tris, erhob sich jedoch trotzdem und setzte hinzu: »Ich könnte mir aber vorstellen, dass sie vor Sorge schon ganz krank ist. Sollen wir also aufbrechen und sie aus dieser Ungewissheit erlösen?«

Als die beiden Männer die Hütte erreichten, war kein Lebenszeichen wahrzunehmen, mit Ausnahme von Tris’ Wallach, der friedlich in seinem Stall döste.

Vorsichtig öffnete der Heiler die Tür und schlüpfte in den Vorraum, dicht gefolgt von Laeth. Das fahle Licht des abnehmenden Mondes erhellte gespenstisch Laeths ramponiertes Gesicht.

Ein kurzes Keuchen war die einzige Warnung, die der seiner Hinrichtung Entronnene bekam, bevor sich ein Schemen über den Verkaufstresen schwang und so hart gegen ihn prallte, dass er zurücktaumelte. Irgendwie musste Laeth die Stimme dennoch erkannt haben, weil er den Angreifer nun an den Schultern packte und von sich wegstieß, wobei er gleichzeitig Tris’ Stabhieb mit der Schulter von dem Widersacher ablenkte.

»Autsch, verdammt!«, rief er, »und ich dachte immer, Zauberer könnten im Dunkeln sehen. Es ist doch nur Marri!«

Als er sicher sein konnte, dass keine weiteren Attacken mehr folgen würden, wandte er sich an die Lady. »Beim Herrn des Todes und all seiner Gesandten, Marri! Ist dir wirklich nichts Besseres eingefallen, als dich auf jemanden zu stürzen, noch bevor du dich ihm zu erkennen gegeben hast? Hätte der Stab des Heilers sein Ziel getroffen, hätte er dir das wenige Hirn, das du besitzt, mit einem Schlag aus dem Schädel gedroschen. So hat er mir bloß das Schulterblatt zertrümmert …«

Laeths Ärger wäre überzeugender gewesen, hätte er während der Schimpftirade die schluchzende Frau nicht an sich gedrückt und ihr liebevoll übers Haar gestreichelt. Schon wurde seine Stimme um einiges weicher, als er hinzufügte: »Es ist ja gut, mein Herz. So beruhige dich doch. Ich bin nun sicher, und du bist es auch.« Es blickte auf, um etwas zu dem Heiler zu sagen, doch Tris hatte sich bereits taktvoll in seinen Schlafraum zurückgezogen.

Die Alarmglocken der Feste noch im Ohr, lenkte Rialla die Pferde auf den Hauptweg, auf dem die Wachen in jedem Fall ihre Spuren wiederfinden würden. Sie ritt auf Eisenherz und führte die Stute mit sich, verfiel dann für einige Stunden in einen zügigen Trott.

Als der Abzweig nach Tallonwald in Sicht kam, ließ sie diesen links liegen und ritt weiter, bis sie einen Trampelpfad erreichte, der in die genau entgegengesetzte Richtung führte und auf dem ihre Spuren gleichermaßen zu entdecken sein würden. Es galt auf jeden Fall zu verhindern, dass die Dörfler und ihr Heiler mit ihrer Tat in Zusammenhang gebracht werden konnten.

Zudem wusste sie nicht, in welcher Verfassung sich Laeth befand. Es war möglich, dass er nicht aus eigener Kraft laufen konnte. Indem sie die Wachen in die Irre führte, konnte sie vielleicht ein wenig Zeit für Tris herausschlagen, der Laeth zu seiner Hütte bringen sollte.

Gerade als sie auf die Straße einbiegen wollte, hörte sie das Donnern einer berittenen Gruppe, die rasch den von ihr hergestellten Abstand wieder aufholte. Rialla verband die Zügel der Stute mit ihrem Pferd, damit sie ohne besondere Führung folgen konnte.

Als sie sich nach vorne beugte, um Eisenherz zu einer schnelleren Gangart anzutreiben, erwiderte der falbfarbene Wallach diese Anweisung, indem er den Hals streckte und in einen harten Galopp wechselte, den die schwerer beladenen und weniger gut ausgebildeten Pferde der Wachen nicht lange würden durchhalten können. Obwohl nicht aus so edler Zucht wie Eisenherz stammend und trotz der Tatsache, dass sie ohne Führungsleine und Reiter auskommen musste, folgte ihnen die Stute ohne Probleme.

Als hinter ihnen ein Jagdhorn ertönte, wusste Rialla, dass die Wachen sie entdeckt hatten. Sie stellte sicher, stets in Sichtweite zu ihnen zu bleiben, wollte, dass man ihr nachsetzte, anstatt die Suche aufs Umland auszudehnen, wo sie vielleicht auf Tris und Laeth stießen.

Als die Pferde der Wachleute die ersten Ermüdungserscheinungen zeigten, wurde auch Rialla auf Eisenherz langsamer und verschaffte ihren Pferden so eine wohlverdiente Verschnaufpause. Sie führte den Wallach auf einen schmalen Wildpfad und hinein in die dichten Wälder. Dort entspannte sie sich ein wenig, sank tiefer in den Sattel, um Rücken und Beine ein wenig zu entlasten. Immer wieder sah sie nach hinten, um sicherzustellen, dass die Wachen nicht zu weit zurückfielen.

Der Pfad machte eine scharfe Biegung, führte dann vorbei an geschlossenem Buschwerk und über ein kleines Bächlein hinweg. Wieder sah sich Rialla über die Schulter nach ihren Verfolgern um, als ihr Pferd durchs Unterholz brach und auf eine weite Aue hinaustrat.

Und am anderen Ende des flachen Geländes erwartete sie bereits eine weitere Gruppe von berittenen Wachleuten.

Mit einigen überraschten Rufen verfielen die Männer vor ihr sogleich in einen schnellen Galopp, und Rialla riss ihr Pferd scharf nach links herum. Dann erhob sie sich aus dem Sattel und beugte sich vor, während Eisenherz über die Lichtung jagte und geradewegs ins angrenzende Buschwerk hineinpreschte. Die treue kleine Stute folgte ihnen klaglos.

Rialla fand, dass sie Tris nun genug Zeit verschafft hatte, und beschloss, ihre Verfolger abzuschütteln – wenn es ihr denn gelang. Immerhin saß die neue Gruppe von Berittenen auf ausgeruhten Pferden, und ihre beiden hatten schon eine teils wilde Flucht hinter sich. Eisenherz’ Nacken war schon scheißnass, doch sowohl er als auch die Stute bewegten sich noch leichtfüßig voran.

Sie konnte die Männer hinter sich fluchen hören, wie sie sich durch das dichte Unterholz kämpften. Rialla hatte ihnen die Verfolgung zwar unfreiwillig erleichtert, indem ihre Pferde das hinderliche Gestrüpp bereits niedergetrampelt hatten, doch es waren zu viele von ihnen. Denn sie zogen es vor, sich im Pulk durch das Dickicht zu drängen, anstatt die vorhandenen Schneisen in rascher Aufeinanderfolge zu nutzen.

Die meisten ihrer Häscher fielen zurück, doch es gab auch einige sehr entschlossene darunter. Mindestens einer von ihnen saß so gewandt im Sattel wie Rialla – vermutlich ein Adliger, der sich die Langeweile damit vertrieb, indem er Verbrecher jagte.

Plötzlich knickte Eisenherz im unwegsamen Gelände ein und fiel auf die Knie, doch er rappelte sich schnell wieder auf. Rialla konnte nicht feststellen, dass er lahmte, also blieb sie im Sattel. Es war immer noch Zeit genug, die Pferde zu wechseln, wenn er wirklich müde wurde.

Sie brachen durch das letzte Unterholz und fanden sich auf einer vielgenutzten Straße wieder. Rialla wechselte in einen Trott und überprüfte, ob sie noch verfolgt wurde.

Der Adlige war ihr noch immer auf den Fersen, doch außer ihm war niemand mehr zu sehen. Sie drehte den Wallach im Kreis und in Richtung einer Steinmauer, die die Straße begrenzte. Gleichzeitig hoffte sie, dass der abnehmende Mond genug Licht spendete, damit die Pferde das Hindernis überspringen konnten.

Rialla hatte in Sianim viel Zeit und Sorgfalt auf die Auswahl der Pferde gelegt, mit denen sie und Laeth nach Westholdt reisen wollten. Es waren mit Getreide gefütterte, kampfbereite Tiere, geschmeidig und stark zugleich, wie es nur tägliche Ausritte bewirken konnten. Rialla war dankbar dafür, als der Wallach die Mauer schnaubend übersprang und die Stute ihm kurz darauf folgte.

Sie blickte zurück und fluchte leise. Trotz ihrer wilden Jagd über die weite Ebene und den anschließenden Sprung über den Zaun, trotz des Ritts durch das Unterholz kam der Adlige immer näher.

Sie ritt wieder in den Wald hinein, wo Können mehr zählte als Hartnäckigkeit, und schmälerte so seinen Vorteil des frischeren Pferdes. Wieder im Unterholz gab er es auf, sie einzuholen, doch er fiel auch nicht nennenswert zurück.

Rialla kannte diese Gegend nicht, was auf den anderen Reiter allerdings nicht zuzutreffen schien. Einige Male nutzte er kürzere, leichtere Routen durch das Terrain für sich aus, das mit jeder Meile unwegsamer wurde. Der Gedanke, dass er sie vielleicht vor sich hertrieb, kam ihr in den Sinn, als die Talsenke, in die sie nun hinabritten, immer tiefer und enger wurde.

Rialla befürchtete, dass die Falle schon zugeschnappt war. Die Abhänge zu beiden Seiten waren zwar nicht höher als die Bäume, die hier überall standen, aber sie waren kahl, und der Untergrund war weich. Im Dunkeln suchte sie panisch nach einem Ausweg, sicher, dass das Ende der Senke nur in einer weiteren abschüssigen Böschung endete.

Endlich erblickte sie eine Stelle im Abhang, markiert durch eine kürzlich erfolgte Steinlawine, wodurch ein Pfad aus Schotter und Geröll entstanden war, der kaum weniger Gefälle als der Rest der Böschung besaß. Der Weg hinauf wirkte nicht eben einladend, aber Rialla war verzweifelt.

Sie schickte das Pferd ohne Reiter zuerst hinauf, unterstützt durch einen Klaps und empathisches Drängen. Wie eine Bergziege kraxelte die kleine Stute empor und schaffte es bis nach oben. Ihre Hufe hatten jedoch den Untergrund gelockert, und schon begannen die ersten Steine, sich wieder in Bewegung zu setzen. Rialla drehte sich auf Eisenherz dem rutschenden Abhang zu, der ihren einzigen Fluchtweg darstellte.

Das Pferd wurde seinem Namen gerecht und machte einen raumgreifenden Schritt auf das unruhige Gebröckel zu, wobei es ruhig und kontrolliert atmete. Ein schlechter trainiertes Tier hätte an dieser Stelle bereits versagt, doch schwitzend und mit rollenden Augen tat Eisenherz einen beherzten Satz und nahm dann den lockeren Abhang mit größtmöglicher Souveränität, bis er wieder festen Grund unter den Hufen hatte. Es knirschte und staubte, als dadurch ein erneuter Erdrutsch ausgelöst wurde, der sodann nichts als Stille und einen Abhang aus Sandboden und Steinen zurückließ, den kein Pferd mehr bewältigen konnte.

Rialla ließ die Pferde verschnaufen. Sie wollte sich ein besseres Bild von dem Mann machen, der so versessen darauf zu sein schien, sie zu fangen. Schon im nächsten Moment hörte sie, wie sein Pferd durch den Hohlweg unter ihr donnerte. Der Reiter drosselte das Tempo, als er hoch oben auf der Böschung die Silhouette seiner Beute erkannte.

Sie hörte ihn fluchen. Die einzige Möglichkeit, wie er sie auf seinem schwerfälligeren Pferd noch erreichen konnte, bestand darin, dass er wieder umkehrte und in einem großen Bogen um die Senke herumritt. Doch da würde sie schon längst über alle Berge sein.

Sie erkannte seine Stimme, doch selbst wenn er nicht gesprochen hätte, hätte sie ihn erkannte. Lord Jarroh hatte eine Art, seinen muskulösen Körper zu bewegen, die ihn selbst auf Entfernung unverwechselbar machte.

Aufgrund seiner Wut bäumte sich sein Pferd halb auf, wurde aber grob wieder unter Kontrolle gebracht.

Voller Zorn und Kummer richtete er das Wort an den Reiter oben auf dem Hang. »Warum hast du das getan? Er hat dich geliebt, verdammt noch mal. Er war so stolz auf dich, dass du der Familie getrotzt hast und nach Sianim gegangen bist. Immer hat er davon gesprochen, wie sehr er seinen klugen Bruder vermisst. Aber er war nicht halb so klug, nicht wahr? Er hat denen, die er liebte, zu sehr vertraut. Er wusste nicht, dass das Weibsstück, das er ehelichte, lieber im Bett seines Bruders liegen wollte. Wusste nicht, dass sein Bruder es auf seinen Wohlstand, seine Macht abgesehen hatte.«

Rialla hatte vergessen, wie gern Lord Jarroh große Reden schwang. Offensichtlich verwechselte er sie mit Laeth. Das ergab nur einen Sinn, wenn er wusste, dass Laeth heute Nacht die Flucht gelungen war.

Sie und Laeth waren in etwa gleich groß, ihr frisch geschwärztes Haar besaß nun die gleiche Farbe und Länge wie seines, und sie ritt auf seinem Pferd. Ein Darraner würde niemals auch nur vermuten, dass eine Frau zwei Wachtrupps und einen darranischen Lord abhängen konnte. Schon gar nicht eine Sklavin.

Rialla schaute auf den Mann herab, der damals die kleine Sklavin in Kentar zu Tode geprügelt hatte. Eisenherz unter ihr bewegte sich unruhig, und sie musste sich dazu zwingen, die Zügel zu lockern. Sie war froh, dass sie kein Messer oder einen Bogen bei sich trug, denn sonst wäre der Mann da unten schon längst tot – und sie hatte noch Verwendung für ihn.

Mit Karstens Tod und Laeths ruiniertem Ruf war Lord Jarroh der Einzige, der die Allianz zwischen Reth und Darran noch sichern konnte. Die Allianz, die das Ende der Sklaverei in Darran bedeuten würde, sofern Winterseine sich nicht des Einflusses von Karstens Haus bemächtigte.

Sie versuchte mit dunkler, heiserer Stimme zu sprechen, als sie ihm antwortete. Wenn Lord Jarroh herausfand, dass er eine Frau vor sich hatte, würde er ihr gar nicht zuhören.

»Ich bin nicht Lord Laeth, sondern nur einer seiner Kameraden aus Sianim. Meine Aufgabe bestand darin, seine Verfolger auf mich zu lenken. Was geglückt ist, denn er befindet sich bereits in sicherer Entfernung von seinen Häschern. Und doch habe ich Euch noch einiges zu sagen:

Zunächst einmal: Warum sollte Lord Laeth beschließen, seinen Bruder auf eine Art und Weise zu töten, die sofort den Verdacht auf seine Person lenken würde? Warum nicht mithilfe der Magie einen Unfall vortäuschen? Ein verirrter Pfeil oder ein Sturz auf der Treppe wären doch ein Leichtes gewesen für einen Mann, der die Kreatur im Tanzsaal hat kontrollieren können, oder?

Denkt lieber über den Mann nach, der alles darangesetzt hat, Laeth die Sache in die Schuhe zu schieben. Wer ist der Nutznießer, wenn sowohl Karsten als auch Laeth tot sind? Wessen Existenz steht und fällt mit dem Sklavenhandel, der zum Erliegen käme, wenn die Heirat zwischen der Prinzessin und König Myr stattfände?

Vielleicht solltet Ihr nun, wo Laeth für Euch nicht mehr erreichbar ist, Eure Untersuchungen in eine andere Richtung lenken.« Mit einer kurzen Geste des Grußes wendete Rialla und ritt in einem langsamen Galopp auf das hügelige Waldland zu.

Sobald sie wieder durch Bäume geschützt war, wechselte sie mit Eisenherz in den Schritt. Die Stute folgte ihr so treu wie ein Hündchen und rieb ihren verschwitzten Kopf an Riallas Bein, weil es sie irgendwo unter dem Zaumzeug ein wenig juckte.

Sie musste jetzt nur noch vor Tagesanbruch den Weg zur Hütte des Heilers finden und dafür sorgen, dass sie dabei niemandem mehr in die Arme lief. Dann wäre die Rettungsmission ein voller Erfolg.

Kurz darauf musste sie sich tief ins Unterholz zurückziehen, als sie in der Ferne einige Wachen erblickte, die ihre Pferde verschnaufen ließen. Sie konnte nicht sagen, ob es die Männer waren, die unmittelbar nach ihrer Flucht aus der Feste ausgesandt worden waren. Auf Rialla wirkten sie wie unentschlossene Nachzügler. Glücklicherweise waren deren Pferde zu erschöpft, um ihre Tiere zu wittern und wiehernd zu begrüßen, und sie hielt Eisenherz und die Stute ruhig.

Die kleine Zwangspause verschaffte ihr ein wenig Zeit, um über ihre Worte zu Lord Jarroh nachzudenken. Sie versuchte sich kopfschüttelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu pusten, als ihr eine Idee kam, doch sie konnte weder das eine noch das andere wieder loswerden. Das Haar störte, doch die Idee sah nach einer vielversprechenden Lösung aus dem ganzen Dilemma aus.

Endlich zogen die Wachmänner weiter. Rialla bestieg die Stute und machte sich in die ungefähre Richtung zum Haus des Heilers auf. Einmal noch musste sie einer Gruppe Reiter ausweichen und dann noch einer dritten, bevor sie Tris’ Hütte fand.

Vorsichtig wartete sie, um sicherzustellen, dass sich keine Wachen hier herumtrieben. Als alles in Ordnung und sie die Einzige zu sein schien, die hier herumlungerte, machte Rialla die Pferde an einem Fliederbusch fest, der am Rande des Waldes wuchs. Der schwere Duft der Blüten folgte ihr, als sie über den Baumstamm lief, der die kleine Talenge hinter Tris’ Hütte überbrückte.

»Laeth? Tris?«, rief sie leise, als sie die Haustür öffnete.

Eine gedämpfte Stimme aus dem Hinterzimmer antwortete ihr. Dort fand sie Laeth, Tris und Marri, die im Dunkeln auf sie warteten. Sie hatten die Lampen nicht entzündet, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Seid gegrüßt«, sagte Rialla und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Gut, dich in einem Stück wiederzusehen, Laeth.«

»Ja, besser in einem Stück als in vieren«, meinte er düster. »Was hast du denn so lang gemacht?«

»Ich hab Lord Jarroh und seine Häscher von euch abgelenkt, wenn’s recht ist, also bitte nicht dieser Ton!«

Laeth grinste sie frech an, und sie lächelte zurück, während sie sich ein Blatt aus dem Haar pflückte. Dann setzte sie sich auf den Boden gleich neben Tris’ Stuhl, da Laeth zusammen mit Marri auf der Bettkante hockte.

»Die Pferde stehen bei den Fliederbüschen am Waldrand«, berichtete sie pflichtbewusst, obwohl ihr vor Müdigkeit und Erschöpfung nun beinah die Augen zufielen. »Ihr solltet besser gehen, es ist fast Morgen, und wenn man euch hier findet, werden unschuldige Menschen dafür bluten müssen.«

»Kommst du denn nicht mit?«, fragte Laeth.

Rialla schüttelte den Kopf; sie war während ihrer nächtlichen Flucht zu einer Entscheidung gelangt. »Ich werde versuchen zu beweisen, dass Winterseine Lord Karsten ermordet hat.«

»Wie?« Stirnrunzelnd sah Marri sie an. »Niemand wird Laeths Sklavin auch nur zuhören.«

»Nein«, stimmte ihr Rialla zu. »Aber das müssen sie auch gar nicht. Ich werde den Beweis für Winterseines Schuld an Ren in Sianim weiterleiten. Wenn er es schaffte, mich zu überreden, als Sklavin nach Darran zurückzukehren, dann kann er auch den Regentschaftsrat davon überzeugen, Winterseine zu verurteilen.«

»Und wie willst du ihm den Mord nachweisen?« Die Stimme des Heilers klang müde und noch weicher als sonst.

»Winterseine will seine Sklavin zurück. Wenn Laeth verschwunden ist, hat er wieder einen legalen Anspruch darauf …« Sie bemerkte am Boden einen feuchten Fleck neben Tris’ Stuhl, wo sie sich mit ihrer Hand aufstützte. Sie legte ihre Fingerspitzen an den Mund und sagte: »Wusstet Ihr, dass Ihr blutet, Tris?«

»Nein, tu ich das?« Er klang fast beeindruckt. »Diese Kreatur, auf die wir gestoßen sind, muss mich wohl doch erwischt haben – hab ich gar nicht bemerkt.«

Ein schwaches Magierlicht erschien in seiner Hand. Als er in dessen Schein seine Beine untersuchte, bemerkte Rialla, dass der Stoff an seinem Ärmel verdächtig dunkel war.

»Die Wunde ist am Arm.«

Tris zog das Messer aus seinem Stiefelschaft und schob die Spitze unter den Stoff seiner Jacke.

»Lasst mich das machen«, bot sich Laeth an, der nun aufgestanden und auf den Heiler zugegangen war. Er nahm ihm das Messer ab und durchtrennte damit den Ärmel von der Schulter bis zum Handgelenk.

»Nur ein kleiner Schnitt«, sagte Tris, als er die Verletzung sah. »Im Vorraum hab ich Branntwein und saubere Verbände. Bin gleich wieder da.«

Laeth blieb, wo er war, während der Heiler das Zimmer verließ. »Bei den Göttern, Ria«, sagte er eindringlich. »Ich würde das Anwesen meines Bruder nicht mal wollen, wenn man’s mir anbieten würde. Mir gefällt mein Leben als Söldner besser als das Dasein als darranischer Lord. Soll sich Winterseine die verdammten Ländereien doch unter den Nagel reißen, mich kümmert’s nicht. Aber ich bitte dich, tu das nicht.«

Rialla ließ sich gegen die Wand zurückfallen und schüttelte den Kopf. »Ich tue das nicht für dich, Laeth. Deine Unschuld zu beweisen, ist ein angenehmer Nebeneffekt, aber auch nicht mehr. Wenn aber Winterseine die Macht deines Bruders wie auch den zugehörigen Titel erbt, was wird dann aus der Allianz?«

»Die wird scheitern, wie er es wollte«, stieß Laeth wütend hervor. »Und die Sklaverei wird als Teil der darranischen Kultur weiterbestehen. Na und? Indem sie hierzulande abgeschafft wird, muss sie nicht auch anderenorts enden. Verdammt, Ria, das alles ist es doch nicht wert, dass du dafür deine eigene Freiheit aufs Spiel setzt.«

»Welche Freiheit?«, fragte Rialla eindringlich. »Ich bin und bleibe eine Sklavin. Ich hab viel Zeit darauf verschwendet, um mir zu beweisen, dass es nicht so ist.«

»Blödsinn«, bemerkte Tris. Rialla hatte nicht mitbekommen, dass er wieder ins Zimmer zurückgekehrt war; er hatte das Magierlicht längst gelöscht. »Du hättest auf schnellstem Wege hierher zurückkommen und nicht unnötigerweise in den Wäldern die Heldin spielen sollten. Was hast du dir dabei gedacht, die Wachen aus der Feste auf deine Fährte zu locken und in die Irre zu führen? Eine Sklavin tut, was man ihr aufträgt.«

Laeth kicherte. »Das sage ich ihr auch immer, aber sie will einfach nicht hören.«

Rialla grinste, genoss das Geplänkel – aber sie konnte die Einwände der Männer nicht akzeptieren. Sie wussten nichts über das Leben eines Sklaven, die Furcht vor Strafe und Misshandlung, die Nöte bei der Erfüllung des Meisters Wünschen.

»Habt Ihr Euren Arm versorgt?«, fragte sie den Heiler.

Tris nickte. »Aber ich kann mir den Verband nicht eng genug anlegen; ist eine blöde Stelle.« Er reichte ihr das Ende des schmalen Stoffstreifens.

Sie zögerte. »Ich brauche ein wenig Licht.«

Tris erschuf ein weiteres Magierlicht, und sie begann, die Bandage an seinem Oberarm anzulegen.

»Die Verletzung sieht mir ganz danach aus, als ob da Klauen am Werk gewesen wären«, meinte sie.

»Wir hatten im Turm eine recht unerfreuliche Begegnung«, sagte Laeth. »Keine Ahnung, ob das Ding Klauen hatte oder nicht.«

»In jedem Fall roch es, als käme es direkt aus dem Sumpf«, fügte Tris hinzu. »Offenbar wollte jemand ganz sichergehen, dass Laeth stirbt.«

»Ich habe Lord Winterseine wissen lassen, dass ich Lord Jarroh aufhalten würde«, ließ sich nun Marri zögerlich vom Bett aus vernehmen. »Und ich hätte es getan, selbst wenn ich dazu mit Jarroh hätte schlafen müssen.«

Laeth lachte bitter auf. »Und ich wette, in dem Moment hat er sein Bild von dir deutlich revidieren müssen. Hast du ihn zufällig auch einen dummen Esel genannt?«

»Nein«, erwiderte Marri. »Ich nannte ihn einen Mörder. Ich wusste, dass du Karsten nicht getötet hattest. Eine solche Tat passt einfach nicht zu dir. Der nächste plausible Verdächtige war Winterseine. Insbesondere da er alles daransetzte, jeden von deiner Schuld zu überzeugen.«

»Ich frage mich, was für eine Gemeinheit er sich für Marri ausgedacht haben mag«, sagte Rialla. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn du sie mit nach Sianim nimmst, Laeth.«

»Ja«, stimmte er zu. »Das hatte ich ohnehin vor. Aber ich wünschte, du würdest uns begleiten.«

Wieder schüttelte Rialla den Kopf. »Nein.«

»Ich werde Ren berichten, was du vorhast. Er sollte einen Weg finden können, dich da rauszuholen, wenn du es wider Erwarten doch nicht auf deine Weise schaffst.« Laeth wirkte alles andere als glücklich mit Riallas Entschluss, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht mehr würde umstimmen können.

»Danke«, sagte Rialla.

»Gut, dann sollten wir schleunigst von hier verschwinden«, sagte Laeth knapp.

»Lasst mich nur kurz ein paar Sachen holen.« Tris ging in den vorderen Raum. »Hab ein paar Stücke fester Kleidung hier, die der Lady passen könnten, sofern sie nicht allzu wählerisch ist. Wusste nie, was ich damit anfangen sollte, nachdem ein Bauer sie mir für die Heilung seines Zuchtschafs gab. Ich hab auch Brot eingetauscht, das ihr haben könnt. Es dauert nur einen Moment, alles zusammenzusuchen …«

Tatsächlich brauchte Tris nicht lange, um ein paar große Satteltaschen zu packen. Die händigte er schließlich Laeth aus.

Die Taschen geschultert ergriff Laeth sodann Riallas Hand und küsste sie formvollendet.

Rialla tätschelte seine Wange und schob ihn dann brüsk von sich. »Und jetzt zieht los, bevor man am Ende noch die Pferde findet. Geht zu Fuß, wann immer ihr könnt, die Tiere hatten eine harte Nacht hinter sich. Wenn ihr euch gen Nordosten wendet und Richtung Reth reitet, solltet ihr bis auf Weiteres sicher sein. Die meisten Soldaten werden im Südosten, also an der Straße nach Sianim, nach euch suchen.«

»Ja, das hatte ich auch so geplant«, meinte Laeth. »Ich habe Freunde in Reth, wo wir eine Weile bleiben und die Pferde ausruhen können. Viel Glück für dich, Ria.«

»Und für dich«, erwiderte sie.

Laeth wandte sich an Tris. »Habt Dank für Eure Hilfe in dieser Nacht.«

Der Heiler zuckte die Achseln. »Wenn Ihr und Eure Dame sicher in Sianim eintrefft, ist mir das Dank genug.«

Er begleitete die beiden nach draußen und versicherte ihnen, dass er ihre unmittelbaren Spuren verschleiern könne, zumal sich niemand etwas dabei dachte, wenn er im Wald umherstreifte. Es gab viele Pflanzen, die ihre Wirkung erst dann richtig entfalteten, wenn man sie bei Mondschein pflückte.

Allein in der Hütte ging Rialla zurück ins Schlafzimmer und ließ sich ächzend aufs Bett fallen. Unglaublich, wie zerschlagen sie war. Sie schloss die Augen und schien unfähig, sie je wieder zu öffnen. Unwillig knurrend musste sie aber genau das tun, als Tris sie wieder weckte.

»Tut mir leid, ich weiß …«, sagte er mitfühlend. »Aber ich muss dich ein wenig saubermachen, bevor sich noch jemand wundert, warum eine schwer verwundete Sklavin mit Erde und Zweigen bedeckt auf meinem Bett liegt.« Schon hatte er sie ihrer Kleidung entledigt.

Sie war viel zu erledigt und benommen, um dagegen zu protestieren. Mit einem feuchten Lappen rubbelte er sie ab und warf ihr schließlich mit nur wenig Hilfe von ihrer Seite ihre alte Sklaventunika über.

Sie fragte sich, warum sie so erschöpft war, und schaffte es gerade noch, hervorzustoßen: »Was ist denn verdammt noch mal bloß mit mir los?«

»Shhht, alles gut«, sagte Tris. »Eine Heilung kann den Körper sehr auszehren. Normalerweise schläft man danach einen ganzen Tag und liefert sich keine Verfolgungsjagd mit blutgierigen Wachmännern.« Während er sprach, arbeitete er sich mit einem Kamm durch ihr Haar und ignorierte ihre Beschwerden, wenn es zu heftig ziepte. »Wir müssen diese Blätter herausbekommen …«

Schließlich drückte er sie zurück aufs Bett, deckte sie aber nicht zu. Stattdessen setzte er sich neben sie und sagte: »Rialla, wach auf, nur noch ein einziges Mal. Mach schon, Liebes.«

Angesichts der Dringlichkeit seines Tons schlug sie noch einmal die Augen auf. Die Morgendämmerung fiel auf seine markanten Gesichtszüge, und sie konnte sehen, wie ihm das alles widerstrebte.

»Wenn man entdeckt, dass ich dein Bein vollständig geheilt habe, wird man Verdacht schöpfen …« Es fiel ihm sichtlich schwer, weiterzusprechen.

»… deshalb müssen wir ihnen also das geben, was sie erwarten: eine Sklavin mit verletztem Bein«, beendete sie seinen Satz.

Tris nickte.

Rialla zwang sich zu einem Lächeln. »Wenn Ihr mir das Messer gebt, erledige ich das.«

Er schüttelte den Kopf. »So brutal müssen wir’s nicht machen, wiewohl es immer noch schmerzen wird.«

Sie schloss wieder die Augen, doch sie lachte trotzdem. »Gebt mir eine Minute, und ich werde nicht mal den Tritt eines Mulis spüren.«

Sie sollte sich irren. Als er die ehemals verletzte Stelle an ihrem Bein wieder öffnete, schrie sie vor Schmerz laut auf – sie war einfach zu müde, um stark zu sein.

Sorgfältig setzte er beim Nähen die Stiche, um eine Narbenbildung zu verhindern, dann bedeckte er die frische Wunde mit einer betäubenden Paste und wischte ihr mit dem Daumen die ungewollten Tränen von der Wange.

»Besser?«, fragte er schließlich.

Sie nickte und schloss die Augen. Und öffnete sie viele Stunden nicht mehr.

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