Strahlend ging der Stern Angéliques am Hofe Ludwigs XIV. auf. Sie war kein Mädchen mehr, eine Frau in der reifenden Schönheit des frühen Sommers, mit blaugrünen Augen, goldfarbenem Haar und dem gesunden, geschmeidigen Körper eines edlen Tiers. Aber eins vor allem machte den seltsamen Reiz ihres Wesens aus, dem so viele erlagen: daß um sie ein Geheimnis war, zu dem das Leuchten des Glücks ebenso gehörte wie der Schatten des Unheils. Doch sie hatte gesiegt, hatte das Schicksal überwunden, und nun, da sie in der Gunst des Königs stand, gab es niemand mehr, der über das Vergangene zu flüstern wagte ...

Das Leben Angéliques de Sancé begann im Zeichen der Gespenster und der Schnapphähne.

Ihre Amme, die derbe Fantine Lozier, hatte in ihren Adern ein wenig von jenem maurischen Blut, das die Araber am Ende des 10. Jahrhunderts bis an die Schwelle der Provinz Poitou trugen.

Bei ihr hatte Angélique jene Milch der Leidenschaft und der Träume eingesogen, in der sich der alte Geist dieser Provinz konzentrierte, des Landes der Moore und Wälder, das wie ein Golf den lauen Meereswinden geöffnet ist.

Durch Fantines Erzählungen angeregt, hatte sie sich eine eigene wirre Welt aus Dramen und Feenmärchen erschaffen. Diese Welt machte sie froh und seltsamerweise auch gefeit gegen das Gefühl der Angst. Sie betrachtete mitleidig ihre Schwestern, die zitternde kleine Madelon und die sich zierende ältere Hortense, die gleichwohl mit dem Entschluß kämpfte, die Amme zu fragen, was die Schnapphähne im Stroh der Scheune mit ihr getrieben hatten, wovon Fantine gelegentlich etwas durchblicken ließ. Angélique mit ihren acht Jahren ahnte sehr wohl, was in der Scheune vorgegangen war. Mit dem Hirtenjungen Nicolas hatte sie oft die Kuh zum Stier, die Ziege zum Bock geführt. Nicolas erklärte ihr, daß Männer und Frauen es genauso machten. Was aber Angélique verwirrte, war, daß die Amme, wenn sie über diese Dinge redete, abwechselnd einen schmachtenden, ekstatischen oder aufrichtig entsetzten Ton annahm. Doch man mußte ja nicht unbedingt die Amme zu begreifen suchen, weder ihr Schweigen noch ihre Launen und Wutanfälle. Es genügte, daß sie da war, umfänglich und lebhaft mit ihren kräftigen Armen, mit dem Korb ihrer unter dem Kleid aus Barchent geöffneten Knie, und daß sie einen wie ein Vögelchen aufnahm, um ein Wiegenlied zu singen oder von Gilles de Retz, dem Menschenfresser von Machecoul, zu erzählen.

Schlichter und ebenso unersetzbar wie sie im Schloß ist der alte Wilhelm Lützen, der langsam und mit einem holprigen Akzent redet. Er soll Schweizer oder Deutscher sein, niemand weiß das so recht. Bald sind es fünfzehn Jahre her, daß man ihn hinkend und barfüßig auf der alten römischen Straße hat daherkommen sehen, die von Angers nach St. Jean d’Angély führt. Er hat im Schloß Monteloup vorgesprochen und um eine Schale Milch gebeten. Seitdem ist er geblieben, macht sich da und dort nützlich, repariert und zimmert. Der Baron de Sancé läßt ihn Briefe zu benachbarten Freunden tragen und den Einnehmer empfangen, wenn er erscheint, um die Steuern einzutreiben. Der alte Wilhelm hört ihn lange an, dann antwortet er ihm in seinem schweizerischen oder tirolischen Älplerkauderwelsch, und der andere geht kleinlaut von dannen.

Ist er von den Schlachtfeldern des Nordens oder des Ostens gekommen? Und was mag diesen fremdländischen Söldner veranlaßt haben, den Umweg über die Bretagne zu machen, wie es den Anschein hatte? Alles, was man von ihm weiß, ist, daß er bei Lützen unter dem Befehl des Kondottiere Wallenstein stand und die Ehre hatte, den Wanst des erhabenen Königs Gustav Adolf von Schweden zu durchbohren, als dieser sich während der Schlacht im Nebel verirrte und auf die österreichischen Pikeniere stieß. Auf dem Dachboden, wo er wohnt, sieht man zwischen den Spinnweben seine alte Rüstung und seinen Helm in der Sonne glänzen, aus dem er noch seinen Glühwein trinkt und zuweilen seine Suppe ißt. Seine riesige Lanze, dreimal höher als er selbst, dient ihm dazu, im Herbst die Nüsse abzuschlagen.

In der weiträumigen Schloßküche gehen den ganzen Abend lang die Türen auf und zu. Türen in die Nacht, aus der in einer Wolke von Stallgeruch Knechte, Mägde und der Fuhrmann auftauchen, der so dunkel wie seine Mutter Fantine ist und den sie Jean-der-Küraß nennt, weil sein Vater ein Soldat war.

Auch die beiden langen Windhunde und die bis zu den Augen schmutzverkrusteten Dachshunde schleichen sich ein.

Aus dem Innern des Schlosses gewähren die Türen der flinken Nanette Durchlaß, die sich im Beruf des Kammermädchens übt, in der Hoffnung, so viele gute Umgangsformen zu lernen, daß sie ihre verarmte Herrschaft verlassen und in den Dienst des Marquis du Plessis de Bellière treten kann, ein paar Kilometer von Monteloup entfernt. Und es kommen und gehen die beiden Kleinmägde mit wirrem, in die Stirn hängendem Haar, die das Holz in den großen Saal und das Wasser in die Schlafzimmer tragen.

Dann erscheint die Frau Baronin. Sie hat ein zartes, von der rauhen Landluft und ihren zahlreichen Niederkünften welk gewordenes Gesicht. Sie trägt ein Kleid aus grauer Serge und eine Haube aus schwarzer Wolle, denn die Luft im Saal, in dem sie sich zwischen dem Großvater und den alten Tanten aufhält, ist noch feuchter als die der Küche.

Sie fragt, ob der Kräutertee für den alten Herrn Baron bald fertig ist und ob das Kleinste getrunken hat, ohne sich bitten zu lassen. Sie streichelt im Vorbeigehen über die Wange der halb eingeschlafenen Angélique, deren lange, goldbraune Haare sich über den Tisch hinbreiten und im Schein des Feuers aufleuchten.

»Es ist Zeit, schlafen zu gehen, meine Kleinen. Pulchérie wird euch ins Bett bringen.«

Und Pulchérie, eine der alten Tanten, ist zur Stelle, fügsam wie stets. Sie hat die Stelle der Gouvernante bei ihren Nichten übernommen, weil sie mangels Mitgift weder einen Mann gefunden hatte noch ein Kloster, das sie aufnahm, und da sie sich nützlich macht, statt den lieben langen Tag zu seufzen und über dem Stickrahmen zu sitzen, behandelt man sie ein bißchen von oben herab und weniger höflich als die andere Tante, die dicke Jeanne.

Pulchérie versammelt ihre Nichten. Die Ammen werden die jüngeren zu Bett bringen, und Gontran, der Junge ohne Erzieher, wird seinen Strohsack unter dem Dach aufsuchen, wann es ihm beliebt.

Hinter dem mageren Fräulein her betreten Horten-se, Angélique und Madelon den Saal, in dem das Feuer im Kamin und drei Leuchter kaum die Schatten aufzulösen vermögen, die sich im Lauf der Jahrhunderte unter hohen mittelalterlichen Gewölben angesammelt haben. An den Wänden schützen ein paar Teppiche vor der Feuchtigkeit, aber sie sind so alt und mottenzerfressen, daß man die auf ihnen dargestellten Szenen nicht mehr erkennen kann, abgesehen von den bösen Augen fahler menschlicher Figuren, die einen vorwurfsvoll anstarren.

Die kleinen Mädchen verneigen sich vor ihrem Herrn Großvater. Er sitzt in seinem weiten, mit schäbigem Pelz verbrämten schwarzen Überrock vor dem Feuer. Aber seine weißen, auf dem Knauf seines Stockes ruhenden Hände sind königlich. Er trägt einen mächtigen schwarzen Filzhut, und sein viereckig zugeschnittener Bart, der dem unseres seligen Königs Heinrich IV gleicht, liegt auf einer kleinen, gestärkten Halskrause, die Hortense insgeheim gar zu altmodisch findet.

Eine zweite Verneigung vor Tante Jeanne, deren säuerliche Miene nicht zu lächeln geruht, und hast du nicht gesehen die große Steintreppe hinauf, wo einen Grabesluft umgibt. Die Schlafzimmer sind im Winter eisig, im Sommer aber angenehm kühl. Man betritt sie nur, um sich zu Bett zu legen. Das Bett, in dem die drei kleinen Mädchen schlafen, steht wie ein Monument in der Ecke eines kahlen Raumes, dessen sämtliche Möbel von den letzten Generationen verkauft worden sind. Der im Winter mit Stroh belegte Steinfußboden ist an vielen Stellen schadhaft. Man besteigt das Bett über einen dreistufigen Schemel. Nachdem sie ihre Nachtjacken angezogen, ihre Hauben aufgesetzt und auf Knien Gott für seine Wohltaten gedankt haben, erklettern die drei Demoisellen de Sancé de Monteloup ihr weich gepolstertes Lager und schlüpfen unter die durchlöcherten Decken. Angélique sucht alsbald das Loch des Leintuchs, das mit einem in der Decke zusammenfällt, um nachher ihren rosigen Fuß hindurchschieben und mit den Zehen winken zu können, womit sie Madelon immer zum Lachen bringt.

Die Kleine ist verängstigter als ein Hase wegen der Geschichten, die die Amme erzählt. Hortense ebenfalls, aber sie sagt nichts, denn sie ist die Älteste. Nur Angélique genießt diese Angst in höchster Wonne. Das Leben besteht aus Geheimnissen und Entdeckungen. Man hört die Mäuse im Holzwerk nagen, die Käuzchen und die Fledermäuse in den Dachstühlen der beiden Türme flattern und scharfe Schreie ausstoßen. Man hört die Windhunde in den Höfen jammern und einen Maulesel seinen Schorf am Fuß des Mauerwerks reiben.

Und zuweilen, in den Schneenächten, hört man das Heulen der Wölfe, die aus dem wilden Forst von Monteloup bis zu den bewohnten Stätten vorstoßen, oder auch an den ersten Frühlingsabenden den Gesang der Bauern aus dem Dorf, die im Mondschein den Rigodon tanzen ...

Eines der Gebäude des Schlosses Monteloup lag zum Moor hinaus. Es war der älteste Teil, erbaut durch den Vorfahr Ridouët de Sancé, der ein Gefährte Du Guesclins im 12. Jahrhundert gewesen war. Es wurde von zwei mächtigen Türmen mit Wehrumgängen aus Schindeln flankiert, und wenn Angélique mit Gontran oder Denis dort hinaufkletterte, machten sie sich ein Vergnügen daraus, in die Öffnungen zu spucken, durch welche die Soldaten des Mittelalters siedendes Öl auf die Belagerer gegossen hatten. Das Mauerwerk erhob sich auf einem kleinen Kalksteinhügel, hinter dem das Moor begann. Einstmals, zur Zeit der ersten Menschen, war das Meer bis hierher vorgedrungen. Als es wieder zurückwich, hatte es ein Netz von Bächen, Kanälen

und Tümpeln hinterlassen, das jetzt von Hecken und Weidengebüschen überwuchert war, ein Reich der Aale und Frösche, das die Bauern nur mit Kähnen durchquerten. Die Weiler und Hütten standen auf den Inseln des einstigen Meerbusens. Als der Herzog von La Trémoille, der sich auf seine Weltkenntnisse etwas zugute tat, eines Sommers als Gast des Marquis du Plessis durch diese Wasserlandschaft gefahren war, hatte er sie »das grüne Venedig« genannt.

Auf der Festlandseite bot Schloß Monteloup eine Fassade neueren Datums dar, die zahlreiche Fenster aufwies. Fast unmerklich trennte eine an verrosteten Ketten hängende alte Zugbrücke das Hauptportal von den Wiesen, auf denen die Maulesel weideten. Zur Rechten befanden sich der herrschaftliche Taubenschlag mit seinem Dach aus runden Ziegeln und eine Meierei. Die übrigen Vorwerke lagen jenseits des Grabens. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm des Dorfs Monteloup.

Und dann begann der Wald in einem dichten Gewoge von Eichen und Kastanien. Durch diesen Wald konnte man, ohne je der geringsten Lichtung zu begegnen, beinahe bis zur Loire und nach Anjou gelangen, so einem der Sinn danach stand und man sich nicht vor Wölfen und Räubern fürchtete.

Der Wald von Nieul, der am nächsten lag, gehörte zum Besitz des Marquis du Plessis. Die Leute von Monteloup schickten ihre Schweineherden dorthin, und es gab darüber endlose Prozesse mit dem Verwalter des Marquis, dem Sieur Molines mit den gierigen Händen. Hier lebten auch ein paar Holzschuhmacher und Köhler, außerdem eine Hexe, die alte Melusine. Im Winter kam sie manchmal ins Dorf, um an den Türschwellen eine Schale Milch zu trinken, die sie mit getrockneten Kräutern gegen alle möglichen Krankheiten bezahlte.

Nach ihrem Beispiel pflückte Angélique Blumen und Wurzeln, die sie dann trocknete, zerrieb, in Säckchen tat und an einem verborgenen Ort aufbewahrte, den allein der alte Wilhelm kannte. War sie bei dieser Beschäftigung, konnte Pulchérie stundenlang nach ihr rufen, ohne daß sie sich zeigte. Pulchérie weinte zuweilen, wenn sie über Angélique nachdachte. Sie sah in ihr das Versagen nicht nur einer vernünftigen Erziehung, sondern auch ihres Stammes und ihres Adelsstandes, der infolge Verarmung und Mißgeschick all seiner Würde verlustig ging.

Bei Morgengrauen lief die Kleine mit fliegenden Haaren, mit Hemd, Mieder und einem verschossenen Rock fast wie ein Bauernmädchen gekleidet, ins Freie, und ihre kleinen Füße, zartgliedrig wie die einer Prinzessin, waren hart wie Horn, denn sie warf ihre Schuhe in das nächstbeste Gebüsch, um leichter gehen zu können. Rief man sie zurück, wandte sie kaum ihr rundes, von der Sonne übergoldetes Gesicht, in dem zwei blaugrüne Augen strahlten, von der Farbe jener Pflanze, die in den Sümpfen wächst und ihren Namen trägt. »Man müßte sie ins Kloster tun«, seufzte Pulchérie.

Doch der schweigsame, von Sorgen geplagte Baron de Sancé zuckte die Schultern. Wie sollte man die zweite Tochter ins Kloster tun, wenn es schon bei der ersten nicht möglich war, wenn er jährlich kaum viertausend Livres Einkünfte hatte und von diesen viertausend schon fünfhundert für die Erziehung seiner beiden ältesten Söhne bei den Augustinern von Poitiers bezahlen mußte?

Auf der Moorseite hatte Angélique Valentin, den Sohn des Müllers, zum Freund.

Auf der Waldseite war es Nicolas, eins der sieben Kinder eines Landarbeiters und bereits als Hirte im Dienste des Barons de Sancé.

Mit Valentin glitt sie im Kahn über die von Vergißmeinnicht, Minze und Angelika gesäumten Wasserwege. Valentin pflückte ganze Büschel dieser letzteren Pflanze, die so köstlich duftet. Dann verkaufte er sie an die Mönche des Klosters Nieul, die aus den Wurzeln und den Blüten einen Heiltrank bereiteten und aus den Stielen Zuckerwerk. Er bekam dafür Skapuliere und Rosenkränze, die er den Kindern der protestantischen Dörfer an den Kopf warf, worauf diese heulend davonliefen, als habe der Leibhaftige selbst ihnen ins Gesicht gespien. Seinem Vater, dem Müller, mißfiel dieses seltsame Treiben. Wenn er auch katholisch war, trat er doch für Toleranz ein. Und was mußte sein Sohn mit Angelikabüscheln handeln, da doch das Amt des Müllers auf ihn übergehen würde und er sich nur in der gemütlichen Mühle niederzulassen brauchte, die auf Pfählen am Rande des Wassers stand?

Aber Valentin war ein schwer zu durchschauender Bursche. Von kräftigroter Gesichtsfarbe und für seine zwölf Jahre von geradezu herkulischer Größe, stummer als ein Karpfen, hatte er einen unsteten Blick, und die Leute, die auf den Müller neidisch waren, nannten ihn einen Halbidioten.

Nicolas, der gesprächige, immer zum Lachen aufgelegte Hirte, ging mit Angélique Pilze, Brombeeren und Heidelbeeren sammeln. Er schnitzte ihr Flöten aus Nußbaumholz.

Die beiden Jungen beobachteten in tödlicher Eifersucht Angéliques Gunstbezeigungen. Sie war bereits so hübsch, daß die Bauern sie als die lebendige Verkörperung der Feen betrachteten, die den riesigen Dolmen auf dem Hexenfeld bewohnten.

Seit einer Weile horchte der alte Baron in die Richtung des Hofs, aus dem Rufe heraufdrangen, mit dem Gegacker verängstigter Hühner vermischtes Geschrei. Dann hörte man hastige Schritte und schließlich noch heftigere Rufe in Wilhelms Akzent. Es war ein strahlender Herbstnachmittag, und alle übrigen Bewohner des Hauses schienen draußen zu sein.

»Habt keine Angst, Kinder«, sagte der Großvater, »es ist irgendein Bettler, den man verjagt.«

Aber schon war Angélique auf die Freitreppe gerannt und rief: »Vater Wilhelm wird angegriffen, man will ihm etwas antun!«

Der Baron humpelte eilig hinaus, um einen Säbel zu holen, und Gontran erschien mit einer Hundepeitsche. Als sie am Portal anlangten, fanden sie den alten, mit seiner Hellebarde bewaffneten Diener vor und Angélique an seiner Seite. Der Gegner war nicht allzu weit entfernt. Er stand außer Reichweite auf der anderen Seite der Zugbrücke, fürs erste abgewehrt, aber noch nicht in die Flucht geschlagen. Er war ein großer, ausgehungert wirkender Bursche, der recht wütend zu sein schien. Doch zu gleicher Zeit bemühte er sich um eine gemessene und dienstliche Haltung.

Sofort ließ Gontran die Peitsche sinken, zog seinen Großvater zurück und flüsterte ihm zu: »Es ist der Steuereintreiber. Man hat ihn schon ein paarmal fortgejagt ...«

Der so übel empfangene Beamte setzte zwar seinen Rückzug langsam fort, faßte aber angesichts des Zögerns der neu aufgetauchten Verstärkung frischen Mut. In respektvoller Entfernung blieb er schließlich stehen, zog eine vom Handgemenge ziemlich mitgenommene Schriftrolle aus der Tasche und rollte sie seufzend und liebevoll auf. Worauf er ein Mahnschreiben vorzulesen begann, demzufolge der Baron de Sancé unverzüglich eine Summe von 875 Livres, 19 Sols und 11 Deniers zu entrichten habe, nämlich rückständige Steuern für die Pachtbauern, den Zehnten der Einkünfte des Grundherrn, Gebühren für das Beschälen der Stuten, die »Staubabgabe« für die Benutzung der königlichen Landstraßen durch Viehherden und Buße wegen verspäteter Zahlung.

Der alte Baron wurde rot vor Zorn. »Du bildest dir wohl ein, du Laffe, ein Edelmann habe diesem Nimmersatt von Fiskus etwas zu zahlen wie ein gewöhnlicher Bürgerlicher!« schrie er wütend.

»Ihr wißt sehr wohl, daß Euer Herr Sohn bisher die jährlichen Abgaben einigermaßen regelmäßig geleistet hat«, sagte der Mann, wobei er seine Reverenz machte. »Ich werde daher wiederkommen, wenn er zugegen ist. Doch ich warne Euch: Wenn er morgen zu gleicher Stunde zum viertenmal nicht da ist und nicht bezahlt, so pfände ich ihn, und man wird Euer Schloß und all Eure Möbel verkaufen.«

»Scher dich fort, du Lakai der Staatswucherer!«

»Herr Baron, ich mache Euch darauf aufmerksam,

daß ich ein vereidigter Diener des Gesetzes bin und auch zum Vollstreckungsbeamten bestimmt werden kann.«

»Zur Vollstreckung bedarf es eines Urteils!« donnerte der alte Junker.

»Euer Urteil werdet Ihr unfehlbar bekommen, glaubt es mir, falls Ihr nicht bezahlt .«

»Wie sollen wir denn zahlen, wenn wir nichts haben!« rief Gontran, da er merkte, daß der Greis ängstlich wurde. »Ihr seid ja Gerichtsvollzieher - kommt nur herein, dann werdet Ihr sehen, daß die Schnapp-hähne abermals einen Hengst, zwei Eselinnen und vier Kühe geraubt haben und daß der größte Teil der Summe, die Ihr für fällig erklärt, aus den Abgaben der Pächter meines Vaters besteht. Er war bisher bereit, für sie zu zahlen, weil diese armen Bauern es nicht konnten, aber er ist nicht dazu verpflichtet. Im übrigen haben unsere Bauern beim letzten Überfall im Verhältnis noch mehr gelitten als wir, und begreiflicherweise kann mein Vater nach dieser Plünderung Eure Forderung nicht begleichen .«

Der Beamte ließ sich durch vernünftige Worte eher besänftigen als durch die Beleidigungen des alten Edelmanns. Während er mißtrauische Blicke auf Wilhelm warf, näherte er sich ein wenig und erklärte in sanfterem und fast mitleidigem, aber bestimmtem Ton, er könne nur die von der Fiskal Verwaltung empfangenen Anweisungen übermitteln. Die einzige Möglichkeit, die Pfändung hinauszuzögern, sei nach seiner Ansicht, daß der Baron ein Gesuch an den Provinzialintendanten nach Poitiers richte.

»Unter uns«, fügte der Gerichtsbeamte hinzu - ein Ausdruck, der dem alten Baron eine Grimasse des Ekels entlockte -, »unter uns möchte ich Euch sagen, daß meine direkten Vorgesetzten nicht befugt sind, Euch Nachlaß oder Befreiung zu gewähren. Da Ihr aber dem Adelsstand angehört, werdet Ihr sicherlich sehr hochgestellte Persönlichkeiten kennen. Drum nehmt meinen freundschaftlichen Rat an und handelt entsprechend!«

»Es liegt mir nicht im Sinn, Euch als meinen Freund zu bezeichnen!« bemerkte Baron de Ridouët scharf.

»Ich habe das gesagt, damit Ihr es Euerm Herrn Sohn wiederholt. Alle Welt lebt ja im Elend! Glaubt Ihr, es macht mir Vergnügen, auf jedermann wie ein Schreckgespenst zu wirken und überall mehr Fußtritte einzuheimsen als ein räudiger Hund? Damit Gott befohlen und nichts für ungut!«

Er setzte seinen Hut wieder auf und ging humpelnd davon, wobei er bekümmert den beim Geraufe zerrissenen Ärmel seines Uniformrocks untersuchte.

In entgegengesetzter Richtung entfernte sich, ebenfalls humpelnd, der alte Baron. Ihm folgten wortlos Gontran und Angélique.

In den Salon zurückgekehrt, begann der Großvater auf und ab zu gehen, und die Kinder wagten lange nicht zu reden. Endlich erklang die Stimme des Mädchens im abendlichen Dämmerlicht.

»Sag, Großvater, wenn die Räuber uns unsern ehrlichen Namen gelassen haben, hat ihn jetzt eben dieser schwarze Kerl nicht mit sich fortgenommen?«

»Geh zu deiner Mutter«, sagte der Greis, dessen Stimme plötzlich bebte. Er ließ sich unbeholfen in seinen abgeschabten Ohrenstuhl nieder und sprach kein Wort mehr.

Als Armand de Sancé von dem Empfang erfuhr, den man dem Steuereintreiber bereitet hatte, seufzte er und strich sich lange über das kleine graue Bärtchen, das er nach Art Ludwigs XIII. unter der Lippe trug.

Um seine vielköpfige Brut großzuziehen, hatte dieser Sohn eines mittellosen Aristokraten auf alle Vergnügungen seines Standes verzichten müssen. Er reiste selten, jagte nicht einmal mehr, im Gegensatz zu den Landjunkern in der Nachbarschaft, die kaum wohlhabender waren als er, sich aber über ihre mißliche Lage hinwegtrösteten, indem sie Hasen und Wildschweine hetzten.

All seine Zeit widmete Armand de Sancé der Pflege seiner kleinen Landwirtschaft. Er war kaum besser gekleidet als seine Bauern, und gleich ihnen haftete ihm ein kräftiger Geruch nach Dünger und Pferden an. Er liebte seine Kinder. Und danach seine Maulesel. Eine Zeitlang hatte der Edelmann davon geträumt, ein kleines Gestüt dieser Lasttiere einzurichten, die weniger empfindlich als Pferde und ausdauernder als Esel sind.

Aber nun hatten ihm die Schnapphähne seinen besten Hengst und zwei Eselinnen weggenommen. Das war ein Unglück, und er dachte hin und wie-der daran, seine letzten Maulesel und die Parzellen zu verkaufen, die bisher für ihre Aufzucht bestimmt gewesen waren.

Am Tage nach dem Besuch des Beamten schnitt Baron Armand sorgfältig einen Gänsekiel zurecht und ließ sich vor seinem Schreibtisch nieder, um ein Gesuch an den König abzufassen, durch das er von seinen jährlichen Steuern befreit zu werden hoffte.

In diesem Brief legte er seine Verhältnisse dar. Zunächst entschuldigte er sich, nur neun lebende Kinder anführen zu können, doch würden weitere gewiß noch zur Welt kommen, denn »seine Frau und er seien noch jung und zeugten sie gerne«.

Er fügte hinzu, er habe einen gebrechlichen und rentelosen Vater zu erhalten, der unter Ludwig XIII. bis zum Obersten aufgerückt sei. Er selbst sei Hauptmann und zur Beförderung vorgeschlagen gewesen, habe jedoch den Dienst des Königs verlassen müssen, weil sein Sold als Offizier der Königlichen Artillerie, siebzehnhundert Livres im Jahr, »ihm nicht die Möglichkeit verschafft habe, sich im Dienst zu erhalten«. Er erwähnte außerdem, daß zwei alte Tanten ihm zur Last fielen, »die mangels Mitgift weder einen Mann noch ein Kloster gefunden hätten und notgedrungen, schlichte Verrichtungen leistend, dahinwelkten«. Daß er vier Dienstboten habe, darunter einen alten, ausgedienten Soldaten ohne Pension, den er zu seiner Bedienung brauche. Zwei seiner älteren Söhne seien im Kollegium und beanspruchten daher fünfhundert Livres allein für ihre Erziehung.

Eine Tochter solle ins Kloster eintreten, aber dafür seien wiederum dreihundert Livres erforderlich. Er schloß mit der Feststellung, er bezahle seit Jahren die Steuern seiner Pachtbauern, damit sie auf ihrem Boden bleiben könnten, und dennoch sei er dem Fiskus gegenüber verschuldet, der 875 Livres, 19 Sols und 11 Deniers allein für das laufende Jahr fordere. Nun, seine Gesamteinkünfte beliefen sich jährlich auf knapp viertausend Livres, und damit müsse er neunzehn Personen ernähren und standesgemäß leben. Am Ende erbat er von der königlichen Huld den allergnädigsten Erlaß der geforderten Steuern, eine Beihilfe oder ein Darlehen von wenigstens tausend Livres, und überdies ersuchte er, man möge, falls man für Amerika oder Indien Truppen werbe, als Fähnrich seinen ältesten Sohn berücksichtigen, der in der obersten Klasse bei den Patres sei, denen er jedoch bereits das Kostgeld für das zurückliegende Jahr schulde.

Er fügte hinzu, er seinerseits sei stets bereit, jeden beliebigen Posten zu übernehmen, der sich mit dem Adelsstand vereinbaren lasse, sofern er alle seine Leute ernähren könne, was ja sein Landbesitz, selbst wenn er ihn verkaufen würde, nicht mehr erlaube ...

Nachdem er diese lange Bittschrift, die ihn mehrere Stunden Arbeit kostete, mit Sand gelöscht hatte, schrieb Armand de Sancé noch ein paar Worte an seinen Gönner und Vetter, den Marquis du Plessis de Bellière, den er beauftragte, diese Bittschrift mit einigen Empfehlungen dem König selbst oder der Königin-Mutter zu übergeben.

Er schloß in höflichstem Tone: »Ich hoffe, Euch bald wiederzusehen und Gelegenheit zu finden, Euch gefällig zu sein, sei es mit Maultieren, deren ich sehr schöne habe, sei es mit Kastanien, Käse und Quark für Euren Tisch.«

Ein paar Wochen später hätte der arme Baron Armand de Sancé eine neue Verdrießlichkeit auf seine Liste setzen können. Eines Abends nämlich, als der erste Schnee sich ankündigte, vernahm er den Hufschlag eines Pferdes auf dem Weg, dann auf der alten Zugbrücke.

Die Hunde bellten im Hof. Angélique, die Tante Pulchérie mit einer Nadelarbeit in ihrem Zimmer festzuhalten vermocht hatte, stürzte ans Fenster. Sie erblickte ein Pferd, von dem zwei lange, magere, schwarzgekleidete Reiter abstiegen, während ein mit Koffern beladenes Maultier, von einem Bauernjungen geführt, auf dem Pfad erschien.

»Tante! Hortense!« rief sie. »Schaut doch nur. Ich glaube, es sind unsere Brüder Josselin und Raymond.«

Die beiden Mädchen und die alte Dame stiegen eilends die Treppe hinunter und erreichten den Salon, als die Schüler eben ihren Großvater und Tante Jeanne begrüßten. Die Dienstboten liefen aus allen Richtungen herbei. Einige waren unterwegs, um den Baron auf den Feldern und die Baronin im Gemüsegarten zu suchen.

Die Jünglinge reagierten recht mißmutig auf diesen Empfangstrubel. Sie waren fünfzehn und sechzehn Jahre alt, aber man hielt sie häufig für Zwillinge, denn sie waren von gleicher Größe und ähnelten einander. Beide hatten die gleiche blasse Gesichtsfarbe, graue Augen und schwarzes, struppiges Haar, das über die einst weißen, nun zerknitterten und schmutzigen Kragen ihrer Schülertracht hing. Nur ihr Ausdruck war verschieden. Josselins Züge ließen auf Brutalität, die Raymonds auf Zurückhaltung schließen.

Während sie einsilbig die Fragen ihres Großvaters beantworteten, legte die höchst beglückte Amme ein schönes Tischtuch auf und brachte Pasteten, Brot, Butter und eine Schüssel mit den ersten Kastanien. Die Augen der Jünglinge leuchteten. Unverweilt setzten sie sich zu Tisch und aßen mit einer Gier, die Angélique in Staunen versetzte.

Sie stellte freilich fest, daß sie mager und blaß und daß ihre Anzüge aus schwarzem Serge an den Ellbogen und Knien reichlich fadenscheinig waren.

Sie sprachen mit gesenkten Augen. Keiner von beiden schien sie wiedererkannt zu haben, und gleichwohl erinnerte sie sich, daß sie früher mit Josselin Vogelnester ausheben gegangen war, so wie sie es jetzt mit Denis tat.

Raymond trug am Gürtel ein ausgehöhltes Horn. Sie fragte ihn, was das sei.

»Da kommt die Tinte hinein«, gab er in schroffem Ton zur Antwort.

»Ich habe meines weggeworfen«, sagte Josselin.

Vater und Mutter erschienen mit den Leuchtern.

Der Baron war trotz aller Freude ein wenig beunruhigt.

»Wie kommt es, daß ihr da seid, meine Söhne?« erkundigte er sich. »Ihr seid zwar im Sommer nicht erschienen, aber ist der Winteranfang nicht eine ungewöhnliche Ferienzeit?«

»Wir sind im Sommer nicht gekommen«, erklärte Raymond, »weil wir keinen Sol hatten, um ein Pferd zu mieten, ja nicht einmal, um die Postkutsche zu nehmen, die von Poitiers nach Niort fährt.«

»Und wenn wir jetzt hier sind, so nicht deshalb, weil wir mehr Geld haben .«, fuhr Josselin fort.

»Sondern weil die Patres uns hinausgeworfen haben«, schloß Raymond.

Im Salon herrschte betretenes Schweigen.

»Heiliger Dionysius«, rief der Großvater aus, »was für eine Dummheit habt ihr begangen, ihr Herren, daß man euch einen solchen Schimpf angetan hat?«

»Keine, aber seit nahezu zwei Jahren haben die Augustiner kein Pensionsgeld für uns bekommen, und sie gaben uns zu verstehen, andere Schüler, deren Eltern freigebiger seien, brauchten unsere Plätze .«

Baron Armand begann auf und ab zu gehen, was bei ihm immer ein Zeichen starker Erregung war.

»Das ist ja gar nicht möglich«, sagte er. »Wenn ihr euch nichts zuschulden kommen ließt, können euch die Patres nicht mir nichts, dir nichts vor die Tür setzen. Ihr seid Edelleute! Das wissen die Patres doch.« Das Gesicht Josselins, des Älteren, bekam einen hämischen Ausdruck: »Jawohl, das wissen sie ganz genau, und ich kann Euch sogar die Worte des Ökonomen wiederholen, die er uns als Wegzehrung mitgab. Er hat gesagt, die Adligen seien die schlechtesten Zahler, und wenn sie kein Geld hätten, so sollten sie eben auf das Latein und die Wissenschaften verzichten.«

Der alte Baron richtete mühsam seinen gebrechlichen Oberkörper auf.

»Es fällt mir schwer zu glauben, daß ihr die Wahrheit sprecht«, sagte er. »Denkt doch daran, daß Kirche und Adel eine Einheit sind und daß die Schüler die künftige Blüte des Staats darstellen. Die guten Patres wissen das besser als jeder andere!«

Der zweite Junge, Raymond, der Priester zu werden gedachte, erwiderte mit halsstarrig auf den Boden gerichtetem Blick: »Bei den Patres hat man uns gelehrt, daß Gott die Seinen zu erwählen weiß, und vielleicht hat er uns nicht für würdig befunden ...«

»Klapp deine Possensammlung zu, Raymond«, sagte sein Bruder. »Das ist wahrhaftig nicht der Augenblick, sie aufzuschlagen. Wenn du ein Bettelmönchlein werden willst - bitte! Ich aber, ich bin der Älteste und teile Großvaters Ansicht: Die Kirche schuldet uns Achtung, uns Adligen! Wenn sie uns indessen Söhne von Bürgern und Krämern vorzieht - soll sie doch! Sie gräbt sich ihr eigenes Grab und wird zugrunde gehen!«

Die beiden Barone fuhren zu gleicher Zeit hoch.

»Josselin, du hast kein Recht, so zu lästern!«

»Ich lästere nicht. Ich stelle nur fest. In meiner Klasse, in der ich der Jüngste und der zweite von dreißig Schülern bin, sind genau fünfundzwanzig Söhne von Bürgern und Beamten, die bis auf Heller und Pfennig bezahlen, und fünf Adlige, von denen nur zwei regulär bezahlen .«

Armand de Sancé wollte sich an diesen letzten Rest von Prestige klammern: »Man hat also zwei weitere Söhne von Adligen zusammen mit euch entlassen?«

»Keineswegs: Die Eltern derer, die nicht zahlen, sind hochgestellte Leute, vor denen die Patres Angst haben.«

»Ich verbiete dir, in dieser Weise über deine Erzieher zu reden«, sagte Baron Armand, während sein alter Vater wie im Selbstgespräch vor sich hin murmelte: »Gottlob ist der König tot und sieht solche Dinge nicht mehr!«

»Ja, gottlob, Großvater, wie Ihr sagt«, pflichtete Josselin höhnisch lächelnd bei. »Und es war ein tüchtiger Mönch, der Heinrich IV. ermordete.«

»Schweig still, Josselin«, ließ sich plötzlich Angélique vernehmen. »Das Reden ist nicht deine starke Seite, und wenn du sprichst, siehst du wie eine Kröte aus.«

Der Jüngling fuhr auf und betrachtete überrascht das kleine Mädchen, das ihn da so ruhig zurechtwies.

»Sieh da, das bist du ja, Frosch, Moorprinzessin! Und ich habe ganz vergessen, dich zu begrüßen, Schwesterchen.«

»Weshalb nennst du mich Frosch?«

»Weil du mich Kröte genannt hast. Und dann - verkriechst du dich nicht immer ins Gras und ins Moorschilf? Ob du wohl ebenso klug und schnippisch geworden bist wie Hortense?«

»Ich hoffe nicht«, sagte Angélique bescheiden.

Ihre Einmischung hatte die Atmosphäre entspannt. Im übrigen waren die beiden Brüder gesättigt, und die Amme räumte bereits ab.

Trotzdem blieb die Stimmung im Salon ziemlich drückend, und jedermann suchte ratlos nach einer Lösung für diesen neuerlichen Schicksalsschlag.

In die entstandene Stille drang das Heulen des jüngsten Kindes. Die Mutter, die Tanten und sogar Gontran nützten es als Vorwand, um »nachzuschauen«. Doch Angélique blieb bei den beiden Baronen und den in so bejammernswerter Ausstaffierung aus der Stadt zurückgekehrten Brüdern.

Der alte Lützen, der im Augenblick der Ankunft der Jungen nicht zur Stelle gewesen war, brachte zu Ehren der Reisenden neue Leuchter. Er vertropfte ein wenig Wachs, als er ungeschickt den Älteren umarmte. Der Jüngere wich der plumpen Begrüßung mit verächtlicher Miene aus.

Doch ungeniert tat der alte Soldat seine Meinung kund: »Es ist ja wohl an der Zeit, daß ihr heimkommt! Was taugt das überhaupt, daß ihr Latein studiert, wo ihr kaum eure eigene Sprache zu schreiben vermögt? Als die Fantine mir sagte, daß die jungen Herren für immer zurück sind, da hab’ ich bei mir gedacht, jetzt kann der Herr Josselin endlich zur See gehen .«

»Sergeant Lützen, muß ich dich an die alte Manneszucht erinnern?« bemerkte der alte Baron trocken.

Der einstige Landsknecht fügte sich und schwieg. Angélique war verwundert über den barschen und erregten Ton ihres Großvaters, der sich jetzt dem älteren Jungen zuwandte.

»Ich hoffe, Josselin, du hast deine Pläne aus der Kinderzeit vergessen: Seemann zu werden?«

»Und warum sollte ich, Großvater? Es scheint mir sogar, daß es für mich jetzt keine andere Lösung gibt!«

»Solange ich lebe, wirst du nicht zu den Matrosen gehen. Alles, nur das nicht!« Und der Greis stieß seinen Stock auf den brüchigen Fußboden.

Josselin schien niedergeschlagen über die plötzliche Starrköpfigkeit seines Großvaters bezüglich eines Plans, der ihm am Herzen lag und der es ihm ermöglicht hatte, bisher ohne allzu großen Groll die Unbill der Schulverweisung zu ertragen. »Aus ist’s mit den Paternostern und den Lateinaufgaben«, hatte er gedacht. »Jetzt bin ich ein Mann, und ich werde auf ein Kriegsschiff des Königs gehen.«

Armand de Sancé versuchte zu vermitteln.

»Nun, Vater, weshalb dieser Starrsinn? Das mag keine schlechtere Lösung sein als irgendeine andere. Ich will Euch im übrigen gestehen, daß ich in dem kürzlich an den König gesandten Gesuch unter anderem auch darum gebeten habe, meinen ältesten Sohn bei einem Handels- oder Kriegsschiff aufzunehmen.«

Doch der alte Baron konnte sich nicht beruhigen. Nie hatte Angélique ihn so wütend gesehen, nicht einmal an dem Tage, da er die Auseinandersetzung mit dem Steuereinnehmer gehabt hatte.

»Der älteste Sohn eines Edelmannes hat in der Armee des Königs zu dienen, und damit basta.«

»Ich w ill ja gar nichts anderes als ihm dienen, aber auf dem Meer«, erwiderte der Junge.

»Josselin ist sechzehn Jahre alt. Da ist es schließlich an der Zeit, daß er seinen Weg wählt«, meinte sein Vater zögernd.

Ein schmerzlicher Ausdruck glitt über das zerfurchte Antlitz, das der kurze weiße Bart umrahmte. Der Greis hob die Hand.

»Es ist wahr, daß in der Familie andere vor ihm ihr eigenes Geschick gewählt haben. Müßt auch Ihr mich enttäuschen, mein Sohn?« sagte er in tiefbetrübtem Ton.

»Die Absicht liegt mir fern, Euch unerfreuliche Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, Vater«, entschuldigte sich Baron Armand. »Ich selbst habe nie daran gedacht, in die Fremde zu gehen, und bin mehr mit dieser unserer Erde verwurzelt, als ich zu sagen vermag. Aber ich erinnere mich, wie hart und schwierig meine Situation in der Armee war. Auch als Adliger kann man ohne Geld nicht in die höheren Ränge aufsteigen. Ich war bis über die Ohren verschuldet und zuweilen gezwungen, meine gesamte Ausrüstung zu verkaufen: Pferd, Zelt, Waffen, ja ich mußte sogar meinen eigenen Burschen vermieten. Erinnert Ihr Euch all der guten Ländereien, die Ihr verkaufen mußtet, damit ich im Dienst bleiben konnte?«

Angélique verfolgte die Unterhaltung mit gespann-ter Aufmerksamkeit. Sie hatte nie Seeleute gesehen, aber sie entstammte einem Lande, durch dessen Flußtäler die Rufe des Ozeans klingen. Sie wußte, daß es an der Küste von La Rochelle bis Nantes Fischerboote gab, die nach fernen Ländern fuhren, in denen man Menschen begegnete, die rot waren wie das Feuer oder gestreift wie Frischlinge. Man erzählte sich sogar, ein bretonischer Matrose aus der Gegend von Saint-Malo habe Wilde nach Frankreich mitgebracht, denen wie den Vögeln Federn auf den Köpfen wuchsen.

Ach, wäre sie ein Mann, dann würde sie sich nicht um die Ansicht ihres Großvaters kümmern! ... Sie grollte Josselin, nicht nur weil er so finster und verdrossen war, sondern auch weil er sich wie ein dummer kleiner Junge abkanzeln ließ.

Madame de Sancé hatte einen großen Strohhut auf ihr Kopftuch gesetzt und war eben im Begriff, sich in den Gemüsegarten zu begeben, als ein Heidenspektakel sie veranlaßte, in den Speisesaal des Schlosses zu gehen. Hier fand sie Gontran vor, der sich mit einem schmutzigen Bauernjungen raufte. Angélique spielte dabei den Schiedsrichter.

Da die Schulverweisung ihrer beiden ältesten Söhne auf ihrem Herzen lastete, wurde die arme Dame sehr böse.

»Wie oft muß man dir noch sagen, Gontran, daß diese kleinen Bauernlümmel kein Umgang für dich sind - und ebensowenig für Angélique. Hinaus mit dir, du Bengel!«

Der Junge warf einen hämischen Blick auf die Schloßherrin, die ein geflicktes Kleid von undefinierbarer Farbe und in ihren ausgetretenen Schuhen keine Strümpfe trug. Dann kratzte er gemächlich seinen grindigen Kopf.

»Nicht bevor ich den Herrn Baron gesprochen habe«, erklärte er. »Der Herr Verwalter vom Schloß schickt mich. Er sagt, es sei eilig. Da ist sein Zettel.«

Er nahm aus seiner Faust ein Kügelchen, das offensichtlich ein einfaches, viermal gefaltetes Blatt Papier gewesen war, ohne Umschlag und ohne Wachssiegel. Der Verwalter des benachbarten Schlosses, der Sieur Molines, bat darin den Herrn Baron de Sancé, sobald es anginge, in seine Wohnung zu kommen, da er gerne mit ihm eine ihn interessierende und betreffende Angelegenheit besprechen würde .

Die Baronin zerknitterte nervös das Papier, dann versuchte sie es von neuem zu glätten.

»Bring diesen Brief dem Herrn Baron«, sagte sie zu dem Jungen. »Er muß auf der Maultierkoppel hinter dem Hause sein. Und halte dich unterwegs nicht mehr auf.«

Als der Kleine gegangen war, nahm Madame de Sancé, die ihre Erbitterung nur mühsam beherrschen konnte, ihre Kinder zu Zeugen.

»Ist das nicht eine furchtbare Zeit, in der wir leben? Da muß man sich’s gefallen lassen, daß ein bürgerlicher Nachbar, ein hugenottischer Verwalter, dieser gewöhnliche Molines, sich herausnimmt, eu-ern Vater ganz einfach vorzuladen, ihn, der ein echter Abkömmling Heinrichs II. ist. Ich höre schon, wie der gute Armand mir sagen wird, daß >diese Besuche mit Geschäften zu tun haben, die die Frauen nichts angehen<, aber ich möchte wissen, was für ehrliche Geschäfte ein Edelmann mit dem Verwalter des nachbarlichen Schlosses betreiben kann. Es muß sich wohl wieder einmal um Maultiere handeln! . Ich würde es noch verstehen, wenn es um Pferdezucht ginge. Meine Familie ist immer großzügig gewesen, und wir haben uns nie unserer Abstammung vom seligen Claude Gouffrier geschämt, dem Oberstallmeister König Heinrichs II. Aber Maultiere und Esel! Ich frage mich wirklich, ob es nicht besser für uns wäre, wenn euer Vater den König bitten würde, wieder in den Dienst aufgenommen zu werden. Wenn man dem Hof näher rückt, kann man in den Genuß der Großmut des Königs gelangen. Das wäre besser, als sich darauf zu versteifen, ein Landgut mit unmöglichen Bauern, Faulenzern und Dieben zu bestellen, die einen mit unvorstellbarer Dreistigkeit behandeln. Diesmal bin ich fest entschlossen, mit Armand darüber zu reden. Er nimmt uns vor diesen Strolchen nicht genügend in Schutz.«

Angélique und Gontran lauschten ihrer Mutter mit einiger Verwunderung. Sie waren es nicht gewohnt, sie so lange und vor allem in so empörten Worten reden zu hören. Im allgemeinen war sie sanft, wenn auch kühl, von lässiger und resignierter Natur. Doch die Schmach, die man ihren beiden ältesten Söhnen angetan hatte, auf die sie sehr stolz war, hatte sie außer Fassung gebracht und verschärfte die Gefühle unbestimmten Grolls, die sich im Lauf zahlloser Jahre des Kummers und der Schwierigkeiten in ihr angestaut hatten.

Madame de Sancé hielt jäh inne, als sie sich bewußt wurde, daß sie in Gegenwart ihres Sohns und ihrer Tochter weitergeredet hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Gontran und Angélique vermieden verlegen ihren Blick. Obwohl als Wildlinge aufgewachsen, scheuten sich alle Sancé-Kinder vor Gefühlsäußerungen, und diese unvermittelte Anklagerede ihrer stets heiteren, wenn auch gelegentlich seufzenden Mutter war ihnen peinlich.

Überdies warf sich Madame de Sancé bereits vor, daß sie sich hatte gehen lassen, und versuchte abzulenken:

»Was macht ihr hier, Kinder? Draußen scheint noch die Sonne. Ihr tätet besser, auf die Felder zu laufen .«

Gontran sagte ärgerlich: »Mutter, vor fünf Minuten habt Ihr uns vorgeworfen, daß wir uns wie Bauernlümmel benehmen, und jetzt sollen wir mit den Hirtenjungen herumtollen.«

»Das ist mir immer noch lieber, als daß ihr untätig im Haus herumlungert oder euch in euern Speicher einschließt und ich weiß nicht was treibt. Das Alleinsein tut nicht gut in euerm Alter.«

»Ich male und schnitze«, sagte Gontran mit einem gewissen Stolz.

Seine Augen leuchteten auf. »Wollt Ihr, daß ich Euch einige meiner Arbeiten zeige, Mutter?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, lief er zu einer Truhe und kramte ein Stück Holz und ein Blatt Papier hervor. Es war das erstemal, daß er sich erbot, der Familie seine Arbeiten vorzulegen. Aber die Worte seiner Mutter hatten ihn bewegt, ohne daß er es sich eingestand, und er empfand das Bedürfnis, sie auf andere Gedanken zu bringen.

»Seht, dies ist der Kopf des alten Wilhelm.«

Als gute Familienmutter, die sie war, beugte sich die Baronin mit noch tränenverschleierten Augen über die mit dem Messer bearbeitete Birnbaumwurzel, die ihr Sohn ihr reichte. Sie fühlte, daß die Situation ihr über den Kopf wuchs. Was sollte man mit all diesen ungeduldigen, rebellischen Sprößlingen machen, die zu allem Überfluß sich auch noch herausnahmen, eigene Ideen über ihre Zukunft zu haben?

Der Kopf des alten Wilhelm war gewiß sprechend ähnlich, aber weshalb wollte Gontran deswegen gleich Bildhauer und Maler werden? War das denn überhaupt ein Beruf? Wohl wußte Madame de Sancé, daß berühmte Künstler am Hofe lebten oder in Rom, beispielsweise. Doch sie stellte sie im Geist auf eine Ebene mit Leuten vom Theater oder den Gauklern. Jedenfalls war das kein achtbarer Beruf. Sie kannte keine Edelleute, die Maler waren. »Und hier das Porträt von Angélique«, sagte der Junge, indem er das Blatt hinhielt.

Die mehrfarbig ausgeführte Zeichnung stellte eine Art Seeräuberin dar, die inmitten grimassierender, bärtiger Gesichter mit der Muskete schoß.

»Wie kannst du behaupten, dies stelle deine Schwester dar«, rief die bedauernswerte Mutter aus. »Angé-lique ist doch hübsch! Es ist durchaus möglich, daß sie eine gute Partie macht oder, wenn Gott will, in einen vornehmen Orden eintritt.«

»Und wenn Gott will, daß sie Anführerin einer Räuberbande wird?«

»Gontran, du lästerst! Manchmal frage ich mich, ob du deiner Sinne mächtig bist. Angélique, du erhebst nicht einmal Einspruch gegen das, was dein Bruder sagt?«

Doch Angélique lächelte gleichgültig. Sie preßte die Nase ans Fenster und spähte nach ihrem Vater aus. Sobald sie ihn auf dem schlammigen Weg daherkommen sah, auf den Stock mit dem silbernen Knauf gestützt, der sein einziger Luxus war, schlüpfte sie in die Küche und zog ihre Schuhe und ihren Mantel an. Dann lief sie zu ihrem Vater in den Stall, wo der Baron eben sein Pferd satteln ließ.

»Darf ich Euch begleiten, Vater?« fragte sie mit ihrer liebreizendsten Miene. Es lag ein wenig Absicht darin, aber sie war dem guten und stillen Mann, dessen tägliche Sorgen die sonnengebräunte Stirn mit tiefen Falten gezeichnet hatten, auch wirklich von Herzen zugetan.

Er konnte nicht widerstehen und setzte sie vor sich auf den Sattel. Angélique war seine Lieblingstochter. Er fand sie ausnehmend hübsch und träumte bisweilen davon, sie werde einen Herzog heiraten.

Es war ein klarer Herbsttag, und der seiner Blätter noch nicht beraubte nahe Wald breitete gegen den blauen Himmel sein rostfarbenes Laub aus.

Als sie am Parktor von Schloß Plessis-Bellière vorbeiritten, beugte sich Angélique gespannt vor und versuchte, am Ende der Kastanienallee die weiße Vision des bezaubernden Gebäudes zu entdecken, das sich in seinem Teich wie eine Traumwolke spiegelte. Alles war still, und der prachtvolle Bau im Renaissancestil, den seine Besitzer im Stich ließen, um am Hof zu leben, schien im Mysterium seines Parks und seiner Gärten zu schlafen. Die Hirschkühe des Forsts von Nieul, an den der Besitz grenzte, ergingen sich in den verödeten Alleen ...

Die Wohnung des Verwalters Molines befand sich zwei Kilometer weiter an einem der Parkeingänge. Es war ein hübsches Häuschen aus rotem Backstein mit schiefergedecktem Dachstock, das in seiner bürgerlichen Einfachheit wie der umsichtige Wächter jenes zierlichen Bauwerks wirkte, dessen italienische Grazie die an die mittelalterlichen Schlösser gewöhnten Leute der Umgegend noch immer verwunderte.

Der Verwalter war ganz das Abbild seines Hauses. Streng und würdevoll, seiner Rechte und seiner Rolle bewußt, wirkte er, als sei er der Herr dieses riesigen Besitzes, dessen Eigentümer dauernd abwesend war. Alle zwei Jahre vielleicht, im Herbst zur Jagd oder im Frühling, um Maiglöckchen zu pflücken, ließ sich ein Schwarm von Herren und Damen mit Wagen, Pferden, Hetzhunden und Musikanten in Plessis nieder, und ein paar Tage lang folgte ein Fest dem andern, zum gelinden Schrecken der Krautjunker der Nachbarschaft, die man nur einlud, um sich über sie lustig zu machen. Dann kehrte die ganze Gesellschaft nach Paris zurück, und das Schloß versank wieder in Schweigen.

Vom Geräusch der Pferdehufe angelockt, trat Molines in den Hof seines Hauses und verbeugte sich mehrmals, was ihn keine Überwindung kostete, da es zu seinem Amt gehörte. Baron Armand war offensichtlich angenehm davon berührt, aber Angélique, die wußte, wie hart und arrogant der Mann sein konnte, machte sich nichts aus so übertriebener Höflichkeit.

Wenn sie Molines auch unangenehm fand, brachte sie ihm doch eine gewisse Achtung entgegen, vermutlich des gepflegten Aussehens seiner Person und seines Hauses wegen. Seine stets dunkle Kleidung war aus gutem Stoff angefertigt und schien verschenkt oder eher verkauft zu werden, bevor sie auch nur die geringsten Spuren von Abnutzung aufwies. Er trug nach der neuen Mode Schnallenschuhe mit sehr hohen Absätzen.

Überdies aß man vortrefflich bei ihm. Angéliques Näschen schnupperte, als sie den mit Fliesen ausgelegten und vor Sauberkeit strahlenden Raum betraten, der an die Küche grenzte. Madame Molines versank bei ihrem tiefen Knicks fast in ihren Röcken und kehrte danach zu ihren Kuchen zurück.

Der Verwalter führte seine Gäste in ein kleines Arbeitszimmer, in das er frisches Wasser und eine Flasche Wein bringen ließ.

»Ich bin überaus beglückt, Herr Baron«, begann er, »daß Ihr persönlich meiner Aufforderung Folge geleistet habt. Für mich ist das ein Zeichen, daß wir uns über die Angelegenheit, an die ich denke, einigen werden.«

»Ihr unterwerft mich also einer Art Prüfung?« fragte Armand.

»Nichts für ungut, Herr Baron. Ich bin kein Mann von großer Bildung und habe nur einen bescheidenen Dorfschulunterricht genossen. Aber ich will Euch gestehen, daß mir der Dünkel gewisser Edelleute nie als ein Beweis von Intelligenz erschienen ist. Nun, man bedarf ihrer, wenn man über Geschäfte spricht, und seien diese noch so bescheiden.«

Der Landedelmann lehnte sich in seinen Polstersessel zurück und betrachtete den Verwalter gespannt. Er hatte ein wenig Angst vor dem, was dieser Nachbar, dessen Ruf nicht der beste war, ihm darlegen würde.

Molines galt für sehr reich. Anfangs war er mit den Bauern hart umgegangen, aber in den letzten Jahren hatte er sich bemüht, freundlicher zu sein, selbst den Ärmsten gegenüber. Über die Gründe dieses Umschwungs wußte man nicht viel zu sagen. Die Bauern mißtrauten ihm, doch da Molines jetzt hinsichtlich der Abgaben, die dem König und dem Marquis zustanden, mit sich reden ließ, behandelte man ihn mit Respekt.

Die Böswilligen unterstellten ihm, er handle so, um seinen ewig abwesenden Herrn in Schulden zu verstricken. Was die Marquise und Philippe, den Sohn, anbetraf, so interessierten sie sich nicht mehr für den Besitz als der Marquis selbst.

»Wenn es wahr ist, was man erzählt, habt Ihr alle Aussichten, den gesamten Besitz der du Plessis auf eigene Rechnung zu übernehmen«, sagte Armand de Sancé etwas grob.

»Pure Verleumdung, Herr Baron. Ich lege nicht nur Wert darauf, ein loyaler Diener des Herrn Marquis zu bleiben, sondern sehe auch keinerlei Vorteil in einem solchen Erwerb. Um Eure Bedenken zu zerstreuen, will ich Euch anvertrauen - obwohl ich damit kein Geheimnis verrate -, daß dieser Besitz mit Hypotheken überbelastet ist!«

»Kommt mir nicht mit dem Vorschlag, ihn zu kaufen. Ich habe nicht die Mittel .«

»Ein solcher Gedanke liegt mir fern, Herr Baron. Aber nehmt Ihr nicht noch ein Glas Wein?«

Angélique, die dieses Gespräch nicht interessierte, schlich hinaus und betrat die große Stube, in der Madame Molines damit beschäftigt war, den Teig für eine riesige Torte auszurollen. Sie lächelte dem Mädchen zu und reichte ihm eine Dose, der ein köstlicher Duft entströmte.

»Kommt, nehmt Euch davon, Herzchen. Das ist kandiertes Angelika oder Engelwurz, wie man auch sagt. Ihr tragt seinen Namen. Ich mache es selbst mit schönem, weißem Zucker. Es ist besser als das der Patres von der Abtei, die nur Kandiszucker verwenden.«

Während Angélique ihr zuhörte, biß sie mit Lust in die klebrigen grünen Stiele. Das also wurde nach dem Pflücken aus den großen, kräftigen Pflanzen der Moore, deren Duft im Naturzustand bitterer war.

Sie schaute sich bewundernd um. Die Möbel glänzten. In einer Ecke stand eine Uhr, jene Erfindung, die Großvater teuflisch nannte. Um sie genauer besehen und ihr Ticken vernehmen zu können, näherte sie sich dem Arbeitszimmer, in dem die beiden Herren sich unterhielten. Sie hörte ihren Vater sagen: »Heiliger Dionysius, Ihr macht mich ganz wirr, Molines. Man erzählt ja eine ganze Menge über Euch, aber im Grunde ist sich alle Welt einig, daß Ihr eine Persönlichkeit seid und einen bemerkenswerten Spürsinn habt. Nun, Eure eigenen Worte sagen mir freilich, daß Ihr in Wirklichkeit die schlimmsten Utopien hegt.«

»Was findet Ihr denn bei dem, was ich Euch dargelegt habe, so unvernünftig, Herr Baron?«

»Überlegt doch einmal. Ihr wißt, daß ich mich für Maulesel interessiere, daß ich durch Kreuzung eine recht schöne Rasse herausgezüchtet habe, und Ihr ermutigt mich, diese Zucht zu intensivieren, deren Produkte abzusetzen Ihr Euch anheischig macht. So weit gut. Ich vermag Euch aber nicht zu folgen, wenn Ihr von einem langfristigen Ausfuhrkontrakt nach - Spanien redet. Wir befinden uns im Krieg mit Spanien, mein Freund.«

»Der Krieg wird nicht ewig dauern, Herr Baron.«

»Wir hoffen es. Aber man kann auf solcherlei Hoffnung keinen soliden Handel gründen.«

Der Verwalter verzog sein Gesicht zu einem herablassenden Lächeln, das dem verarmten Edelmann entging. Dieser fuhr in heftigerem Tone fort:

»Wie wollt Ihr mit einer Nation Handel treiben, die uns bekriegt? Erstens einmal ist es verboten, und das ist recht so, denn Spanien ist der Feind. Überdies sind die Grenzen geschlossen und die Verbindungswege und Brücken überwacht. Allerdings will ich gerne zugeben, daß das Liefern von Mauleseln an einen Feind nicht so schlimm ist wie das Liefern von Waffen, zumal die Feindseligkeiten sich nicht mehr hier abspielen, sondern auf fremdem Boden. Schließlich habe ich zuwenig Tiere, als daß sich ein Handel irgendwelcher Art lohnen würde. Das würde mich viel Geld und Jahre der Vorbereitung kosten. Meine finanziellen Mittel erlauben mir ein solches Experiment nicht.« Sein Stolz verbot ihm hinzuzufügen, daß er sogar daran dachte, sein Gestüt aufzugeben.

»Herr Baron, wollt Ihr gütigst bedenken, daß Ihr bereits vier hervorragende Hengste besitzt und daß es Euch leichter fallen dürfte als mir, sich noch viele weitere bei den Edelleuten der Umgebung zu verschaffen. Was die Eselinnen betrifft, so findet man deren zu Hunderten für zehn oder zwanzig Livres das Stück. Durch weitere Trockenlegung der Moore lassen sich die Weiden verbessern, Eure Maultiere sind im übrigen ja sehr robust. Ich meine, mit zwanzigtausend Livres müßte es zu machen sein, so daß die Sache nach drei oder vier Jahren in Gang käme.«

Der arme Baron schien vom Schwindel erfaßt zu werden.

»Mein Gott, Ihr habt es ja gut vor! Zwanzigtausend Livres! Für so wertvoll haltet Ihr meine armseligen Maultiere, über die sich hierzulande alle Welt lustig macht? Zwanzigtausend Livres! Ihr jedenfalls werdet sie mir gewiß nicht vorstrecken, diese zwanzigtausend Livres.«

»Und warum nicht?« sagte Molines gelassen.

Der Edelmann starrte ihn einigermaßen verblüfft an.

»Das wäre höchst töricht von Euch, Molines! Ich darf Euch darauf aufmerksam machen, daß ich keinen Bürgen stellen kann.«

»Ich würde mich mit einem einfachen Gesellschaftsvertrag zu hälftigen Anteilen und einer Hypothek auf diese Zucht begnügen. Wir könnten den Vertrag privat und insgeheim in Paris abschließen.«

»Damit Ihr es wißt, ich fürchte, ich habe auf absehbare Zeit nicht die Mittel, in die Hauptstadt zu reisen. Und außerdem erscheint mir Euer Vorschlag so beunruhigend und gewagt, daß ich zunächst einige Freunde befragen möchte ...«

»Dann, Herr Baron, wollen wir es lieber gleich dabei bewenden lassen. Denn der Schlüssel zu unserm Erfolg liegt in der vollständigen Geheimhaltung. An-dernfalls hat es keinen Zweck.«

»Aber ich kann mich nicht so ohne weiteres in ein Geschäft stürzen, das mir obendrein gegen die Interessen meines eigenen Landes zu verstoßen scheint.«

»Das auch das meine ist, Herr Baron .«

»Es hat nicht den Anschein, Molines!«

»Also reden wir nicht mehr davon, Herr Baron. Sagen wir, daß ich mich geirrt habe. Angesichts Eurer ungewöhnlichen Erfolge glaubte ich, Ihr allein würdet in der Lage sein, in diesem Lande eine Zucht im großen und unter Euerm Namen aufzuziehen.«

Der Baron fühlte sich richtig eingeschätzt.

»Darum geht es nicht .«

»Dann, Herr Baron, werdet Ihr mir erlauben, Euch darauf hinzuweisen, in welch engem Zusammenhang diese Sache mit derjenigen steht, die Euch am meisten beschäftigt - ich meine die Sorge um Eure zahlreiche Familie.«

»Ihr verdient, daß ich Euch meine Reitpeitsche spüren lasse, Molines, denn das sind Angelegenheiten, die Euch nichts angehen!«

»Ganz wie Ihr wünscht, Herr Baron. Indessen hatte ich, wenn meine Mittel auch bescheidener sind, als gewisse Leute behaupten, daran gedacht, unverzüglich - als Vorschuß auf unser zukünftiges Geschäft natürlich - ein Darlehen in gleicher Höhe hinzuzufügen: zwanzigtausend Livres, die Euch in die Lage versetzen würden, Euch ohne allzu drückende Sorgen hinsichtlich Eurer Kinder mit Euren Ländereien zu befassen. Ich weiß aus Erfahrung, daß die Arbeit nicht rasch von der Hand geht, wenn die Gedanken durch Sorgen abgelenkt werden.«

»Und durch die Belästigungen des Fiskus«, sagte der Baron, der leicht errötet war.

»Damit diese Darlehen keinen Verdacht erregen, scheint es mir zweckmäßig, daß wir unser Abkommen geheimhalten. Ich bestehe darauf, daß niemand von unserer Unterhaltung erfährt, einerlei, wie Euer Entschluß ausfallen mag.«

»Ich sehe das durchaus ein. Aber ich bitte Euch zu verstehen, daß meine Frau Kenntnis von dem Plan erhalten muß, den Ihr mir dargelegt habt. Es geht um die Zukunft unserer Kinder.«

»Verzeiht mir die ungehörige Frage, Herr Baron, aber wird die Frau Baronin schweigen können? Es ist mir noch nie zu Ohren gekommen, daß eine Frau ein Geheimnis für sich zu behalten vermochte.«

»Meine Frau steht im Ruf, sehr wenig geschwätzig zu sein. Überdies kommen wir mit niemandem zusammen. Sie wird nicht reden, wenn ich sie darum bitte.«

In diesem Augenblick bemerkte der Verwalter die Nasenspitze Angéliques, die, an die Türfüllung gelehnt, ihnen zuhörte, ohne ein Hehl daraus zu machen. Der Baron wandte sich um, sah sie ebenfalls und runzelte die Stirn.

»Komm hierher, Angélique«, sagte er trocken. »Ich glaube, du gewöhnst dir neuerdings an, an den Türen zu horchen. Du erscheinst immer zur Unzeit, und man hört dich nicht kommen. Das sind üble Angewohnheiten.«

Molines schaute sie mit einem durchdringenden Blick an, während sie ruhig näher trat, schien jedoch nicht so ärgerlich wie der Baron zu sein.

»Die Bauern sagen, sie sei eine Fee«, äußerte er mit der Spur eines Lächelns. »Du hast unsere Unterhaltung angehört?« fragte der Baron.

»Ja, Vater! Monsieur Molines hat gesagt, Josselin könne zur Armee gehen und Hortense ins Kloster, wenn Ihr viele Maulesel macht.«

»Du hast eine komische Art, die Dinge zusammenzufassen. Jetzt hör zu: Du wirst mir versprechen, mit niemandem über diese Geschichte zu reden.« Angélique hob ihre grünen Augen zu ihm.

»Das will ich gern . Aber was bekomme ich dafür?«

Der Verwalter unterdrückte ein Lächeln.

»Angélique!« rief ihr Vater in betrübter Verwunderung aus.

Die Antwort kam von Molines: »Beweist uns zuvor Eure Verschwiegenheit, Mademoiselle Angélique. Wenn, wie ich hoffe, aus unserer Geschäftspartnerschaft etwas wird, müssen wir abwarten, ob die Sache ohne Hindernisse ihren Weg geht, ob also nichts von unseren Plänen in die Außenwelt gedrungen ist. Dann werden wir Euch zur Belohnung einen Ehemann verschaffen ...«

Sie verzog ein wenig ihr Gesicht, schien nachzudenken und sagte: »Gut, ich verspreche.«

Dann ging sie hinaus. In der Küche schob Madame Molines ihre mit Sahne und Kirschen überzogene Torte in den Ofen.

»Madame Molines, essen wir bald?« erkundigte sich Angélique.

»Noch nicht, mein Herzchen. Wenn Ihr großen Hunger habt, mache ich Euch ein Butterbrot.«

»Deswegen frage ich nicht. Ich möchte nur wissen, ob ich noch Zeit habe, zum Schloß Plessis hinüberzulaufen.«

»Gewiß. Ich schicke einen Jungen, um Euch zu holen, wenn es soweit ist.« Angélique lief davon, und beim Einbiegen in die erste Allee zog sie ihre Schuhe aus und versteckte sie unter einem Stein, wo sie sie auf dem Rückweg wieder abholen wollte. Dann jagte sie weiter, leichtfüßiger als ein Reh. Im Unterholz roch es nach Pilzen und Moos, ein kürzlich gefallener Regenguß hatte da und dort kleine Pfützen hinterlassen; sie überwand sie mit einem Satz. Sie war glücklich. Sie sprang und hüpfte wie ein Zicklein. Monsieur Molines hatte ihr einen Ehemann versprochen. Sie war nicht ganz sicher, ob es sich da um ein beachtenswertes Geschenk handelte. Was sollte sie mit ihm anfangen? Nun, wenn er ebenso nett wie Nicolas war, würde er einen stets verfügbaren Kameraden abgeben, mit dem man auf Krebsfang gehen konnte.

Sie sah am Ende der Allee die Umrisse des Schlosses auftauchen, das sich in reiner Weiße vom emailblauen Himmel abhob. Ganz gewiß war Schloß Plessis-Bellière ein Märchenhaus, denn es hatte nicht seinesgleichen im Lande. Alle Adelssitze in der Umgebung waren wie Monteloup grau, moosbewachsen, blind. Hier hatte im vergangenen Jahrhundert ein italienischer Künstler unzählige Fenster, Dachluken und Säulen angebracht. Eine Zugbrücke en miniature führte über den mit Seerosen bewachsenen Graben. Die Türmchen an den Ecken waren nur zur Verzierung da. Gleichwohl waren die Linien des Gebäudes schlicht. Die Verbindungsbogen hatten nichts Lastendes, sie besaßen vielmehr die natürliche Grazie von Pflanzen oder Girlanden.

Einzig über dem Hauptportal erinnerte ein Wappenschild mit einem die Flammenzunge hervorstreckenden Ungeheuer an die vielfältigere Ausschmückung des Mittelalters.

Angélique kletterte mit erstaunlicher Behendigkeit auf die Terrasse, dann gelangte sie, indem sie sich auf die Ornamente der Fenster und Balkone stützte, bis zum ersten Stock, wo eine Regenrinne ihr einen bequemen Stand bot. Nun preßte sie ihr Gesicht an die Fensterscheibe. Sie war oft bis dahin gekommen, und sie wurde nie müde, sich über das Mysterium dieses verschlossenen Zimmers zu beugen, in dessen Halbdunkel das Silber und das Elfenbein der Nippsachen schimmerten, über die Möbel mit eingelegter Arbeit, die frischen rötlichen und blauen Farben der neuen Tapeten, die strahlenden Bilder an den Wänden.

Im Hintergrund befand sich ein Alkoven mit einer Damastdecke. Über dem Kamin wurde der Blick auf ein großes Gemälde gelenkt, das Angélique in bewunderndes Staunen versetzte. Eine Welt, von der sie kaum eine Ahnung hatte, war in diesen Rahmen eingeschlossen, die beschwingte Welt der Bewohner des Olymps in ihrer heidnischen, ungehemmten Grazie; man sah einen Gott und eine Göttin unter dem Blick eines bärtigen Fauns sich umfangen, mit nackten, wundervollen Körpern, die wie dieses Schloß selbst die elysische Grazie am Rande des wilden Forstes symbolisierten.

Angélique wurde von einer Erregung erfaßt, die beinahe schmerzhaft war.

»All diese Dinge«, dachte sie, »möchte ich berühren, mit meinen Händen streicheln dürfen. Ich möchte, daß sie eines Tages mir gehören .«

Im Mai gehen in diesem Landstrich die Burschen, eine grüne Ähre am Hut, und die mit Flachsblüten geschmückten Mädchen zum Tanz um die Dolmen, jene großen Steintische, die die Vorgeschichte auf den Feldern errichtet hat. Auf dem Rückweg zerstreuen sich die Paare über die Wiesen und den Buschwald, in dem es nach Maiglöckchen duftet.

Im Juni heiratete Sauliers Tochter, und es wurde ein großes Fest. Er war der einzige Pachtbauer des Barons de Sancé, der Landarbeiter beschäftigte. Der Mann, der nebenbei noch den Dorfkrug bewirtschaftete, war wohlhabend.

Die kleine, romanische Kirche war mit Blumen und faustdicken Kerzen geschmückt, und der Baron selbst führte die Tochter zum Altar.

Nach dem Hochzeitsschmaus erschienen dem Brauch gemäß alle Frauen des Orts, um der Jungvermählten ihre Geschenke zu überreichen. Sie saß in ihrem neuen Heim auf einer Bank vor einem großen Tisch, auf dem sich bereits Geschirr, Bettzeug, kupferne und zinnerne Kochtöpfe häuften. Ihr rundes Gesicht unter dem riesigen Margeritenkranz strahlte vor Freude.

Madame de Sancé war es beinahe peinlich, daß sie ein so bescheidenes Geschenk brachte: ein paar schöne Steingutteller, die sie für solche Gelegenheiten aufbewahrte. Angélique mußte plötzlich daran denken,

daß man auf Schloß Sancé aus Bauernnäpfen aß. Sie war zornig und zugleich verletzt angesichts solcher Vernunftwidrigkeit. Wie komisch die Menschen doch waren! Man konnte wetten, daß auch die Bäuerin diese Teller nicht benützen, sondern sorgsam in einem Kasten verstauen und weiterhin aus ihrem Napf essen würde. Und auf Schloß Plessis gab es all jene herrlichen Gegenstände, die unbenutzt wie in einem Grabe ruhten ...!

Angéliques Miene nahm einen verschlossenen Ausdruck an, und sie gab der jungen Frau einen flüchtigen Kuß.

Indessen versammelten sich die jungen Leute um das große Ehebett und machten ihre Scherze.

»Na, junge Frau«, rief einer von ihnen, »wenn man euch so anschaut, dich und dein Ehegespons, möchte man zweifeln, ob die Brautsuppe willkommen sein wird, die man euch im Morgengrauen bringt!«

»Mutter«, fragte Angélique beim Hinausgehen, »was ist das mit der Brautsuppe, von der bei den Hochzeiten immer geredet wird?«

»Das ist eine Bauernsitte wie das Geschenkebringen oder das Tanzen«, erwiderte sie ausweichend. Die Erklärung befriedigte ihre Tochter nicht, die sich vornahm, bei der »Brautsuppe« dabeizusein.

Auf dem Dorfplatz tanzte man noch nicht um die große Ulme. Die Männer saßen noch an den Tischen, die auf Podesten im Freien standen.

Angélique hörte ihre ältere Schwester schluchzen. Sie wollte nach Hause, weil sie sich ihres allzu schlichten und geflickten Kleides schämte.

»Pah!« rief Angélique aus. »Warum machst du dir das Leben so schwer? Beklage ich mich vielleicht über mein Kleid, obwohl es mich drückt und viel zu kurz ist? Nur meine Stiefel tun mir richtig weh. Ich habe meine Holzschuhe in einem Bündel mitgebracht, und ich werde sie anziehen, um besser tanzen zu können. Ich bin fest entschlossen, mich zu amüsieren!«

Hortense klagte, sie fühle sich heiß und gar nicht wohl, und bestand darauf, nach Hause zu gehen. So teilte Madame de Sancé ihrem bei den Honoratioren sitzenden Manne mit, sie zöge sich zurück, ließe aber Angélique bei ihm. Das Mädchen blieb eine Weile neben ihrem Vater. Sie hatte viel gegessen und fühlte sich schläfrig.

In ihrer Gesellschaft befanden sich der Pfarrer, der Bürgermeister, der Schullehrer, der bei Gelegenheit auch Kantor, Wundarzt, Barbier und Glöckner war, und einige Bauern, die »Pflüger« genannt wurden, weil sie Besitzer von Ochsenpflügen waren und mehrere Tagelöhner beschäftigten, so daß sie gewissermaßen eine Dorfaristokratie bildeten. Schließlich gehörte zu dieser Gruppe noch der Vater der Hochzeiterin, Paul Saulier, der selbst Hornvieh, Pferde und Esel züchtete.

Tatsächlich war dieser korpulente Poitou-Bauer der angesehenste der kleinen Pachtbauern, und wenn Baron Armand de Sancé auch sein »Herr« war, so war doch sein Pächter zweifellos reicher als er selbst.

Angélique betrachtete ihren Vater, dessen Stirn sich auchjetzt nicht glättete, und ahnte, was er dachte. »Das ist auch wieder ein Zeichen der Aufwärtsentwicklung der unteren Stände und des Abstiegs der Aristokraten«, stellte er wohl melancholisch fest.

Vielleicht zum erstenmal in seinem Leben sagte sich der Landedelmann, daß die Dinge komplizierter waren, als sie aussahen. Doch im Grunde war er ein Mensch, der sich keine Fragen stellte. Beispielsweise war er ein guter Katholik, ohne sich aber wie sein Vater, dem er im übrigen ein hohes Maß an Achtung entgegenbrachte, für unfehlbar zu halten.

Was das materielle Leben anging, so nahm er es, wie es kam. Genauer gesagt: mit Gutmütigkeit und Optimismus. Gewiß, es gab schwierige Momente, und die Geldangelegenheiten überschatteten in letzter Zeit alles. Vor allem sorgte er sich um die Zukunft seines ältesten Sohnes, der wie verraten und verkauft umherschlich. Raymond, der zweite Sohn, war vernünftiger. Er durchstöberte die magere Bibliothek des Schulmeisters und fand immerhin einiges, sein Latein zu vervollkommnen.

Aber es war sinnlos, die Entscheidung noch länger hinauszuzögern. Die bis jetzt vertrauensvoll erhoffte Hilfe des Königs traf nicht ein. Es hieß, in Paris seien infolge der neuen Steuern Unruhen ausgebrochen, ja die Königin-Mutter sei mit ihren beiden Söhnen nach Saint-Germain geflüchtet. Was konnte bei solchem Wirrwarr aus der Bittschrift eines bescheidenen Landedelmannes werden?

Und da war nun dieser beunruhigende Vorschlag des Verwalters Molines. Doch Madame de Sancé war dagegen. Der Gedanke, von einem Schloßverwalter Geld anzunehmen, hatte sie so aufgebracht, daß er gar nicht erst gewagt hatte, die andere, für die Versorgung der Kinder angebotene Summe zu erwähnen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß da etwas nicht stimmte, daß hinter diesen Plänen eine geheime Absicht steckte.

Lief er nicht tatsächlich Gefahr, sich in ein Abenteuer zu verstricken, bei dem er das wenige verlieren konnte, das ihm noch geblieben war, nämlich die Ehre seines Wappens?

Solcherlei Gedanken bedrängten den bedauernswerten Baron, als auf dem Platz um die Ulme eine Bewegung entstand. Zwei Männer, deren jeder eine Art weißen, bereits stark aufgeblasenen Sacks unter dem Arm trug, schwangen sich auf Fässer. Es waren die Dudelsackpfeifer. Ein Schalmeienbläser gesellte sich ihnen zu.

»Der Tanz beginnt!« rief Angélique und stürzte zum Hause des Bürgermeisters, wo sie beim Kommen ihre Holzschuhe versteckt hatte.

Ihr Vater beobachtete sie, wie sie hüpfend und mit den Händen den Takt der Balladen und Rundtänze schlagend, die nun getanzt werden würden, zurückkam. Vielleicht war ihr zu kurzes und enges Kleid daran schuld, daß er mit einem Male gewahr wurde, wie sehr sie sich in diesen letzten Monaten entwickelt hatte. Sie, die immer recht zart gewesen war, wirkte jetzt wie eine Zwölfjährige; ihre Schultern waren breiter geworden, ihre Brust wölbte sich leicht un-ter dem abgenutzten Stoff ihres Kleids. Ihre frische, braungetönte Gesichtsfarbe verriet gesundes Blut, und hinter ihren halbgeöffneten, feuchten Lippen blitzten zwei Reihen makelloser kleiner Zähne. Wie die meisten Mädchen des Landes hatte sie in den Ausschnitt ihres Mieders ein Sträußchen gelber und malvenfarbiger Schlüsselblumen gesteckt.

Die anwesenden Männer waren über ihre frische, blühende Erscheinung ebenso verblüfft.

»Euer kleines Fräulein wird ein ungemein schönes Mädchen«, sagte Vater Saulier mit vielsagendem Lächeln und einem Blick des Einverständnisses zu seinen Nachbarn, der den Stolz des Barons mit leiser Unruhe erfüllte.

»Sie ist schon zu erwachsen, um sich noch unter diese Grobiane zu mischen«, dachte er plötzlich. »Eigentlich müßte man sie und nicht Hortense ins Kloster stecken ...«

Unbekümmert um die Blicke und Gedanken, die sie erregte, mischte sich Angélique fröhlich unter die jungen Männer und Mädchen, die von allen Seiten in Gruppen oder paarweise herbeiströmten. Fast stieß sie mit einem Jüngling zusammen, den sie nicht gleich erkannte, weil er so prächtig gekleidet war.

»Meiner Treu, Valentin«, rief sie aus, »wie schön du bist, Lieber!«

Der Müllerssohn trug ein offensichtlich in der Stadt angefertigtes Gewand aus grauem Tuch von so auserlesener Qualität, daß die Schöße seines Überrocks wie gestärkt aussahen. Dieser und die Weste waren mit mehreren Reihen kleiner, goldfarben funkelnder Knöpfe garniert. Stiefel und Filzhut zierten metallene Schnallen. Der junge Bursche, der mit seinen vierzehn Jahren von herkulischer Gestalt war, wirkte in seiner Ausstaffierung ziemlich linkisch, aber sein rotes Gesicht strahlte vor Stolz. Angélique, die ihn, da er mit seinem Vater in die Stadt gereist war, ein paar Monate nicht gesehen hatte, stellte fest, daß sie ihm kaum bis zur Schulter reichte, und sie fühlte sich fast ein bißchen eingeschüchtert. Um ihre Verlegenheit zu überwinden, nahm sie ihn bei der Hand.

»Komm, tanzen.«

»Nein! Nein!« protestierte er. »Ich will mein schönes Gewand nicht verderben. Ich gehe mit den Männern trinken«, fügte er selbstgefällig hinzu und gesellte sich zu der Gruppe der Honoratioren, bei der auch sein Vater sich gerade niedergelassen hatte.

»Tanz mit mir!« rief ein Bursche und legte seinen Arm um Angéliques Taille. Es war Nicolas, dessen Augen, dunkelbraun wie reife Kastanien, vor Übermut glänzten.

Sie stellten sich einander gegenüber und begannen im Takt der Dudelsäcke und der Schalmei zu stampfen. Diesen Tänzen, die an sich schwerfällig und monoton waren, verlieh ein instinktives Gefühl für Rhythmus ungewöhnliche Harmonie.

Es wurde Abend. Die Kühle erfrischte die schweißtriefenden Stirnen. Ganz dem Tanze hingegeben, fühlte Angélique sich glücklich, aller bedrängenden Gedanken ledig. Von den Augen ihrer vielen Kavaliere las sie etwas ab, das sie betraf und das sie ein wenig erregte.

Der Staub schwebte wie ein Pastellhauch in der Luft, von der untergehenden Sonne rötlich gefärbt. Die Wangen des Schalmeienspielers glichen zwei Kugeln, und er blies so angestrengt in sein Instrument, daß ihm die Augen förmlich aus dem Kopf traten.

Man legte eine Pause ein, um sich an den mit Kannen reich bestellten Tischen zu erfrischen.

»Woran denkt Ihr, Vater?« fragte Angélique, während sie sich neben den Baron setzte, dessen Stirnfalten sich noch nicht geglättet hatten.

Sie war gerötet und atemlos. Fast nahm er es ihr übel, daß sie unbekümmert und glücklich war, während er sich so sehr quälte, daß er nicht einmal mehr wie ehedem ein Dorffest genießen konnte.

»An die Steuern«, erwiderte er, indem er einen finsteren Blick auf sein Gegenüber warf, das kein anderer war als der Steuereintreiber Corne, den man so oft vor das Schloßportal gesetzt hatte. Sie widersprach lebhaft.

»Es ist nicht recht, daran zu denken, während alle Welt sich vergnügt. Tun das vielleicht all unsere Bauern hier? Dabei drücken sie die Abgaben noch viel mehr. Nicht wahr, Monsieur Corne«, rief sie fröhlich über den Tisch hinweg, »nicht wahr, an einem solchen Tag darf niemand mehr an die Steuern denken, nicht einmal Ihr .?«

Ihre Worte lösten schallendes Gelächter aus. Man begann zu singen, und Vater Saulier gab das Lied vom »Steuereintreiber als Holzdieb« zum besten, das Monsieur Corne mit biederem Lächeln anzuhören geruhte. Aber da es vermutlich das Signal für weitere, weniger harmlose Reime war und Armand de Sancé angesichts des Benehmens seiner Tochter, die einen Becher nach dem andern leerte, immer unruhiger wurde, entschloß er sich zum Aufbruch. Raymond und die kleineren Kinder waren schon lange mit der Amme heimgekehrt. Nur der älteste Sohn Josselin verweilte sich noch, den Arm um die Hüfte eines der artigsten Mädchen des Dorfes geschlungen. Der Baron hütete sich, ihn zurechtzuweisen. Er war froh, daß der schmale und blasse Kollegschüler in den Armen von Mutter Natur gesündere Farben und Gedanken bekam. In seinem Alter hatte er selbst schon lange mit einer drallen Schäferin aus dem Nachbarort tüchtig im Heu scharmuziert. Wer weiß, vielleicht würde ihn das in der Heimat festhalten?

Überzeugt, daß Angélique ihm folgte, begann er sich von der Tischrunde zu verabschieden.

Doch seine Tochter hatte andere Pläne. Seit ein paar Stunden suchte sie nach einem Mittel, um bei Tagesanbruch der Zeremonie der »Brautsuppe« beiwohnen zu können. So tauchte sie im Gedränge unter und machte sich davon. Sie nahm ihre Holzschuhe in die Hand und rannte zum Ende des Dorfs, dessen Häuser jetzt sogar von den Großmüttern verlassen waren. An einer Scheune lehnte eine Leiter, sie kletterte hurtig hinauf und fand oben weiches, duftendes Heu vor.

Der Wein und die Müdigkeit vom Tanzen ließen sie gähnen.

»Ich werde schlafen«, dachte sie. »Wenn ich aufwache, wird es soweit sein, und ich werde zur Brautsuppe gehen.«

Ihre Lider schlossen sich, und sie fiel in tiefen Schlaf.

Sie erwachte in einem wohligen, frohen Gefühl. Das Dunkel der Scheune war noch dicht und warm. In der Ferne war das Lärmen der feiernden Bauern zu hören.

Angélique begriff nicht recht, was mit ihr vorging. Süße Mattigkeit hatte ihren Körper überwältigt, und sie empfand das Bedürfnis, sich zu strecken und zu seufzen. Plötzlich spürte sie, wie eine Hand leise über ihre Brust strich und sich dann bis hinunter zu ihren Beinen bewegte. Ein kurzer, heißer Atem brannte auf ihrer Wange. Ihre vorgestreckten Finger begegneten einem steifen Stoff.

»Bist du’s, Valentin?« flüsterte sie. Er antwortete nicht, rückte aber noch näher.

Der Weindunst und das Flimmern der Finsternis vernebelten Angéliques Denken. Sie hatte keine Angst. Sie erkannte ihn, Valentin, an seinem schweren Atem, an seinem Geruch, sogar an seinen so oft von Dornen und Gräsern des Moors aufgerissenen Händen, deren Rauheit ihre Haut erschauern ließ.

»Fürchtest du nicht, deinen schönen Anzug zu verderben?« murmelte sie mit einer Naivität, die nicht frei von unbewußtem Spott war.

Er brummte und preßte seine Stirn an den schlanken Hals des Mädchens.

»Du riechst gut«, seufzte er. »Wie die Angelikablüte.«

Er versuchte sie zu küssen, aber sie mochte seinen feuchten Mund nicht und stieß ihn zurück. Er packte sie heftiger, drückte sie nieder. Diese plötzliche Brutalität machte Angélique vollends wach und gab ihr das Bewußtsein zurück. Sie wehrte sich und versuchte, sich aufzurichten. Aber der Bursche hielt sie heftig umklammert. Da schlug sie ihm wütend mit ihren Fäusten ins Gesicht und schrie.

»Laß mich los, du Bauernlümmel, laß mich los!«

Er gab sie endlich frei, und sie ließ sich vom Heu hinabgleiten und kletterte die Scheunenleiter hinunter. Sie war zornig und bekümmert, ohne zu wissen, weshalb ... Draußen war die Nacht von Lärm und sich nähernden Lichtern erfüllt.

Die Farandole!

Sich gegenseitig an den Händen haltend, zogen die Mädchen und Burschen an ihr vorbei, und sie wurde vom Strom mitgerissen. Im Dämmerlicht des frühen Morgens nahm die Farandole ihren Weg durch die Gassen, sprang über die Gatter, brach in die Felder ein. Alle waren trunken vom Wein und vom Most und taumelten johlend und lachend dahin. Man kehrte zum Platz zurück; Tische und Bänke waren umgeworfen - die Farandole stieg über sie hinweg. Die Fackeln erloschen.

»Die Brautsuppe! Die Brautsuppe!« forderten jetzt die Stimmen. Man klopfte an die Tür des Dorfschulzen, der sich schlafen gelegt hatte.

»Wach auf, Spießbürger! Wir wollen die Neuvermählten stärken!«

Angélique, der es mit zerschundenen Armen geglückt war, sich aus der Kette zu lösen, sah nun einen seltsamen Aufzug daherkommen. An der Spitze marschierten zwei spaßige Gesellen, nach Art der einstigen Hofnarren des Königs mit Flitterwerk und Schellen behängt. Es folgten zwei junge Burschen mit einer Stange auf den Schultern, über die die Henkel eines riesigen Kochkessels geschoben waren. Zu beiden Seiten gingen andere, die Weinhumpen und Becher trugen. Alle Leute aus dem Dorf, die sich noch auf den Beinen zu halten vermochten, folgten hinterdrein, und es war bereits eine stattliche Truppe.

Ohne Scheu trat man in die Hütte des jungen Paars ein.

Angélique fand sie nett, wie sie da so Seite an Seite in ihrem großen Bett lagen. Die junge Frau war puterrot. Gleichwohl tranken sie, ohne zu murren, den gewürzten heißen Wein, den man ihnen reichte. Doch einer der Zuschauer, der noch betrunkener als die andern war, wollte die Decke wegziehen, die sie sittsam bedeckte. Der Ehemann versetzte ihm einen Fausthieb, worüber sich eine Prügelei entspann, in deren Tumult man die Schreie der jungen Frau vernahm, die sich an ihre Laken klammerte. Von den schwitzenden Körpern hin und her gestoßen, halb erstickt von dem bäuerlichen Geruch nach Wein und ungewaschener Haut, wäre Angélique beinahe zu Boden gerissen und getreten worden. Nicolas war es, der sie befreite und hinausführte.

»Uff!« stöhnte sie, als sie endlich an der frischen Luft war. »Diese Geschichte mit der Brautsuppe ist nicht grade ein ausgesprochenes Vergnügen. Sag, Nicolas, weshalb bringt man eigentlich den Brautleuten heißen Wein zu trinken?«

»Nun ja, sie müssen eben eine Stärkung kriegen nach ihrer Hochzeitsnacht.«

»Ist das so anstrengend?«

»Man sagt so .«

Er brach unvermittelt in Lachen aus. Seine Augen glänzten von Tränen, die Locken seiner dunklen Haare fielen über seine braune Stirn. Sie sah, daß er genauso betrunken war wie die andern. Plötzlich streckte er die Arme nach ihr aus und näherte sich ihr schwankend.

»Angélique, du bist süß, wenn du so redest ... Du bist süß, Angélique.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Wortlos machte sie sich frei und ging. Über dem verwüsteten Dorfplatz stieg die Sonne auf. Das Fest war zu Ende. Angélique folgte zögernden Schrittes dem Weg zum Schloß und stellte bittere Betrachtungen an.

Nun hatte sich nach Valentin auch Nicolas merkwürdige Dinge erlaubt, und sie hatte beide zur gleichen Zeit verloren. Es schien ihr, als sei ihre Kindheit tot, und sie hätte weinen mögen, wenn sie daran dachte, daß sie nie mehr mit ihren gewohnten Gefährten ins Moor oder in den Wald gehen würde.

So sahen sie der Baron de Sancé und der alte Wilhelm, die sich auf die Suche nach ihr gemacht hatten: mit zerrissenem Kleid und das Haar voller Heu.

»Mein Gott!« rief Wilhelm und blieb verblüfft stehen.

»Woher kommst du, Angélique?« fragte der Schloßherr streng.

Doch als der alte Soldat sah, daß sie keiner Antwort fähig war, nahm er sie auf den Arm und trug sie nach Hause.

Sorgenvoll sagte sich Armand de Sancé, daß man unbedingt ein Mittel finden müsse, um so bald wie möglich seine zweite Tochter ins Kloster zu schik-ken.

Erst am nächsten Morgen kam Angélique wieder zu sich, nachdem sie fast vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte. Sie war überaus munter und keineswegs schuldbewußt, empfand jedoch im Grunde ihrer Seele eine gewisse Beklommenheit. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie mit Valentin und vielleicht auch mit Nicolas entzweit war - wie dumm waren doch die >Männer

Während sie sich ankleidete, betrachtete sie angelegentlich ihre Brust. Es kam ihr vor, als wölbe sich ihr Busen, als beginne er sich anmutig zu formen.

»Bald werde ich Brüste wie Nanette haben«, dachte sie. Sie wußte nicht, ob sie darüber stolz oder erschrocken war. Alle diese Verwandlungen verwunderten sie, und vor allem hatte sie das Gefühl, daß etwas zu Ende ging. Ihr vertrautes und freies Leben war bedroht. Sie würde sich nach einer anderen Welt auf den Weg machen müssen, von der sie vorläufig nur das Ungewisse sah.

»Pulchérie hat mir neulich gesagt, ich sei im Begriff eine Jungfrau zu werden. Ich fürchte, ich werde mich schrecklich langweilen«, sagte sie verwirrt zu sich.

Das Geräusch eines galoppierenden Pferdes veran-laßte sie, zum Fenster zu gehen. Sie sah ihren Vater den Hof verlassen und wagte nicht, ihm zuzurufen, er möge sie mitnehmen.

»Sicher geht er zum Verwalter Molines«, sagte sie sich. »Wie gut wäre es, wenn er endlich dessen Geldangebot annähme, statt auf die Hilfe des Königs zu warten, der sich gewiß über ihn lustig macht. Hortense könnte sich ordentlich kleiden und die benachbarten Schloßherrn besuchen, statt mit langem Gesicht im Haus zu hocken. Und Josselin könnte in die Armee eintreten, statt wie der Teufel mit den Söhnen des Barons Chaillé zu jagen. Ich verabscheue diese ungeschliffenen Burschen, mit denen er verkehrt und die, wenn sie hierherkommen, mich zwik-ken, daß ich acht Tage lang blaue Flecken habe. Und Vater wird froh sein. Er wird den ganzen Tag seine Maultiere anschauen .«

Indessen gingen die Wunschträume des Mädchens nicht so bald in Erfüllung, trotz der Veränderungen, die dieser neuerliche Besuch beim Verwalter Molines zur Folge hatte. Sie wußte nicht, daß ihr Vater zwar das für die Einrichtung des Gestüts notwendige Darlehen angenommen, es aber nicht über sich gebracht hatte, auf den seine Kinder betreffenden Vorschlag einzugehen. Madame de Sancé hatte ihm ein feierliches Versprechen abgenommen. Wenn die Sache je in der Gegend bekannt werden sollte und man sagen könnte, die Abkömmlinge eines reinblü-tigen fürstlichen Geschlechts seien auf Kosten eines Schloßverwalters erzogen worden, würde sie vor Scham sterben. Die armen Eltern stellten sich ein wenig naiv vor, man würde, wenn das Gestüt erst einmal ordentlich floriere, mit Hilfe einiger günstiger Verkäufe die persönliche Situation der Familie wieder ins Lot bringen. Molines, dessen Kontrakt den Baron viel härter einzwängte, als er es ahnte, beharrte darauf, daß man auch die zusätzlichen zwanzigtausend Livres annähme. Doch der Baron blieb stolz, und der Verwalter gab nach.

Dann kamen die Bauern und brachten bald eine Eselsstute, bald einen Pferdehengst. Der Baron prüfte das Gebiß der Hengste und ihre Hufe, erkundigte sich nach dem Stammbaum und kaufte nur wenige Tiere. Er verlangte, man möge mehr und bessere auf den Markt von Fontenay-le-Comte bringen, der drei Wochen später stattfinden sollte und zu dem er sich begeben würde.

Er schien viel Geld zu haben, denn er rief den Gemeinderat von Monteloup zusammen und teilte mit, es gebe Bauarbeiten für alle, er werde überdies unter ihren Verwandten in der Umgebung Holzfäller, Brettschneider, Zimmerleute, Steinbrecher und Maurer aussuchen lassen.

Binnen kurzem veränderte sich das Aussehen der stark verwahrlosten Ställe hinter dem Schloß. Auch neue Koppeln wurden geschaffen und die Gatter wiederhergestellt. Der alte Wilhelm ließ das wichtigste seiner bisherigen Ämter, die Sorge für den Garten, im Stich und spielte den Oberaufseher. Er verjüngte sich dabei zusehends und hinkte kaum mehr.

»Wenn von den Römern an über Karl den Großen alle Bewohner Europas nichts anderes getan hätten als Straßen zu ziehen und zu bauen, statt sich gegenseitig zu zerfleischen, gäbe es weniger Elend in der Welt«, sagte der einstige Söldner jedem, der es hören wollte.

»Ich habe eigentlich geglaubt, die Soldaten verstehen sich mehr aufs Zerstören«, versetzte die Amme.

»Barbarische Soldaten oder Ungläubige, ja: das taugt nur zum Massakrieren und Plündern. Aber alle alten Bewohner Europas verlangen nichts anderes, als in Frieden zu arbeiten«, antwortete der Deutsche, ohne auf die Ironie einzugehen.

Angélique liebte den alten Krieger, aber sie bedauerte ein wenig die Verwandlung ihres guten Kameraden. All diese friedlichen Arbeiten waren gewiß recht reizvoll, aber doch sehr viel weniger als die Geschichten von Kriegen und Schlachten, die er ihr früher erzählt hatte und die er über seiner neuen Leidenschaft zu vergessen vorzog. Von Natur ein wenig Prediger wie alle Hugenotten, ging er so weit, sich gegen den Kardinal Mazarin zu ereifern, der den Kriegen nicht Einhalt gebieten wollte und so den Unwillen des Volks wachrief.

Freilich brachten die Hausierer seltsame Nachrichten, die der Baron bestätigte, wenn er von Niort oder Fontenay-le-Comte zurückkam. Wegen Steuerfragen hatten sich die Herren des Pariser Parlaments gegen den König selbst erhoben. Armer, kleiner elfjähriger König, der nichts dafür konnte! Und das Lumpenpack in der Hauptstadt hatte Barrikaden errichtet, zur Empörung aufgerufen, man wußte gar nicht, weshalb ...

»Von heute an bis die Truppen wieder durchziehen ...«, pflegte man zu sagen, um die Flüchtigkeit des zeitweiligen Wohlstands anzudeuten. Die letzten Plünderungen lagen kaum ein Jahr zurück, und die ersten Sommergewitter brachten sie wieder in Erinnerung.

Die enttäuschte Angélique mühte sich neben Pulché-rie mit einer Handarbeit ab, während die Dachziegel vom Ansturm des Unwetters in den Hof geschleudert wurden.

Das Maultiergestüt war jetzt sehr schön und Gegenstand der Bewunderung und des Neids der Umgebung. Man hatte in Voraussicht der Über-schwemmungen ganze Wagenladungen Granit für die Grundmauern der Schuppen herangefahren, und die Gebäude waren mit hellen, rosafarbenen Ziegeln gedeckt. Vierhundertfünfzig Eselsstuten und fünfzig Hengste fanden in ihnen Unterkunft.

Während dieser Zeit ersann der Geometer ein neues Entwässerungssystem für das Gelände unterhalb des Schlosses. Es handelte sich jetzt darum, den größten Teil des Moores trockenzulegen, das in vergangenen Zeiten die Verteidigungszone des alten Kastells Monteloup gebildet hatte. In ihrer Eigenschaft als Moorfee war Angélique insgeheim gegen die Profanierung ihrer Domäne; doch seit der Hochzeit im Juni hatte der wortkarge Valentin sie nicht mehr aufgefordert, mit ihm Kahn zu fahren. Er mied sie. Da konnte das Moor ja eigentlich ruhig verschwinden! Nur Nicolas war wieder erschienen, mit all seinen weißen Zähnen lachend und ohne jede Hemmung. Mit ihm trat die Kindheit wieder in ihre Rechte; die Natur gewährte einen Aufschub - nicht alles endete zu gleicher Zeit. Der Baron strahlte. Er wollte dem Bürger Molines ein für allemal zeigen, daß sich auch auf beruflichem Gebiet ein Edelmann in aller Ehrbarkeit geschickt anzustellen verstand. Bald würde man sich um das Schloß und die Familie kümmern können, ohne jemandem etwas zu schulden.

Alle diese Arbeiten brachten den Bauern einigen Wohlstand ein, und als Folge davon herrschte auf dem Schloß Überfluß an Lebensmitteln. Man hatte sogar einen Teil der Steuern bezahlen können, doch das Leben des Adelssitzes änderte sich kaum. Noch immer trieben sich die Hühner in den Sälen herum, die Hunde beschmutzten ungehindert die Fliesen, und der Regen tropfte in die Schlafzimmer. Madame de Sancé hatte rote Hände, weil sie keine neuen Handschuhe kaufen konnte. Josselin, der Hasen und Mädchen jagte, glich immer mehr einem Wolf und der in seine Lehrbücher vertiefte Raymond einer heruntergebrannten Kerze.

Nur die Kleinsten, die sich in die Wärme der Küche und der Ammenbrust drängten, klagten nicht. Aber Madelon weinte häufig und wurde trübsinnig; auch für sie wäre es gut gewesen, das alte Schloß zu verlassen. Angélique nahm sie unter ihre Fittiche, hielt sie nächtelang in ihren Armen. Madelon wußte, daß Angélique sehr stark war und sich weder vor den Wölfen noch vor den Gespenstern fürchtete.

Eines Wintertags, als Angélique am Fenster dem Regen zuschaute, sah sie mit Verblüffung, daß zahlreiche Reiter und rüttelnde Kutschen in den morastigen Weg einbogen, der zur Zugbrücke führte. Lakaien in Livreen mit gelben Ärmelaufschlägen ritten vor den Wagen und einem Fuhrwerk her, das mit Gepäck, Zofen und Dienern besetzt zu sein schien.

Schon sprangen die Kutscher von ihren hohen Sitzen, um die Gespanne durch den engen Torweg zu führen. An der Rückseite der ersten Kutsche postierte Lakaien stiegen ab und öffneten die Wagenschläge, deren lackglänzende Flächen rötliche Wappen trugen.

Angélique flog über die Turmtreppe hinunter und erschien im gleichen Augenblick am Portal, als ein prächtig aussehender Edelmann über den Pferdemist im Hof stolperte, wobei sein Federhut zu Boden fiel; ein heftiger Stockschlag über den Rücken eines der Lakaien und eine Flut von Flüchen begleiteten diesen Zwischenfall.

Auf den Spitzen seiner eleganten Schuhe von Pflasterstein zu Pflasterstein hüpfend, erreichte der Edelmann schließlich das Portal, wo Angélique und einige ihrer kleinen Brüder und Schwestern ihn musterten. Ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, der womöglich noch auserlesener gekleidet war, folgte ihm.

»Beim heiligen Dionysius, wo ist mein Vetter?« brach der Ankömmling aus und warf einen herausfordernden Blick um sich.

Dann bemerkte er Angélique und rief:

»Da ist ja das Porträt meiner Kusine de Sancé aus der Zeit ihrer Heirat, als ich ihr in Poitiers begegne-te. Erlaube, daß ich dich umarme, Kleine, als der alte Onkel, der ich bin.«

Er hob sie in seine Arme und küßte sie herzhaft. Wieder auf der Erde gelandet, mußte Angélique zweimal niesen, so stark war das Parfüm, mit dem die Kleider des Ankömmlings getränkt waren.

Sie trocknete sich die Nasenspitze mit ihrem Ärmel ab, wobei ihr blitzartig bewußt wurde, daß Tante Pulchérie sie deswegen gescholten hätte, errötete jedoch nicht, denn sie kannte weder Scham noch Verlegenheit.

Liebenswürdig erwies sie dem Besucher, in dem sie längst den Marquis du Plessis de Bellière erkannt hatte, ihre Reverenz. Dann trat sie auf ihren jungen Vetter Philippe zu, um ihn zu küssen. Der wich einen Schritt zurück und warf einen entsetzten Blick auf den Marquis.

»Herr Vater, bin ich verpflichtet, diese ... äh, diese junge Person zu küssen?«

»Gewiß doch, Grünschnabel, nütze es aus, solange dazu Zeit ist!« rief der vornehme Herr und lachte laut.

Vorsichtig berührte der Jüngling Angéliques runde Wangen mit seinen Lippen, zog darauf ein gesticktes, übermäßig parfümiertes Taschentuch aus seinem Wams und wedelte damit vor seinem Gesicht herum, als wolle er Fliegen verjagen.

Baron Armand, bis zu den Knien verschmutzt, eilte herbei.

»Herr Marquis du Plessis, welche Überraschung! Weshalb habt Ihr mir keinen Boten geschickt, um mir Euer Kommen zu melden?«

»Offen gestanden, Herr Vetter, ich hatte die Absicht, mich direkt nach Schloß Plessis zu begeben, aber unsere Reise ist nicht frei von Mißgeschick gewesen: Wir haben in der Gegend von Neuchaut einen Achsenbruch gehabt. Verlorene Zeit. Es wird Nacht, und wir sind durchgefroren. Als wir an Eurer Besitzung vorbeikamen, fiel mir ein, wir könnten Euch ohne alle Umstände um Gastfreundschaft bitten. Wir haben unsere Betten und unsere Reisekoffer dabei, welche die Diener in den Zimmern aufstellen werden, die Ihr ihnen anweist. Und wir werden so das Vergnügen haben, uns unverweilt zu unterhalten. Philippe, begrüße deinen Onkel de Sancé und die ganze charmante Truppe seiner Erben.«

Solchermaßen angeredet, trat der schöne Jüngling mit resignierter Miene vor und neigte tief seinen blonden Kopf zu einer Begrüßung, die angesichts des rustikalen Äußeren desjenigen, dem sie galt, etwas übertrieben wirkte. Dann küßte er fügsam die dicken und schmutzigen Wangen seiner jungen Verwandten, worauf er abermals sein Spitzentaschentuch hervorzog und es mit hochmütiger Miene vor die Nase hielt.

»Mein Sohn ist ein rechter Höfling, der an das Land nicht gewöhnt ist«, erklärte der Marquis. »Er versteht nur, auf der Gitarre zu klimpern. Aber man kommt in Eurer Halle vor Kälte um, mein Lieber. Kann ich meine reizende Kusine begrüßen?«

Der Baron äußerte, er vermute, daß die Damen sich beim Anblick der Equipagen in ihre Gemächer gestürzt hätten, um sich umzukleiden, daß jedoch sein Vater, der alte Baron, erfreut sein werde, die Gäste zu sehen.

Angélique bemerkte den verächtlichen Blick, den ihr junger Vetter auf den verwohnten, düsteren Salon warf. Philippe du Plessis hatte sehr helle blaue Augen, die aber kalt wie Stahl wirkten. Der gleiche Blick, der die verblichenen Tapeten, das kümmerliche Feuer im Kamin und sogar den alten Großvater mit seiner altmodischen Halskrause gestreift hatte, wandte sich nach der Tür, und die blonden Brauen des Jünglings hoben sich, während sein Mund sich zu einem spöttischen Lächeln verzog: Madame de Sancé trat in Begleitung Hortenses und der beiden Tanten ein. Sie hatten gewiß ihre Staatskleider angelegt, aber die schäbige, längst aus der Mode gekommene Pracht schien auf den Jungen lächerlich zu wirken, denn er begann in sein Taschentuch zu prusten.

Angélique, die ihn nicht aus den Augen ließ, verspürte die größte Lust, ihm mit allen vieren ins Gesicht zu springen. War nicht vielmehr er selber lächerlich mit all seinen Spitzen, den wehenden Bändern auf der Schulter und den von der Schulter bis zu den Handgelenken aufgeschlitzten Ärmeln, die das feine Leinen des Hemdes sichtbar machen sollten?

Sein schlichterer Vater verneigte sich vor den Damen, wobei er mit der schönen, gekräuselten Feder seines Hutes die Fliesen fegte.

»Verehrte Kusine, verzeiht meine Formlosigkeit und meinen bescheidenen Aufzug. Ich falle mit der Tür ins Haus und bitte Euch um die Gastfreundschaft einer Nacht. Dies hier ist mein Ritter Philippe. Er ist gewachsen, seitdem Ihr ihn zum letzten Male saht, aber es ist darum doch kein leichteres Auskommen mit ihm. Ich werde ihm binnen kurzem eine Obristenstelle kaufen; die Armee wird ihm guttun. Die Hofpagen von heutzutage kennen keine Disziplin.«

Die stets höfliche Tante Pulchérie schlug vor: »Ihr nehmt doch gewiß etwas zu Euch. Most oder dicke Milch? Ich sehe, Ihr kommt von weither.«

»Danke. Wir nehmen gern einen Schluck Wein mit frischem Wasser versetzt.«

»Wein ist keiner mehr da«, erklärte Baron Armand, »aber ich werde eine Magd zum Pfarrer schicken, um welchen zu holen.«

Indessen ließ sich der Marquis nieder, und während er mit seinem von einer seidenen Schleife gezierten Ebenholzstock spielte, berichtete er, er käme direkt von Saint-Germain, die Straßen seien Kloaken, und bat abermals um Vergebung wegen seiner bescheidenen Aufmachung.

»Wie sähen sie erst aus, wenn sie prächtig gekleidet wären?« dachte Angélique.

Der Großvater, den das wiederholte Gerede über Kleidung reizte, berührte mit dem Ende seines Stocks die Stiefelstulpen seines Besuchers.

»Nach den Spitzen Eures Schuhwerks und Eures Kragens zu schließen, ist das Edikt in Vergessenheit geraten, mit dem der Herr Kardinal im Jahre 1633 allen Flitterkram verboten hat.«

»Pah!« seufzte der Marquis. »Was glaubt Ihr! Die Regentin ist arm und streng. So mancher von uns ruiniert sich, damit dieser frömmlerische Hof ein wenig Originalität bewahrt. Monsieur de Mazarin hat Sinn für Prunk, aber er trägt das Priesterkleid. Seine Finger sind mit Diamanten überladen, aber wegen ein paar Bändern, die sich die Adligen ans Wams stecken, wettert er wie sein Vorgänger Monsieur de Richelieu. Die Stulpen ... ja.«

Er kreuzte die Beine und beaugenscheinigte sie mit ebensoviel Aufmerksamkeit, wie Baron Armand es bei seinen Maultieren tat.

»Weshalb sind Eure Stiefel unten so lang und am Ende viereckig?« fragte Madelon.

»Weshalb? Das weiß kein Mensch, kleine Nichte, aber es ist der letzte Schrei und eine nützliche Mode. Während kürzlich Monsieur de Condé jemandem mit Feuereifer etwas auseinandersetzte, schlug ihm Monsieur de Rochefort durch das Ende seiner beiden Schuhe einen Nagel. Als der Fürst sich entfernen wollte, fand er sich am Boden festgenagelt. Man stelle sich vor - wären seine Schuhe weniger lang gewesen, so wären seine Füße durchbohrt worden.«

»Das Schuhzeug ist nicht für Leute geschaffen worden, die Nägel durch die Füße anderer schlagen«, brummte der Großvater. »Das ist ja geradezu lächerlich.«

»Wißt Ihr, daß der König in Saint-Germain ist?« fragte ungerührt der Marquis.

»Nein«, sagte Armand de Sancé. »Inwiefern ist diese Nachricht von Bedeutung?«

»Aber mein Lieber, wegen der Fronde.«

Dieser Ausspruch amüsierte die Damen und die Kinder, doch die beiden Edelmänner fragten sich, ob sich ihr geschwätziger Verwandter nicht wie üblich über sie lustig mache.

»Die Fronde? Aber das ist doch ein Spiel für Kinder!«

»Ein Spiel für Kinder! Wo denkt Ihr hin, Vetter! Ich meine nicht die Schleudern. Was wir Fronde bei Hofe nennen, ist ganz einfach die Revolte des Pariser Parlaments gegen den König. Habt Ihr je dergleichen gehört? Schon seit mehreren Monaten zanken sich diese Herren mit den viereckigen Mützen mit der Regentin und ihrem italienischen Kardinal herum ... Steuerfragen, die ihre Privilegien nicht einmal berühren. Aber sie schwingen sich zu Beschützern des Volkes auf, das Barrikaden in den Straßen errichtet hat.«

»Und die Königin und der kleine König?« fragte die gefühlvolle Pulchérie besorgt.

»Was soll ich Euch sagen? Sie empfing die Herren vom Parlament hoheitsvoll, dann gab sie nach. Seitdem hat man sich wiederholt gestritten und von neuem versöhnt. Die Herren fürchteten immer, die Königin würde den kleinen König aus der Stadt bringen, und kamen dreimal des Abends in hellen Haufen und baten, den schönen Knaben schlafen sehen zu dürfen, in Wirklichkeit aber, um sich zu vergewissern, ob er noch da sei. Doch Mazarin ist sehr schlau. Am Dreikönigstag nämlich tranken und schmausten wir bei Hofe und verspeisten ohne Hintergedanken den traditionellen Fladen. Gegen Mitternacht, als ich mich eben mit einigen Freunden in die Schenken zu verfügen gedachte, gab man mir den Befehl, meine Leute, meine Equipagen zu versammeln und mich an eins der Tore von Paris zu begeben. Von dort nach Saint-Germain. Hier fand ich bereits die Königin und ihre beiden Söhne, ihre Hofdamen und Pagen vor, die ganze Gesellschaft im zugigen alten Schloß auf Stroh gebettet. Auch Monsieur de Mazarin erschien bald darauf. Inzwischen wird Paris vom Fürsten Condé belagert, der sich an die Spitze der Armee des Königs gestellt hat. Das Parlament in der Hauptstadt schwingt weiterhin die Fahne der Empörung, aber es ist ihm nicht mehr sehr wohl dabei. Der Koadjutor von Paris, Fürst Gondy, Kardinal de Retz, der Mazarins Stelle einnehmen möchte, steht auch auf Seiten der Rebellen. Ebenso Elbeuf, Beaufort und viele andere. Ich selbst bin Monsieur de Condé gefolgt.«

»Das freut mich zu hören«, seufzte der alte Baron.

»Seit den Zeiten Heinrichs IV hat man kein solches Durcheinander erlebt. Parlamentarier, Fürsten im Aufruhr gegen den König von Frankreich! Da erkennt man wieder einmal den Einfluß der umstürzlerischen Ideen von jenseits des Kanals. Heißt es nicht, daß auch das englische Parlament das Banner der Revolte gegen seinen König schwingt, ja daß es wagt, ihn einzusperren?«

»Sie haben sogar sein Haupt auf den Block gelegt. Seine Majestät Karl I. ist im vergangenen Monat in London hingerichtet worden.«

»Wie entsetzlich!« riefen alle Anwesenden erschüttert aus.

»Wie sich vermuten läßt, hat die Nachricht am französischen Hof, wo sich übrigens die unglückliche Witwe des englischen Königs mit ihren beiden Kindern aufhält, nicht eben zur Beruhigung beigetragen. Folglich hat man beschlossen, hart und unnachgiebig gegen Paris zu sein. Jetzt eben bin ich als Bevollmächtigter Monsieur de Saint-Maurs ins Poitou gesandt worden, um Truppen auszuheben und sie Monsieur de Turenne zuzuführen, der gewiß der tüchtigste Armeeführer im Dienste des Königs ist. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht in meinem Bereich und im Eurigen, mein lieber Vetter, mindestens ein Regiment für meinen Sohn auf die Beine stellen könnte. Schickt also Eure Faulpelze und Taugenichtse zu meinem Sergeanten, Baron, und man wird Dragoner aus ihnen machen.«

»Muß denn wieder von Krieg die Rede sein?« sag-te der Baron zögernd. »Es sah so aus, als würden die Dinge in die Reihe kommen. Hat man nicht erst im Herbst in Westfalen einen Vertrag unterzeichnet, der die Niederlage Österreichs und Deutschlands bestätigt? Wir glaubten, ein wenig aufatmen zu können. Und doch finde ich, daß wir uns in unserer Gegend nicht einmal beklagen dürfen, wenn ich an die Picardie und an Flandern denke, wo noch die Spanier sind, und das seit dreißig Jahren .«

»Jene Leute sind daran gewöhnt«, sagte der Marquis obenhin. »Mein Lieber, der Krieg ist ein notwendiges Übel, und es ist geradezu ketzerisch, einen Frieden zu fordern, den Gott den sündigen Menschen nicht bestimmt hat. Man muß nur sehen, daß man bei denen ist, die den Krieg machen, und nicht bei denen, die ihn erdulden.«

Er hielt heftig hustend inne, denn der zum Kammerdiener aufgerückte Stallknecht hatte, um das Feuer zu beleben, ein riesiges Bündel feuchten Strohs in den Kamin geworfen.

»Sapperment, Herr Vetter«, rief der Marquis aus, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, »ich verstehe Euer Bedürfnis, ein wenig aufzuatmen. Euer Holzkopf da verdiente eine tüchtige Tracht Prügel.«

Er nahm die Sache mit Humor, und Angélique fand ihn trotz seiner herablassenden Art sympathisch. Sein Geplauder hatte sie gefesselt. Es war, als sei das alte, erstarrte Schloß aufgewacht und habe seine schweren Portale nach einer andern, lebenerfüllten Welt geöffnet.

Philippe aber runzelte immer mehr die Stirn. Steif auf seinem Stuhl sitzend, die blonden Locken wohlgeordnet über den breiten Spitzenkragen fallen lassend, warf er von Ekel erfüllte Blicke auf Josselin und Gontran, die angesichts der Wirkung, die ihr Treiben hervorrief, ihr ungehöriges Benehmen noch betonten und mit dem Finger in der Nase zu bohren und sich den Kopf zu kratzen begannen. Ihr Gehabe brachte Angélique außer Fassung und verursachte ihr fast so etwas wie Übelkeit. Übrigens fühlte sie sich schon seit einiger Zeit nicht recht wohl; sie litt an Leibschmerzen, und Pulchérie hatte ihr verboten, rohe Möhren zu essen, was sie so gerne tat. Heute abend jedoch, nach all dem Umtrieb, den der ungewöhnliche Besuch mit sich brachte, hatte sie das Gefühl, richtig krank zu werden. Aber sie äußerte nichts und blieb ganz still auf ihrem Stuhl sitzen. Jedesmal, wenn sie ihren Vetter Philippe du Plessis anschaute, schnürte ihr etwas die Kehle zusammen, und sie wußte nicht, war es Abscheu oder Bewunderung. Nie hatte sie einen so schönen Jüngling gesehen.

Sein Haar, dessen seidiger Saum sich über die Stirn wölbte, war von einem leuchtenden Gold, neben dem ihre eigenen Locken braun wirkten. Seine Züge waren von vollendetem Ebenmaß. Das Gewand aus grauem Tuch, mit Spitzen und blauen Bändern verziert, paßte zu seinem weißen und rosigen Teint. Ohne den harten Blick, der nichts Feminines hatte, hätte man ihn ohne weiteres für ein Mädchen halten können.

Seinetwegen wurden der Abend und das Nacht-mahl für Angélique zu einer Marter. Jedes Versehen der Diener, jede Ungeschicklichkeit quittierte der Jüngling mit einem Augenzucken oder einem spöttischen Lächeln.

Jean-der-Küraß, der das Amt des Majordomus versah, legte die Serviette auf die Schulter, wenn er die Gerichte brachte. Der Marquis lachte schallend und erklärte, diese Art, die Serviette zu tragen, sei nur an der Tafel des Königs und der Fürsten von Geblüt üblich. Er fühle sich zwar geschmeichelt über die Ehre, die man ihm erweise, begnüge sich aber mit einer schlichteren Bedienung, nämlich mit der über den Unterarm geschlungenen Serviette. Der Fuhrknecht gab sich daraufhin alle erdenkliche Mühe, das fettige Tuch um seinen haarigen Arm zu schlingen, aber seine Ungeschicklichkeit und seine Seufzer steigerten nur die Heiterkeit des Marquis, die sich alsbald auf seinen Sohn übertrug.

»Das ist ein Mann, den ich lieber als Dragoner denn als Lakaien sehen möchte«, sagte der Marquis, indem er Jean-der-Küraß musterte. »Was meinst du dazu, mein Junge?«

Der verschüchterte Fuhrknecht antwortete nur mit einem Bärengebrummel, das der Zungenfertigkeit seiner Mutter keine Ehre antat.

Schließlich erschien zu allem Überfluß der Bursche, den man in den Pfarrhof um Wein geschickt hatte, und berichtete, der Pfarrer sei nach einem benachbarten Weiler gegangen, um Ratten auszutreiben, und die Magd habe sich geweigert, auch nur das kleinste Fäßchen abzugeben.

»Macht Euch nichts daraus, Frau Base«, erklärte sehr galant der Marquis du Plessis. »Wir werden eben Apfelmost trinken, und wenn es meinem Herrn Sohn nicht paßt, so soll er es bleiben lassen. Würdet Ihr mir hingegen einige Aufklärungen über das soeben Vernommene geben? Der Pfarrer soll Ratten austreiben gegangen sein? Was ist das für eine merkwürdige Geschichte?«

»Nichts Verwunderliches, Herr Vetter. Die Leute eines benachbarten Weilers beklagen sich seit einiger Zeit, von Ratten geplagt zu sein, die ihr Korn auffressen. Der Pfarrer ist vermutlich mit Weihwasser dorthin gegangen und spricht die üblichen Gebete, damit die bösen Geister weichen, die diese Tiere bewohnen, und fürderhin keinen Schaden mehr anrichten.«

Der Marquis schaute Armand de Sancé einigermaßen verblüfft an, dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und lachte leise.

»Ich habe noch nie etwas so Lustiges gehört. Also besprengt man die Ratten mit Weihwasser, um sie unschädlich zu machen?«

»Wieso ist das lächerlich?« protestierte der Baron, der ungehalten zu werden begann. »Im vergangenen Jahr ist eines meiner Felder von Raupen heimgesucht worden. Ich habe sie austreiben lassen.«

»Und sie sind verschwunden?«

»Ja. Kaum zwei oder drei Tage danach.«

»Als sie auf dem Felde nichts mehr zu fressen fanden.«

Madame de Sancé, die sich von dem Prinzip leiten ließ, daß eine Frau bescheiden zu schweigen habe, konnte nicht umhin, sich einzumischen, um ihren Glauben zu verteidigen, den sie angegriffen fühlte.

»Ich sehe nicht ein, Herr Vetter, weshalb heilige Exerzitien auf bösartige Tiere keinen Einfluß haben sollten. Hat nicht der Herr selbst böse Geister in eine Schweineherde eingeschlossen, wie der Evangelist erzählt? Unser Pfarrer mißt dieser Art Gebete große Bedeutung bei.«

»Und wieviel bezahlt Ihr ihm pro Austreibung?«

»Er verlangt wenig und ist stets willig zu kommen, wenn man ihn ruft.«

Diesmal fing Angélique den Blick des Einverständnisses auf, den der Marquis du Plessis mit seinem Sohn wechselte: Diese armen Leutchen, schien er zu sagen, sind wirklich von einer beispiellosen Naivität.

»Ich muß unbedingt Monsieur Vincent von diesen ländlichen Gebräuchen berichten«, begann der Marquis von neuem. »Er wird sich krank ärgern, der arme Mann, er, der einen Orden gegründet hat mit dem Ziel, die Geistlichkeit auf dem Lande zu reformieren. Diese Missionare stehen unter dem Patronat des heiligen Lazarus. Man nennt sie Lazaristen. Sie gehen jeweils zu dreien auf das Land, um zu predigen und unseren Dorfpfarrern beizubringen, die Messe nicht mit dem Paternoster zu beginnen und nicht mit ihrer Magd zu schlafen. Das ist ein recht verwunderliches Unternehmen, aber Monsieur Vincent de Paul ist Verfechter der Reform der Kirche durch die Kirche.«

»Das ist ja nun ein Wort, das ich nicht leiden kann«, rief der alte Baron aus. »Reform, immer wieder Reform! Eure Worte klingen hugenottisch, Herr Neffe. Von da bis zum Verrat am König ist, wie ich fürchte, nur ein Schritt. Was Euern Monsieur Vincent betrifft, so hat seine Art etwas Ketzerisches, und Rom sollte sich vor ihm in acht nehmen.«

»Was nicht hindert, daß Seine Majestät König Ludwig XIII., als er sich zu sterben anschickte, ihn an die Spitze des Gewissensrats zu stellen beliebte.«

»Was ist denn das nun wieder?«

»Wie soll ich es Euch erklären? Es ist eine ungeheuerliche Sache. Das Gewissen des Königreichs! Monsieur Vincent de Paul ist das Gewissen des Königreichs. Er sucht die Königin fast täglich auf und wird von allen Fürsten empfangen. Er ist der denkbar schlichteste und heiterste Mensch. Seine Idee geht dahin, daß das Elend heilbar ist und daß die Großen dieser Welt ihm helfen müssen, es abzustellen.«

»Utopie«, warf Tante Jeanne bissig ein. »Das Elend ist, wie Ihr vorhin im Hinblick auf den Krieg sagtet, ein Übel, das Gott zur Strafe für die Erbsünde gewollt hat.«

»Monsieur Vincent würde Euch erwidern, mein liebes Fräulein, daß Ihr es seid, die für das uns umgebende Übel verantwortlich ist. Und er würde Euch ohne lange Worte mit Arzneien und Nahrungsmitteln zu den ärmsten Eurer Tagelöhner schicken und dazu bemerken, daß Ihr, falls Ihr sie nach seinem Ausspruch >zu ungeschliffen und irdisch< findet, die Medaille nur umzudrehen braucht, um das Gesicht des leidenden Christus zu erblicken. So hat es dieser Teufelsbursche fertiggebracht, fast alle hochgestellten Persönlichkeiten des Königreichs in seine mildtätigen Phalangen einzureihen. Wie Ihr mich hier seht«, fügte der Marquis mit saurer Miene hinzu, »bin ich, während ich mich in Paris aufhielt, zweimal die Woche ins Spital gegangen, um den Kranken die Suppe zu reichen.«

»Wann werdet Ihr endlich aufhören, mich zu verblüffen?« rief der alte Baron erregt aus. »Offenbar wissen die Edelleute Eurer Art nicht, was alles sie sich noch ausdenken sollen, um ihr Wappen zu entehren.«

Empört stand der Greis auf, und da die Mahlzeit beendet war, folgten alle seinem Beispiel. Angélique, die nichts hatte essen können, schlüpfte hinaus. Sie fröstelte auf unerklärliche Weise und wurde von Schauern geschüttelt. Alles, was sie da gehört hatte, kreiste wirr in ihrem Kopf: der König auf dem Stroh, das rebellierende Parlament, die großen Herren, die Suppe austeilten, eine Welt voller Leben und Reize. Angesichts all dieser Unruhe und Bewegtheit kam sie sich wie tot vor, wie in einem Keller eingeschlossen.

Plötzlich drängte sie sich in eine Nische des Ganges. Ihr Vetter Philippe schritt an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken. Sie hörte ihn ins Obergeschoß hinaufsteigen und mit seinen Dienstboten reden, die beim Schein einiger Leuchter die Zimmer ihrer Herren richteten. Die Fistelstimme des Jünglings klang zornig.

»Es ist unerhört, daß niemand von euch daran gedacht hat, sich beim letzten Halt mit Kerzen zu versehen. Ihr hättet euch denken können, daß in diesen gottverlassenen Gegenden die sogenannten Edelleute nicht mehr taugen als ihre Bauernlümmel. Hat man wenigstens heißes Wasser für mein Bad bereitet?«

Der Mann antwortete etwas, das Angélique nicht verstand. Philippe sprach in resigniertem Ton weiter: »In Gottes Namen. Ich werde mich in einem Kübel waschen. Zum Glück hat mir mein Vater gesagt, daß es in Schloß Plessis zwei florentinische Badestuben gibt. Ich sehne mich danach. Ich habe das Gefühl, daß der Geruch dieser Sancé-Leute mir nie mehr aus der Nase gehen wird.«

»Diesmal soll er mir’s bezahlen«, dachte Angélique.

Sie sah ihn im Schein der auf der Konsole des Vorraums stehenden Laterne wieder herunterkommen. Als er ganz nahe war, trat sie aus dem Dunkel der Nische hervor.

»Wie könnt Ihr es wagen, zu den Lakaien so unverschämt über uns zu reden?« fragte sie mit klarer Stimme, die in den Gewölben widerhallte. »Habt Ihr denn gar kein Gefühl für Adelswürde? Das kommt natürlich daher, daß Ihr von einem Bastard des Königs abstammt. Wohingegen unser Blut rein ist.«

»Genauso rein wie Eure Haut schmutzig«, gab der junge Mann eisigen Tons zurück.

Mit einem unerwarteten Satz sprang Angélique ihm mit gezückten Krallen ins Gesicht. Doch der Bursche hatte eine bereits männliche Kraft, packte sie an den Handgelenken und stieß sie heftig gegen die Mauer. Dann ging er gelassen seines Weges.

Angélique war wie betäubt und fühlte ihr Herz wild schlagen. Sie verabscheute ihn mehr, als sie ertragen konnte, und ein ungekanntes, aus Scham und Verzweiflung gemischtes Gefühl preßte ihr die Kehle zusammen.

»Ich hasse ihn«, dachte sie. »Eines Tages werde ich mich rächen. Er wird sich beugen, mich um Vergebung bitten müssen.«

Doch im Augenblick war sie nichts als ein unglückliches kleines Mädchen im Dämmerlicht der Flure eines feuchten, alten Schlosses.

Eine Tür knarrte, und Angélique erkannte die massive Silhouette des alten Wilhelm, der mit zwei Eimern dampfenden Wassers für das Bad des jungen Herrn auf die Treppe zusteuerte. Als er sie bemerkte, blieb er stehen.

»Wer ist das?«

»Ich bin’s«, antwortete Angélique auf deutsch.

Wenn sie mit dem alten Soldaten allein war, redete sie immer in dieser Sprache, die er ihr beigebracht hatte.

»Was treibt Ihr da?« fragte Wilhelm ebenfalls auf deutsch. »Es ist kalt. Geht doch in den Saal und hört Euch die Geschichten Eures Onkels, des Marquis, an. Da habt Ihr Euern Spaß fürs ganze Jahr.«

»Ich verabscheue sie«, sagte Angélique düster. »Sie sind unverschämt und so anders als wir. Sie zerstören alles, was sie anrühren, und lassen uns dann allein und mit leeren Händen zurück, während sie wieder auf ihre schönen Schlösser voller herrlicher Dinge gehen.«

»Was ist denn, mein Kind?« fragte ruhig der alte Lützen. »Könnt Ihr Euch nicht über ein paar Spötteleien hinwegsetzen?«

Angéliques Mißbehagen verschärfte sich. Kalter Schweiß trat auf ihre Schläfen.

»Wilhelm, du, der du nie an einem Fürstenhof gewesen bist, sag mir: Was soll man tun, wenn man zu gleicher Zeit einem bösen und einem erbärmlichen Menschen begegnet?«

»Komische Frage für ein Kind! Da Ihr sie mir stellt, so will ich Euch sagen, daß man den bösen töten und den erbärmlichen laufenlassen soll.«

Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu, indem er seine Eimer wieder aufnahm:

»Aber Euer Vetter Philippe ist weder böse noch erbärmlich. Ein bißchen jung, das ist alles ... und zu verwöhnt.«

»Du verteidigst ihn also auch!« rief Angélique mit schriller Stimme aus. »Du auch? Weil er schön ist ... weil er reich ist .«

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Munde aus. Sie taumelte und glitt ohnmächtig zu Boden.

Angéliques Krankheit beruhte auf ganz natürlichen Vorgängen. Über deren Erscheinungen, die das zum jungen Mädchen gewordene Kind ein wenig ängstigten, hatte Madame de Sancé sie mit dem Hinweis beruhigt, das würde künftighin bis zu einem vorgerückten Alter jeden Monat so sein.

»Werde ich auch jeden Monat ohnmächtig werden?« erkundigte sich Angélique, verwundert, daß sie nicht häufiger die sozusagen zwangsläufigen Ohnmächten der Frauen ihrer Umgebung bemerkt hatte.

»Nein, das ist nur ein Zufall. Du wirst dich erholen und dich an deinen neuen Zustand vollkommen gewöhnen.«

»Immerhin, bis zum vorgerückten Alter ist es noch lang«, seufzte das Mädchen. »Und wenn ich alt bin, kann ich nicht wieder anfangen, auf die Bäume zu klettern.«

»Du kannst sehr wohl weiterhin auf die Bäume klettern«, sagte Madame de Sancé, die in der Erziehung sehr viel Feingefühl bewies und Angéliques Kummer zu verstehen schien, »aber wie du selbst erkennst, wäre dies tatsächlich der Augenblick, Manieren abzulegen, die deinem Alter und deinem Adelstitel nicht entsprechen.«

Sie fügte einen kleinen Vortrag hinzu, in dem von der Freude die Rede war, Kinder zur Welt zu bringen, und von der Erbsünde, die durch die Schuld unserer Urmutter Eva auf den Frauen laste.

»Fügen wir das zum Elend und zum Krieg hinzu«, dachte Angélique.

Während sie so unter ihren Decken ausgestreckt dalag und dem Rieseln des Regens lauschte, empfand sie ein gewisses Wohlbehagen. Sie hatte den Eindruck, an Bord eines Schiffes zu liegen, das sich von bekannten Gestaden entfernte, um einer anderen Bestimmung entgegenzufahren. Von Zeit zu Zeit dachte sie an Philippe und knirschte mit den Zähnen.

Man erzählte ihr, der Marquis und sein Sohn hätten sich in Monteloup nicht lange aufgehalten. Philippe habe sich über die Wanzen beklagt, die ihm beim Schlafen hinderlich gewesen seien.

»Und meine Bittschrift an den König?« hatte der Baron de Sancé in dem Augenblick, da sein illustrer Verwandter den Wagen bestieg, gefragt. »Konntet Ihr sie ihm überreichen?«

»Mein armer Freund, ich habe sie überreicht, doch ich glaube nicht, daß Ihr Anlaß habt, viel zu erwarten. Der kleine König ist gegenwärtig ärmer als Ihr und hat sozusagen kein Dach über dem Kopf.«

Geringschätzig fügte er hinzu:

»Man hat mir erzählt, daß Ihr Euch damit verlu-stiert, schöne Maultiere zu züchten. Verkauft doch einige.«

»Ich werde mir Euren Vorschlag überlegen«, sagte Armand de Sancé mit spürbarer Ironie. »In dieser Zeit ist es für einen Edelmann bestimmt vorteilhafter, arbeitsam zu sein, als auf die Großmut seiner Standesgenossen zu rechnen.«

»Arbeitsam! Pfui! Welch garstiges Wort!« versetzte der Marquis mit einer koketten Handbewegung. »Adieu also, Herr Vetter. Schickt Eure Söhne zur Armee und Eure kräftigsten Bauernlümmel in das Regiment des meinigen. Adieu. Ich küsse Euch tausendmal.«

Die Karosse hatte sich ratternd entfernt, während eine zierliche Hand durch das Türfenster winkte.

Ländliche Stille senkte sich wieder über das alte Schloß. Angélique schaute durch das Fenster in jene Richtung des Wegs, aus der die Reisenden und das Echo der fernen Welt zu erwarten waren: Winterhausierer mit ihren Pelzmützen und ihren mageren Hunden, reiche Händler, die ihre Tiere brachten: Esel oder Pferde.

Der Besuch der Herren von Schloß Plessis wiederholte sich nicht. Es hieß, sie gäben ein paar Feste, dann, sie kehrten mit ihrem nagelneuen Regiment in die Ile-de-France zurück. Rekrutenwerber waren in Monteloup vorbeigekommen.

Im Schloß erlagen Jean-der-Küraß und ein Bauernknecht der Versuchung der den Dragonern des Königs verheißenen glorreichen Zukunft. Die Amme Fantine weinte sehr beim Aufbruch ihres Sohnes.

»Er war nicht schlecht, und nun wird er ein Reitersmann von Eurer Art«, sagte sie zu Wilhelm Lützen.

»Das ist Vererbung, meine Gute. Hatte er nicht einen Haudegen zum mutmaßlichen Vater?«

Um einen Zeitraum zu bezeichnen, gewöhnte man sich daran, »es war vorher« oder »nach dem Besuch des Marquis du Plessis« zu sagen.

Dann kam die Sache mit dem »schwarzen Besucher«.

Angélique befand sich wie gewöhnlich in der Küche. Um sie herum spielten Denis, Marie-Agnès und der kleine Albert. Der Letztgeborene lag in seiner Wiege neben dem Herd. Nach Ansicht der Kinder war die Küche der schönste Raum im Hause. Das Feuer brannte ohne Unterbrechung und fast ohne Rauch, denn der Rauchfang des riesigen Kamins war sehr hoch. Der Schein dieses ewigen Feuers tanzte und spiegelte sich auf dem roten Grunde der kupfernen Kasserollen und Wannen, die die Wände garnierten.

An diesem Abend bereitete Angélique eine Hasenpastete zu. Sie hatte gerade den Teig in Tortenform gebracht und schnitt das Fleisch klein, mit dem er belegt werden sollte. Fantine, die ihr behilflich war, brummte mit argwöhnischer Miene: »Was soll das eigentlich, mein Herzchen? Es ist nicht deine Art, dich um den Haushalt zu kümmern. Findest du am Ende, daß meine Gerichte nicht mehr gut genug sind?«

»Doch, aber man muß auf alles vorbereitet sein.«

»Wieso?«

»Heute nacht«, sagte Angélique, »habe ich geträumt, ich sei Dienstmagd und koche für Kinder. Das hat mir Spaß gemacht, denn ihre kleinen Fratzen waren um den Tisch versammelt und schauten mich aus leuchtenden Augen an. Was soll ich denn tun, wenn ich Dienstmagd werde und unfähig bin, Kuchen für die Kinder meiner Herrschaft zu backen?«

»Wie kannst du dir nur so etwas ausdenken!« rief die Amme ehrlich entrüstet aus. »Du wirst niemals Dienstmagd sein, da du die Tochter von Edelleuten bist. Du wirst einen Baron oder einen Grafen heiraten ... vielleicht gar einen Marquis?« fügte sie lachend hinzu.

Raymond, der im Herdwinkel las, hob den Kopf.

»Deine Zukunftspläne machen sich, wie ich sehe. Man hatte mir gesagt, du wollest Räuberhauptmännin werden?«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, erwiderte sie und knetete dabei energisch ihren Fleischteig weiter.

»Hör mal, Angélique, du solltest keine solch ... solch lästerlichen Dinge erzählen!« erklärte plötzlich die gute Pulchérie, die ebenfalls in der Küche Zuflucht suchte, weniger um der Kälte des Salons als den bissigen Bemerkungen ihrer Schwester zu entrinnen.

»Aber ich glaube nicht, daß Angélique so ganz und gar unrecht hat«, sagte Raymond gemessen. »Eine der größten Sünden auf Erden ist der Hochmut, und man sollte keine Gelegenheit auslassen, ihn zu bekämpfen. Sich also erniedrigen und Dienstbotenarbeiten verrichten ist dem Herrn bestimmt wohlgefällig.«

»Du redest Unsinn«, erklärte Angélique bündig. »Ich will mich gar nicht erniedrigen. Ich will einfach fähig sein, Kuchen für Kinder zu backen, die ich gern habe. Wirst du sie essen, Marie-Agnès? Und du, Denis?«

»Ja, ja«, riefen die beiden Kleinen und liefen herzu.

Von draußen vernahm man den Hufschlag eines Pferdes.

»Da kommt euer Vater zurück«, sagte Tante Pulché-rie. »Angélique, ich meine, es wäre schicklich, daß wir im Salon erschienen.«

Doch nach einer kurzen Stille, während deren der Reiter abgestiegen sein mußte, ertönte die Glocke des Portals.

»Ich gehe«, rief Angélique. Sie stürzte davon, ohne an ihre über die mehlbestäubten Arme gekrempelten Ärmel zu denken.

Durch den Regen und den abendlichen Dunst hindurch erkannte sie einen großen, hageren Mann, dessen Umhang vor Nässe triefte.

»Habt Ihr Euer Pferd untergestellt?« rief sie. »Hier erkälten sich die Tiere schnell. Wir haben zuviel Nebel wegen des Moors.«

»Ich danke Euch, Fräulein«, erwiderte der Fremde, indem er seinen breiten Hut abnahm und sich verneigte. »Ich habe mir nach dem Brauch der Reisenden erlaubt, sogleich mein Pferd und mein Gepäck in Euern Stall zu bringen. Da ich mich heute abend von meinem Ziel noch weit entfernt befinde und am Schloß Monteloup vorüberkam, wollte ich für eine Nacht die Gastfreundschaft des Herrn Barons erbitten.«

Aus dem nur mit einem schmalen weißen Kragen besetzten Gewand aus grobem schwarzem Stoff schloß Angélique auf einen Krämer oder einen Bauern im Sonntagsstaat. Freilich verwirrte sie sein Akzent, der nicht der Dialekt des Landes war und ein wenig fremdländisch klang, und überdies die Gewähltheit seiner Rede.

»Mein Vater ist noch nicht zurück, aber setzt Euch nur ans Feuer in die Küche. Ich werde einen Knecht in den Stall schicken, um Euer Pferd zu füttern.«

Sie ging voraus und geleitete den Gast in die Küche, wo eben ihr Bruder Josselin durch die Gesindetür eingetreten war. Kotbespritzt, mit gerötetem und verschmutztem Gesicht, hatte er ein mit dem Wurfspieß erlegtes Wildschwein hinter sich her gezogen.

»Gute Jagd, mein Herr?« fragte der Fremde in höflichstem Ton.

Josselin warf ihm einen unfreundlichen Blick zu und antwortete nur mit einem Brummlaut. Dann setzte er sich auf einen Hocker und streckte die Füße ans Feuer. Bescheiden ließ sich der Gast ebenfalls im Herdwinkel nieder und nahm einen Teller Suppe in Empfang, den Fantine ihm reichte.

Er erklärte, er sei in dieser Provinz beheimatet und in der Gegend von Secondigny geboren, aber da er viele Jahre auf Reisen verbracht habe, vermöge er nun seine eigene Sprache nur noch mit einem starken Akzent zu sprechen. Allerdings werde sich das rasch geben, versicherte er: erst vor einer Woche nämlich sei er in La Rochelle an Land gegangen.

Bei diesen letzten Worten hob Josselin den Kopf und starrte den Fremden mit leuchtenden Augen an.

Die Kinder kamen näher und überschütteten ihn mit Fragen.

»In welchem Land seid Ihr gewesen?«

»Ist es weit?«

»Was für einen Beruf übt Ihr aus?«

»Ich habe keinen Beruf«, erwiderte der Unbekannte. »Für den Augenblick wird es mir, denke ich, genügen, Frankreich zu durchqueren und jedem, der mir zuhören mag, meine Abenteuer und Reisen zu erzählen.«

»Wie die fahrenden Sänger, die Troubadours früherer Zeiten?« fragte Angélique, die immerhin einiges von Tante Pulchéries Unterricht behalten hatte.

»So ungefähr, obwohl ich mich weder auf das Singen noch auf das Versemachen verstehe. Aber ich könnte wunderschöne Dinge über jene großen Ebenen erzählen, wo man, um ein Pferd zu bekommen, nur hinter einem Felsen das Vorbeiziehen der wilden Herden zu erspähen braucht, die mit den Nüstern gegen den Wind dahingaloppieren. Man wirft ein langes Seil mit einer Schlinge aus und zieht sein Tier heran.«

»Läßt es sich leicht zähmen?«

»Nicht immer«, sagte der Gast lächelnd. Und Angélique erfaßte plötzlich, daß dieser Mann wohl selten lächelte. Er schien um die Vierzig zu sein, aber es lag etwas Jähes und Leidenschaftliches in seinem Blick.

»Fährt man denn wenigstens über das Meer, um in jene Länder zu gelangen?« fragte argwöhnisch der wortkarge Josselin.

»Man überquert den ganzen Ozean. Dort drüben, im Innern der Länder, gibt es Flüsse und Seen. Die Bewohner haben eine kupferrote Hautfarbe. Sie schmücken ihre Köpfe mit Vogelfedern und fahren in Booten aus zusammengenähten Tierhäuten. Ich bin auch auf Inseln gewesen, wo die Menschen vollkommen schwarz sind. Sie nähren sich von Schilf, das so dick wie ein Arm ist und das man Zuckerrohr nennt, und von dorther kommt tatsächlich der Zucker. Man stellt aus diesem Sirup auch ein Getränk her, das stärker als der Kornbranntwein ist, das aber weniger trunken macht und Kraft und Übermut verleiht: den Rum.«

»Habt Ihr von diesem wunderlichen Getränk etwas mitgebracht?« fragte Josselin.

»Ich habe ein Fläschchen in meiner Satteltasche. Aber ich habe mehrere Fässer bei meinem Vetter gelassen, der in La Rochelle wohnt und sich ein gutes Geschäft davon verspricht. Ich selbst bin kein Handelsmann. Ich bin nur ein Reisender, der sich nach neuen Ländern sehnt, der jene Gegenden kennenlernen möchte, wo niemand weder Hunger noch Durst kennt und wo der Mensch sich frei fühlt. Ebendort habe ich erkannt, daß alles Übel vom weißen Menschen kommt, weil er nicht auf das Wort des Herrn gehört, vielmehr es verfälscht hat. Denn der Herr hat nicht befohlen zu töten noch zu zerstören, sondern sich untereinander zu lieben.«

Es wurde still. Die Kinder waren an eine solche Sprache nicht gewöhnt ...

»Das Leben in Amerika ist also vollkommener als in unseren Ländern, wo Gott schon so lange regiert?« fragte plötzlich die ruhige Stimme Raymonds.

Auch er war näher gerückt, und Angélique entdeckte in seinem Blick einen Ausdruck, der demjenigen des Fremden entsprach.

»Ihr seid Protestant, nicht wahr?«

»Ganz recht. Ich bin sogar Priester, wenn auch ohne Gemeinde, und vor allem Reisender.«

»Nun, ich kann schwerlich mit Euch über religiöse Dinge diskutieren«, sagte Josselin, »denn ich vergesse allmählich mein Latein. Aber mein Bruder spricht es flüssiger als Französisch und .«

»Das ist ja gerade einer der größten Übelstände in unserm Frankreich«, rief der Pastor aus. »Daß man nicht mehr zu seinem Gott, was sage ich: zum Gott der Welten, in seiner Muttersprache und mit seinem Herzen beten kann, sondern daß es unumgänglich ist, sich lateinischer Zauberformeln zu bedienen .«

Angélique bedauerte, daß nicht mehr von Springfluten, Sklavenschiffen und unheimlichen Tieren die Rede war. Sie rückte unruhig auf ihrem Platz hin und her, und dabei entging es ihr, daß die Amme den Raum verließ. Fantine lehnte die Tür nur an, und man hörte sie flüstern und darauf die Stimme Madame de Sancés, die annahm, daß man sie nicht verstehen könne.

»Protestantisch oder nicht, meine Gute, dieser Mann ist unser Gast und wird es bleiben, solange es ihm beliebt.«

Kurz darauf trat die Baronin, gefolgt von Hortense, in die Küche.

Der Besucher verbeugte sich sehr höflich, jedoch ohne Handkuß und ohne die höfische Reverenz. Angélique sagte sich, daß er gewiß ein Bürgerlicher sei, aber gleichwohl sympathisch, wenn auch Hugenotte, und ein klein wenig exaltiert.

»Pastor Rochefort«, stellte er sich vor. »Ich muß mich nach Secondigny begeben, wo ich geboren bin, aber da der Weg weit ist, wollte ich mich gerne unter Eurem gastlichen Dach ausruhen, gnädige Frau.«

Die Hausherrin versicherte ihm, er sei willkommen. Sie alle seien strenge Katholiken, was aber nicht hindere, tolerant zu sein, wie der gute König Heinrich IV. es anempfohlen habe.

»Eben dies habe ich zu hoffen gewagt, als ich hier eintrat, Madame«, hob der Pastor wieder an, indem er sich tiefer verbeugte, »denn ich muß Euch gestehen, daß mir Freunde anvertrauten, Ihr hättet seit langen Jahren einen alten hugenottischen Diener. Ich habe ihn zuvor aufgesucht, und eben dieser Wilhelm Lützen ist es, der mich hat hoffen lassen, Ihr würdet mich für heute nacht aufnehmen.«

»Ihr könnt dessen tatsächlich versichert sein, Monsieur, und auch die nächsten Tage, wenn es Euch Vergnügen macht.«

»Mein einziges Vergnügen besteht darin, den Geboten des Herrn zu folgen und ihm nach bestem Vermögen zu dienen. Und Er ist es, der mich hierher führt, denn ich will Euch gestehen, daß ich vor allem Euren Gatten sprechen möchte .«

»Ihr habt eine Bestellung für meinen Mann?« verwunderte sich Madame de Sancé.

»Keine Bestellung, aber vielleicht einen Auftrag. Vergönnt mir, gnädige Frau, daß ich nur ihm selbst Mitteilung davon mache.«

»Gewiß, Monsieur. Übrigens höre ich die Schritte seines Pferdes.«

Wirklich trat gleich darauf Baron Armand ein. Offenbar hatte man ihn von dem überraschenden Besuch schon verständigt, denn er bezeigte seinem Gast nicht die gewohnte Herzlichkeit. Er wirkte gezwungen und fast ängstlich.

»Ist es wahr, Herr Pastor, daß Ihr aus Amerika kommt?« erkundigte er sich nach den üblichen Begrüßungen.

»Jawohl, Herr Baron. Und ich wäre froh, wenn ich mit Euch ein paar Augenblicke unter vier Augen über eine Euch bekannte Angelegenheit sprechen könnte.«

»Pst!« machte gebieterisch Armand de Sancé und warf einen beunruhigten Blick zur Tür. Etwas überstürzt fügte er hinzu, sein Haus stehe Monsieur Rochefort zur Verfügung, dieser möge nur bei den Stubenmädchen alles anfordern, was zu seiner Bequemlichkeit nötig sei. In einer Stunde werde man zur Nacht speisen.

Der Pastor dankte und bat um Erlaubnis, sich einstweilen zurückziehen zu dürfen, um sich ein wenig zu säubern. Als der Gast jedoch auf die Tür zuschritt, um sich nach dem Zimmer zu begeben, in das Madame de Sancé ihn zu führen im Begriff war, hielt ihn Josselin in seiner gewohnt brüsken Art am Arm fest.

»Ein Wort noch, Pastor. Um in jenen Ländern Amerikas zu arbeiten, muß man wohl sehr reich sein oder doch ein Fähnrichspatent oder eins für irgendein Handwerk kaufen?«

»Mein Sohn, Amerika ist ein freies Land. Es wird dort nichts verlangt, wenn es auch erforderlich ist, viel und hart zu arbeiten und seinen Mann zu stehen.«

»Wer seid Ihr, Fremdling, daß Ihr Euch erlaubt, diesen jungen Mann Euren Sohn zu nennen, und solches in Gegenwart seines Vaters und seines Großvaters?« ließ sich da von der Tür her der alte Baron mit höhnischer Stimme vernehmen.

»Ich bin Pastor Rochefort, Euch zu dienen, Herr Baron, aber ohne Diözese und nur auf der Durchreise.«

»Ein Hugenotte«, brummte der Greis, »der überdies aus jenem verfluchten Lande kommt .«

Er stand auf der Türschwelle, auf seinen Stock gestützt, aber zu seiner ganzen Größe aufgerichtet. Er hatte seinen weiten schwarzen Überrock abgelegt, den er im Winter zu tragen pflegte. Sein Gesicht erschien Angélique ebenso weiß wie sein Bart. Ohne recht zu wissen, weshalb, wurde ihr angst, und sie beeilte sich einzugreifen.

»Großvater, dieser Herr war völlig durchnäßt, und wir haben ihn aufgefordert, sich zu trocknen. Er hat uns spannende Geschichten erzählt ...«

»Schön. Ich stehe nicht an zuzugeben, daß ich Mut schätze, und wenn der Feind sich mit offenem Visier zeigt, so weiß ich, daß er das Recht auf Achtung hat.«

»Mein Herr, ich komme nicht als Feind.«

»Erspart uns Eure ketzerischen Predigten. Ich habe nie an Auseinandersetzungen teilgenommen, die nicht in das Ressort eines alten Soldaten gehören. Aber ich möchte Euch wissen lassen, daß Ihr in diesem Hause keine Seelen zu bekehren finden werdet.«

Der Pastor stieß einen fast unhörbaren Seufzer aus. »Ich weiß sehr wohl, daß die Mitglieder Eurer Familie überzeugte Katholiken sind und daß es sehr schwierig ist, Menschen zu bekehren, deren Religion sich aus uraltem Aberglauben zusammensetzt und die sich für allein unfehlbar halten.«

»Ihr gebt damit also zu, daß Ihr Eure Adepten nicht unter den gefestigten Menschen sucht, sondern unter den Unentschiedenen, den enttäuschten Ehrgeizigen, den ausgetretenen Mönchen, die sich freuen, ihre Zuchtlosigkeit sanktioniert zu sehen?«

»Herr Baron, Ihr seid zu rasch in Euren Assimilationen und Urteilen«, sagte der Pastor, dessen Stimme sich härtete. »Vornehme Persönlichkeiten und hohe Geistliche der katholischen Welt haben sich schon zu unserer Lehre bekehrt.«

»Ihr könnt mir nichts entdecken, was ich nicht bereits wüßte. Der Ehrgeiz kann die Besten zu Fall bringen. Aber der Vorteil für uns Katholiken liegt darin, daß wir von den Gebeten der ganzen Kirche, der Heiligen und unserer Toten getragen werden, während Ihr in Euerm Stolz diese Fürsprache leugnet und behauptet, mit Gott selbst verbunden zu sein.«

»Die Papisten werfen uns Stolz vor, aber sie selbst erklären sich für unfehlbar und nehmen das Recht der Gewaltanwendung in Anspruch. Als ich Frankreich im Jahre 1629 verließ«, fuhr der Pastor mit dumpfer Stimme fort, »war ich eben als ganz junger Mensch der grausamen Belagerung von La Rochelle durch die Horden Richelieus entgangen. Man unterzeichnete den Frieden von Alès, durch welchen den Protestanten das Recht genommen wurde, befestigte Plätze zu unterhalten.«

»Es war die höchste Zeit. Ihr wurdet zu einem Staat im Staate. Gesteht, daß Euer Ziel darin bestand, alle westlichen und mittleren Provinzen Frankreichs dem Einfluß des Königs zu entziehen.«

»Das weiß ich nicht. Ich war noch zu jung, um so weitgreifende Pläne zu überblicken. Ich habe nur begriffen, daß diese neuen Beschlüsse im Widerspruch zu dem von König Heinrich IV. erlassenen Edikt von Nantes standen. Und bei meiner Rückkehr stelle ich nun mit Bitterkeit fest, daß man noch immer seine Bestimmungen mit einer Schärfe anficht und verleugnet, die ihresgleichen nur in der Unaufrichtigkeit der Kasuistiker und der Richter hat.«

Es trat eine Stille ein, und Angélique merkte, daß ihr Großvater, dieser im Grunde redliche und gerechte Geist, einigermaßen entwaffnet war. Doch Raymonds ruhige Stimme ließ sich plötzlich vernehmen:

»Herr Pastor, ich will nicht bestreiten, daß die Feststellungen, die Ihr seit Eurer Rückkehr über gewisse Ausschreitungen engherziger Eiferer treffen konntet, richtig sind. Ich weiß Euch Dank, daß Ihr nicht einmal die Fälle erkaufter Konversion von Erwachsenen und Kindern erwähnt habt. Aber Ihr müßt wissen, daß, wenn sich solche Exzesse ereigneten, Seine Heiligkeit der Papst persönlich zu wiederholten Malen bei der hohen französischen Geistlichkeit und beim König Einspruch erhob. Öffentliche und geheime Kommissionen reisen durchs Land, um erwiesenes Unrecht wiedergutzumachen. Ich bin sogar überzeugt, wenn Ihr selbst nach Rom ginget und dem geistlichen Oberhaupt eine Liste mit genauen Angaben übergäbt, würde die Mehrzahl der wirklich festgestellten Mißstände beseitigt werden .«

»Junger Mann, es kommt mir nicht zu, mich um die Reform Eurer Kirche zu bemühen«, sagte der Pastor in scharfem Ton.

»Um so besser, Herr Pastor, dann werden wir selbst es tun - mit Eurer gütigen Erlaubnis!« rief der Jüngling in jähem Ungestüm aus. »Gott wird uns erleuchten.«

Angélique schaute ihren Bruder verwundert an. Nie hätte sie geahnt, daß sich hinter seinem einfältigen und ein wenig scheinheiligen Wesen solche Leidenschaft verbarg.

Nun war es der Pastor, der in Verlegenheit geriet. Um die peinliche Situation zu überbrücken, sagte Baron Armand lachend und ohne Bosheit:

»Bei diesen Erörterungen muß ich daran denken, daß ich in letzter Zeit oft bedauert habe, kein Hugenotte zu sein. Denn ein Edelmann, der zum Katholizismus übertritt, soll ja bis zu dreitausend Livres bekommen.«

Der alte Baron fuhr auf.

»Mein Sohn, verschont uns mit Euren plumpen Späßen. Sie sind im Angesicht eines Gegners unangebracht.«

Der Pastor hatte seinen feuchten Mantel vom Stuhl genommen.

»Ich war keineswegs als Gegner gekommen. Ich hatte mich auf Schloß Sancé eines Auftrages zu entledigen. Einer Botschaft aus fernen Ländern. Ich hätte gern mit Baron Armand unter vier Augen gesprochen, aber ich sehe, daß Ihr gewohnt seid, Eure Angelegenheiten offen mit der Familie zu behandeln. Ich schätze diesen Brauch. Es war derjenige der Patriarchen und auch der Apostel.«

Angélique bemerkte, daß ihr Großvater so weiß geworden war wie der Elfenbeinknauf seines Stocks und daß er sich an die Türfüllung lehnte. Sie empfand Mitleid mit ihm. Gern hätte sie den Worten Einhalt geboten, die noch kommen würden, aber schon fuhr der Pastor fort:

»Monsieur Antoine de Ridouët de Sancé, Euer Sohn, dem in Florida zu begegnen ich das Vergnügen hatte, hat mich gebeten, das Schloß aufzusuchen, in dem er geboren ist, und mich nach dem Ergehen seiner Familie zu erkundigen, damit ich ihm nach meiner Rückkehr berichten kann. Somit ist meine Aufgabe erfüllt .«

Der alte Edelmann hatte sich ihm mit kleinen Schritten genähert.

»Hinaus!« gebot er mit dumpfer, keuchender Stimme. »Niemals, solange ich lebe, soll der Name meines seinem Gott, seinem König, seinem Vaterland gegenüber meineidig gewordenen Sohnes unter diesem Dach genannt werden. Hinaus, sage ich Euch! Ich dulde keinen Hugenotten bei mir!«

»Ich gehe«, sagte der Pastor sehr ruhig.

»Nein!« Raymonds Stimme erklang von neuem. »Bleibt, Herr Pastor. Ihr könnt nicht in diese Regennacht hinaus. Kein Einwohner von Monteloup wird Euch Obdach gewähren, und das nächste protestantische Dorf ist weit entfernt. Ich bitte Euch, die Gastfreiheit meines Zimmers anzunehmen.«

»Bleibt«, sagte Josselin mit seiner rauhen Stimme, »Ihr müßt mir noch von Amerika und vom Meer erzählen.«

Der Bart des alten Barons zitterte.

»Armand«, rief er in tief unglücklichem Tone aus, der Angélique ins Herz schnitt, »hierin also hat sich der Geist der Empörung Eures Bruders Antoine geflüchtet. In diese beiden Jungen, die ich liebte. Gott will mir nichts ersparen. Ich habe wohl zu lange gelebt.«

Er schwankte. Wilhelm stürzte herzu und fing ihn auf Auf den alten Soldaten gestützt, tastete er hinaus und wiederholte mit zitternder Stimme:

»Antoine . Antoine .«

Ein paar Tage darauf starb der Großvater. Man wußte nicht, an welcher Krankheit. Still ging er hinüber, als man ihn bereits von der durch den Besuch des Pastors hervorgerufenen Aufwallung erholt glaubte. Der Schmerz über das Verschwinden Josselins blieb ihm erspart.

Eines Morgens nämlich, kurze Zeit nach der Bestattung, hörte Angélique, die noch im Halbschlaf dämmerte, wie jemand leise ihren Namen rief. Als sie die Augen öffnete, sah sie verwundert Josselin auf ihrer Seite des Bettes stehen. Sie mahnte ihn, Madelon nicht zu wecken, und folgte ihm in den Gang.

»Ich gehe fort«, flüsterte er. »Du wirst dich bemühen, es ihnen begreiflich zu machen.«

»Wohin gehst du?«

»Zuerst nach La Rochelle. Von dort aus werde ich mich nach Amerika einschiffen. Pastor Rochefort hat mir von all jenen Ländern erzählt, von den Antillen, Neuengland und auch von den Kolonien Virginia, Maryland, Carolina, dem neuen Herzogtum York und Pennsylvanien. Ich werde schon irgendwohin kommen, wo man mich haben will.«

»Hier will man dich doch auch haben«, sagte sie jammernd. Sie schlotterte in ihrem winzigen, fadenscheinigen Nachthemd.

»Nein«, erklärte er, »für mich gibt’s in dieser Welt hier keinen Platz. Ich habe es satt, einer Klasse anzugehören, die wohl Privilegien besitzt, aber keinen Daseinszweck. Ob reich oder arm, die Adligen wissen absolut nicht mehr, wozu sie nütze sind. Sieh dir Papa an! Er tappt im dunkeln herum. Er erniedrigt sich und züchtet Maultiere, aber er wagt nicht, diese demütigende Situation auszunützen, um durch das Geld seinen adligen Namen wieder zu Ansehen zu bringen. Schließlich und endlich verliert er auf beiden Ebenen. Man deutet mit dem Finger auf ihn, weil er wie ein Pferd arbeitet, und auf uns ebenfalls, weil wir trotzdem noch vornehme Bettler sind. Glücklicherweise hat mir Onkel Antoine de Sancé den Weg gezeigt. Er war der ältere Bruder Papas. Er ist Hugenotte geworden und hat den Kontinent verlassen.«

»Du willst doch nicht deinen Glauben abschwören?« fragte sie erschrocken.

»Nein. Die Bigotterie interessiert mich nicht. Ich will leben.«

Er küßte sie hastig, lief ein paar Stufen hinunter, wandte sich um und warf einen besorgten und erfahrenen Blick auf seine halbnackte junge Schwester. »Du wirst schön und kräftig, Angélique. Sieh dich vor. Du solltest auch fortgehen, sonst findest du dich über kurz oder lang mit einem Stallknecht im Heu wieder. Oder du wirst das Eigentum eines der grobschlächtigen Schweine von Krautjunkern, die wir zu Nachbarn haben.«

Mit plötzlicher Zärtlichkeit fügte er hinzu:

»Glaub an meine Erfahrungen in dieser Hinsicht, Liebes, es wäre ein furchtbares Leben für dich. Mach dich auch von diesen alten Mauern frei. Was mich anbelangt, ich gehe aufs Meer hinaus.«

Er sprang die Treppe hinunter, indem er zwei Stufen auf einmal nahm, und war verschwunden.

»Machst du dir einen Begriff von all den Sorgen und Unannehmlichkeiten, die ich mir um euret- und im besonderen um deinetwillen auf den Hals lade?« fragte Baron Armand Angélique.

Es war einige Monate nach dem Verschwinden Josselins. Angélique war auf einem Spaziergang ihrem Vater begegnet, der auf einem Baumstumpf saß, während sein Pferd neben ihm graste.

»Geht es mit den Maultieren nicht, Vater?«

»Doch, doch. Das ist es nicht. Aber ich komme eben vom Verwalter Molines. Schau, Angélique, deine Tante Pulchérie hat uns, deiner Mutter und mir, klargemacht, daß es unmöglich ist, dich länger auf dem Schloß zu behalten. Wir müssen dich ins Kloster schicken. So habe ich mich zu einem recht demütigenden Schritt entschlossen, den ich um jeden Preis vermeiden wollte. Ich habe Molines aufgesucht und ihn gebeten, mir das Darlehen für meine Familie zu gewähren, das er mir angeboten hatte.«

Seine Stimme klang gedämpft und traurig, als sei etwas in ihm zerbrochen, als habe ihn etwas noch Schmerzlicheres betroffen als der Tod seines Vaters und das Verschwinden seines Sohns.

»Armer Papa!« murmelte Angélique.

»An sich ist da ja nichts Schlimmes dabei«, fuhr der Baron fort. »Was mich aber beunruhigt, ist, daß mir Molines’ Hintergedanken verborgen bleiben.

Er hat für sein neuerliches Darlehen merkwürdige Bedingungen gestellt.«

»Welche Bedingungen, Vater?«

Er schaute sie nachdenklich an und streichelte mit seiner schwieligen Hand über ihr wundervolles dunkelgoldenes Haar.

»Es ist seltsam, daß es mir leichter fällt, mich dir anzuvertrauen als deiner Mutter. Du bist ein arger Wildfang, aber du scheinst schon fähig zu sein, alles zu verstehen. Freilich habe ich geahnt, daß Molines bei dieser Mauleselgeschichte auf seinen Vorteil bedacht war, aber ich verstand nie recht, warum er sich dabei an mich und nicht an einen gewöhnlichen Roßhändler aus der Umgegend wandte. Offenbar ist es meine Stellung als Adliger, die ihn interessiert. Er hat mir heute gesagt, er rechne auf mich, um durch meine Adelsbeziehungen vom Generalintendanten der Finanzen die völlige Steuerbefreiung für ein Viertel unserer Maultierproduktion zu erreichen und außerdem das verbriefte Recht, dieses Viertel nach England oder Spanien zu exportieren, sobald der Krieg mit diesen Ländern beendigt ist.«

»Aber das ist doch ein großartiges Geschäft!« rief Angélique begeistert aus. »Auf der einen Seite Molines, bürgerlich und gerissen, auf der andern Ihr, adlig ...«

»Und nicht gerissen«, ergänzte der Vater lächelnd.

»Nein: unerfahren. Aber Ihr habt Beziehungen und Titel. Ihr werdet bestimmt Erfolg haben. Ihr sagtet neulich selbst, der Transport der Maultiere ins Ausland erscheine Euch unmöglich bei all diesen Steuern und Zöllen, die zu den Transportkosten hinzukommen. Und gegen dieses Viertel der Produktion wird der Oberintendant auch gewiß nichts einzuwenden haben! Was macht Ihr mit dem Rest?«

»Der Militärintendanz wird das Recht eingeräumt, sich dessen Erwerb zum Jahrespreis auf dem Markt von Poitiers vorzubehalten.«

»Alles ist bedacht worden. Dieser Molines ist ein Hauptkerl! Ihr solltet Monsieur du Plessis aufsuchen und vielleicht an den Herzog de La Trémoille schreiben. Aber ich hörte, all diese hohen Persönlichkeiten würden binnen kurzem ohnehin hierherkommen, um sich wieder mit ihrer Fronde zu beschäftigen.«

»Man spricht tatsächlich davon«, sagte der Baron spöttisch. »Aber beglückwünsche mich nicht zu früh. Ob die Fürsten kommen oder nicht - nichts ist ungewisser, als daß ich ihre Zusage erhalte. Und im übrigen habe ich dir das Verwunderlichste noch gar nicht gesagt.«

»Was denn?«

»Molines will, daß ich das alte Bleibergwerk wieder in Betrieb setze, das wir in der Nähe von Vauloup besitzen«, seufzte der Baron nachdenklich. »Ich frage mich zuweilen, ob dieser Mann bei Vernunft ist, und ich gestehe, daß ich seine Winkelzüge nicht durchschaue. Kurz, er hat mich gebeten, unverzüglich den König um Erneuerung des meinen Vorfahren gewährten Privilegs zu ersuchen, im Bergwerk gefördertes Blei und Silber zu Barren zu verarbeiten. Du kennst doch den verlassenen Stollen von Vauloup?« fragte Armand de Sancé, da seine Tochter geistesabwesend zu sein schien.

Angélique nickte zerstreut.

»Ich möchte nur wissen, was sich dieser Teufelsverwalter von den alten Kieselsteinen verspricht! Denn die Wiederinstandsetzung des Bergwerks soll unter meinem Namen erfolgen, während er sie bezahlt. In einem Geheimabkommen zwischen uns wird festgelegt, daß ihm zehn Jahre lang das Pachtrecht für diese Bleimine zusteht, wofür er meine Verpflichtungen als Grundeigentümer und die Förderung des Erzes übernimmt. Ich soll aber beim Oberintendanten den entsprechenden Steuererlaß für ein Drittel der künftigen Produktion erwirken sowie die entsprechenden Exportgarantien. All das erscheint mir ein wenig kompliziert«, schloß der Baron, indem er sich erhob.

Die Bewegung ließ in seiner Börse die Goldstücke klingen, die ihm Molines vorhin übergeben hatte, und dieses sympathische Geräusch heiterte seine Stimmung auf.

»Gott ernährt die Seinen«, rief er aus. »Wir wollen nicht zu weit in die Zukunft schauen.«

Er rief sein Pferd zurück und warf einen bemüht strengen Blick auf die nachdenkliche Angélique.

»Versuche zu vergessen, was ich dir da erzählt habe, und kümmere dich um deine Ausstattung. Denn diesmal ist es fest beschlossen, mein Kind. Du wirst ins Kloster gehen.«

Angélique richtete also ihre Sachen. Hortense und Madelon gingen gleichfalls. Raymond und Gontran sollten sie begleiten und sich, nachdem sie ihre Schwestern bei den Ursulinerinnen abgeliefert hatten, zu den Jesuitenpatres von Poitiers begeben, von deren erzieherischen Fähigkeiten Wunder berichtet wurden.

Beinahe hätte indessen wenige Tage vor der Abreise ein Ereignis Angéliques Schicksal in eine andere Bahn gelenkt.

Eines Septembermorgens kam Baron de Sancé sehr verstört von Schloß Plessis zurück.

»Angélique!« rief er, während er das Speisezimmer betrat, wo die versammelte Familie ihn erwartete, um sich zu Tisch zu setzen. »Angélique, bist du da?«

»Ja, Vater.«

Er warf einen kritischen Blick auf seine Tochter, die in diesen vergangenen Monaten noch gewachsen war und jetzt gepflegte Hände und Haare hatte. Alle Welt stimmte in der Feststellung überein, daß sie auf bestem Wege sei, vernünftig zu werden.

»Es wird gehen«, murmelte er.

Er wandte sich an seine Frau:

»Stellt Euch vor, die gesamten Plessis-Leute - Marquis, Marquise, Sohn, Pagen, Diener, Hunde - sind soeben auf ihrem Besitz gelandet. Sie haben einen illustren Gast bei sich, den Fürsten Condé mit seinem ganzen Hofstaat. Ich bin mitten hinein geplatzt und habe mich ziemlich überflüssig gefühlt. Aber mein Vetter war sehr liebenswürdig. Er hat sich nach unserer Familie erkundigt, und wißt Ihr, worum er mich gebeten hat? Ihm Angélique zu bringen, die eine der Damen der Marquise vertreten soll. Die Ankunft des Prinzen Condé bringt sie in Verlegenheit. Sie braucht anmutige kleine Kammerzofen zu ihrer Hilfe.«

»Und warum nicht mich?« rief Hortense empört aus.

»Weil er >anmutig< gesagt hat«, gab ihr Vater ohne Umschweife zurück.

»Aber der Marquis hat mich sehr geistreich gefunden.«

»Aber die Marquise will hübsche Mädchen um sich haben.«

»Oh, das ist ein starkes Stück!« schrie Hortense und stürzte sich giftig auf ihre Schwester.

Diese aber hatte die Bewegung vorausgesehen und wich geschickt aus. Mit klopfendem Herzen lief sie in das große Zimmer hinauf, das sie jetzt nur noch mit Madelon teilte. Durch das Fenster rief sie einer der Mägde zu, ihr einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und einen Zuber heraufzubringen.

Sie wusch sich sorgfältig und bürstete lange ihr schönes Haar, das seidig glänzend über ihre Schultern fiel. Pulchérie kam herein und brachte ihr das schönste der Kleider, die man ihr für ihren Eintritt ins Kloster angefertigt hatte. Angélique bewunderte es, obwohl es von recht düsterer grauer Farbe war. Aber der Stoff war neu und eigens für diesen Zweck bei einem angesehenen Tuchhändler in Niort gekauft, und ein weißer Kragen hellte ihn auf. Es war ihr erstes langes Kleid, und sie zog es mit einem Schauer des Vergnügens an. Die Tante schlug gerührt die Hände zusammen.

»Meine kleine Angélique, du siehst aus wie eine junge Dame! Vielleicht sollten wir dein Haar hochnehmen?«

Doch Angélique weigerte sich. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß sie die Wirkung ihres einzigen Schmucks nicht mindern durfte.

Sie bestieg ein hübsches, braunrotes Maultier, das man eigens für sie hatte satteln lassen, und schlug in Begleitung ihres Vaters den Weg nach Schloß Plessis ein.

Das Schloß war aus seinem Zauberschlaf erwacht. Nachdem der Baron und seine Tochter ihre Tiere beim Verwalter Molines eingestellt hatten, schritten sie die Hauptallee entlang. Musikklänge wehten ihnen entgegen. Rassige Windhunde und reizende Affenpinscher tollten auf den Rasenflächen umher. Herren mit gelockten Perücken und Damen in schillernden Kleidern ergingen sich in den Alleen. Manche starrten verwundert den Landjunker im dunklen wollenen Anzug und das junge Mädchen in der Pensionstracht an, die ihnen da begegneten.

»Komisch, aber hübsch«, sagte eine der Damen, während sie mit ihrem Fächer spielte.

Angélique fragte sich, ob sie es sei, um die es sich handelte. Weshalb nannte man sie komisch? Sie musterte die prächtigen Toiletten mit ihren lebhaften Farben und dem Spitzenbesatz genauer und begann ihr graues Kleid unpassend zu finden.

Der Baron teilte die Verlegenheit seiner Tochter nicht. Er dachte nur an die Unterredung, um die er den Marquis du Plessis bitten wollte.

Auf einer kleinen Estrade saßen Musikanten und entlockten ihren Instrumenten - Viellen, Lauten, Hoboen und Flöten - zarte und bezaubernde Töne. In einem großen, mit Spiegeln geschmückten Saal sah Angélique junge Leute beim Tanz. Sie fragte sich, ob wohl ihr Vetter Philippe unter ihnen sei.

Nachdem Baron de Sancé ins Innere der Salons gelangt war, nahm er seinen alten, mit einer dürftigen Feder besetzten Hut ab und verbeugte sich. Angélique begann zu leiden. Bei ihrer Armut schien ihr einzig Arroganz am Platze. Statt den Knicks zu vollführen, den Pulchérie sie dreimal hatte wiederholen lassen, blieb sie daher steif wie eine Drahtpuppe stehen und starrte vor sich hin. Die Gesichter rund um sie her ver-schwammen ein wenig, aber sie wußte, daß alle Welt bei ihrem Anblick gar zu gern gelacht hätte. Eine jähe, von unterdrücktem Kichern unterbrochene Stille war eingetreten, als der Diener verkündet hatte:

»Baron de Ridouët de Sancé de Monteloup.«

Auch das Gesicht der Marquise du Plessis lief hinter ihrem Fächer rosig an, und ihre Augen glänzten vor unterdrückter Erheiterung.

Schließlich kam der Marquis du Plessis allen zu Hilfe, indem er liebenswürdig vortrat.

»Mein lieber Herr Vetter«, rief er aus. »Ihr macht mich überglücklich, indem Ihr so rasch herbeieilt und eure reizende Tochter mitbringt. Angélique, Ihr seid noch hübscher als bei meinem letzten Besuch. Nicht wahr? Sieht sie nicht aus wie ein Engel?« fragte er, indem er sich an seine Frau wandte.

»Vollkommen«, stimmte diese zu, die sich wieder gefaßt hatte. »Mit einem andern Kleid wird sie himmlisch sein. Setzt Euch auf diesen Schemel, mein Kind, damit wir Euch richtig betrachten können.«

»Herr Vetter«, sagte Armand de Sancé, dessen rauhe Stimme in diesem kostbaren Salon bizarr klang, »ich würde gerne unverzüglich wichtige Angelegenheiten mit Euch besprechen.«

Der Marquis hob verwundert die Brauen.

»Wirklich? So redet.«

»Ich bedaure, aber diese Dinge lassen sich nur unter vier Augen behandeln.«

Monsieur du Plessis warf einen resignierten und zugleich verschmitzten Blick auf seine Umgebung.

»Gut! Gut, lieber Vetter Baron. Wir werden uns in mein Privatboudoir begeben. Meine Damen, entschuldigt uns. Bis gleich ...«

Angélique auf ihrem Schemel war jetzt der Mittelpunkt eines neugierigen Kreises. Die furchtbare Beklemmung, die sie erfaßt hatte, löste sich ein wenig. Nun konnte sie alle diese Gesichter unterscheiden, die sie umgaben. Die meisten waren ihr fremd. Doch neben der Marquise stand eine sehr schöne Frau, die sie wiedererkannte. »Madame de Richeville«, dachte sie. Sie hatte von ihr sagen hören, daß sie zarte Beziehungen zu dem Abbé von Nieul unterhalte.

Das goldbestickte Kleid der Gräfin und ihr diamantengeschmückter Brusteinsatz ließen sie nur zu deutlich empfinden, wie unansehnlich ihr eigenes graues Kleid war. All diese Damen funkelten von Kopf bis Fuß. Sie trugen seltsame Spielereien am Gürtel: kleine Spiegel, Schildpattkämme, Konfektdöschen und Uhren. Nie würde Angélique sich so kleiden können. Nie würde sie fähig sein, so hochmütig auf andere hinabzublicken, nie würde sie es fertigbringen, sich in so überheblichem Ton zu unterhalten.

»Meine Liebe«, sagte die eine, »sie hat bezauberndes Haar, wenn es auch nie irgendwelche Pflege erfahren hat.«

»Für fünfzehn Jahre ist ihre Brust zu dürftig.«

»Aber meine Teuerste, sie ist knapp dreizehn.«

»Wollt Ihr meine Ansicht wissen, Henriette? Es ist zu spät, um das Mädchen abzuschleifen.«

»Bin ich ein Maultier, das man kauft?« fragte sich Angélique, zu verblüfft, um ernstlich verletzt zu sein.

»Was wollt Ihr«, rief Madame de Richeville aus, »sie hat grüne Augen, und grüne Augen bringen Unglück wie der Smaragd.«

»Es ist eine seltene Farbe«, protestierte eine.

»Aber ohne Reiz. Seht Euch doch den harten Ausdruck an, den dieses Mädchen hat. Nein, wirklich, ich mag grüne Augen nicht.«

»Will man mir mein einziges Gut nehmen, meine Augen und mein Haar?« dachte Angélique entrüstet.

»Gewiß, Madame«, sagte sie unvermittelt mit lauter Stimme, »ich bezweifle nicht, daß die blauen Augen des Abbés von Nieul sanfter sind . und daß sie Euch Glück bringen«, fügte sie leiser hinzu.

Es trat eine tödliche Stille ein. Ein paar unterdrückte Lacher wurden vernehmbar, erstarben aber alsbald. Einige Damen schauten im Kreise umher, als könnten sie nicht fassen, daß solche Worte aus dem Munde dieses bescheidenen Mädchens gekommen waren.

Das Gesicht der Gräfin de Richeville war purpurrot geworden. Die Marquise du Plessis, die eine sehr böse Zunge hatte, erstickte schier vor Lachen hinter ihrem Fächer, und um die peinliche Situation zu überbrücken, rief sie mit lauter Stimme:

»Philippe! Philippe! Wo ist mein Sohn? Monsieur de Barre, wollt Ihr die Güte haben, den Oberst zu suchen?«

Und als der junge Mann zur Stelle war: »Philippe, hier ist deine Base de Sancé. Nimm sie mit zum Tanzen. In der Gesellschaft der jungen Leute wird sie sich besser unterhalten als in der unsrigen.«

Angélique war sofort aufgestanden. Sie ärgerte sich, daß ihr Herz so stark klopfte. Der junge Edelmann schaute seine Mutter mit unverhohlener Entrüstung an. »Wie könnt Ihr es wagen«, schien er sagen zu wollen, »mir ein so unmöglich ausstaffiertes Mädchen in die Arme zu werfen?«

Aber er las wohl von den Mienen der Umstehenden ab, daß etwas Ungewöhnliches vorging, und murmelte, während er Angélique die Hand reichte:

»So kommt denn, Base.«

Schweigend geleitete er sie bis zur Schwelle der Galerie, in der die Pagen und die jungen Leute seines Alters sich nach Herzenslust tummeln durften.

»Platz! Platz!« rief er plötzlich. »Meine Freunde, ich stelle euch meine Base, die Baronesse Trauerkleid vor!«

Es gab ein schallendes Gelächter, und alle seine Kameraden kamen angestürzt. Die Pagen trugen kleine, komisch aufgebauschte Hosen, die am Schenkelansatz aufhörten, und mit ihren langen, mageren Jünglingsbeinen, denen hohe Absätze untergeschoben waren, sahen sie aus wie Stelzenvögel. »Schließlich sehe ich in meinem düsteren Kleid auch nicht lächerlicher aus als sie mit diesen Kürbissen um die Hüfte«, dachte Angélique.

Sie hätte gern einiges von ihrer Selbstachtung geopfert, um noch bei Philippe bleiben zu können. Aber einer der Jungen fragte: »Könnt Ihr tanzen, Demoiselle?«

»Ein wenig.«

»Wirklich? Und was für Tänze?«

»Die Bourrée, den Rigodon, den Rundtanz .«

»Hahaha!« platzten die jungen Leute los. »Philippe, was für einen Vogel bringst du uns da! Kommt, kommt, Ihr Herrn, laßt uns losen! Wer wird mit der Landpomeranze tanzen? Wo sind die Liebhaber der Bourrée? Tarn, tarn . ta!«

Brüsk riß sich Angélique von Philippe los und lief davon. Sie drängte sich durch die von Dienern und Herren erfüllten Salons, durchquerte die mit Mosaiken ausgelegte Halle, in der Hunde schliefen. Sie suchte ihren Vater, und vor allem wollte sie nicht weinen. Das alles war es nicht wert. Es würde eine Erinnerung sein, die man aus dem Gedächtnis löschen mußte wie einen grotesken Traum. Die Wachtel sollte nun einmal ihr Dickicht nicht verlassen. Das war die Strafe dafür, sagte sich Angélique, daß sie auf Tante Pulchéries Zureden gehört und der durch die schmeichelhafte Bitte des Marquis du Plessis in ihr ausgelösten Eitelkeitsanwandlung nachgegeben hatte. Endlich hörte sie aus einem abgelegenen Boudoir die durchdringende Stimme des Marquis.

»Aber nicht doch, Ihr befindet Euch in einem grundlegenden Irrtum, mein guter Freund«, sagte er in einem bekümmerten Crescendo. »Ihr bildet Euch ein, es fiele uns von Geldsorgen geplagten Edelleuten leicht, Erlaß zu erwirken. Und im übrigen bin weder ich noch der Fürst Condé in der Lage, ihn Euch zu gewähren.«

»Ich bitte Euch ja nur, Euch beim Oberintendanten der Finanzen, den Ihr persönlich kennt, für mich zu verwenden. Die Angelegenheit ist für ihn nicht ohne Interesse. Er soll mich für die Strecke vom Poitou bis zum Meer von Steuern und Wegezoll befreien. Diese Befreiung würde sich im übrigen nur auf ein Viertel meiner Produktion von Maultieren und Blei erstrecken. Als Gegenleistung könnte sich die Militärintendanz des Königs das Recht vorbehalten, den Rest zum jeweils geltenden Preis zu erwerben, außerdem würde dem königlichen Fiskus der entsprechende Erwerb von Blei und Silber zum offiziellen Tarif freistehen. So wäre der Staat hinsichtlich dieser Dinge nicht mehr ausschließlich auf das Ausland angewiesen.«

»Eure Worte riechen nach Dünger und Schweiß«, protestierte der Marquis und führte angewidert die Hand zur Nase. »Ich frage mich, ob Ihr nicht allzusehr gegen Eure Standesehre verstoßt, indem Ihr Euch in ein Unternehmen stürzt, das nur zu sehr einem - erlaubt mir das Wort - Handelsgeschäft ähnelt.«

»Handelsgeschäft oder nicht, ich muß leben«, erwiderte Armand de Sancé mit einem Starrsinn, der Angélique wohltat.

»Und ich«, rief der Marquis, indem er die Arme zum Himmel hob, »glaubt Ihr, ich hätte keine Schwierigkeiten? Trotzdem werde ich mir bis zu meinem letzten Tage jedes bürgerliche Geschäft versagen, das meiner Stellung als Edelmann abträglich sein könnte.«

»Herr Vetter, Eure Einkünfte lassen sich mit den meinigen nicht vergleichen. Ich lebe tatsächlich im Bettelstand dank dem König, der mir seine Unterstützung versagt, und dank den Wucherern von Niort, die mich auffressen.«

»Ich weiß, ich weiß, mein guter Armand. Aber habt Ihr Euch je die Frage vorgelegt, wie ich, ein hochgestellter Edelmann, ein Hofbeamter mit zwei wichtigen Ämtern, mich im Gleichgewicht halte? Nein, gewiß nicht! Nun, ich werde Euch eine kleine Rechnung aufmachen, wenn ich auch kein Talent zum Intendanten der Finanzen besitze. So hört denn, Baron: zunächst die Einkünfte. Mein Besitztum Plessis - bei weitem das größte - wirft jährlich vierzigtausend Livres ab. Aus dem Besitz meiner Frau in der Bretagne kommen noch zwanzigtausend hinzu. Mein Amt als Kammerherr des Königs bringt mir vierzigtausend ein, das des Brigadefeldmeisters vom Poitou sechzigtausend. Ich habe also ein durchschnittliches Einkommen von hundertsechzigtausend Livres .«

»Ich«, sagte der Baron, »würde mich mit einem Zehntel davon begnügen. Dabei habt Ihr nur einen Sohn, ich hingegen muß vier Mädchen ausstatten und sechs Jungen großziehen.«

»Einen Augenblick noch, Vetter vom Lande, und ich werde Euch beweisen, in welch tiefem Irrtum Ihr befangen seid - in dem üblichen Irrtum der Landjunker bezüglich des Hofadels. Ich fahre also in meiner Rechnung fort. Ich habe ein jährliches BruttoEinkommen von hundertsechzigtausend Livres. Betrachten wir nun meine Ausgaben. Mein Palais in Paris kostet mich mit seinem Dienstpersonal und dem üblichen Aufwand für Empfänge, Uniformen, Kleidung, Karossen, Gehälter für sechzig Dienstboten und so weiter fünfzigtausend Livres. Mein Landhaus in Fontainebleau zwanzigtausend. Meine Reisen mit dem Hof sechzigtausend. Meine Frau verbraucht über fünfzigtausend Livres im Jahr, mein Sohn dreißigtausend. Ich muß fünfzehntausend an Zinsen für verschiedene Darlehen zu fünfzehn Prozent jährlich be-zahlen, und ich habe soeben weitere fünfundsiebzig-tausend Livres aufgenommen, um die Oberstenstelle meines Sohnes zu kaufen. In einem andern Jahr wird sich eine andere Ausgabe ergeben, Spielschulden beispielsweise, die bei Hof quasi obligatorisch sind. Rechnet Euch das aus, Herr Vetter!«

»Ich bin bestürzt, Marquis. Es ist doch nicht möglich, daß Euch Eure Lebenshaltung jährlich dreihunderttausend Livres kostet!«

»Dabei habe ich noch nicht die Zehntensteuer eingerechnet und die Renten, die der König uns zuweilen zu kaufen zwingt.«

»Es fehlen Euch also jährlich hundertfünfzigtausend Livres?«

»Ihr habt es erraten, Herr Vetter. Und wenn ich mir erlaubt habe, vor Euch diese Rechnung aufzustellen, so geschah es, damit Ihr mich versteht, wenn ich Euch sage, daß es mir im Augenblick unmöglich ist, an Monsieur de Trémaut, den Intendanten der Finanzen, heranzutreten.«

»Aber Ihr kennt ihn doch.«

»Ich kenne ihn, sehe ihn aber nicht mehr. Ich kann Euch nur immer wieder sagen, daß Monsieur de Trémaut dem König und der Regentin ergeben ist und sich selbst bei Mazarin beliebt zu machen bemüht.«

»Nun, genau ...«

»Genau aus diesem Grunde sehen wir ihn nicht mehr. Wißt Ihr denn nicht, daß Fürst Condé, dem ich mich verschworen habe, sich mit dem Hof überwerfen hat?«

»Wie sollte ich das wissen?« erwiderte Armand de Sancé verblüfft. »Ich habe Euch vor wenigen Monaten gesprochen, und damals hatte die Regentin keinen besseren Diener als den Fürsten.«

»Ja, die Zeit ist weitergegangen«, seufzte der Marquis du Plessis schmerzlich. »Ich kann Euch das nicht im einzelnen auseinandersetzen. Immerhin sollt Ihr wissen, daß nur dank dem Fürsten Condé die Königin, ihre beiden Söhne und dieser rote Teufel von Kardinal kürzlich wieder den Louvre in Paris beziehen konnten. Nun, zum Dank behandelt man diesen großen Mann auf unwürdige Weise. Vor ein paar Wochen kam es zum Bruch. Angebote aus Spanien erschienen dem Fürsten einigermaßen interessant. Er hat sich zu mir begeben, um die Sache genau zu prüfen.«

»Spanische Angebote?« wiederholte Baron Armand.

»Ja. Unter uns, stellt Euch vor, König Philipp IV geht so weit, unserm großen General wie auch Monsieur de Turenne eine Armee von je zehntausend Mann anzubieten.«

»Zu welchem Zweck?«

»Um die Regentin zu unterwerfen und vor allem diesen Dieb von Kardinal. Mittels der vom Fürsten Condé geführten spanischen Armeen würde dieser in Paris einziehen, und Gaston von Orléans, der Bruder des verewigten Königs Ludwig XIII., würde zum König ausgerufen werden. Die Monarchie wäre gerettet und endlich von Frauen, Kindern und einem Ausländer befreit, der sie entehrt. Was soll ich bei all diesen schönen Projekten tun, frage ich Euch? Wenn ich den Euch geschilderten Lebensstil beibehalten will, kann ich mich nicht einer verlorenen Sache widmen. Das Volk, das Parlament, der Hof, alle Welt haßt Mazarin. Die Königin hält weiter an ihm fest und wird niemals nachgeben. Das Leben, das der Hof und der kleine König seit zwei Jahren führen, ist unbeschreiblich. Man kann es nur mit dem der Zigeuner im Orient vergleichen: Flucht, Rückkehr, Zwistigkeiten, Kriege ... Es ist einfach zuviel. Die Sache des kleinen Königs Ludwig XIV. ist verloren.

Hinzu kommt noch, daß die Tochter Gastons von Orléans, Mademoiselle de Montpensier - Ihr wißt, jenes unmöglich gebaute Frauenzimmer -, eine verbissene Anhängerin der Fronde ist. Sie hat sich schon vor einem Jahr für die Empörer eingesetzt und möchte es am liebsten heute wieder tun. Meine Frau verehrt sie, und diesmal werde ich nicht zulassen, daß Alice sich einer anderen Partei anschließt als ich. Sich eine blaue Schärpe um die Hüfte schlingen und eine Kornähre an den Hut stecken wäre nicht schlimm, wenn solche Uneinigkeit zwischen Eheleuten nicht noch andere Verwirrungen zur Folge hätte. Nun, Alice ist ihrem Wesen nach immer >dagegen<. Gegen die Strumpfbänder und für die seidenen Degengehänge, gegen die Haarfransen und für die freie Stirn. Sie ist eben ein Original. Augenblicklich ist sie gegen Anna von Österreich, die Regentin, weil diese ihr gegenüber die Bemerkung hat fallenlassen, die Pastillen, die sie für die Mundpflege benutze, erinnerten sie an ein Abführmittel. Nichts wird Alice dazu bringen, an den Hof zurückzukehren, wo man sich, wie sie behauptet, bei den Andachtsübungen der Königin und den Streichen der kleinen Prinzen langweilt. Ich werde daher meiner Frau folgen, da meine Frau mir nicht folgen will. Ich bin schwach genug, einiges Pikante an ihr zu finden und gewisse Talente in der Liebe, die mir Spaß machen ... Schließlich ist die Fronde ein ganz hübsches Spiel.«

»Aber - aber Ihr wollt doch nicht sagen, daß auch Turenne ...?« stammelte Armand de Sancé, dem die Felle wegschwammen.

»Ach, Turenne, Turenne! Der ist wie alle andern. Der hat es nicht gern, wenn man seine Dienste mißachtet. Er wollte Sedan für seine Familie haben. Man hat es ihm verweigert. Er war verärgert, wie sich denken läßt. Er soll sogar bereits auf das Angebot des Königs von Spanien eingegangen sein. Fürst Condé hat es weniger eilig. Er wartet erst noch die Nachrichten seiner Schwester de Longueville ab, die mit der Fürstin Condé aufgebrochen ist, um die Normandie aufzuwiegeln. Nebenbei gesagt, ist da auch noch die Herzogin von Beaufort, für deren Reize er nicht unempfindlich ist ... Jedenfalls legt unser großer Schlachtenheld fürs erste wenig Ungeduld an den Tag, in den Krieg zu ziehen. Ihr werdet es ihm nachsehen, wenn Ihr der besagten Göttin begegnet. Mein Lieber, eine Haut .!«

Angélique sah aus der Entfernung, wie ihr Vater sein großes Taschentuch hervorzog und sich die Stirn wischte. »Er wird nichts erreichen«, sagte sie sich mit wehem Herzen. »Was kümmert’s sie schon, wenn wir Sorgen mit unseren Mauleseln und unserem silberhaltigen Blei haben?«

Sie entfernte sich und betrat den Park, über den sich der blaue Abend breitete. Noch immer hörte man in den Salons die Violinen und Gitarren einander antworten, und in langer Reihe brachten Lakaien die Leuchter. Einige stiegen auf Schemel und entzündeten die an den Wänden angebrachten Kerzen.

»Wenn ich denke«, sagte sich Angélique, während sie langsam durch die Alleen wanderte, »daß der arme Papa sich wegen der paar Maultiere Skrupel machte, die Molines in Kriegszeiten gern nach Spanien verkauft hätte! Verrat? Das ist all diesen Fürsten höchst gleichgültig, die dennoch nur durch die Monarchie leben. Kann man es sich vorstellen, daß sie ernstlich die Absicht haben, den König zu bekämpfen?«

Sie war um das Schloß herumgegangen und befand sich jetzt an seiner Rückseite, am Fuße jener Fassade, die sie früher so oft erklettert hatte, um die Schätze des Wunderzimmers zu betrachten. Der Ort war verlassen, denn die Paare, die die an diesem Herbsttag schon recht kühle Abendluft nicht scheuten, hielten sich zumeist auf dem Rasen vor der Vorderfront auf.

Ein vertrauter Kindheitsinstinkt veranlaßte sie, ihre Schuhe auszuziehen, und behende schwang sie sich trotz ihres langen Kleides auf das Kranzgesims des ersten Stockwerks hinauf. Es war jetzt vollkommen Nacht, und kein Vorbeikommender hätte sie bemer-ken können, zumal sie sich an ein Türmchen preßte, das den rechten Flügel des Schlosses zierte.

Das Fenster stand offen. Angélique beugte sich vorsichtig hinein. Der Raum schien zum erstenmal bewohnt zu sein, denn sie erkannte den goldenen Schimmer eines Öl-Nachtlämpchens. Das Mysterium der schönen Möbel und Tapeten wurde dadurch nur noch tiefer. Wie Schneekristalle funkelte das Perlmutt eines Nähtischchens aus Ebenholz.

Als Angélique in die Richtung des hohen, damastverkleideten Bettes schaute, hatte sie plötzlich das Gefühl, als habe sich das Bild des Gottes und der Göttin belebt.

Zwei weiße, nackte Körper umschlangen sich dort auf den in Unordnung geratenen Leintüchern, deren Spitzen auf den Boden hinabhingen. Sie waren so eng ineinander verschlungen, daß Angélique zunächst an einen Ringkampf zwischen rauflustigen und schamlosen Jünglingen dachte, bis sie erkannte, daß dort ein Mann und eine Frau lagen.

Das blonde, lockige Haar des Mannes bedeckte fast völlig das Gesicht der Frau, die sein langer Körper völlig zerdrücken zu wollen schien. Gleichwohl bewegte er sich sanft, regelmäßig, von einer Art wollüstiger Hartnäckigkeit beseelt, und der Widerschein der Nachtlampe offenbarte das Spiel seiner herrlichen Muskeln.

Von der Frau erkannte Angélique nur da und dort einen aus dem Halbdunkel hervortauchenden Schimmer: ein gegen den männlichen Körper erhobenes zartes Bein, eine zwischen den sie umschlingenden Armen hervorquellende Brust, eine leichte weiße Hand. Diese kam und ging wie ein Schmetterling, streichelte gleichsam mechanisch die Flanke des Mannes, um dann plötzlich kraftlos herabzufallen, während ein tiefer Seufzer von den Pfühlen aufstieg.

In den Augenblicken der Stille vernahm Angélique die sich vermischenden und immer rascher werdenden Atemzüge, dem Wehen eines heißen Sturmes gleich. Dann brachte eine plötzliche Entspannung die Beruhigung. Und das Ächzen der Frau erklang von neuem in der Finsternis, während ihre Hand besiegt auf das weiße Leintuch fiel wie eine abgeschnittene Blume.

Angélique war fassungslos und zugleich unbestimmt verwundert. Nachdem sie so oft das Bild des Olymps betrachtet, seine frische Lebendigkeit und seinen majestätischen Schwung genossen hatte, war es letzten Endes ein Eindruck von Schönheit, den ihr diese Szene vermittelte, deren Bedeutung sie als Landmädchen erfaßte.

»Das also ist die Liebe«, sagte sie sich, während sie ein Schauer des Entsetzens und der Lust durchfuhr.

Endlich lösten sich die beiden Liebenden. Sie lagen nun nebeneinander und ruhten wie Grabmalsstatuen im Dunkel einer Krypta. Weder er noch sie sprach ein Wort. Die Frau regte sich zuerst. Sie streckte ihren sehr weißen Arm aus und nahm von der Konsole nahe dem Bett eine Flasche, in der rubinroter Wein schimmerte. Sie ließ ein mattes, kleines Lachen hören.

»Oh, Geliebter, ich bin wie zerschlagen«, flüsterte sie. »Wir müssen unbedingt zusammen diesen Roussillonwein trinken, den Euer vorausblickender Diener hier bereitgestellt hat. Wollt Ihr einen Schluck?«

Aus dem Grunde des Alkovens antwortete der Mann mit einem Brummen, das als Zustimmung gedeutet werden konnte. Die Dame, deren Kräfte zurückgekehrt zu sein schienen, füllte zwei Gläser, reichte eines ihrem Liebhaber und trank das andere mit genießerischer Lust.

»Das ist die Brautsuppe der Fürsten«, dachte Angélique. Sie hatte kein Empfinden für ihre unbequeme Stellung. Jetzt konnte sie die Frau deutlich sehen, und sie bewunderte ihre vollendet runden Brüste, ihren geschmeidigen Leib, ihre langen, gekreuzten Beine.

Auf dem Tablett lagen Früchte. Die Frau wählte einen Pfirsich und biß herzhaft hinein.

»Der Teufel hole die Störenfriede!« rief plötzlich der Mann aus, während er über seine Mätresse hinweg aus dem Bett sprang.

Angélique, die das Klopfen an der Zimmertür nicht gehört hatte, glaubte sich entdeckt und verbarg sich mehr tot als lebendig in der Nische des Türmchens.

Als sie aufblickte, sah sie, daß der Gott sich in einen weiten, braunen, mit einer silbernen Kordel verschnürten Schlafrock gehüllt hatte. Sein Gesicht war das eines jungen Mannes von etwa dreißig Jahren und weniger schön als sein Körper, denn er hatte eine lange Nase und harte Augen, die ihm ein raubvogelartiges Aussehen gaben.

»Ich bin in Gesellschaft der Herzogin von Beaufort«, rief er, zur Tür gewandt.

Trotz dieser Mitteilung erschien ein Diener auf der Schwelle.

»Eure Hoheit wollen mir verzeihen. Ein Mönch hat soeben im Schloß vorgesprochen und besteht darauf, von Monsieur de Condé empfangen zu werden. Der Marquis du Plessis hat es für richtig befunden, ihn sofort zu Eurer Hoheit zu schicken.«

»Er soll hereinkommen!« brummte der Fürst nach einem Augenblick des Schweigens.

Er trat zum Ebenholzsekretär, der neben dem Fenster stand, und öffnete einige Schubfächer.

Aus dem Vorzimmer führte der Lakai einen Mönch in wollener Kapuze herein, der unter mehreren bemerkenswert tiefen Verbeugungen näher trat. Als er sich aufrichtete, wurde sein braunes Gesicht erkennbar, in dem große, schwarze, brennende Augen glänzten.

Das Erscheinen des Geistlichen schien die auf dem Bett liegende Frau keineswegs in Verlegenheit zu bringen. Sie biß weiterhin unbekümmert in die schönen Früchte. Kaum daß sie ein Tuch über den Ansatz der Beine gebreitet hatte.

Der über den Sekretär gebeugte blonde Mann entnahm ihm große, rot gesiegelte Umschläge.

»Vater«, sagte er, ohne sich umzuwenden, »ist es Monsieur Fouquet, der Euch schickt?«

»Eben der, Hoheit.«

Der Mönch fügte einen Satz in einer singenden Sprache hinzu, die Angélique für Italienisch hielt. Wenn er Französisch redete, lispelte er leicht, und sein Akzent hatte etwas Kindliches, das nicht ohne Charme war.

»Es war überflüssig, das Paßwort zu wiederholen, Signor Exili«, sagte der Fürst Condé. »Ich hätte Euch an Euerm Signalement und an dem blauen Mal erkannt, das Ihr im Augenwinkel tragt. Ihr also seid der geschickteste Künstler Europas in jener schwierigen und raffinierten Wissenschaft des Giftmischens?«

»Eure Hoheit ehren mich. Ich habe nur ein paar von meinen florentinischen Vorfahren vererbte Rezepte vervollkommnet.«

»Die Leute aus Italien sind Künstler auf allen Gebieten«, rief Condé aus. Er brach in wieherndes Gelächter aus, dann nahm seine Physiognomie plötzlich wieder ihren harten Ausdruck an.

»Habt Ihr das Ding?«

»Hier.«

Der Kapuziner brachte aus seinem weiten Ärmel ein ziseliertes Kästchen zum Vorschein. Er öffnete es selbst, indem er auf eine der Verzierungen aus edlem Holz drückte.

»Seht, Hoheit, es genügt, den Fingernagel in den Halsansatz dieser allerliebsten Figur zu drücken, die eine Taube auf der Faust trägt.«

Der Deckel war aufgesprungen. Auf einem Atlaspolster glänzte eine mit smaragdfarbener Flüssigkeitgefüllte Glasampulle. Der Fürst Condé nahm vorsichtig das Flakon heraus und hielt es ins Licht.

»Römisches Vitriol«, sagte leise der Pater Exili. »Es ist eine langsam, aber sicher wirkende Mixtur. Ich habe sie dem ätzenden Sublimat vorgezogen, das den Tod in wenigen Stunden hervorrufen kann. Den Andeutungen Monsieur Fouquets entnahm ich, daß Ihr selbst, Hoheit, wie auch Eure Freunde Wert darauf legen, daß auf die Umgebung der betreffenden Person kein Verdacht fällt. Die letztere wird von einem Unwohlsein ergriffen werden und vielleicht eine Woche Widerstand leisten, aber ihr Tod wird als die natürliche Folge des Genusses einer verdorbenen Speise erscheinen. Es wäre daher zweckmäßig, an der Tafel dieser Person Muscheln, Austern oder andere Schalentiere reichen zu lassen, deren Wirkungen zuweilen gefährlich sind. Ihnen die Schuld an einem so jähen Tode zuzuschreiben wird ein Kinderspiel sein.«

»Ich danke Euch für Eure vorzüglichen Ratschläge, Vater.«

Condé starrte noch immer auf die blaßgrüne Ampulle, und seine Augen glänzten haßerfüllt. Angélique empfand bittere Enttäuschung dabei: Der auf die Erde herabgestiegene Liebesgott war der Schönheit bar und flößte ihr Furcht ein. Dann warf der Fürst einen spöttischen Blick auf den Mönch, den er an Körpergröße überragte.

»Ich hoffe, Euer solcher Kunst gewidmetes Leben hat Euch nicht allzu skrupulös gemacht, Signor Exili. Was würdet Ihr indessen denken, wenn ich Euch gestände, daß dieses Gift für einen Eurer Landsleute bestimmt ist, einen Italiener aus den Abruzzen?«

Ein Lächeln kräuselte die feinen Lippen Exilis. Er verbeugte sich von neuem.

»Ich betrachte als Landsleute nur diejenigen, die meine Dienste nach ihrem genauen Wert einschätzen, Hoheit. Und im Augenblick zeigt sich Monsieur Fouquet vom Parlament in Paris mir gegenüber hochherziger als ein gewisser Italiener aus den Abruzzen, den ich gleichfalls kenne.«

»Bravo! Bravissimo, Signore!« sagte Condé lachend. »Ich habe gerne schlagfertige Leute Eurer Art um mich.«

Sorgsam legte er das Flakon auf sein Atlaspolster zurück. Es entstand eine Pause. Signor Exili betrachtete sein Werk mit einer Befriedigung, die von Eitelkeit nicht ganz frei war.

»Ich bemerke noch, Hoheit, daß diese Flüssigkeit den Vorteil hat, geruch- und nahezu geschmacklos zu sein. Sie verändert die Nahrungsmittel nicht, denen man sie beimischt, und die betreffende Person wird, falls sie überhaupt sonderlich auf das achtet, was sie ißt, höchstens ihrem Koch vorwerfen können, er sei mit den Gewürzen etwas zu großzügig umgegangen.«

»Ihr seid ein gewitzter Mann«, wiederholte der Fürst, der nachdenklich zu werden schien. Ein wenig fahrig schob er auf der Platte des Nähtischchens die versiegelten Umschläge zusammen.

»Hier ist, was ich Euch als Gegengabe für Monsieur Fouquet überreichen soll. Dieser Umschlag da enthält die Erklärung des Marquis d’Hocquincourt. Hier sind diejenigen von Monsieur de Charost, Monsieur du Plessis, Madame du Plessis, Madame de Richeville, der Herzogin von Beaufort, von Madame de Longueville. Wie Ihr seht, sind die Damen weniger lässig ... oder weniger skrupulös als die Herren. Es fehlen mir noch die Briefe von Monsieur de Maupéou, vom Marquis de Créqui und einigen anderen .«

»Und der Eurige, Hoheit.«

»Ganz recht. Hier ist er. Ich habe ihn eben geschrieben, aber noch nicht unterzeichnet.«

»Würden Eure Hoheit die Güte haben, mir den Text vorzulesen, damit ich mich Punkt für Punkt von der Richtigkeit des Wortlauts überzeugen kann? Monsieur Fouquet legt großen Wert darauf, daß die Erklärung vollständig ist.«

»Wie es Euch beliebt«, sagte der Fürst und zuckte unmerklich die Schultern.

Er nahm das Blatt und las mit lauter Stimme:

»Ich, Ludwig II., Herzog von Enghien, Fürst Condé, gebe Monseigneur Fouquet die Versicherung, daß ich nie zu jemand anderem als zu ihm halten, ausnahmslos nur ihm gehorchen, ihm meine Städte, Befestigungen und sonstiges übergeben werde, wann immer er es befiehlt.

Zwecks Versicherung dessen überreiche ich dieses von meiner Hand geschriebene und unterzeichnete Schriftstück aus freien Stücken und ohne daß er auch nur darum ersucht hätte, da er die Güte hat, sich auf mein Wort zu verlassen, das ihm sicher ist.

Gegeben zu Plessis-Bellière am 20. September 1649.«

»Unterzeichnet, Hoheit«, sagte Exili, dessen Augen im Schatten seiner Kapuze funkelten.

Rasch, als habe er Eile, damit fertig zu werden, ergriff Condé auf dem Sekretär einen Federkiel und schnitt ihn zu. Während er den Brief mit seinem Namenszug versah, zündete der Mönch ein Öllämpchen an. Condé brachte daran Wachs zum Schmelzen und siegelte die Botschaft.

»Alle anderen Erklärungen sind nach diesem Muster verfaßt und unterzeichnet«, schloß er. »Ich denke, Euer Meister wird befriedigt sein und es uns beweisen.«

»Seid dessen gewiß, Hoheit. Doch kann ich dieses Schloß nicht verlassen, ohne die anderen Erklärungen mitzunehmen, auf die Ihr mich hoffen ließet.«

»Ich werde es mir angelegen sein lassen, sie Euch vor morgen mittag zukommen zu lassen. Unsere Freundin, die Marquise du Plessis, wird inzwischen für Eure Unterbringung sorgen, Signore. Ich habe ihr Eure Ankunft in Aussicht gestellt.«

»Inzwischen dürfte es wohl zweckmäßig sein, diese Briefe in das Geheimkästchen zu tun, das ich Euch soeben übergab. Seine Öffnungsvorrichtung ist unsichtbar, und sie werden nirgends vor Indiskretionen sicherer sein.«

»Ihr habt recht, Signor Exili. Wenn ich Euch reden höre, wird mir klar, daß auch die Verschwörung eine Kunst ist, die Erfahrung fordert. Ich selbst bin nur ein Krieger und gebe es offen zu.«

»Ein ruhmreicher Krieger!« rief der Italiener mit einer Verbeugung aus.

»Ihr schmeichelt mir, Vater. Doch ich gestehe, daß es mir lieb wäre, wenn Monsieur de Mazarin und Ihre Majestät die Königin Eure Ansicht teilten. Wie dem auch sei, ich glaube immerhin, daß die militärische Taktik, wenn auch plumper und vielfältiger, ein wenig Euren subtilen Kunstgriffen gleicht. Man muß immer die Absichten des Gegners im voraus erkennen.«

»Hoheit, Ihr redet, als sei Machiavelli selbst Euer Lehrmeister gewesen.«

»Ihr schmeichelt mir«, wiederholte der Fürst. Doch da seine Eitelkeit gestillt war, heiterte er sich wieder auf.

Exili zeigte ihm, wie man das Atlaspolster anhob, um die kompromittierenden Umschläge darunterschieben zu können. Dann wurde das Ganze in den Sekretär verschlossen.

Kaum hatte sich der Italiener zurückgezogen, als Condé wie ein Kind das Kästchen wieder hervorzog und es abermals öffnete.

»Zeigt!« flüsterte die Frau und streckte den Arm aus.

Während der Unterhaltung hatte sie sich nicht eingemischt und sich darauf beschränkt, nacheinander ihre Ringe wieder an die Finger zu stecken. Aber offensichtlich war ihr kein Wort entgangen.

Condé trat ans Bett, und beide beugten sich über das smaragdgrüne Flakon.

»Glaubt Ihr, daß es wirklich so furchtbar ist, wie er sagt?« flüsterte die Herzogin von Beaufort abermals.

»Fouquet versichert, es gebe keinen geschickteren Apotheker als diesen Florentiner.«

Die Dame war auf die Kissen zurückgesunken. »So ist Monsieur de Mazarin also tot!« sagte sie ruhig.

»So gut wie, denn hier halte ich ihn in Händen, diesen Tod.«

»Heißt es nicht, die Königin-Mutter teile zuweilen ihre Mahlzeiten mit dem, den sie so leidenschaftlich liebt?«

»Man sagt so«, versetzte Condé nach kurzem Schweigen. »Aber ich kann Euern Plan nicht billigen, Liebste. Ich denke an ein anderes Vorgehen, ein einfacheres und wirksameres. Was wäre die KöniginMutter ohne ihre Söhne ...? Der Spanierin bliebe nichts übrig, als sich in ein Kloster zurückzuziehen und sie dort zu beweinen .«

»Den König vergiften?« fuhr die Herzogin auf.

Der Fürst wieherte vergnügt. Er ging zum Sekretär zurück und schloß das Kästchen ein.

»Das ist echt weiblich!« rief er aus. »Der König! Ihr geratet in Rührung, weil es sich um ein hübsches Kind handelt, das in der Pubertät steckt und Euch am Hofe seit einer Weile schmachtende Blicke zuwirft. Das ist es, was Euch der König bedeutet. Für uns ist er ein gefährliches Hindernis bei all unsern Absichten. Was seinen Bruder betrifft, ein auf Abwege geratenes Jüngelchen, dem es bereits Vergnügen macht, sich als Mädchen anzuziehen und sich von den Männern streicheln zu lassen, so kann ich mir ihn noch weniger auf dem Thron vorstellen als Euern unschuldigen königlichen Knaben. Nein, glaubt mir, mit Monsieur d’Orléans, der so wenig streng ist, wie sein Bruder Ludwig XIII. es zuviel war, werden wir einen König nach unserm Geschmack bekommen. Er ist reich und von schwachem Charakter. Was brauchen wir mehr?«

Condé versenkte, nachdem er den Sekretär wieder abgeschlossen hatte, den Schlüssel in die Tasche seines Schlafrocks und fuhr fort: »Meine Liebe, ich glaube, wir müssen daran denken, uns unseren Gastgebern zu zeigen. Es ist Zeit für das Souper. Soll ich Eure Kammerzofe rufen lassen?«

»Ich wäre Euch dankbar, mein teurer Gebieter.«

Angélique, deren Glieder steif zu werden begannen, hatte sich auf das Kranzgesims zurückgezogen. Sie sagte sich, daß ihr Vater sie suchen würde, konnte sich aber nicht entschließen, ihren Lauscherposten zu verlassen. Im Zimmer hüllten sich der Fürst und seine Mätresse unter Assistenz der Dienstboten in ihre Staatsgewänder, wobei Seine Hoheit sich ziemlich ungeduldig zeigte und mehrmals Flüche ausstieß.

Als Angélique die Augen von der Lichtwand abkehrte, die das offene Fenster bildete, sah sie um sich her nur die undurchdringliche Nacht, aus der das Rauschen des vom Herbstwind bewegten Waldes emporstieg.

Endlich wurde ihr bewußt, daß das Zimmer verlassen worden war. Das Nachtlicht schimmerte noch, aber über den Raum hatte sich von neuem das Mysterium gebreitet.

Ganz leise schlich das Mädchen zum Fensterkreuz und ließ sich ins Innere gleiten. Der Geruch der Schminke und der Parfüms vermischte sich auf seltsame Weise mit dem Duft feuchten Holzes und reifer Kastanien, den die Nachtluft mit sich führte.

Angélique wußte noch nicht recht, was sie tun sollte. Sie hätte überrascht werden können. Sie fürchtete sich nicht davor. All das war nur ein Traum, etwas wie die närrische Dame von Monteloup, wie die Verbrechen des Gilles de Retz ...

In spontanem Entschluß holte sie aus der Tasche des auf einem Stuhl liegenden Schlaf rocks den kleinen Schlüssel zum Sekretär, öffnete diesen und entnahm ihm das Kästchen. Es war aus Sandelholz und verbreitete einen durchdringenden Geruch. Nachdem sie den Sekretär wieder abgeschlossen und den Schlüssel an seinen Platz getan hatte, kletterte Angélique, das Kästchen unter dem Arm, auf das Gesims zurück. Plötzlich empfand sie ein königliches Vergnügen. Sie stellte sich das Gesicht des Fürsten Condé vor, wenn er das Verschwinden des Giftes und der kompromittierenden Briefe entdecken würde.

»Das ist kein Diebstahl«, sagte sie sich, »denn es handelt sich darum, ein Verbrechen zu verhindern.«

Sie wußte auch schon, in welches Versteck sie ihre Beute bringen würde. Die Ecktürmchen, mit denen der italienische Architekt das graziöse Schloß Plessis versehen hatte, dienten nur zur Verzierung, aber man hatte sie nach dem Muster mittelalterlicher Gebäude mit Miniaturzinnen ausgestattet. Außerdem waren sie hohl und wiesen in der Höhe des ersten Stocks eine ganz kleine Luke auf.

Angélique schob das Kästchen durch eine solche Luke ins Innere des nächsten Türmchens. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn es hier jemand finden würde! Dann glitt sie gewandt die Fassade entlang und gelangte wieder auf festen Boden. Erst jetzt stellte sie fest, daß ihre Füße zu Eis erstarrt waren. - Nachdem sie in ihr altes Schuhzeug geschlüpft war, kehrte sie ins Schloß zurück, wo sich die ganze Gesellschaft inzwischen in den Salons versammelt hatte. Als Angélique die Halle betrat, wurde ihre Nase von appetitanregenden kulinarischen Düften gekitzelt. Sie sah, wie sich eine Reihe livrierter kleiner Diener mit großen silbernen Platten quer durch den großen Raum bewegte. Federngarnierte Fasanen und Bekassinen, ein von Blumen umkränztes Spanferkel, mehrere Stücke eines sehr schönen Rehs, die über Artischockenböden und Fenchel aufgeschichtet waren, defilierten an ihr vorbei.

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