Dunkel, ja, fast bedrohlich ragten die steinernen Mauern und Türme von Lord Winterseines Burg vor der Gruppe der müden Reiter auf. Schwach wurde das Mondlicht von den glänzenden Blättern des Efeus zurückgeworfen, das die Außenwände der Anlage überwucherte, wodurch der Eindruck noch viel unheimlicher wirkte.
Als sie über die Zugbrücke ritten, warf Rialla einen Blick nach unten in den Burggraben, der die Feste umgab. Der war nicht ganz so abstoßend wie anderenorts; Winterseine ließ ihn einmal im Jahr entwässern und reinigen, sodass von ihm nur ein Geruch von Algen und verrottetem Laub aufstieg.
Die alten Planken der Zugbrücke ächzten unter dem Gewicht der Pferde. Die schweren Ketten, mit denen die Brücke einst hochgeklappt werden konnte, hingen nun nutzlos im Schlamm, wo sie vor sich hinrosteten und von Brackwasseralgen erobert wurden.
Der Eingang in den Burghof wurde durch ein schweres Fallgitter geschützt. Soweit Rialla wusste, war die alte Zugbrücke in diesem Jahrhundert noch nicht wieder betätigt worden. Die Burg war nicht groß und ihre Lage strategisch nicht von Bedeutung, weshalb die Rethischen Kriege fast spurlos an ihr vorbeigegangen waren. Nur wenige Banditen hatten es gewagt, es mit den erfahrenen Kämpfern aufzunehmen, die dieser Tage, da der Krieg vorbei war, die Burg bewachten. Darüber hinaus beteiligte sich Winterseine nicht an dem entwürdigenden Gezänk im Rahmen irgendwelcher Fehden, die andere Grundbesitzer und Adlige viel Zeit und Geld kosteten.
Rialla vermochte nicht zu verhindern, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sich das schwere Eisengitter wieder hinter ihnen herabsenkte und sie damit praktisch in den Mauern der Burg festhielt. Kurz musste sie den Drang niederkämpfen, sich von ihren Fesseln zu befreien. Stattdessen klammerte sie sich an Tris’ beruhigende Präsenz in dem Wissen, dass er in der Nähe war.
Sie ritten direkt auf den Eingang der Burg zu, wo die Stallburschen sie schon erwarteten, um die erschöpften Pferde zu übernehmen. Während Winterseine und sein Gefolge sich in die Eingangshalle begaben, wurde Rialla von einem der Wachmänner die steinerne Treppe hinab und zu den Sklavenzellen geführt. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie Brot, Wasser und Stroh für das Nachtlager hatte, entfernte der Mann die Lederfesseln und ließ sie allein.
Durch ein kleines vergittertes Fenster in Deckenhöhe fiel das Mondlicht. Die Schatten, den die Metallstreben auf den blassen Steinboden warfen, erinnerten sie nun beständig daran, wo sie war. Das Geräusch von Brackwasser, das im Burggraben träge gegen die Außenmauer der Festung plätscherte, drang gedämpft aus dem Latrinenloch, das sich in einer Ecke ihrer Zelle befand, zu ihr herauf.
Rialla sah sich um, und langsam kehrte die Erinnerung wieder zurück. Sie saß in der gleichen Zelle, die man ihr zugeteilt hatte, als sie das erste Mal verschleppt worden war. Wie um sich zu vergewissern, kniete sie sich neben die schwere Holztür und fuhr mit dem Finger über die angrenzende Steinwand. Nach einer Weile ertastete sie die in den Granit geritzten Buchstaben. Es war zu dunkel, um sie zu lesen, aber das musste sie auch nicht – sie wusste ganz genau, was dort stand:
»Isst vah han ona faetha«, rezitierte sie leise und betonte dabei die Worte genau so, wie es schon ihr Vater getan hatte. »Ohne Hoffnung ist alles nichts.«
Bis zum Zeitpunkt ihrer Versklavung waren dies die einzigen geschriebenen Worte, die sie kannte, wiewohl sie mehrere Sprachen beherrschte. Ihr Vater hatte einst eine goldene Scheibe als Medaillon getragen, in die just diese fünf Worte eingraviert gewesen waren. Es war der Wahlspruch ihres Clans gewesen.
»Das ist die Zelle, in der man mich schon das erste Mal eingesperrt hat«, sagte sie ohne aufzusehen, denn sie wusste, dass Tris hinter ihr stand. »Wie bist du hereingekommen?«
»Durch die Wand.«
Rialla sah sich um, betrachtete die massiven Steinmauern, die sie umgaben. Sie hob eine Augenbraue und sah zweifelnd zu Tris auf.
Der zuckte nur die Achseln. »Stein zu durchdringen fällt mir nicht ganz so leicht wie Holz, aber wenn man weiß, wie man ihn darum bitten muss, ist es nicht unmöglich – es geht nur langsamer.«
Sie nickte und kam wieder auf die Füße, nicht zuletzt, weil sie sich am Boden kniend irgendwie verletzlich fühlte. »Ich bin froh, dass du hier bist.«
»Froh, dass ich dir hierher gefolgt bin, oder froh, dass ich dich heute Abend in deiner Zelle aufgesucht habe?«
Sie lächelte. »Eigentlich beides. Ich wollte mit dir über Tamas’ Arm sprechen. Kannst du dir auch nur einen Grund vorstellen, aus dem Winterseine ihn geheilt haben sollte? Ich kann mich nicht erinnern, dass er Magie je so … beiläufig zum Einsatz gebracht hätte.«
Es war nicht einfach, in der dunklen kleinen Zelle viel zu erkennen, doch Rialla sah, wie Tris seinen Arm hob, um sich über den Bart zu streichen.
»Falls er versucht hat, sich als Diener von Altis hervorzutun, dann nur deshalb, um seine Position zu untermauern«, sagte er schließlich nachdenklich.
»Seine Position bei seinen Wachen, einem Diener und einer Sklavin?«, fragte Rialla ungläubig.
»Eben, das ergibt keinen Sinn«, meinte Tris. »Wollte ich etwas über einen Adligen erfahren, wären die Ersten, die ich befragen würde, seine Bediensteten. Falls er sich wirklich zur Stimme von Altis erklärt hat, wären seine Diener längst im Bilde, und er müsste sich vor ihnen nicht mehr beweisen.«
Rialla spürte, wie sie sich angesichts dieser Schlussfolgerung wieder ein wenig entspannte. Allein Winterseine nur gegenüberzustehen, war schon beängstigend genug, da wollte sie sich nicht auch noch wegen irgendwelcher Propheten und Götter Sorgen machen müssen.
»Wo hast du dein Pferd gelassen?«, fragte sie und trat in den Strohballen, sodass er sich ein wenig über den Boden verteilte.
»Welches Pferd?«
»Du hast den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt?«, rief Rialla ungläubig aus und ließ den Blick über den ziemlich muskulösen Körper des Heilers schweifen. Ihrer Erfahrung nach besaßen Läufer nur selten die Statur von Hammerschmieden.
Er lächelte. »Nein. Es gibt im Wald andere Wege, die sich denen erschließen, die wissen, wie man die Türen öffnet.«
»Magie?«, fragte Rialla, die ein Gähnen unterdrücken musste.
Er nickte. »Ganz recht.«
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als zwei Wachmänner die Zelle betraten und Rialla in das verwaiste Arbeitszimmer des Isslic von Winterseine brachten. Dort befestigten sie ihre Leine an einem kunstvollen Bronzering, der an der Wand hing, und ließen sie allein.
Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand. Auch in diesem Raum war sie schon einmal gewesen. Wann immer die Sklavin sich schlecht benommen hatte, ließ Winterseine sie hierher bringen, um sie eigenhändig zu bestrafen – doch zuvor ließ er sie warten. Immer.
Das Geräusch sich nähernder Schritte riss sie aus ihrem Dämmerschlaf – sie hatte in der letzten Nacht viel zu lange mit Tris gesprochen, anstatt sich auszuruhen. Sie war froh, rechtzeitig wieder erwacht zu sein; was es um jeden Preis zu verhindern galt, war, Winterseine unnötig zu verärgern. Er erwartete eine aufgrund des langen Schmorens nervöse Sklavin, keine verschlafene.
»Nun«, sagte Winterseine, nachdem er den Raum betreten hatte, »schön, dich wiederzuhaben, Tänzerin. Sag, warum bist du überhaupt geflohen? Du hättest dir doch denken können, dass ich dich früher oder später finde.«
»Ja, Meister«, erwiderte Rialla kleinlaut, »das wusste ich. Es tut mir leid, dass ich fortgelaufen bin. Aber ich hatte einfach … Angst.«
»Und wovor hattest du Angst, Kleines?« Wieder war seine Stimme sanft, und er erinnerte Rialla an ein Raubtier, das sich an seine Beute anschlich.
Rialla spürte, wie sich Furcht in ihr Herz schlich, doch es war die Furcht der Sklavin, und sie war freiwillig hier. Der Gedanke tröstete sie. Gerade als sie Winterseine antworten wollte, nahm Tris Kontakt mit ihr auf.
Rialla, wo bist du?
Später!, gab sie schroff zurück und verschloss fest ihren Geist, um seine Präsenz auszuschließen.
Dann sagte sie zögernd zu Winterseine: »Eine der anderen Sklavinnen dort … oben auf den Zimmern in der Schenke in Kentar … sie wurde ermordet in jener Nacht. Ich hab gesehen, wie man ihre Leiche hinausgetragen hat.« Sie machte eine Pause, platzierte die nächsten Worte sorgsam um die Wahrheit herum. »Am Tag zuvor hatte ihr Besitzer den Wirt gefragt, was es ihn kosten würde, mich zu kaufen.«
Rialla wusste, es war allgemein bekannt, dass allein der Gedanke an einen Verkauf jeden Sklaven in Angst und Schrecken versetzte. Das tagtägliche Grauen war berechenbar, doch es konnte bei einem neuen Besitzer durchaus alles noch viel schlimmer kommen. Ein jeder Sklave hatte rasch gelernt, das Unbekannte zu fürchten.
»Also liefest du fort und hast dabei ganz nebenbei auch noch einen von meinen Leuten umgebracht?«
»Er hat mich erschreckt«, erwiderte Rialla mit bebender Stimme, während sie sich an das schreckliche Ereignis erinnerte. »Ich schubste ihn weg von mir, und er schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf. Es war dunkel, und ich wusste nicht, wie mir geschah.« Mit einem Holzhammer, den jemand in den Ställen liegengelassen hatte, hatte sie so fest zugeschlagen, wie sie konnte. Den Hammer hatte sie neben der Leiche zurückgelassen und danach das Weite gesucht. Doch Winterseine rechnete damit, dass sie ihn anlog, weshalb sie genau das tat, um ihre Rolle möglichst überzeugend zu spielen.
Winterseine nahm auf dem großen lederbezogenen Stuhl hinter seinem Schreibtisch Platz, der unter seinem Gewicht aufquietschte. »Du hast ihn mit einem Hammer erschlagen.«
Rialla schüttelte den Kopf, tat verängstigt. Eine Sklavin würde ein solches Verbrechen niemals zugeben, und Winterseine wusste das. »Nein«, widersprach sie zaghaft. »Er ist auf den Kopf gefallen.«
»Du hast ihn ermordet«, stellte die Stimme ihres Meisters unerbittlich klar. Er wusste vielleicht, dass sie nicht gestehen würde, aber das änderte für ihn nicht viel: Sie musste begreifen, dass sie mit einer Lüge nicht durchkam. Er wartete ihre Antwort nicht ab, fragte stattdessen: »Und wohin bist du dann gegangen?«
Hilflos zuckte Rialla die Achseln. »Ach, ich weiß es nicht. Weg, irgendwohin.« Das kam der Wahrheit recht nahe.
»Laeth behauptete, er hätte dich irgendwo im Süden aufgegriffen. Wie bist du dorthin gelangt?«
»Nach einigen Tagen – ich weiß nicht genau, wie viel Zeit seither vergangen war – fand mich ein Mann, wie ich mich unter einem Busch versteckte. Er nahm mich mit und verkaufte mich an einen Händler, der mich aus Darran hinausschmuggelte und dann an einen Händler abgab, der für die Allianz arbeitete.« Obwohl es verboten war, entflohene Sklaven zu verkaufen, war das gängige Praxis.
»Ich kann es nicht dulden, dass meine Sklaven fortlaufen, Tänzerin.« Winterseines Stimme war streng, doch es schwang auch so etwas wie Bedauern mit, als spräche er zu einem ungezogenen Kind. Rialla musste einen Brechreiz unterdrücken.
»Nein, Herr, das könnt Ihr nicht«, sagte sie leise, und der Sklavenmeister lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um über die Art ihrer Bestrafung nachzudenken.
Eine Wache führte sie durch ein Labyrinth aus Gängen, bis sie vor zwei Türen ankamen, die nicht breiter als Luken und in Hüfthöhe angebracht waren. Rialla konnte hinter einer von ihnen ein leises Schluchzen wahrnehmen und verfolgte besorgt, wie der Mann den Riegel vor der anderen Tür beiseiteschob. Die Klappe öffnete sich; dahinter lag eine finstere, niedrige Kammer, die sogar noch winziger war, als es die Tür selbst vermuten ließ. Spinnweben hingen vor dem Eingang, die der Wachmann nun aus dem Weg fegte.
»Rein mit dir«, sagte er. Sein Auftreten hatte nichts Bedrohliches, aber Rialla war sich sicher, dass er seinem Befehl im Ernstfall Nachdruck verleihen würde.
So langsam wie möglich krabbelte sie auf Händen und Füßen in den Hohlraum, um möglichen Insekten die Gelegenheit zu geben, sich in Sicherheit zu bringen. Dunkelheit umfing sie, als sie das Ende ihres Gefängnisses erreichte. Der Wachmann schloss hinter ihr die Tür und schob den Riegel vor. Rialla streckte ihre Hände aus, ertastete die Ausmaße ihrer Zelle; sie war nur unwesentlich größer als die Särge, in denen die Darraner ihre Toten unter die Erde brachten.
Für jeden normalen Menschen wäre diese Enge beklemmend gewesen, doch Riallas Wahrnehmung reichte über die sie umgebenden Steinwände hinaus. So wusste sie, wann der Wachmann seinen Posten verließ, um zu Mittag zu essen, und konnte das Grauen fühlen, welches die Sklavin in der Nachbarzelle empfand. Und sie spürte Tris’ Ungeduld, der endlich wissen wollte, was los war.
Rialla!
Ja, antwortete sie.
Geht’s dir gut? Wo bist du?
Sie empfing seine Sorge und schickte ihm beruhigende Gedanken zurück. Ich sitze in … verschärftem Arrest. Aber so schlecht ist es nicht; er musste ja irgendwas unternehmen, um mich zu bestrafen, fügt seinen Sklaven aber keinen körperlichen Schaden zu, wenn es sich vermeiden lässt. Kurz: Ich hatte Schlimmeres erwartet.
Das kann ich nachvollziehen, antwortete Tris. Ich selbst fühle mich ohnehin die meiste Zeit eingesperrt in diesen Steinbauten der Menschen, da würde es mir auch nicht mehr viel ausmachen, an einem noch beengteren Ort ausharren zu müssen. Ich denke, ich werde mich heute ein wenig hier umsehen und mal schauen, was ich rausfinden kann. Ruf mich, wenn du etwas Gesellschaft brauchst.
Wo genau willst du dich denn umsehen?, erkundigte sich Rialla neugierig. Das Gesicht des Heilers war Winterseine und einigen seiner Wachleute bekannt. Wenn ihn jemand dabei erwischte, wie er sich in der Burg herumtrieb, würde das sicherlich einige Fragen aufwerfen.
Die Illusionsmagie ist im Grunde ziemlich simpel, erwiderte Tris, der offenbar keine Schwierigkeiten hatte, ihren Gedanken zu folgen. Kaum einer bemerkt eine überzählige Sitzbank oder eine weitere Zimmerpflanze. Rialla erinnerte sich an die zahlreichen dekorativen Kübelgewächse, die überall in Westholdt herumgestanden hatten, genauso wie die abgenutzten Holzbänke.
Was, wenn sich jemand auf dich setzen will?, fragte sie. Es war ihr noch immer nicht ganz geheuer, dass Tris bereits Gedanken lesen konnte, die sie ihm noch gar nicht geschickt hatte.
Deshalb ziehe ich, wenn möglich, die Zimmerpflanze vor, kam es zurück, allerdings hat die Bank ein morsches Bein. Das sollte jeden abschrecken, es sich auf ihr gemütlich zu machen.
Ich wünsch dir viel Glück, sagte Rialla. Sei vorsichtig.
Das werde ich, versicherte er ihr und zog sich dann auf eine weniger intime Geistebene zurück.
Die Sklavin in der anderen Zelle wurde immer panischer in dem engen dunklen Gefängnis. Aus Mitleid und weil sie ihre Empathie noch ein wenig trainieren wollte, beschloss Rialla, ihrer Mitgefangenen zu helfen.
Geduldig arbeitete sie sich durch die Furcht der anderen Sklavin und sandte ihr Ruhe und Frieden. Nachdem die Angst von ihr abgefallen war, wurde die Frau von einem neuen Gefühl überwältigt: Hass. Die Emotion war klar und stark und vermittelte Rialla ein deutliches Bild vom Ziel ihrer Feindseligkeit: Winterseine. Das wunderte Rialla nicht wirklich.
Unfähig, den Kontakt noch weiter aufrechtzuerhalten, zog sie sich zurück und kämpfte mit den Nachwehen, welche die Furcht und der Hass der anderen Frau bei ihr ausgelöst hatten. Als sie wieder in Einklang mit sich selbst war, sammelte Rialla sich erneut und projizierte ihre eigene Gefasstheit auf die Frau in der Nebenzelle, auf dass diese endlich ein wenig schlafen konnte. Nur allmählich wurde die Frau ruhiger und fiel schließlich in einen leichten Dämmerzustand.
Spät am Nachmittag kam Winterseine in Begleitung von zwei Wachen, um sie wieder herauszuholen. Sie krabbelte aus ihrem Loch und stand mit unbeweglicher Miene da, um sich von ihm inspizieren zu lassen. Der Meister kniff die Augen zusammen, bevor er sie den beiden Wachmännern überließ.
Aufmerksam verfolgte sie, wie er den Riegel vor der Nachbarzelle beiseiteschob, in der die andere Sklavin in ihrem sargähnlichen Gefängnis hockte. Im Zwielicht, das im Gang herrschte, konnte Rialla erkennen, dass die Haut der anderen Frau so dunkel wie geöltes Ebenholz war. Sie besaß fein gemeißelte Gesichtszüge, und das dichte kupferfarbene Haar reichte ihr bis zu den Hüften. Eine weitere Sklavin aus dem Osten also.
Während sich Rialla die Frau genauer ansah, begriff sie, warum Winterseine sie vor einem Moment so argwöhnisch beäugt hatte. Das Gesicht der anderen war genauso ausdruckslos wie ihr eigenes, doch es zeichnete sich auch Erschöpfung darauf ab, und das Haar war stumpf von Schweiß. Ein leichtes Beben ging durch ihren Körper, während sie, wie auch Rialla, versuchte, nichts als Passivität auszustrahlen. Rialla wusste, dass sie selbst nach außen hin wirkte, als hätte sie sich den ganzen Nachmittag auf einem Bett liegend ausgeruht.
»Schafft die beiden zu den Bädern, damit man sie einer Reinigung unterzieht. Danach bringt ihr die Schwarze wieder in den Unterricht im Blauen Zimmer. Die Tänzerin soll zurück in ihre Zelle«, befahl Winterseine knapp, woraufhin die Wachen die Frauen fortbrachten.
Gekleidet in eine saubere Tunika und mit frisch gewaschenem Haar fand sich Rialla wenig später in ihrer alten Zelle wieder. Ein Mahl aus Brot und Obst erwartete sie. Sie ließ das Essen stehen und wartete darauf, dass Tris zu ihr kam, um mit ihr zu speisen.
Das Tageslicht fiel durch das hohe Fenster, weshalb die Schatten des Gitters sich zu diesem Zeitpunkt auf der Wand statt auf dem Boden abzeichneten. Unruhig ging Rialla eine Weile in ihrer Zelle auf und ab, bevor sie sich auf ihre Ausdauerübungen besann, die ihr sowohl als Tänzerin wie auch als Pferdeausbilderin zur zweiten Natur geworden waren.
Wenn sie hier zukünftig oft würde tanzen müssen, musste sie sich ohnehin in Form bringen, dachte sie. Ihr verletztes Bein war noch immer nicht so geschmeidig wie einst, und sie versuchte, es nicht überzustrapazieren.
Als sie ihre Gymnastik beendet hatte, rann ihr der Schweiß über den Rücken, aber sie war nicht übermäßig erschöpft. Aus dem Krug, der mit dem Essen gebracht worden war, goss sie sich etwas Wasser in die rechte Hand. Sie benetzte ihr Gesicht und trocknete es mit dem Saum ihrer Tunika.
Gelangweilt ließ sie sich neben dem Strohballen nieder und begann damit, Halme zusammenzuflechten, wie es ihre Mutter sie gelehrt hatte. Das Stroh hier war zwar nicht sonderlich geschmeidig und stark, und das Seil brach schon bei der leisesten Belastung, aber es vertrieb ihr die Zeit.
Sehnsüchtig blickte sie auf das Brot, als sie spürte, dass Tris in der Nähe war. Auch bemerkte sie eine Veränderung am Stein nahe der Decke, gleich neben dem Fenster. Es sah aus, als beulten sich die Blöcke und der Mörtel zwischen ihnen aus, bis die Form eines Körpers erkennbar wurde. Das Gebilde rutschte nach und nach herab, bis es den Boden erreichte. Langsam befreite sich Tris aus dem Stein, und seine typischen Körperumrisse und Gesichtszüge wurden erkennbar. Die Farbe des Granits wich aus seinem Teint und dem Stoff seiner Kleidung, bevor sich der Heiler den Staub von der Tunika und aus den Kniehosen klopfte.
»Gut, dass ich das nicht machen muss«, bemerkte Rialla.
»Was? Du meinst, den Stein zu durchdringen? So schlimm ist es gar nicht – Granit kratzt zwar ein wenig, und ich bevorzuge Marmor oder Obsidian, aber Granit ist nun mal verbreiteter, da muss man sich mit abfinden.«
Rialla lachte über die Ernsthaftigkeit, mit der er ihr dies erzählte. »Und?«, fragte sie. »Wie sind deine Erkundigungen gelaufen?«
»Gut«, meinte er und kratzte sich am Bart, als jucke es ihn darunter. »Habe nichts Außergewöhnliches festgestellt, nur dass es hier jede Menge Katzen zu geben scheint.«
Rialla nickte und nahm sich ein Stück Obst. »Wie in den meisten Burgen. Wegen der ganzen Ratten und so.« Genüsslich seufzend biss sie in einen Apfel. In Sianim war es einfach zu warm für den Anbau leckerer Apfelsorten.
»Nein, ich meine wirklich enorm viele Katzen. Jemand hier scheint ein ausgesprochenes Faible für sie zu haben.« Tris setzte sich auf den Boden, lehnte sich gegen die Wand. »Und wie war dein Tag im verschärften Arrest?«
Rialla sah ihn verzagt an. »Auch nicht schlimmer als das, was mich vielleicht morgen erwartet.«
»Was meinst du damit?« Tris beugte sich lauernd vor wie ein Raubtier, das Beute gewittert hatte.
Rialla legte das Kerngehäuse des Apfels zurück auf das Tablett. »Möchtest du nichts essen?«
Tris schüttelte ungeduldig den Kopf. »Mir geht’s gut. Was ist also morgen?«
Sie riss sich ein Stück Brot ab und lehnte sich ihrerseits gegen die Wand. Als auch dieses verspeist war, sagte sie leise: »Schätze, ich bin dran. Ich war dumm und hab nicht daran gedacht, dass man mir den Tag in diesem dunklen, engen Loch eigentlich hätte ansehen müssen. Nun wird er sich eine andere Strafe für mich ausdenken.« Sie seufzte betont komisch auf und versuchte ihn zu beruhigen, als sie seinen aufsteigenden Ärger mitbekam. »Ich bin wohl keine besonders talentierte Spionin.«
»Und was wird er dir antun?«, hakte Tris mit noch immer grimmiger Stimme nach.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab nicht die geringste Ahnung. Aber keine Sorge, es wird vermutlich nichts allzu Schmerzhaftes sein – er will sich ja seine kostbare Tänzerin nicht ruinieren. Er muss das Ganze im Gleichgewicht halten – zu wenig Bestrafung wäre fatal, aber zu viel würde die Moral schwächen oder ihn gar die Tänzerin kosten.«
Tris starrte zu Boden und fragte: »Macht es dir sehr zu schaffen, wieder Sklavin zu sein?«
Rialla lenkte den Blick auf ihre Hände, die ihr linkes Knie umfassten. Es schien, als würde er mehr unter ihrer erneuten Versklavung leiden als sie. Sie dachte eine Weile darüber nach, bevor sie antwortete, und hoffte, dass er sie verstand. »Ich hätte gedacht, es wäre so, aber das ist nicht der Fall. Schätze, das liegt daran, dass ich aus eigenem Antrieb zurückgekehrt bin. Ich habe beschlossen, die Sklavin zu spielen, also können sie mich nicht zu einer degradieren. Begreifst du das?«
Er wirkte ein wenig verblüfft, also fügte sie hinzu: »Eine Sklavin verfügt nicht über die Macht, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich schon.« Bei dem Gedanken an den morgigen Tag huschte ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht. »Und so muss ich eben mit den Konsequenzen leben.«
Am nächsten Morgen war Rialla schon wach und bereit, als die Wachen sie holten. Diesmal wurde sie nicht zu Winterseine gebracht, sondern direkt in die »Kammer der Disziplinierung«.
Die lag in einem hellen, fast sonnigen Teil im Erdgeschoss der Burg. Beide Fenster waren niedrig genug, um einen schönen Blick auf die eingefriedeten Gärten zu gewähren, die hinter der Festung lagen. Klarglas war teuer, daher gab es nur Holzläden, die nun allerdings weit geöffnet waren.
Rialla vermutete, dass die Fenster eingelassen worden waren, um die Gefangenen daran zu erinnern, dass dort draußen noch eine andere Welt existierte, damit sie sich nicht der Hoffnungslosigkeit ergaben, die unter der Folter schnell zum Tode führen konnte. Aufgrund der allgegenwärtigen Verzweiflung, die hier in der Luft lag, hätte sich Winterseine die Fenster auch genauso gut sparen können. Sie wob sich in ihre Abschirmung und sperrte all dies aus.
Die Wachen banden ihre Leine an einen der Wandringe und ließen sie mit den anderen Gefangenen allein. Keiner von ihnen war ein Sklave. Sie war noch nie in diesem Teil der Burg gewesen – Rialla war bis zu ihrer Flucht eine gehorsame Sklavin gewesen.
Ohne die Armfesseln war die Leine nur eine Formsache; sie hätte sie ohne Probleme lösen können, aber sie musste sich folgsam verhalten. Es gab keine Bewacher im Raum, lediglich die anderen Gefangenen, die mit schweren Ketten an die Wand gefesselt waren.
Dicke Leinenvorhänge versperrten den Blick auf das, was am andere Ende der Folterkammer vor sich ging. Und Rialla war froh, die obskuren Vorrichtungen nicht sehen zu müssen, die zumeist nichts als menschliche Wracks hinterließen. Aber sie konnte hören, wie die Menschen kläglich stöhnten, während sie, aufgehängt wie Schweinehälften beim Schlachter, auf alle möglichen Arten gepeinigt wurden.
Je länger Rialla wartete, umso aufgewühlter wurde sie. Die unerfreulichen Emotionen, die die Kammer erfüllten, waren so stark, dass es ihr schwerfiel, sie vollständig abzuwehren. Und sie bestärkten sie in ihrer Sorge. Sie kam auf die Füße und ging einige Schritte auf und ab, um ihre Anspannung zu lösen und sich nicht das Halsband herunterzureißen und geradewegs nach Sianim zu fliehen.
Einige Männer betraten die Kammer, schwatzend und lachend. Einer kam auf Rialla zu und löste die Leine von dem Metallring an der Wand. Er stank nach Schweiß und der Angst anderer Menschen, darüber hinaus konnte er seine Hände nicht bei sich behalten.
Rialla nahm seine Zudringlichkeiten ungerührt hin. Schließlich ließ er von ihr ab und verband ihr mit einem schmutzigen und blutverschmierten Baumwollstreifen die Augen. Dem Zug ihrer Leine folgend, stolperte sie über den unebenen Boden hinter ihm her. Dann stieß sie sich an einem Stück Holz das Schienbein und glaubte, dass es sich dabei um eine Treppe handelte, weil sie ein kurzes Stück in die Höhe gehoben und dann auf einer Art Plattform wieder abgesetzt wurde.
Er schubste sie zurück, bis ihre Schultern gegen einen Holzbalken stießen, der sich unter der Berührung leicht bewegte. Sie spürte einen Zug an ihrem Nacken, als er ihren Halsriemen mit dem Balken verband. Die Arme wurden über ihrem Kopf hochgerissen und an einem anderen Balken befestigt, der sich sowohl höher als auch weiter entfernt vom ersten befand. Mit einem dicken Seil um ihre Taille wurde sie zusätzlich fixiert.
Rialla hörte, wie die Balken unter ihrem Gewicht ächzten, während sich ihre Füße langsam vom Boden hoben. Als ihr Rücken gegen einen harten Widerstand gedrückt wurde, erkannte sie, dass man sie auf ein riesiges Rad gebunden hatte. Das Rad stoppte, woraufhin man ihre Beine an ein weiteres Querholz fesselte.
Als der Folterknecht sicher sein konnte, dass ihr Körper vollständig am Rad festgemacht war, betatschte er sie ein letztes Mal, bevor er seine Arbeit fortsetzte. Sie konnte ihre Ohren vor den die Kammer erfüllenden Schmerzensschreien nicht vollständig verschließen, wie sie auch ihren Geist nicht vor dem Leid abzuschotten vermochte, das mit ihnen einherging. Und in diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als dass man sie endlich bestrafte, damit sie es hinter sich hatte.
Schließlich ertönte ein lautes Knacken, als der Mechanismus, mit dem man das Rad in Bewegung setzte, gelöst wurde. Langsam wurde sie angehoben und weitergetragen, bis sie kopfüber hing. Das Rad gab ein seltsames Geräusch von sich, doch bevor Rialla begriff, was passierte, tauchte ihr Kopf in ein Becken mit kaltem Wasser ein.
Sie japste vor Schreck, und als das Rad sich weiterdrehte und sie wieder aus dem Wasser gezogen wurde, würgte und spuckte sie die Flüssigkeit aus ihren Atemwegen. Sie war desorientiert, wollte erst einmal zu Atem kommen, doch schon tauchte ihr Kopf erneut unter Wasser. Beim dritten Mal begriff sie, dass sich das Rad nicht mit gleichbleibender Geschwindigkeit drehte, sodass der Delinquent sich nicht auf das Untertauchen einstellen konnte. Wieder hustete und spie sie das Wasser aus, das in ihren Rachen gelangt war. Dies alles führte dazu, dass auch ihre Konzentration einbrach und der Schild, der die durch die Kammer mäandernden Emotionen abhalten sollte, an Wirksamkeit verlor.
Die Folge war, dass Rialla eine ungebremste Welle des Schmerzes traf, den die anderen Gefangenen hier auszuhalten hatten. Sie begann zu schreien, dann wurde ihr Kopf wieder unter Wasser gezwungen. Diesmal vollzog sich die Reise durch das kalte Nass so quälend langsam, dass ihr schwarz vor Augen wurde, bevor ihre Nase wieder auftauchte. Das Rad kam zum Stehen, damit sie sich etwas erholen konnte, und während sie verzweifelt nach Atem rang, gelang es ihr, die Barriere um sich herum wieder zu errichten.
Tris. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn mit hochgezogenem Schutzschild überhaupt erreichen zu können. Und sie war überrascht, Antwort zu erhalten.
Rialla? Sie konnte die Sorge bereits aus diesem einen Wort herauslesen, so wie er das Echo ihrer Verzweiflung empfangen hatte.
Das Rad setzte sich wieder in Bewegung. Unbewusst kämpfte sie gegen die Fesseln an, die sie mit ihm verbanden. Sie wollte Tris berichten, was gerade geschah, konnte jedoch keine zusammenhängende Nachricht übermitteln, und dann tauchte ihr Kopf schon wieder in das eiskalte Wasser ein.
Rialla! Sein dringlicher Ton brachte sie wieder zu sich, und sie versuchte, ihn erneut zu erreichen.
Sprich mit mir … Der Versuch, ja nichts von dem Wasser in ihre Lungen zu bekommen, wurde von Mal zu Mal schwieriger. Bitte … du musst mir etwas geben, auf das ich mich konzentrieren kann … Ihr Gesicht war schon ganz taub durch die Kälte, sodass sie kaum noch spürte, wann ihr Kopf sich wieder über Wasser befand.
Erst als ihre Stirn das eiskalte Nass einmal mehr berührte, wurde ihr klar, dass sie ihren Atem diesmal zu lang angehalten hatte. Sie schaffte es, kurz Luft zu holen, bevor das Wasser wieder über ihrem Kopf zusammenschlug.
Rialla? Was … Er brach ab, und sie spürte, wie er sich zusammenriss. Langsam, als wenn er laut rezitierte, schickte er ihr, worum sie gebeten hatte. Die Schwarze Tollkirsche, auch als Nachtschatten oder Belladonna bekannt, kann in kleinen Dosen als Beruhigungs- oder Schmerzmittel eingesetzt werden …
Sie klammerte sich an seine Worte wie an eine Rettungsleine, merkte, wie sie ruhiger wurde, vergleichbar mit einem Mönch, der sich in Trance sang. Es war ihr völlig egal, was er sagte, solange er nur einfach weitersprach.
Tris schien zu spüren, was sie brauchte, und versorgte sie mit einem nicht enden wollenden Strom an nutzlosen Informationen. Rialla stellte fest, dass sie auf diese Weise auch die Pein der anderen Gefangenen in der Kammer aus ihrem Geist aussperren konnte. Als sie endlich ruhiger war und sie die Emotionen der anderen nicht mehr erreichten, konnte sie sogar vorhersagen, wann sie wieder ins Wasser eingetaucht werden würde.
Tris sprach weiter zu ihr, aber sie hörte seine Worte schon lange nicht mehr. Inzwischen war sie sogar in der Lage zu erspüren, wie das Wasser sich näherte. Das war seltsam, aber sie war derzeit nicht imstande, der Sache auf den Grund zu gehen. Einmal glaubte sie sogar, von Tris diesbezüglich eine Warnung zu empfangen, aber das war lächerlich – sie wusste, dass er sich in den oberen Etagen der Burg aufhielt.
Als man sie schließlich vom Rad pflückte, war sie zu benommen, um aufrecht zu stehen, und so mussten die Wachen sie in ihre Zelle tragen. Immer noch vernahm sie Tris’ beständige Stimme in ihrem Geist und zog aus seiner Präsenz nie geahnte Kraft. Ein Handtuch und trockene Kleidung erwarteten sie auf dem Strohballen. Vor Kälte zitternd, rubbelte sie sich mit dem dicken Baumwolltuch ab, bis ihr Haar nur noch feucht war. Dann warf sie sich die frische Tunika über.
… Gift, das die blühende Coralis einsetzt, um ihre Beute zu betäuben, kann auch dazu verwendet werden, Warzen und …
Tris? Erschöpft unterbrach Rialla seinen Gedankenfluss, während sie auf den Strohballen zutaumelte. Danke. Du kannst jetzt aufhören. Ich bin wieder in meiner Zelle.
Zu ihrer Überraschung fragte er sie nichts, sagte nur: Ich komme.
Rialla zog die Beine an und schlang ihre Arme darum, ließ ihren Kopf auf die Knie sinken. Es wollte ihr einfach nicht warm werden. Diesmal verfolgte sie nicht, wie Tris durch die Wand in ihre Zelle kam. Einmal war genug …
»Geht’s dir gut. Sind sie jetzt endlich fertig mit dir?« Tris’ Stimme klang sanft und gefährlich zugleich, aber als er ihre Schulter berührte, strömte seine Wärme in ihren Körper.
Rialla wandte den Kopf, schenkte ihm ein müdes Lächeln und sagte mit heiserer Stimme: »Glaube schon. Es besteht kein Grund mehr, die Sache noch weiterzutreiben. Danke für deine Hilfe.«
»Gut«, sagte er, ohne auf ihre Dankesbekundung einzugehen.
Schweiß sammelte sich in Riallas Kreuz, als sie mit vierzehn anderen Sklavinnen die Kombinationen wiederholte, die der Tanzmeister ihnen zurief. Das Gesicht des Mannes war ihr neu, wiewohl er sehr erfahren wirkte. Denn wenn die Sklavinnen mit den Übungen fertig waren, waren sie aufgewärmt und ihre Muskeln geschmeidig, doch sie waren nicht überanstrengt.
Indem sie ganz bewusst tief und regelmäßig durch die Nase atmete, bog Rialla ihr heiles Bein hinter sich nach oben, bis die Ferse ihren Hinterkopf berührte, und zählte im Stillen die Trommelschläge mit. Dabei versuchte sie das Brennen in ihrem verletzten Oberschenkel zu ignorieren, der nun das ganze Gewicht tragen musste.
Sie versuchte es mit dem anderen Bein, schaffte es aber nicht, es die letzten Zentimeter bis hinauf zu ihrem Scheitel zu beugen. Das Brennen im Oberschenkel wurde immer schmerzhafter, und sie befürchtete, dass die Wunde wieder aufreißen könnte. Also senkte sie das Bein wieder ein Stück ab, wohl wissend, dass der Tanzmeister in der Nähe stand. Als die Übung vorbei war, befahl der Meister den Tänzerinnen sich auszuruhen, und die Sklaven ließen sich dankbar auf die Matten fallen.
Dann betrachtete er Riallas rote Narbe, die dort, wo das Sumpfbiest sie erwischt hatte, noch gut sichtbar über ihrem Oberschenkel verlief.
»Beuge es«, sagte er knapp.
Auf seinen Befehl hin winkelte sie das Bein so stark an wie sie konnte und ließ es dann wieder los.
Der Tanzmeister grunzte. »Winterseine meinte, du wärst eine fertig ausgebildete Tänzerin. Schon aus diesem Grund würde ich das Bein noch einen weiteren Monat schonen, aber er hat verfügt, dass du in der Fortgeschrittenen-Gruppe tanzen sollst. Ich möchte nicht, dass du dich dabei überanstrengst, aber sollte Winterseine mal zugegen sein und zuschauen, solltest du dir alle Mühe geben. Er glaubt nämlich nicht, dass man Wunden Zeit geben muss, um zu verheilen, hält das alles nur für faule Ausreden.«
Überrascht, dass der neue Tanzmeister Winterseine vor einer Sklavin kritisierte, nickte Rialla nur schwach. Sie sah, wie er über den Holzboden zur Mitte der Übungshalle schritt und einmal in die Hände klatschte. Dann ging die Übungsstunde weiter. Sich seiner Mahnung erinnernd, schonte sie ihr linkes Bein, so gut es ging, und achtete gleichzeitig darauf, ob Winterseine nicht plötzlich hier auftauchte.
Die anderen Mädchen verhielten sich ihr gegenüber zurückhaltend und grüßten sie auch während der Pausen nicht. Schweigend setzte sich Rialla ein wenig abseits, doch nahe genug, um die Gespräche der Sklavinnen zu belauschen.
Das meiste, was gesagt wurde, war uninteressant; es schien, keine wollte sich über Lord Winterseine oder etwas anderes von Belang äußern; die Angst, wegen eines unbedachten Worts Schwierigkeiten mit dem Meister zu bekommen, saß einfach zu tief. Rialla beschloss, sich auch weiterhin im Hintergrund zu halten; vielleicht würden die anderen ja irgendwann vergessen, dass sie da war, aber es würde seine Zeit dauern.
Seufzend schloss sie die Augen und entspannte sich. Vorsichtig ließ sie ihre Verteidigung fallen und griff mit ihrer Gabe um sich. In diesem Moment hörte sie eines der Mädchen kichern. Sie fokussierte sich auf diese Sklavin und erhaschte ein Bild von Terran, das indes durch die persönliche Wahrnehmung des Mädchens leicht verändert wirkte – so gut sah er nun auch wieder nicht aus, das wusste Rialla.
Die Sklavin war erst kürzlich mit ihm intim geworden und schien jede Minute davon genossen zu haben. Rasch zog sich Rialla zurück, bevor sie am Ende noch körperlich teilhaben musste an der Begegnung mit Winterseines Sohn. Gerade, als sie sich abwenden wollte, schnappte sie ein anderes Bild auf … das Bild einer Katze, einer blauen Katze.
Es war schon dunkel, als man sie in einer frischen Tunika in ihre Zelle zurückbrachte. Wenngleich die Tanzübungen in einem Gewand absolviert wurden, das kaum den halben Körper bedeckte, war es in der Burg einfach zu kalt, um in diesem Aufzug die ganze Zeit herumzulaufen. Ihr Haar war frisch gewaschen, und man hatte einige hübsche Zöpfchen eingeflochten, sodass es nun offen herabfiel und ihre Schultern berührte.
Sobald die Wachen verschwunden waren, legte sich Rialla mit dem Gesicht nach unten auf den kühlen Steinboden.
»Müde?«, fragte Tris so leise, dass man ihn kaum hören konnte.
Sie konnte nicht mal den Kopf heben, wandte ihn einfach zu ihm um. »Ich bin zu alt für so was. Die anderen Mädchen sind fast noch Kleinkinder und in so viel besserer Verfassung als ich. Lass uns nach Sianim zurückkehren, wo ich’s mir in einem Schaukelstuhl gemütlich machen und Tischdecken sticken kann.«
Zwei Hände legten sich auf ihren Rücken und massierten ihre überstrapazierten Muskeln. Sie schnurrte wie ein Kätzchen und schob ihre Arme unter den Kopf, während sich die Verspannungen wie von Zauberhand lösten.
»Du machst Stickarbeiten?«, fragte Tris interessiert.
»Nein«, kam es zurück. »Und vielleicht, aber nur vielleicht, muss ich’s auch nicht mehr lernen, wenn du so weitermachst.«
Er lachte, führte seine Massage in ihrem Kreuz weiter und meinte fast im Plauderton: »Hab heute was Interessantes rausgefunden.« Er hörte auf, sie durchzukneten, und schlug ihr leicht mit den Handkanten über den Rücken.
»Aus dem, was ich aufgeschnappt habe«, fuhr er fort, »lässt sich schließen, dass Winterseine durchaus zur anderen Seite des Sumpfes gereist ist. Ein Schiff von ihm liegt in einem kleinen Hafen nahe der Südlichen See, mit dem er regelmäßig gen Osten segelt. In den letzten sechs Jahren hat er mindestens vier Monate im Jahr dort verbracht. Nur im letzten Jahr nicht, da hat sein Sohn die Reise allein gemacht. Was ist denn?«
»Hmpf«, meinte Rialla undeutlich, und dann: »Tri … hisssss … hör … auf!«
Er hörte auf, sie durchzuwalken und hockte sich neben sie.
Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie ihn über die Schulter hinweg an und meinte beleidigt: »Schönen Dank auch. Vielleicht hätten wir dich allein hierher entsenden sollen. Alles, was ich heute rausgefunden habe, ist, dass ich in ziemlich mieser körperlicher Verfassung bin.«
»Warum so zickig?«, fragte er und lachte. »Ich fand nur, eine Festung dieser Größe könnte einen Schreinergesellen gut gebrauchen.« Plötzlich veränderte sich sein Aussehen, der Bart verschwand, und auch seine Kleidung wechselte – er trug nun ein schweres Wollwams, das gut geeignet war, Sägemehl abzuhalten. Tris machte keine Pause, während er weitersprach, doch mittendrin verschwand auch sein Akzent. »Hörte, der letzte Tischler ist im vergangenen Jahr gestorben, woraufhin sein Lehrling in die Stadt abgewandert ist. Und so hab ich den ganzen Tag die Küchenschränke repariert. Praktischerweise ist der Koch ziemlich geschwätzig. Besonders wenn er mit Leuten seines Ranges plaudern kann.«
Rialla schaute ihn mit einiger Ehrfurcht an. Wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte sie schwören können, dass sie gerade mit einem darranischen Handwerker aus der Mittelschicht sprach.
»Wie hast du ihnen erklärt, dass du ganz ohne Werkzeug hier aufgekreuzt bist?«, wollte sie wissen.
Er machte ein betrübtes Gesicht. »Ich wurde auf meiner Reise hierher leider von Banditen überfallen. Sie haben mir alles, was ich besaß, gestohlen. Ist es da nicht fast ein Glück, dass der alte Schreiner starb, ohne einen Erben zu hinterlassen, sodass sein ganzes Handwerkszeug noch hier war?«
Er gab seine Illusionsgestalt auf und fuhr fort: »Auch hab ich mir versehentlich mit dem Hammer auf den Daumen gehauen. So was passiert dem besten Handwerker ab und an. Daraufhin verfluchte ich im Namen eines ganz bestimmten Gottes alles und jeden, weshalb ich von einer ganzen Reihe aufgeschreckter Leute beruhigt und zum Schweigen gebracht werden musste, einschließlich des armen Jungen, der für den Grillspieß zuständig ist.«
Rialla wurde nachdenklich. »Am Anfang hielt ich’s für abwegig, als ich mich fragte, ob da vielleicht eine Verbindung bestehen könnte. Aber ich kann mir beim besten Willen keinen einzigen darranischen Haushalt vorstellen, in dem man aus der Fassung gerät, wenn ein Fremder beim Fluchen Altis’ Namen verwendet.« Sie sah zu Tris auf. »Jetzt schau nicht so selbstgefällig drein, das steht dir nicht.«
Er lachte und begann ihre Beine durchzukneten.
»Tris?«
»Hmm«, meinte er abwesend, während er sanft die Rückseite ihres lädierten Oberschenkels massierte.
»Hattest du nicht mal erwähnt, dass es hier ungewöhnlich viele Katzen zu geben scheint?«
»Hmm«, sagte er wieder. »Und das nicht nur in den unteren Etagen, sondern in der ganzen Festung. Warum fragst du?«
Sie schüttelte den Kopf, schloss wieder die Augen. »Ich weiß nicht … aber eine der anderen Sklavinnen hat heute an Katzen gedacht. In einem ziemlich seltsamen Zusammenhang …« Sie zuckte die Achseln. »War vermutlich nicht wichtig, aber komisch war es schon.«
Der nächste Tag verlief nicht anders als der vorherige. Als Rialla am Abend aus dem Tanzunterricht zurückkehrte, berichtete Tris ihr wieder, was er erfahren hatte, während er ihre Verspannungen löste. Er konnte das so viel besser als die Masseurin, die zum Einsatz kam, bevor die Tänzerinnen ins Bad geschickt wurden. Das lag zum Teil auch daran, dass Tris die Prellungen, die der Stock des Tanzmeister auf den Körpern der Sklavinnen hinterließ, gleich mitheilte, auch wenn er nie ein Wort darüber verlor.
Er hatte fast den ganzen Tag damit verbracht, sich den Klatsch der Bediensteten anzuhören. Dabei hatte er herausgefunden, dass Lord Winterseine viel Geld mit der Ausbildung von Sklaven verdiente und von seinen Reisen in den Osten sogar noch mehr mitgebracht hatte. Die exotischen dunkelhäutigen Frauen waren sehr begehrt und brachten in Darran das zwei- bis fünffache des Preises für einen normalen Sklaven ein.
Soweit war das für Rialla alles nichts Neues. Arbeitssklaven mochten eine gute Informationsquelle sein, doch Tänzerinnen in Ausbildung hatten nun einmal kaum Kontakt zur Welt da draußen. Der Tanzmeister mochte vielleicht mehr wissen, doch seine Gedanken und Gefühle drehten sich fast ausschließlich um seine Arbeit.
Als Tris seine Massage beendet hatte, fühlte sich Rialla wie eine knochenlose Masse aus schlaffen Muskeln. Noch immer lag sie mit dem Gesicht nach unten im Stroh. Tris lehnte sich gegen eine der Wände, schnappte sich einen Apfel und verzehrte ihn genüsslich. Bei dem Geräusch setzte sich Rialla auf und nahm sich aus dem Futterkorb ein Brötchen. In freundschaftlicher Eintracht und Stille aßen sie. Nach einer Weile warf Tris das abgenagte Kerngehäuse durch den Gitterrost in der Ecke ihrer Zelle.
Er bedachte Rialla mit einem seltsam ernsten Blick und sagte: »Ich habe nicht viel Zeit unter darranischen Adligen verbracht, noch weniger unter Sklaven. Du legst einen bestimmten Ausdruck an den Tag, wenn du versuchst, die Sklavin zu spielen, aber er unterscheidet sich von dem, den die anderen Sklaven zeigen.«
Das Brot in Riallas Mund war frisch und süß, aber sie musste es mühsam hinunterwürgen, bevor sie das Wort ergreifen konnte. Sie senkte den Kopf und wusste, dass die Sklavenmaske, die er erwähnt hatte, auf ihrem Gesicht praktisch festgefroren war. Endlich sagte sie: »Winterseine könnte dir erklären, dass es in Darran zwei Sorten von Sklaven gibt. Da sind zum einen die Lustsklavinnen, die Bettgefährtinnen. Die meisten Männer wünschen sich ihre langjährigen Gespielinnen devot und stets lächelnd an ihrer Seite, als bestünden deren Pflichten aus nichts als purem Vergnügen. Zwang ist ab und zu in Ordnung, kostet aber auf Dauer viel zu viel Energie. Lustsklavinnen werden bestraft, wenn sie nicht wenigstens vorgeben, Genuss bei der Pflichtausübung zu empfinden.«
Sie schluckte hart, fühlte Tris’ Augen auf sich gerichtet. »Tänzerinnen wie ich gehören für gewöhnlich keinem einzelnen Meister persönlich. Der Begriff, mit dem Sklavenausbilder sie im Allgemeinen bezeichnen, lautet ›Exoten‹. Tänzerinnen sind teuer, weil sie schon gewisse Talente mitbringen müssen, bevor man dann noch Zeit und Geld in ihre Ausbildung investiert. Sie befinden sich zumeist im Besitz von Tavernen, Privatetablissements oder Bordellen.«
Rialla blickte teilnahmslos auf ihr halb verzehrtes Brötchen und fuhr fort: »Sklavenausbilder denken, dass ein Sklave, der zum Lustsklaven gemacht wurde, keine Tatkraft, keine Individualität mehr besitzt. Eine Tänzerin hingegen braucht ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Selbstvertrauen.«
»Du sagst, die Sklavenhändler denken so. Wie denkst du darüber?«
Rialla zuckte mit den Schultern. »Eine Sklavin hat keine Tatkraft, keine Individualität mehr. Egal ob Tänzerin oder Gespielin. Eine Sklavin fühlt das, was man von ihr erwartet, und sie tut das, was man ihr sagt. Tänzerinnen folgen diesem Muster auf ihre Art genauso wie die Lustsklaven. Es ist kein besseres oder schlechteres Muster, es ist nur ein anderes.«
»Das tut mir leid«, sagte Tris leise.
Rialla schenkte ihm ein schiefes Lächeln und biss wieder in ihr Brötchen. »Das muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür.«
Nach einigen Tagen des Tanztrainings stellte Rialla fest, dass sie des Abends nicht mehr ganz so erschöpft war wie am Anfang, aber Tris massierte sie auch weiterhin. Unter seinen heilenden Händen verschwand die Steifheit in ihrem verletzten Bein, sodass sie es bald schon genauso stark belasten konnte wie das gesunde. Abend für Abend hatten sie darüber gesprochen, was er tagsüber herausgefunden hatte, während er sie knetete und durchklopfte, bis sie sich wie ein zum Aufgehen bereiter Hefeteig gefühlt hatte.
Heute Abend jedoch war er sonderbar still.
»Was ist mit dir«, fragte sie schließlich und legte das Gesicht auf ihre Arme. Sie konnte seine Verstörung an den Rändern ihrer Wahrnehmung spüren, wollte aber nicht ohne Zustimmung in seinem Geist herumwühlen.
»Nichts«, entgegnete er. »Dieser Ort bedrückt mich. Der kalte Stein hält die Wärme und das Licht der Sonne ab.« Er machte eine Pause. »Und dann hab ich darüber nachgedacht, was du mir kürzlich gesagt hast.«
Sie wusste sofort, worauf er anspielte. »Halten deine Leute Sklaven?«
»Nein«, sagte er, »aber wir wussten davon. Einmal kam eine Sklavin in die Enklave und bat um Asyl. Ich wusste, dass einige religiöse Gemeinschaften den Sklaven Zuflucht gewährten. Nicht so meine. Die Sklavin wurde festgehalten, bis ihr Besitzer sie bei uns abholte.«
»War das deine Entscheidung?«, hakte Rialla nach, um herauszufinden, was ihn wirklich bedrückte. Sie nahm so etwas wie Schuld bei ihm wahr, das Gefühl, sein persönliches Gerechtigkeitsempfinden verraten zu haben.
»Nein, ich missbilligte diesen Beschluss – aus den falschen Gründen.« Stroh raschelte, als er sich erhob. »Ich war der Meinung, dass die Gemeinschaft diese Entscheidung nur aus Furcht getroffen hatte, nicht aufgrund reiflicher Überlegung. Ich hatte recht, doch ich war zu jung, um zu verstehen, dass es für die Handlungen und Entscheidungen der Enklave niemals einen anderen Grund gegeben hatte als Furcht. Die Ältesten hatten meinen Glauben an sie erschüttert. Und das hat mich mehr umgetrieben als das Schicksal des armen Mädchens, das man später in Ketten aus unserer Mitte abführte.«
Ja, das bekümmerte ihn, so viel konnte Rialla feststellen, aber es war nicht der Grund für seine Schweigsamkeit gewesen.
»Aber du machst es doch gerade wieder gut«, sagte sie. Sie setzte sich nun auf, um ihn direkt anzusehen. »Und selbst wenn die Sklaverei noch fünfhundert Jahre weiterbestehen sollte, so versuchst du doch, diese Zustände zu ändern.«
Er hatte sich abgewandt, stand mit dem Rücken zu ihr im verblassenden Lichtstrahl, der durch das kleine Fenster unter der Decke fiel. »Tue ich das?«, fragte er in seltsamem Ton. »Ja, ich glaube, das tue ich.«
Er drehte sich um, kam auf sie zu und bedeutete ihr, die ursprüngliche Position wieder einzunehmen. »Ich löse noch rasch diese Muskeln an deinem Rücken«, sagte er, »und berichte dir dabei, was ich heute rausgefunden hab. Kennst du eigentlich das Symbol, das in Verbindung zu Altis steht?«
Rialla rollte sich wieder auf den Bauch. Sie konnte seine Seelenqual spüren und die Reue, die ihn zutiefst aufwühlte, aber sie wusste nicht, wie sie ihm helfen konnte. Auch wusste sie nicht, ob ihm klar war, wie einfach er für sie zu lesen war – es geschah von ihrer Seite ja nicht willentlich, aber sie wollte auch nicht, dass er dachte, sie würde ihm zu nahe treten. Daher ging sie auf seinen Themenwechsel ein.
»Ich weiß nichts über Altis, außer dass er zu den Alten Göttern zählt«, sagte sie.
»Schäm dich«, erwiderte er in seiner besten Heiler-Stimme. »Altis war der Herr der Nacht. In seine Schatten flüchteten sich die Gejagten vor dem Jäger. Er zählte zu den wohlwollenden Göttern. Nicht nur sah er davon ab, aus Langeweile Menschen zu quälen, er hat sich auch mit den Göttern angelegt, die diesem ›Sport‹ frönten.«
»Was ist mit denen, die nichtmenschlich waren – so wie die Gestaltwandler, die Selkies und die … Silfs?«
»Sylvaner«, korrigierte Tris sie ungerührt und verstärkte seinen Druck auf ihre Rückenmuskeln. »Wir waren die Kinder der Götter und deshalb auch besser in der Lage, uns zu verteidigen. Wir konnten uns jederzeit auf unsere Göttereltern verlassen. Auf Nasren, den Herrn des Waldes und Vater aller Sylvaner. Auf Torrec, die Jägerin, welche die Gestaltwandler gebar. Oder auf Kirsa, die Göttin der Wellen und Mutter der Selkies. Sie verfügten zwar nur über eingeschränkte Kräfte, aber sie waren mächtig genug, um die anderen Götter davon abzuhalten, ihr Spiel mit uns zu treiben. Doch wo war ich stehengeblieben …«
»Altis«, sagte Rialla, aber es war mehr ein Stöhnen, weil Tris gerade die richtige Stelle bearbeitete.
»Ja, Altis. Sein Symbol stellt eine stilisierte Katze dar, aufrecht sitzend, den Körper im Profil, doch den Kopf gesenkt und den Betrachter direkt anblickend –«
»Mit einem fünfzackigen Stern direkt auf der Stirn, in dessen Zentrum sich ein riesiger Smaragd befindet«, unterbrach Rialla ihn.
»Also von dem Smaragd weiß ich nichts«, meinte Tris, »aber der fünfzackige Stern ist da. Wo hast du es gesehen?«
»Bei einer der Sklavinnen«, sagte sie. »Sie hat … an diese Katze gedacht.«
»Eine der Sklavinnen, mit denen du tanzt?«, fragte Tris.
»Ja.« Rialla musste lächeln und blickte zu Boden. »Das Bild war leicht einzufangen, weil es einherging mit … einiger Leidenschaft.«
»Diese Sklavin ist eine Anhängerin von Altis?«
Rialla lachte auf. »Nein, im Grunde weiß ich nicht, wie die Katze da hineingeriet. Die Sklavin erinnerte sich einer leidenschaftlichen Nacht, und ich kann dir versichern, das hatte nichts mit religiöser Hingabe zu tun.«
Tris schnaubte auf. »Dann hast du offenbar noch nie einen von diesen religiösen Eiferern getroffen …«
»Wolltest du auf was Bestimmtes hinaus, als du diese Katze erwähntest?«, hakte Rialla nach.
»Ja, aber es ist nun nicht mehr der Rede wert. Man bat mich heute zu überprüfen, ob einer der antiken Holzrahmen in den oberen Räumen noch zu retten sei. Wie auch immer, sobald man einmal die der Öffentlichkeit zugänglichen Bereiche in der Burg hinter sich gelassen hat, gibt es kein einziges Zimmer mehr ohne diese Katze.«
Rialla dachte darüber nach, dann meinte sie: »Aber warum? Um die Dienerschaft zu beeindrucken oder gar zu bekehren?«
»Und weshalb findet man dann ihr Abbild ausschließlich in den Privatetagen?«
»Das kann ich dir sagen. Als Sklavenhändler hat Winterseine des Öfteren mit Leuten aus dem Süden zu tun. Händler, die dann in den Besucherquartieren im Erdgeschoss nächtigen. Im Süden gibt es eine neue Religion, sie verbreitete sich gerade, als ich mit meinem Clan diese Gebiete bereiste. Man verehrt dort die ›Allmutter‹. Viel weiß ich nicht über diesen Glauben, außer dass seine Anhänger keine Geschäfte mit Leuten machen, die toten Göttern huldigen.«
Friedvolle Stille legte sich über den Raum, und Rialla entspannte sich unter Tris’ Behandlung, die er gerade ihren verkrampften Unterschenkeln zuteilwerden ließ. »Erzähl mir von deinem Volk, Tris.«
Sie spürte, wie er zögerte. »Es ist uns verboten, einem Außenstehenden … Ach, was soll’s, ich denke, ich bin dem Diktat der Ältesten nicht mehr länger unterworfen.« Er dachte einen Moment lang nach, dann begann er:
»Vor langer Zeit machten die Menschen nur einen kleinen Teil in einer Welt aus, die von Grüner Magie regiert und im Gleichgewicht gehalten wurde.« Seine Stimme verfiel in den Ton des Geschichtenerzählers, wenngleich ein bisschen stockend, als müsse er sich die uralten Texte erst in die Gemeinsprache übersetzen. »Es gab die kleinen Völker: die mit den Schmetterlingsflügeln, die über allen vier Winden spielten, und die Steinhauer, welche die Abendstunden dem helllichten Tage vorzogen. Dann die Naturvölker: die Sylvaner, Dryaden und Gestaltwandler, die in den Wäldern jagten und sich Territorialkämpfe lieferten. Sie alle sprachen mit den Geistern des Waldes und der Tiere.
Das Grüne Volk jedoch – gleich den Göttern, deren Kinder sie ja sind – vermehrt sich nicht schnell, und so begannen die Menschen, auch seinen Teil der Welt in Besitz zu nehmen. Während sie immer tiefer und tiefer in unsere Gebiete vordrangen, wurden sie von den Dryaden freundlich empfangen, wie diese stets alles und jeden herzlich willkommen heißen, während die anderen Völker sich zurückzogen und die Entwicklung aus der Ferne beobachteten. Als Erstes kamen die Händler, dann die Zauberer, die danach trachteten, die Geheimnisse unserer Magie zu erlernen, aber es waren die Bauern, die letztlich die Vorherrschaft der Grünen Magie beendeten.
Sie rissen das Land entzwei und holzten die Wälder ab. Die Geister der Bäume schrien, schwächten jene, die zu eng mit der Erdmagie verbunden waren. Das Land wurde besiedelt, das kleine Volk in den Untergrund vertrieben oder tiefer und tiefer in die Wälder des Nordens zurückgedrängt, wo die Grüne Magie am stärksten ist. Dort gab es aber nicht genug Platz für alle. Die Steinhauer zogen sich unter die Erde, die Gestaltwandler in sich selbst zurück. Die Sylvaner verbargen sich dort, wo niemand nach ihnen suchen würde: unter den Menschen selbst. Nur die Dryaden wichen nicht; doch nur wenige von ihnen hatten die Gewalt, die dem Land angetan worden war, überlebt. Dann kamen die Sklavenhändler, und die Dryaden entschwanden Richtung Osten.
Als die Magier begannen, sich um Macht und Einfluss zu bekämpfen, und als aus dem Nevrawald die Glaswüste wurde, verschwand auch das letzte Drachenkind mit dem Wind.«
Tris senkte dramatisch die Stimme. »Aber manchmal werden, ganz in der Tradition der Dryaden, unter den Menschen Empathen geboren, beschenkt mit grünen oder bernsteinfarbenen Augen wie ihre entfernten Verwandten. Und sie vermögen die Geister des Waldes und der Geschöpfe zu berühren – wie auch die tiefsten Geheimnisse in den Seelen der Menschen.«
Rialla wandte sich um, fixierte mit ihren klaren smaragdfarbenen Augen seinen grüngrauen Blick.
Er lachte unbeeindruckt auf.
Eine Frage, die lange unterschwellig an ihr genagt hatte, wollte nun in Worte gefasst werden. »Tris?«, begann sie leise. »In deiner Geschichte hieß es, die Magierkriege hätten die Drachen vernichtet. Stimmt das?«
»Ich weiß es nicht … ich war ja nicht dabei. Die Legenden berichten jedenfalls, dass Drachen Kreaturen der Magie seien, nicht ausdrücklich Anwender derselben. Wie dem auch sei, die Kriege zerstörten den natürlichen Fluss der Magie, und die Drachen verschwanden … so heißt es wenigstens in den alten Geschichten.«
Etwas in seiner Stimme veranlasste Rialla weiterzufragen. »Du scheinst mir nicht sehr überzeugt zu sein, dass die Legenden wahr sind, oder?«
»Nun ja«, meinte Tris und wandte sich nun ihren Füßen zu. »Tatsächlich habe ich mal einen Drachen gesehen.«
Spät in der Nacht stand Tris allein in der Dunkelheit des Waldes, der ganz in der Nähe von Winterseines Burg lag. Er lehnte die Stirn gegen den Stamm einer Eiche, konnte aber keinen Trost daraus ziehen, weil der Baum die unbedachte Tat, die den eisigen Atem der Schuld durch sein Bewusstsein jagte, nun einmal nicht ungeschehen machen konnte.