Es war so etwas wie ein Naturphänomen: Er knirschte, schnaubte, ächzte, grunzte, und der Schatten seiner riesigen Gestalt füllte eine ganze Wand aus.

Er nahm die prächtige braune Perücke ab und stülpte sie sorgsam über einen hölzernen Pilz. Nachdem er sich sodann energisch den kahlen Schädel gerieben hatte, warf er seine letzten Kleidungsstücke von sich.

Auch jetzt noch, ohne Stiefel und Perücke, im Adamskostüm, wirkte der Hauptmann höchst imposant. Sie hörte ihn in einem Eimer Wasser planschen, dann kam er, ein Handtuch züchtig um die Lenden geknotet, zurück. In diesem Augenblick wurde abermals an die Tür geklopft.

»Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«

Er öffnete.

»Herr Hauptmann, die Wachpatrouille ist zurückgekehrt und meldet, in der Rue des Martyrs sei ein Haus ausgeraubt worden .«

»Schockschwerenot!« donnerte der Hauptmann. »Wann, in drei Teufels Namen, merkt ihr endlich, daß ich der Märtyrer bin! Seht ihr nicht, daß ich ein knuspriges Hühnchen in meinem Bett habe, das seit drei Stunden auf mich wartet? Glaubt ihr, ich habe Zeit, mich um eure Albernheiten zu kümmern?«

Krachend schlug er die Tür zu, schob mit Getöse die Riegel vor und stand einen Augenblick lang nackt und kolossal da, während er die unflätigsten Schimpfworte ausstieß. Dabei schlang er ein Tuch um seine Glatze und ließ kokett zwei Zipfel über der Stirn herausragen.

Endlich ergriff er den Leuchter und näherte sich behutsam dem Alkoven.

Angélique sah den roten Riesen auf sich zukommen, dessen gehörnter Kopf einen grotesken Schatten an die Decke warf. Entspannt durch die Wärme des Betts, erschlafft durch das lange Warten und schon nahe am Einschlafen, fand sie diese Erscheinung so komisch, daß sie unwillkürlich lachen mußte. Der Menschenfresser blieb überrascht stehen, und sein Vollmondgesicht nahm einen jovialen Ausdruck an.

»Hoho! Das Schätzchen lächelt mich an! Darauf war ich ja gar nicht gefaßt! Bisher hab’ ich nur feststellen können, daß du eine Meisterin im Abschießen eisiger Blicke bist. Aber ich sehe, daß du auch Spaß verstehst. Hehe! Du lachst, meine Schöne! Gut so! Hehe! Hohoho!«

Er lachte aus vollem Hals, und mit seiner Haube und seinem Leuchter schien er ihr so komisch, daß Angélique in ihrem Kopfkissen schier erstickte. Mit tränenfeuchten Augen gelang es ihr endlich, sich zu beherrschen. Sie war wütend über sich selbst, denn sie hatte sich fest vorgenommen, würdevoll und gleichgültig zu sein, nur das zu gewähren, was man von ihr verlangen würde, und nun lachte sie wie ein Freudenmädchen, das seinen Kunden zufriedenstellen will.

»Gut so, meine Hübsche, gut so«, wiederholte der Hauptmann höchst vergnügt. »Nun rück mal ein bißchen und mach mir ein Plätzchen neben dir.«

Dieses »Plätzchen«, das er verlangte, hätte beinahe aufs neue Angéliques nervöse Heiterkeit erregt. Doch zugleich überkam sie der Gedanke an das, was ihr bevorstand. Während er sich ins Bett schwang, wich sie auf die entgegengesetzte Seite zurück und blieb dort zusammengekauert, stumm und wie gelähmt liegen.

Die Matratze senkte sich knarrend unter der wuch-tigen Masse, die sich auf ihr niederließ. Der Hauptmann hatte die Kerze ausgeblasen. Nun zog seine Hand die Vorhänge des Alkovens zusammen, und in der feuchten Dunkelheit nahm sein penetranter Geruch nach Wein, Tabak und Stiefelleder unerträgliche Intensität an. Er schnaufte heftig und brummte undeutliche Flüche. Endlich tastete er die Matratze neben sich ab, und seine derbe Pranke fiel auf Angélique, die sich steif machte.

»Ei der Daus!« sagte er. »Du bist ja wie eine Drahtpuppe. Das ist nicht der geeignete Moment, meine Schöne. Aber ich will keine Gewalt anwenden. Ich will es dir ganz friedlich erklären, weil du’s bist. Wie du mich vorhin so ansahst, als sei ich nicht dicker als eine Erbse, da hab’ ich mir gleich gedacht, daß es dir keinen großen Spaß machen würde, mit mir zu schlafen. Obwohl ich doch ein schöner Mann bin und den Frauen zu gefallen pflege. Nun ja, versteh einer die Weibsbilder .! Eins weiß ich aber sicher: nämlich daß du mir gefällst. Ein richtiges Schätzchen! Du gleichst nicht den andern, bist zehnmal schöner. Seit gestern denk’ ich nur noch an dich .«

Seine plumpen Finger kniffen und tätschelten sie liebevoll.

»Also, weißt du, um sicher zu sein, dir Ehre erweisen zu können und nicht zu kurz zu kommen, hab’ ich mir einen tüchtigen Krug Zimmetwein bringen lassen. O Jammer! Von diesem Augenblick an haben sich mir all diese Einbrecher- und Leichengeschichten auf die Rübe geschlagen. Als ob die Leute sich absichtlich hätten ermorden lassen, bloß um sich mir lästig zu machen. Drei Stunden lang bin ich zwischen Gerichtskanzlei und Schauhaus hin- und hergelaufen, mit diesem verdammten Zimmetwein im Magen, der mir das Blut gewaltig erhitzt hat. Und jetzt kann ich nicht mehr lange fackeln, das will ich dir nicht verheimlichen. Es bleibt mir keine Zeit, dich durch Schmeicheleien gefügig zu machen, und es ist besser für uns beide, wenn du ein bißchen guten Willen zeigst. Nun, wie steht’s damit, Mädchen?«

Die Rede bewies die Verständigungsbereitschaft ihres furchterregenden Partners und wirkte beruhigend auf Angélique. Im Gegensatz zu den meisten Frauen ließen sich ihre Reflexe und Reaktionen, selbst die physischen, von der Vernunft beeinflussen. Der Hauptmann, der keineswegs dumm war, hatte das instinktiv erfaßt. Er wurde für seine Geduld belohnt, indem er neben sich einen schönen, geschmeidigen, stummen Körper fand, der sich fügsam seinem Verlangen erschloß. Angélique hatte keine Zeit, Widerwillen zu empfinden. In seiner Umklammerung wie von einem Wirbelsturm geschüttelt, fand sie sich fast im gleichen Augenblick wieder befreit und von seiner breiten Hand wie ein Holzscheit auf die andere Seite des Betts zurückgerollt.

»Nun schlaf ein bißchen, mein hübsches Kind«, brummte er schläfrig. »Das Weitere morgen früh, und dann sind wir quitt.«

Zwei Sekunden darauf schnarchte er dröhnend.

Angélique glaubte, lange nicht einschlafen zu können, aber diese letzte Prüfung im Verein mit den Anstrengungen dieses Tags und dem Wohlbehagen, das ihr das weiche und warme Bett verschaffte, ließ auch sie alsbald in tiefen Schlaf versinken.

Als sie in der Dunkelheit erwachte, brauchte sie eine ganze Weile, um sich klarzuwerden, wo sie sich befand. Das Schnarchen des Hauptmanns hatte nachgelassen. Sie empfand keine Angst mehr, aber eine Unruhe quälte sie noch. Sie fühlte sich bedrückt, nicht etwa der unförmigen Gestalt wegen, die da massig und regungslos neben ihr lag, sondern aus anderen, noch undefinierbaren Gründen.

Sie versuchte, wieder einzuschlafen, wälzte sich mehrmals von einer Seite auf die andere. Schließlich horchte sie auf und vernahm jene undeutlichen Geräusche, die sie aus ihrem Schlaf gerissen hatten. Wie Stimmen klang es, sehr ferne Stimmen, Stimmen, die Klagen von sich gaben. Es wollte nicht aufhören. Und plötzlich begriff sie: Das waren die Gefangenen.

Durch den Fußboden und die massiven Mauern drangen die unterdrückten Klagelaute zu ihr, die Verzweiflungsschreie der gefesselten, frierenden Unglücklichen, die sich mit Fußtritten gegen die Ratten wehrten, die gegen das Wasser, gegen den Tod ankämpften. Verbrecher verfluchten Gott, und Unschuldige beteten zu ihm. Andere röchelten, halb erstickt in der dumpfen Luft, erschöpft von den Folterungen, von Hunger und Kälte.

Angélique zitterte. Das Châtelet lastete auf ihr mit all seinen Jahrhunderten und all seinen Schrecken. Würde sie jemals wieder ins Freie gelangen? Würde der Menschenfresser sie gehen lassen? Er schlief. Er war stark und mächtig. Er war der Herr dieser Hölle.

Doch jetzt bewegte er sich und hätte sie beinahe erdrückt, als er sich umdrehte.

»Hoho! Das Täubchen ist wach«, sagte er mit schlaftrunkener Stimme. Er zog sie an sich, und sie fühlte sich überschwemmt von diesem von Muskeln durchzogenen prallen Fleisch.

Der Mann gähnte geräuschvoll. Dann schob er die Vorhänge auseinander und sah, daß hinter den Fenstergittern eben der Morgen zu grauen begann. »Du bist früh munter, mein Kätzchen.«

»Was sind das für Geräusche, die man da hört?«

»Das sind die Gefangenen. Meiner Treu, sie haben nicht so viel Spaß wie wir.«

»Sie leiden ...«

»Man steckt sie dort nicht rein, damit sie sich amüsieren. Du kannst von Glück sagen, daß du so davongekommen bist. Hast es besser in meinem Bett als auf der anderen Seite der Mauer, auf dem Stroh. Hab’ ich nicht recht?«

Angélique nickte so überzeugt, daß der Hauptmann entzückt war. Er ergriff einen Humpen mit Rotwein, der auf dem Tisch neben seinem Bett stand, und tat einen langen Zug. Dann reichte er ihn Angélique.

»Jetzt bist du an der Reihe.«

Sie nahm den Krug, denn sie spürte, daß nur dies eine sie zwischen den düsteren Mauern des Châtelet vor der Verzweiflung bewahren konnte: das durch das Trinken und die Freuden des Fleisches hervorgerufene brutale Wohlgefühl, das vergessen macht.

Er ermunterte sie:

»Trink, mein Täubchen, trink! Es ist ein guter Wein, er wird dir wohltun.«

Als sie sich schließlich wieder zurückfallen ließ, drehte sich ihr der Kopf; das scharfe, schwere Getränk umnebelte ihr Denken. Nichts war mehr wichtig, nur leben wollte sie.

Schwerfällig rückte er ihr wieder näher, doch sie fürchtete ihn nicht mehr. Ohne sonderliche Zärtlichkeit, aber auf energische und erfahrene Weise streichelte er sie mit seinen derbe Händen. Seine Liebkosungen, die eher einer ein wenig rauhen Massage als einem Zephirhauch glichen, stießen sie nicht ab. Er küßte sie auf bäuerlich-derbe, genießerische und geräuschvolle Art, die Angélique zum Lachen reizte.

Dann nahm er sie von neuem in seine behaarten Arme, und sie schloß die Augen ...

Nachdem sie das Châtelet verlassen hatte, stieg sie zur Seine hinunter. Am Quai des Morfondus unterhielten Frauen von Flußschiffern den Sommer über »Bäder« für ihre Geschlechtsgenossinnen. Von jeher verbrachten Pariser und Pariserinnen die drei heißen Monate des Jahres damit, in der Seine zu planschen. Die »Bäder« bestanden aus ein paar eingerammten Pfählen, über die eine Zeltleinwand gespannt war.

Die Frauen betraten sie in Hemd und Haube.

Die Schiffersfrau, der Angélique das Eintrittsgeld bezahlen wollte, rief erstaunt aus:

»Bist du denn verrückt, daß du zu dieser Stunde ins Wasser steigen willst? Es ist ganz hübsch frisch.«

»Das macht nichts.«

Tatsächlich, das Wasser war kalt, aber nachdem sie eine Weile mit den Zähnen geklappert hatte, fühlte sich Angélique ungemein wohl. Da sie der einzige Gast war, machte sie ein paar Schwimmstöße zwischen den Pfosten. Nachdem sie sich abgetrocknet und wieder angekleidet hatte, spazierte sie noch eine gute Weile am Ufer entlang und genoß die warme Herbstssonne. »Es ist vorbei«, sagte sie sich. »Ich will kein Elend mehr, und ich will auch nicht mehr gezwungen sein, so schreckliche Dinge zu tun wie in den letzten Tagen, wie in der vergangenen Nacht. Ich hatte mich verloren, nun muß ich mich wiederfinden. Und ich will, daß meine Kinder nie mehr hungern und frieren. Daß sie gut angezogen sind und geachtet werden. Ich will, daß sie wieder einen Namen bekommen. Ich will einen Namen für mich selbst . Ich will den Platz zurückerobern, den ich verloren habe .«

Als Angélique so vorsichtig wie möglich in den Hof der Bratküche zum »Kecken Hahn« schlich, tauchte der mit einer Suppenkelle bewaffnete Meister Bourgeaud auf und stürzte sich auf sie. Sie war ein wenig darauf gefaßt gewesen und hatte eben noch Zeit, hinter den kleinen Brunnen auszuweichen. Erfolglos jagte er sie um das steinerne Geländer herum.

»Hinaus, Landstreicherin, Dirne!« brüllte der Bratkoch. »Was habe ich dem Himmel angetan, daß ich von Entsprungenen des Arbeits- oder des Irrenhauses oder von noch Schlimmerem überfallen werde? Ich weiß genau, was so ein geschorener Kopf wie der deinige zu bedeuten hat . Geh ins Châtelet zurück, wo du herkommst, oder ich werde selber dafür sorgen, daß du dorthin zurückgebracht wirst ... Ich weiß nicht, was mich gestern davon abhielt, dir die Wache auf die Spur zu setzen ... Ich bin zu gutmütig. Ach, was würde meine tugendsame Frau sagen, wenn sie sähe, wie ihre Wirtschaft entehrt wird!«

Während Angélique den Angriffen der Suppenkelle auswich, schrie sie noch lauter als er:

»Und was würde Eure tugendsame Frau zu einem so entehrenden Manne sagen . der schon in aller Herrgottsfrühe zu trinken anfängt .?«

Der Bratkoch blieb verdutzt stehen. Angélique nützte ihren Vorteil aus.

»Und was würde sie über ihre von einer dicken Staubschicht bedeckte Wirtschaft sagen, über das Schaufenster mit seinen sechs Tage alten, zäh wie Pergament gewordenen Hühnern, über ihren leeren Keller, ihre ungewachsten Tische und Bänke .?«

»Zum Teufel .!« stammelte er.

»Was würde sie zu einem Manne sagen, der flucht? Arme Meisterin Bourgeaud, die aus Himmelshöhen diese Unordnung betrachtet! Ich kann Euch versichern, und ich irre mich bestimmt nicht, sie weiß nicht, wie sie ihr Schamgefühl vor den Engeln und allen Heiligen des Paradieses verbergen soll!«

Der Ausdruck Meister Bourgeauds wurde immer unsicherer. Schließlich setzte er sich schwerfällig auf das Brunnengeländer.

»Ach Gott«, seufzte er, »warum nur ist sie gestorben? Sie war eine so geschickte Hausfrau, immer resolut und vergnügt. Ich weiß nicht, was mich davon abhält, auf dem Grunde dieses Brunnens Vergessen zu suchen!«

»Dann will ich Euch sagen, was Euch davon abhält: der Gedanke, daß sie Euch da droben mit den Worten empfangen wird: >Ach, da bist du ja, Meister Pierre ...<«

»Jacques.«

»>Da bist du ja, Meister Jacques. Ich kann dich nicht loben. Ich hab’ ja immer gesagt, daß du nicht allein fertig werden würdest. Du bist schlimmer als ein Kind! Du hast es schlagend bewiesen! Wenn ich sehe, was du aus meiner schönen, vor Sauberkeit strahlenden Wirtschaft gemacht hast ... Wenn ich unser schönes Schild über dem Eingang sehe, das jetzt völlig verrostet ist und in den Windnächten so knarrt, daß die Nachbarschaft nicht schlafen kann . Und meine Zinnschüsseln, meine Kuchenformen, meine Fischkessel, die völlig zerkratzt sind, weil dein Narr von Neffe sie mir mit Asche reinigt, statt weiches Kreidepulver zu verwenden, das ich eigens zu diesem Zweck auf dem Temple-Platz gekauft habe . Und wenn ich sehe, daß du dich von all diesen Gaunern von Geflügel- und Weinhändlern betrügen läßt, die dir kammlose Hähne statt Kapaunen andrehen oder Fässer mit Krätzer statt guter Weine, wie kann ich da mein himmlisches Dasein genießen, ich, die ich eine gottesfürchtige und ehrsame Frau war ...?<«

Angélique schwieg, völlig außer Atem gekommen. Dafür schien Meister Bourgeaud plötzlich in Ekstase zu geraten.

»Das stimmt«, stammelte er, »das stimmt ... sie würde genau so reden. Sie war so ... so .« Seine dik-ken Wangen bebten.

»Dieses Gejammere hat gar keinen Sinn«, sagte Angélique streng. »Auf diese Weise entgeht Ihr den Besenschlägen bestimmt nicht, die Euch im Jenseits erwarten. Euch kann nur retten, daß Ihr Euch an die Arbeit macht, Meister Bourgeaud. Barbe ist ein gutes Mädchen, aber von Natur ein bißchen träge; man muß ihr sagen, was sie zu tun hat. Euer Neffe scheint mir ein ziemlich kopfloser Bursche zu sein. Und die Gäste kommen nicht in eine Wirtschaft, wo man sie knurrend wie ein Hofhund empfängt.«

»Wer knurrt?« fragte Meister Bourgeaud, indem er wieder eine drohende Haltung annahm.

»Ihr.«

»Ich?«

»Jawohl. Und Eure Frau, die so vergnügt war, hätte Euch keine drei Minuten ertragen mit dem sauren Säufergesicht, das Ihr vor Eurer Weinkanne aufsetzt.«

»Und glaubst du, sie hätte in ihrem Hof den Anblick einer verlausten Landstreicherin ertragen, wie du eine bist?«

»Ich bin nicht verlaust«, protestierte Angélique. »Meine Kleider sind sauber, seht sie Euch an!«

»Glaubst du, sie hätte es ertragen, daß sich in ihrer Küche solches Geziefer von Taschendieben wie deine unverschämten Lausbuben herumtreibt? Ich habe sie erwischt, als sie eben im Begriff waren, in meinem Keller Speck zu mausen, und ich bin sicher, daß sie es waren, die mir meine Uhr gestohlen haben.«

»Da ist sie, Eure Uhr«, sagte Angélique und zog verächtlich das Ding aus ihrer Tasche. »Ich hab’ sie unter den Treppenstufen gefunden. Ich vermute, Ihr habt sie gestern abend verloren, als Ihr schlafen gingt, Ihr wart ja stockbetrunken .«

Sie reichte ihm die Uhr über das Brunnengeländer hinweg und setzte hinzu:

»Ihr seht, ich bin ebensowenig eine Diebin. Ich hätte sie behalten können.«

»Laß sie nicht in den Brunnen fallen«, sagte er unsicher.

»Ich würde sie Euch gern bringen, aber ich fürchte mich vor Eurem Schöpflöffel.«

Eine Verwünschung brummend, deponierte Meister Bourgeaud seine Waffe auf dem Brunnenrand. Während Angélique sich ihm näherte, nahm sie eine kecke Haltung an. Sie spürte, daß das nächtliche Abenteuer mit dem Wachoffizier sie mancherlei Kniffe gelehrt hatte, wie man einen Griesgram verführt und einem Grobian die Stirn bietet. Sie hatte sich eine ihr ungewohnte Ungezwungenheit angeeignet, die ihr künftighin zustatten kommen würde.

Sie beeilte sich nicht, die Uhr zurückzugeben, und betrachtete sie höchst interessiert. »Das ist eine schöne Uhr«, murmelte sie bewundernd.

Das Gesicht des Bratkochs leuchtete auf.

»Nicht wahr? Ich habe sie von einem Hausierer aus dem Jura gekauft, von einem jener Bergbewohner, die mit ihren Warenballen den Winter in Paris verbringen. Sie haben wahre Schätze in ihren Taschen .«

Er steckte die Uhr in seine Weste, befestigte die zahlreichen Ketten und Berlocken an den Knopflöchern und warf abermals einen argwöhnischen Blick auf Angélique: »Ich frage mich wirklich, wieso diese Uhr aus ihrer Tasche fallen konnte, wie du’s mir einreden willst. Und ich möchte wissen, wieso du auf einmal so vornehm daherredest, wo du uns neulich abends mit so wüstem Rotwelsch gekommen bist, daß sich einem die Haare sträubten. Ich glaube fast, du versuchst, mich einzuwickeln.«

Angélique ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Es ist gar nicht leicht, mit Euch zu reden, Meister Jacques«, sagte sie in sanft vorwurfsvollem Ton. »Ihr kennt die Frauen zu gut.«

Der Bratkoch verschränkte die stämmigen Arme über seinem Wanst und setzte eine kampflustige Miene auf.

»Ich kenne sie, und man kann mir nichts vormachen.«

Er ließ eine lastende Stille eintreten und fixierte die Schuldige, die den Kopf senkte.

»Also?« hob er in schneidendem Ton aufs neue an.

Angélique, die größer war als er, fand das rundliche Männchen mit seiner Mütze über dem Ohr und der strengen Miene sehr drollig. Gleichwohl sagte sie bescheiden.

»Ich werde tun, was Ihr mir sagt, Meister Bourgeaud. Wenn Ihr mich mit meinen beiden Kleinen wegjagt, gehe ich. Aber ich weiß nicht, wohin ich sie bringen soll, um sie vor Kälte und Regen zu schützen. Glaubt Ihr, Eure Frau hätte uns weggejagt? Ich wohne in Barbes Stube. Ich störe Euch nicht. Ich habe mein Brennholz und meine Nahrung. Die Buben und das Mädchen, die bei mir sind, könnten Euch kleine Dienste leisten: das Wasser hereintragen, den Boden fegen. Die Kleinen werden da droben bleiben .«

»Und warum sollen sie da droben bleiben?« blökte der Bratkoch entrüstet. »Kinder gehören nicht in einen Taubenschlag, sondern in die Küche, in die Nähe des Herdes, wo sie sich wärmen und bewegen können. Ich sag’s ja - diese liederlichen Frauenzimmer! Kein Herz im Leib! Nun bring schon deine Bälger in die Küche herunter, wenn du nicht willst, daß ich böse werde! Ganz abgesehen davon, daß du mir da droben womöglich noch das Dach über dem Kopf anzündest .!«

Mit elfenhafter Beschwingtheit stieg Angélique die sieben Treppen hinauf, die zu Barbes Mansarde führten. Die aus dem Mittelalter stammenden Häuser dieses Kaufmannsviertels waren ungewöhnlich hoch und schmal. Jedes Stockwerk hatte nur zwei Räume, häufig sogar nur einen einzigen, der sich an die enge Wendeltreppe schmiegte.

Auf einem der Treppenabsätze begegnete Angélique einer flüchtigen Gestalt, in der sie den Neffen des Wirts erkannte. Der Bursche drückte sich an die Mauer und glotzte sie vorwurfsvoll an. Angélique dachte nicht mehr an die harten Worte, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, als sie das erste Mal zu Barbe in den »Kecken Hahn« gekommen war.

Sie lächelte ihn an, entschlossen, sich in diesem Hause, in dem sie sich wieder eine ehrsame Existenz aufbauen wollte, Freunde zu schaffen.

»Guten Tag, Kleiner.«

»Kleiner?« murrte er empört. »Ich möchte feststellen, daß ich immerhin eine ganze Portion größer bin als du. Und ich bin im Herbst sechzehn geworden.«

»Oh, Vergebung, Messire! Da hab’ ich mich allerdings heftig geirrt. Seid Ihr wohl so galant, mir zu verzeihen?«

Der Junge, der an so scherzhafte Redeweise of-fensichtlich nicht gewöhnt war, zuckte verlegen die Schultern und stammelte: »Vielleicht.«

»Ihr seid zu gütig. Ich bin gerührt. Und seid Ihr wohl hinreichend gut erzogen, eine Dame von Stand nicht so vertraulich zu duzen?«

Der arme Gehilfe, in dessen langem, blassem Jungengesicht recht schöne, dunkle Augen saßen, schien plötzlich Seelenqualen zu leiden. Seine Sicherheit hatte ihn im Stich gelassen.

Angélique schickte sich schon an, ihren Weg die Treppe hinauf fortzusetzen, als sie plötzlich noch einmal innehielt.

»Hör mal, dein Dialekt klingt ja, als seist du aus dem Süden?«

»Ja ... Madame. Ich bin aus Toulouse.«

»Toulouse!« schrie Angélique auf. »O Bruder meines Landes!«

Sie fiel ihm um den Hals und küßte ihn.

»Toulouse!« wiederholte sie.

Der Junge wurde rot wie eine Tomate. Angélique sprach mit ihm einige Worte in der langue d’oc, und Davids Bewegung wuchs immer mehr.

»Ihr seid auch dorther?«

»Beinahe.«

Sie war lächerlich glücklich über diese Begegnung. Welch ein Kontrast! Eine der vornehmsten Damen von Toulouse gewesen zu sein, und nun einen Bengel abzuküssen, nur weil seine Sprache die Erinnerung an Sonnenglanz weckte, an den würzig-süßen Duft von Knoblauch und Blumen! Das Haus kam ihr unversehens düster und scheußlich vor.

»Eine so schöne Stadt!« murmelte sie. »Weshalb bist du nicht in Toulouse geblieben?«

»Erstens ist mein Vater gestorben«, erklärte David. »Und dann wollte er immer, daß ich nach Paris ginge, um den Beruf des Schankwirts zu erlernen. Da bin ich eben nach Paris gegangen und just an dem Tage angekommen, als meine Tante, die Meisterin Bourgeaud, an den Pocken starb. Ich hab’ nie Glück gehabt. Bei mir geht immer alles schief.«

»Das Glück wird bestimmt noch kommen«, sagte Angélique tröstend und setzten ihren Weg fort.

In der Mansarde fand sie Rosine vor, die die beiden herumtollenden Kleinen bewachte. Barbe war bei ihrer Küchenarbeit. Die größeren Jungen waren »schlendern« gegangen, was in der Gaunersprache bedeutete, daß sie Almosen erbitten wollten.

»Ich will nicht, daß sie betteln gehen«, sagte Angélique streng.

»Du willst nicht, daß sie stehlen, du willst nicht, daß sie betteln. Was willst du denn, daß sie tun?«

»Daß sie arbeiten.«

»Aber das ist doch Arbeit«, wandte das Mädchen ein.

»Nein. Komm und hilf mir, Florimond und Cantor in die Küche zu bringen. Du wirst auf sie achten und Barbe helfen.«

Sie war froh, die beiden Kleinen in diesem von Wärme und nahrhaften Küchendüften erfüllten weiträumigen Bezirk lassen zu können. Florimond steckte in einem kleinen Rock aus braungrauem Tamin, einem Leibchen aus gelber und einer Schürze aus grüner Serge. Dazu trug er ein Häubchen aus dem gleichen grünen Stoff. Diese Farben bewirkten, daß sein zartes Gesichtchen noch kränklicher aussah. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn, um festzustellen, ob er etwa fieberte. Er wirkte munter, wenn auch zuweilen ein wenig launisch und mäkelig. Was Cantor betraf, so vergnügte der sich seit dem Morgen damit, unermüdlich das Leinenzeug abzustreifen, in das ihn Rosine mit nicht eben geschickten Händen zu wickeln versucht hatte. In dem Korb, in dem man ihn unterbrachte, richtete er sich, nackt wie ein Engelchen, sofort wieder auf und gab zu verstehen, daß er herauswolle, um die Flammen zu fangen.

»Dieses Kind ist nicht richtig aufgezogen worden«, stellte Barbe sorgenvoll fest. »Hat man ihm jemals Arme und Beine gewickelt, wie es sich gehört? Es wird sich nicht gerade halten können und womöglich bucklig werden.«

»So wie’s da liegt, wirkt es für ein Kind von neun Monaten ganz hübsch kräftig«, bemerkte Angélique, die die wohlgerundeten Hinterbäckchen ihres Jüngsten bewunderte.

Doch Barbe gab sich nicht zufrieden. Das Cantor sich so frei bewegte, ließ ihr keine Ruhe.

»Sobald ich einen Augenblick Zeit habe, werde ich Mullbinden zuschneiden, um ihn zu wickeln. Heute morgen ist allerdings nicht dran zu denken. Meister Bourgeaud ist ganz aus dem Häuschen. Stellt Euch vor, Madame, er hat mich angewiesen, die Fliesen aufzuwaschen, die Tische zu wachsen, und außerdem soll ich auch noch zum Temple laufen und weiche Kreide kaufen, um das Zinn zu putzen. Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht .«

»Sag Rosine, sie soll dir helfen.«

Nachdem sie ihre kleine Welt versorgt hatte, machte sich Angélique guten Muts auf den Weg zum Pont-Neuf. Die Blumenverkäuferin erkannte sie nicht. Angélique mußte ihr Einzelheiten jenes Tags in Erinnerung rufen, an dem sie ihr beim Blumenbinden geholfen und ihre Komplimente eingeheimst hatte.

»Ja, wie kann ich dich denn auch wiedererkennen?« rief die gute Frau aus. »Damals hattest du Haare und keine Schuhe. Heute hast du Schuhe und keine Haare. Nun, deine Finger haben sich hoffentlich nicht verändert ... Setz dich ruhig zu uns. An Arbeit fehlt’s nicht in dieser Allerheiligenzeit. Bald werden sich die Friedhöfe und die Kirchen mit Blumen schmücken, von den Bildern der Verstorbenen ganz zu schweigen.«

Angélique setzte sich unter den roten Schirm und machte sich gewissenhaft und geschickt ans Werk. Sie atmete die Luft des Pont-Neuf mit einem aus Zufriedenheit und Entsetzen gemischten Gefühl. Der von der Seine kommende Wind streifte feucht liebkosend ihre Lippen. Dicke Wolken zogen vorüber, doch die Sonne zerteilte sie, und am zartfarbigen Horizont des Flusses zeichnete sich die bezaubernde Silhouette von Paris ab. Angéliques Blick blieb am Justizpalast haften, der den Schatten seiner Türme auf den Pont-Neuf warf und gewisse Erinnerungen in ihr weckte. Doch was kümmerte sie das? Sie fühlte sich hier wohl und geborgen, und sie war froh, keinen der armen Schlucker zu kennen, die sich da herumtrieben. Sollte die Herrschaft Calembredaines, des berüchtigten Strolches vom Pont-Neuf, wirklich für immer zu Ende gegangen sein? Die Polizei und seine Genossen von der Gaunerzunft schienen sich förmlich in ihren Bemühungen vereinigt zu haben, ihn zu vernichten. Wo war er? Gehenkt? Ertrunken? Sie starrte in die trägen, blaugrauen Fluten der Seine. Sie empfand keinerlei Regung. Sie gestand sich sogar eine tiefe Erleichterung darüber ein, dieser eisernen Faust entronnen zu sein, die sie zwar beschützt, zugleich aber auch noch tiefer in die Abgründe des Verbrechens hineingezerrt hatte.

Wie berauscht war sie von ihrer zurückgewonnenen Freiheit. Ihre Kraft schien ihr grenzenlos. Schritt für Schritt würde sie den Abhang wieder erklimmen, ihren beiden Söhnen einen Namen geben. Nie mehr sollten sie hungern, nie mehr frieren ...

Die Händlerinnen redeten über die Schlacht auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain. Man zählte noch, wie es schien, die Toten jener besonders blutigen Schlägerei. Aber diesmal, das mußte man zugestehen, war die Polizei ihrer Aufgabe völlig gewachsen gewesen. Seit dem berühmten Abend begegnete man auf den Straßen Rudeln von Gaunern, die von den Bütteln ins Arbeitshaus geführt wurden, oder Ketten von Sträflingen, die man auf die Galeeren brachte. Und an jedem Morgen fanden auf der Place de Grève zwei oder drei Hinrichtungen statt.

»Ihr werdet sehen«, versicherte die dicke Händlerin, die in der Innung der Blumenbinderinnen eine gewichtige Stellung einzunehmen schien, »unser junger König wird uns von diesem Ungeziefer befreien. Es heißt, er sei entschlossen, große Reformen durchzuführen. In Kürze soll jeder Bettler und Eckensteher, der keine Wohnung nachweisen kann, festgenommen und zwangsweise in ein Asyl eingewiesen werden.«

»Das ist ein König nach unserm Geschmack!« rief ein hübsches Mädchen, das einen Korb mit Nelken trug. »Er ist schön! Ich sah ihn eines Tages, als er in seiner Kutsche durch die Rue de la Vannerie fuhr. >Es lebe der König!< hab’ ich gerufen und ihm ein Sträußchen zugeworfen. Es ist in den Rinnstein gefallen, aber er hat es gesehen und freundlich gelächelt.«

»Er scheint in eine Hofdame der Königin verliebt zu sein und sie zu seiner Favoritin gemacht zu haben. Er soll sie mit Juwelen überschütten.«

»Da habt ihr wieder einmal eine der Klatschgeschichten dieses Reptils von Schmutzpoeten«, sagte die dicke Händlerin giftig. »Na, man weiß ja, daß die Männer nicht viel taugen! Trotzdem möchte ich behaupten, daß der Schmutzpoet diesmal gelogen hat, denn, mögen sie noch so große Schweine sein, es gibt keinen Mann, der so was seiner Frau antun würde, wenn sie dabei ist, ihr ersten Kind zu kriegen. Später ist es was anderes. Das Fleisch ist schwach.«

»Patin, ich werde dem Schmutzpoeten erzählen, was Ihr über den König gesagt habt.«

»Du kannst ruhig deinen Schnabel wetzen, mein Herzchen. Er ist im Gefängnis, und man wird ihn hängen.«

»Ich glaub’ es nicht. Er rückt jedesmal aus. Im übrigen wird er von uns gebraucht, denn er soll doch unsern Glückwunsch für die Königin verfassen.«

»Wir sind auf diesen galligen Liederjan nicht angewiesen«, versicherte die dicke Händlerin, die offensichtlich nichts für ihn übrig hatte. »Es gibt genug andere Poeten, die sich für unsere Gedichte ins Zeug legen würden; und acht Stände werden errichtet, um sie beim ersten Böllerschuß zu verteilen, der der Stadt die Geburt verkündet.«

»Beim fünfundzwanzigsten Böllerschuß wird man wissen, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist. Vierundzwanzig Böllerschüsse für eine Prinzessin, hundert für den Dauphin.«

Angelegentlich wurde über den Putz diskutiert, mit dem die Damen Blumen- und Apfelsinenverkäuferinnen vom Pont-Neuf sich auszustaffieren gedachten, wenn sie zusammen mit den Fischfrauen der Markthalle der jungen Wöchnerin und dem Dauphin die guten Wünsche der Händlerinnen von Paris überbringen würden.

»Im Augenblick«, erklärte Angéliques Meisterin, »geht mir eine andere Sorge im Kopf herum: Wohin soll unsere Innung tafeln gehen, um den Saint-Valbonne-Tag würdig zu feiern? Der Wirt der >Guten Kinder< hat uns im vergangenen Jahr wüst geprellt. Keinen Sol tu ich mehr in dessen Börse.«

Angélique mischte sich in die Unterhaltung, der sie bis dahin stumm gelauscht hatte, wie es sich für ein anständiges Lehrmädchen gehört.

»Ich kenne eine vorzügliche Bratküche in der Rue de la Vallée-de-Misère, die gar nicht teuer ist und wo man nahrhafte und neuartige Gerichte bereitet.«

Sie zählte hastig auf, was ihr an Spezialitäten der Peyracschen Tafel einfiel, bei deren Herstellung sie Hand angelegt hatte:

»Hummerpasteten, mit Fenchel gefüllten Truthahn, Lammfrikassee, ganz zu schweigen von den Mandelschnitten, den Fleischpasteten und den Aniswaffeln. Aber, meine Damen, Ihr bekommt dort auch etwas vorgesetzt, das selbst Seine Majestät Ludwig XIV noch nie auf seiner Tafel gesehen hat: kleine, brennende Windbeutel, die eine Nuß aus gefrorener Gänseleber enthalten, ein wahres Wunder.«

»Hui, Mädchen, du machst uns den Mund wäßrig!« riefen die Händlerinnen aus. »Wie heißt denn das Lokal?«

»Zum >Kecken Hahn<, die letzte Bratstube der Rue de la Vallée-de-Misère in der Richtung des Quai des Tanneurs.«

»Meiner Treu, ich glaube nicht, daß man dort einen sonderlich guten Tisch führt. Mein Alter, der in der großen Metzgerei arbeitet, geht manchmal zum Vespern hinüber und sagt, es sei eine trübselige und wenig einladende Wirtschaft.«

»Da hat man Euch etwas ganz Falsches berichtet, meine Liebe. Bei Meister Bourgeaud, dem Wirt, ist gerade eben ein Neffe aus Toulouse eingetroffen, ein raffinierter Koch, der eine ganze Menge Gerichte aus dem Süden kennt. Vergeßt nicht, daß in Toulouse die Blumen Königinnen sind. Der heilige Valbonne wird beglückt sein, wenn man ihn unter diesem Zeichen feiert! Und im >Kecken Hahn< ist auch ein Äffchen, das lustige Grimassen schneidet. Und ein Leiermann, der alle Lieder des Pont-Neuf kennt. Kurzum, es ist alles da, was dazugehört, um sich in guter Gesellschaft zu vergnügen.«

»Hör mal, du scheinst mir für das Reklamemachen noch begabter zu sein als für das Blumenbinden. Ich werde dich zu dieser Bratstube begleiten.«

»Nur nicht heute! Der Koch aus Toulouse ist auf die Felder gegangen, um persönlich den Kohl für eine göttliche Specksuppe auszuwählen, deren Rezept er allein kennt. Aber morgen abend wird man Euch erwarten, Euch und zwei weitere Damen, damit Ihr nach Eurem Belieben ein Menü zusammenstellt.«

»Und du, was machst du in dieser Bratküche?«

»Ich bin eine Verwandte Meister Bourgeauds«, erklärte Angélique ohne Umschweife. »Mein Mann war Zuckerbäcker. Er hatte noch nicht seine Meisterprüfung abgelegt, als er an der Pest starb. Er ließ mich in größter Armut zurück, denn wir hatten seiner Krankheit wegen beim Apotheker beträchtliche Schulden gemacht.«

»Was Apothekerrechnungen anbelangt, können wir auch ein Liedchen singen!« seufzten die guten Frauen mit einem bekümmerten Blick gen Himmel.

»Meister Bourgeaud hat mich aus Mitleid aufgenommen, und ich helfe ihm im Geschäft. Aber da die Kundschaft rar ist, suche ich mir nebenbei ein bißchen Geld zu verdienen.«

»Wie heißt du, meine Schöne?« - »Angélique.«

Worauf sie aufstand und sagte, sie müsse gehen, um sofort den Bratkoch ins Bild zu setzen.

Während sie raschen Schrittes der Rue de la Vallée-de-Misère zustrebte, wunderte sie sich über all die Lügen, die sie an einem einzigen Vormittag von sich gegeben hatte. Sie suchte gar nicht den aus heiterem Himmel gekommenen Einfall zu begreifen, der sie veranlaßt hatte, Gäste für Meister Bourgeaud zu werben. Wollte sie sich dem Bratkoch, der sie schließlich doch nicht hinausgeworfen hatte, dankbar erweisen? Hoffte sie auf eine Belohnung von seiner Seite? Sie stellte sich keine Fragen. Der plötzlich hellwach gewordene Instinkt der Mutter, die ihre Kleinen verteidigt, trieb sie vorwärts.

An der Biegung des Quai de la Mégisserie tauchten die Türme des Châtelet auf, aber das Geschehen der vergangenen Nacht schien ihr schon in weite Ferne entrückt. Sie machte unwillkürlich eine Bewegung wie jemand, der einen Kieselstein über seine Schulter wirft. So warf sie auch diese Erinnerung mit manchen anderen hinter sich.

Am nächsten Morgen stand Angélique in aller Herrgottsfrühe auf und weckte Barbe. Offenbar hatte das derbe Mädchen noch nicht recht erfaßt, welche Rolle Angélique bei der Vorbereitung des Festmahls der Innung zu übernehmen gedachte.

»Schlaft doch noch, Herrin«, sagte sie gähnend und sich die Augen reibend. »Daheim in Eurer Familie wart Ihr sicher nicht gewohnt, so früh aufzustehen.«

»Du irrst dich, Barbe. Ich stehe gern früh auf: alte ländliche Gewohnheit. Und was meine Familie betrifft, so kennst du sie ja nicht, außer meiner Schwester, und von der redest du mir besser nicht. Außerdem - was vorbei ist, ist vorbei, und wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann mach in Zukunft keine Anspielungen mehr.«

Barbe war sprachlos. Sie schneuzte sich geräuschvoll und protestierte gegen eine Beschuldigung, die ihr schrecklich vorkam.

»Ich und Anspielungen machen? O Madame!«

Behutsam hatte Angélique mit dem Fuß Linot und Flipot geweckt, die, in Decken gehüllt, auf dem blanken Boden schliefen.

Linot mischte sich in die Unterhaltung.

»Ich werde auch Anspielungen machen: Warum schnarcht dieser Faulpelz von David immer noch, und warum geht er erst in die Küche hinunter, wenn das Feuer brennt, die Morgensuppe fertig und die ganze Wirtsstube gefegt ist? So was nennt sich Gehilfe! Marquise, du solltest ihn tüchtig an den Ohren ziehen?«

»Hört mal zu, ihr Knirpse. Ich bin nicht mehr die Marquise der Engel, und ihr seid keine Gauner mehr. Im Augenblick sind wir Dienstboten, Mägde und Gehilfen, aber bald werden wir zum Bürgerstand gehören.«

»Ich mag die Bürger nicht«, sagte Flipot. »Bürger sind dazu da, daß man ihnen Börse und Mantel stiehlt. Ich will kein Bürger werden.«

»Und wie soll man dich nennen, wenn du nicht mehr die Marquise der Engel bist?« fragte Linot.

»Nennt mich Madame und sagt Ihr zu mir.«

»Das fehlte noch!« spöttelte Flipot.

Angélique versetzte ihm eine Ohrfeige, die ihm klarmachte, daß der Ernst des Lebens bereits begonnen hatte ... Während er heulte, musterte sie die Kleidung der beiden Buben. Sie trugen die von der Herzogin von Soissons geschickten Sachen, die zwar geflickt und wenig ansprechend, aber sauber und anständig waren. Außerdem hatten sie derbe, genagelte Schuhe, in denen sie sich höchst unbeholfen vorkamen, die sie jedoch den Winter über vor der Kälte schützen würden.

»Flipot, du begleitest mich mit David auf den Markt. Linot, du tust, was Barbe dir sagt: Wasser und Holz holen und so weiter. Rosine überwacht die Kleinen und die Bratspieße in der Küche.« Flipot seufzte bekümmert.

»Reichlich langweilig, dieses neue Handwerk. Da lob’ ich mir das Bettler- und Taschendiebdasein. Einen Tag hat man haufenweis Geld: man ißt und trinkt, bis man beinah platzt. Ein andermal hat man gar nichts. Da legt man sich in einen Winkel und schläft, solang man mag, um den Hunger nicht zu spüren. Hier muß man sich dauernd plagen und Rindfleisch essen.«

»Du kannst wieder zum Großen Coesre zurück. Ich halte dich nicht.«

Die beiden Jungen protestierten.

»Nur das nicht! Außerdem könnten wir’s gar nicht mehr. Man würde uns das Fell über die Ohren ziehen.«

Angélique seufzte.

»Das Abenteuer fehlt euch, ihr Knirpse. Ich kann euch verstehen. Aber denkt an den Galgen, der am Ende winkt. So, nun raus mit euch!«

Der kleine Trupp polterte die Wendeltreppe hinunter. In einem der Stockwerke machte Angélique halt, trommelte an die Stubentür des jungen Chaillou und trat schließlich ein.

»Aufgestanden, Lehrling!«

Der junge Mann fuhr empört und entsetzt aus seinen Kissen.

»Was, Ihr?« stammelte er. »Hört mal ... ich bin hier nicht der Hausknecht, auch nicht der Lehrling, sondern der Neffe des Wirts und außerdem ... der Sohn meines Vaters, Monsieur Chaillous aus Toulouse.«

»Sehr interessant, was du da sagst«, bemerkte sie sarkastisch. »Denk mal, jedermann ist der Sohn oder die Tochter seines oder ihres Vaters!«

Sie hielt inne, weil sie sich plötzlich bewußt wurde, daß sie selbst wurzellos war und nicht mehr wie dieser Junge aus einfacher Familie das Recht hatte, stolz den Namen ihres Vaters oder Gatten auszusprechen. Doch schon im nächsten Augenblick zuckte sie die Schultern, beugte sich hinab und packte den Burschen, der unter seinem Laken nackt war, am Arm.

»Aufgestanden, David Chaillou!« befahl sie vergnügt. »Vergiß nicht, daß du von heute an ein berühmter Küchenmeister bist, nach dessen Rezepten ganz Paris verlangen wird.«

Er hatte sich unter seinen Decken scheu zusammengekauert und schwieg. Sie sah, daß er feuerrot wurde und gleich darauf in einem beunruhigenden Maße erblaßte.

»Was hast du, David? Wenn du krank bist, bleib liegen. Schließlich kann ich auch ohne dich einkaufen gehen.«

»Nein, nein!« protestierte er erregt. »Ich möchte Euch begleiten. Aber Ihr müßt hinausgehen, damit ich aufstehen und mich anziehen kann.«

Angélique warf einen resignierten Blick auf Flipot, der ihr gefolgt war. Der Junge zwinkerte ihr zu, dann deutete er in vielsagender Weise auf den langen Gehilfen und kniff sich in die Hinterbacken, was im Rotwelsch etwa bedeutete: »Er ist scharf auf Euch.«

Die junge Frau mußte lachen und zog ihn mit sich hinaus. »Bequem wird es gewiß nicht sein, mit diesem sich mausernden Kälbchen zu arbeiten«, sagte sie sich. »Nun, wenn er aufdringlich wird, kriegt er ein paar an die Löffel. Und ich könnte mir denken, daß er gar nicht so dumm ist, wie er aussieht, jedenfalls nicht, was sein Küchenhandwerk betrifft. Und darauf kommt’s an.«

Meister Bourgeaud, der sich seufzend und wider seinen Willen angeregt Angéliques Autorität fügte, übergab ihr eine wohlgefüllte Börse.

»Wenn Ihr Angst habt, daß ich Euch bestehle, könnt Ihr mit mir in die Markthalle kommen«, sagte sie zu ihm. »Aber Ihr tätet besser, hierzubleiben und frisch gebratene Kapaune, Truthähne und Enten vorzubereiten. Jene Damen, die bald erscheinen werden, möchten einen Rahmen vorfinden, der ihnen Vertrauen einflößt. Ein leeres oder mit verstaubtem Geflügel ausgestattetes Schaufenster, eine muffige, nach kaltem Tabaksrauch stinkende Wirtsstube, das ist nicht gerade verlockend für Leute, die die Absicht haben, nach Herzenslust zu schmausen. Auch wenn ich ihnen ein noch so ungewöhnliches Menü verhieße, sie würden mir nicht glauben.«

»Aber was willst du denn heute morgen kaufen, da diese Leute noch gar keine Wahl getroffen haben?«

»Ich will die Dekoration einkaufen.«

»Die ... was?«

»Alles, was nötig ist, damit Eure Bratstube verlok-kend aussieht: Hasen, Fische, Fleischwaren, Obst, schöne Gemüse.«

»Aber ich bin doch kein Gastwirt«, jammerte er. »Ich bin Bratkoch. Du willst wohl, daß mich die Innungen der Gastwirte und Pastetenbäcker belangen?«

»Was können sie Euch schon anhaben?«

»Frauen haben einfach kein Verständnis für solch ernste Fragen«, seufzte Meister Bourgeaud und hob verzweifelt seine kurzen Arme zur Decke. »Die Schöffen dieser Innungen werden mir einen Prozeß anhängen, mich vor Gericht zerren. Kurzum, du willst mich ruinieren!«

»Ihr seid es ja schon«, gab Angélique zurück, »Ihr habt also nichts zu verlieren, wenn Ihr etwas anderes versucht und Euch dabei ein wenig ins Zeug legt. Richtet Euer Geflügel zu, und dann spaziert zum Grève-Hafen hinüber. Ich habe gehört, wie ein Weinausrufer die Ankunft von Burgunder und Champagner Wein verkündete.«

Die Markthalle von Paris stand im Ruf, sich einer bemerkenswert großen Kundschaft zu erfreuen, außer, wie die bösen Zungen sagten, »in Zeiten der Hungersnot, des Kriegs, der Pest und des Aufruhrs«, bei Gelegenheiten also, die sich etwa zwei- oder dreimal jährlich ergaben. Überfluß und Vielfältigkeit der angebotenen Produkte waren ihre hervorstechenden Merkmale. Das hatte in diesem Stadtteil der hohen und enggedrängten Häuser eine Anhäufung von Gerüchen, einen Wirrwarr und eine Vergeudung zur Folge, die einerseits ein sorgfältiges Auswählen erschwerten, andererseits aber die Tätigkeit der Ta-schendiebe begünstigten.

Als Angélique am Hauptplatz anlangte, auf dem der Pranger stand, waren eben die Beamten der königlichen Küchenverwaltung vorübergegangen, um den Zehnten zu erheben, und der Scharfrichter hatte ebenfalls seinen Rundgang zwischen den Ständen beendigt, die ihm Platzmiete schuldeten, sei es auf Grund eines alten Privilegs, sei es, weil sie mehr oder weniger sein Eigentum waren.

Es war die günstigste Stunde für die geschäftigen und früh aufstehenden Hausfrauen. Angélique genoß es, das noch warme Wildbret, die Hasen mit dem weichen Fell zu betasten, den Duft der Käse und Melonen einzuatmen, die silbern glänzenden Fische umzuwenden, die in dichtverschlossenen Fischkarren, durch Eisblöcke konserviert, in knapp zwei Tagen vom nächstgelegenen normannischen Küstenstrich herangebracht wurden.

Sie machte ihre Einkäufe, ohne sich von den sprachgewaltigen Händlerinnen, die es in der Kunst, schüchternen Kundinnen verdorbene oder minderwertige Ware aufzuschwatzen, mit den Scharlatanen der Pont-Neuf aufnehmen konnten, allzusehr übervorteilen zu lassen. Ihre Einführung in diese für sie neue Welt wurde dadurch erschwert, daß David fortwährend erklärte:

»Das ist viel zu schön! Das ist viel zu teuer! Was wird mein Onkel dazu sagen .?«

»Unsinn!« fuhr sie ihn schließlich an. »Schämst du dich nicht, als Sohn Monsieur Chaillous so kleinlich und knickerig zu sein?«

Der Küchenjunge errötete abermals.

»Ihr wißt also, wie berühmt mein Vater war?« fragte er mit erstickter Stimme. »Freilich, Ihr seid ja aus Toulouse.«

Angélique unterließ es, ihn über die Ironie ihrer Bemerkungen aufzuklären. Dem jungen Chaillou fehlte es offensichtlich an Verstand, und auch die giftigsten Spitzen prallten an seiner Naivität wirkungslos ab. Aber das Wort Toulouse machte sie wiederum nachdenklich. War es nicht eher umgekehrt, hatte nicht gewiß der Jüngling von ihrem berühmten Gatten reden hören? Sie schluckte mühsam. Sie würde noch einmal mit Barbe sprechen müssen. Das Leben wurde reichlich schwierig. Bei diesem Aufstieg, den sie erzwingen wollte, um dem endgültigen Versinken im Elend zu entgehen, begegnete sie an jeder Wegkreuzung einem Fallstrick.

Sie spürte, daß der Küchenjunge begierig auf ihre Antwort wartete.

»Ja, natürlich«, sagte sie und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, »dein Vater . O ja, sein Name war mir nicht unbekannt. Was war doch sein Beruf?«

Der schlaksige David schien enttäuscht wie ein Kind, dem man sein Naschwerk genommen hat. »Aber das wißt Ihr doch! Der große Spezereihändler an der Place de la Garonne? Der einzige, der fremdländische Kräuter zum Würzen feiner Gerichte führte.«

»In jener Zeit bin ich nicht selbst einholen gegangen«, dachte sie.

»Er hatte viele unbekannte Dinge von seinen Reisen nach Hause gebracht, da er Koch auf den Schiffen des Königs war. Ihr wißt doch ... Er war es, der die Schokolade in Toulouse einführen wollte.«

Sie grübelte, um sich auf einen Vorfall zu besinnen, an den dieses Wort sie erinnerte. Ja, man hatte in den Salons davon gesprochen. Der Protest einer toulousa-nischen Dame fiel ihr ein:

»Schokolade ...? Aber das ist doch ein Indianergetränk!«

David kam näher heran und eröffnete ihr, er wolle, um sie von der Großartigkeit der Ideen seines Herrn Vaters zu überzeugen, ihr ein Geheimnis anvertrauen, das er noch niemand mitgeteilt habe, nicht einmal seinem Onkel. Sein Vater, der in seiner Jugend viel gereist sei, habe nämlich in verschiedenen fremden Ländern, in denen man sie bereits aus von Mexiko importierten Bohnen herstellte, die Schokolade probiert. So habe er sich in Spanien, Italien und selbst in Polen von der Köstlichkeit des neuen Produkts überzeugt, das von angenehmem Geschmack sei und hervorragende therapeutische Eigenschaften besitze.

Nachdem er sich einmal in dieses Thema verbissen hatte, schien der Redefluß des jungen David unversiegbar. In dem Bestreben, das Interesse der Frau seiner Träume zu fesseln, begann er mit wichtiger, anomal lauter Stimme alles von sich zu geben, was er über diese Sache wußte.

»Pah!« sagte Angélique, die nur mit einem Ohr zuhörte. »Ich habe dieses Zeug nie versucht und habe auch kein Verlangen danach. Es heißt, die Königin, die ja Spanierin ist, sei versessen darauf, aber der ganze Hof finde diese wunderliche Vorliebe peinlich und mache sich über sie lustig.«

»Nur weil die Leute vom Hof an diese Ware nicht gewöhnt sind«, versicherte der Küchenjunge nicht ganz unlogisch. »Mein Vater dachte genauso, und er hat vom König eine Patenturkunde bekommen, um dieses neue Produkt richtig auszuwerten. Aber leider ist er gestorben, und da meine Mutter bereits tot war, kann nur noch ich von der Patenturkunde Gebrauch machen. Aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Meinem Onkel mag ich nichts davon sagen. Ich habe Angst, er macht sich über mich und meinen Vater lustig. Er erklärt bei jeder Gelegenheit, mein Vater sei verrückt gewesen.«

»Hast du die Urkunde?« fragte Angélique, indem sie unvermittelt stehenblieb, ihren Korb absetzte und ihren jungen Verehrer anstarrte.

Dieser erstarb förmlich unter dem leuchtenden Blick der grünen Augen. Wenn Angéliques Gedanken intensiv mit einer Überlegung beschäftigt waren, bekamen ihre Augen eine geradezu magnetische Leuchtkraft, die ihren Gesprächspartner unweigerlich in Bann schlug, zumal er sich den Grund meistens nicht sofort erklären konnte.

Der arme David war für diese Augen ein von vornherein verlorenes Opfer. Er hielt nicht stand.

»Hast du die Urkunde?« wiederholte Angélique.

»Ja«, hauchte er.

»Von wann ist sie datiert?«

»Vom 28. Mai 1659, und sie ist neunundzwanzig Jahre gültig.«

»Also hat dein Vater oder vielmehr hast du jetzt allein neunundzwanzig Jahre lang das Recht, dieses ausländische Produkt herzustellen und zu vertreiben?«

»Ja, freilich.«

»Man müßte wissen, ob es nicht schädlich ist«, murmelte Angélique nachdenklich, »und ob die Leute Geschmack daran finden würden. Hast du selbst davon getrunken?«

»Ja.«

»Und was meinst du?«

»Pah!« meinte David. »Ich fand es ein bißchen sehr süßlich. Wenn man Pfeffer und Piment hineintut, ist es ganz pikant, aber ich für mein Teil ziehe ein gutes Glas Wein vor«, setzte er mit kavaliersmäßiger Miene hinzu.

»Achtung, Wasser!« rief eine Stimme über ihnen.

Sie konnten eben noch zur Seite springen und der übelriechenden Dusche entrinnen. Angélique hatte den Gehilfen beim Arm gefaßt. Sie merkte, daß er zitterte.

»Ich möchte Euch sagen«, stammelte er hastig, »ich hab’ noch nie eine ... eine so schöne Frau wie Euch gesehen.«

»Aber nicht doch, natürlich hast du welche gesehen, mein guter Junge«, sagte sie in scherzhaftem Ton. »Du brauchst dich nur umzuschauen, statt an den Nägeln zu kauen und wie eine lahme Fliege herumzuschleichen. Erzähl mir lieber noch etwas von deiner Schokolade, statt mir überflüssige Komplimente zu machen.«

Doch angesichts seiner kläglichen Miene hatte sie das Gefühl, ihn trösten zu müssen. Sie sagte sich, daß sie ihn nicht zu sehr vor den Kopf stoßen dürfe. Mit dieser Patenturkunde, deren Besitzer er war, konnte er ja von Nutzen sein. Lachend sagte sie:

»Leider bin ich keine fünfzehnjährige Grisette mehr, mein Junge! Schau, ich bin alt. Ich hab’ schon weiße Haare.«

Sie zog unter ihrer Haube jene Strähne hervor, die im Verlauf der schrecklichen Nacht im Faubourg Saint-Denis auf so seltsame Art weiß geworden war.

»Wo ist Flipot?« fuhr sie fort und sah sich um. »Hat der Bengel sich etwa davongemacht?«

Sie war ein wenig beunruhigt und fürchtete, Flipot könne sich unter die Menge gemischt haben und versuchen, seine Künste als Taschendieb bei so günstiger Gelegenheit nutzbar zu machen.

»Ihr solltet Euch um diesen Flegel nicht sorgen«, sagte David eifersüchtig. »Ich habe vorhin gesehen, wie er sich durch ein Zeichen mit einem beulenbedeckten Kerl verständigte, der vor der Kirche Almosen bettele. Gleich danach ist er mit seiner Kiepe plötzlich verschwunden. Mein Onkel wird schön böse werden!«

»Du siehst immer schwarz, mein guter David.«

»Ich hab’ ja auch nie Glück gehabt!«

»Kehren wir um. Wir werden den Strolch sicher finden.«

Aber da kam er auch schon angelaufen. Angélique mochte sein vorwitziges Gesicht mit den hellen Pariser Spatzenaugen, der roten Nase und den langen, struppigen Haaren unter dem großen, zerbeulten Hut. Der Kleine war ihr ebenso ans Herz gewachsen wie Linot, den sie zweimal den Klauen Jean-Pourris entrissen hatte.

»Hast du Worte, Marquise der Engel!« keuchte Flipot, der in seiner Aufregung alle Weisungen vergaß. »Weißt du, wer unser Großer Coesre ist?

Cul-de-Bois, jawohl, meine Liebe, unser Cul-de-Bois aus der Tour de Nesle!«

Er dämpfte die Stimme und setzte in verängstigtem Flüsterton hinzu:

»Sie haben zu mir gesagt: >Nehmt euch ja in acht, ihr Knirpse, die ihr euch unter den Röcken einer Verräterin versteckt!<«

Angéliques Blut erstarrte zu Eis.

»Glaubst du, sie wissen, daß ich es war, die Rolin-le-Trapu umgebracht hat?«

»Sie haben nichts davon gesagt. Aber Pain-Noir hat was von den Polizisten geredet, die du wegen der Zigeuner geholt hast.«

»Wer war dabei?«

»Pain-Noir, Pied-Léger, drei alte Weiber von uns und zwei Kerle von einer anderen Bande.«

Die junge Frau und Flipot hatten diese Worte auf rotwelsch gewechselt, das David nicht verstand, dessen Tonfall er jedoch mühelos erkannte. Er war zugleich beunruhigt und stolz ob der geheimnisvollen Verquickung seiner neuen Leidenschaft mit jener unergründlichen Gaunerwelt, die in Paris eine große Rolle spielte.

Auf dem Heimweg blieb Angélique stumm, aber sobald sie die Schwelle der Bratstube überschritten hatte, schüttelte sie entschlossen ihre Besorgnisse ab. »Meine Liebe«, sagte sie sich, »es ist durchaus möglich, daß du eines schönen Morgens mit durchschnittener Kehle in der Seine schwimmend aufwachst. Das ist eine Gefahr, die dich seit langem verfolgt. Wenn es nicht die Fürsten sind, die dich bedrohen, dann sind es die Gauner! Wenn schon! Du mußt kämpfen, selbst wenn dieser Tag dein letzter sein sollte. Man wird mit Schwierigkeiten nicht fertig, ohne sie mit beiden Händen anzupacken und ohne ein bißchen was vom eigenen Ich herzugeben . War es nicht der Sieur Molines, der mir das einmal gesagt hat .?«

»Und nun an die Arbeit, Kinder!« erklärte sie mit lauter Stimme. »Die Damen von der Blumeninnung sollen wie Butter an der Sonne schmelzen, wenn sie diese Schwelle überschreiten.«

Die Damen waren in der Tat entzückt, als sie in der Abenddämmerung die drei Stufen zum »Kecken Hahn« hinunterstiegen. Die Gaststube war einladend und zugleich originell hergerichtet und von köstlichem Waffelduft erfüllt. Im Kamin prasselte ein munteres Feuer, das zusammen mit den Kerzen der auf den benachbarten Tischen stehenden Leuchter funkelnde Reflexe auf die stattliche Batterie von Zinngeräten warf, die kunstvoll auf Anrichtetischen angeordnet war: Schüsseln, Humpen, Fischkessel, Kuchenformen. Außerdem hatte Angélique einige Silbersachen requiriert, die Meister Bourgeaud für gewöhnlich argwöhnisch in seinen Truhen verschlossen hielt: zwei Kannen, einen Essigbehälter, zwei Eierbecher und zwei Fingerschalen. Mit Früchten und Rosinen reich garniert, schmückten sie ebenfalls die Tische, und diese Einzelheiten waren es, die die Gevatterinnen am meisten in Staunen versetzten, wenn sie auch als kluge Geschäftsfrauen ihrer Befriedigung nicht allzu offen Ausdruck geben mochten. Sie warfen einen kritischen Blick auf die an den Deckenbalken aufgehängten Hasen und Schinken, beschnüffelten argwöhnisch die Platten mit Wurst und kaltem Fleisch, die in grüner Soße eingelegten Fische und prüften mit kundigem Finger die Zartheit des Geflügels. Die Innungsmeisterin, die Mutter Marjolaine genannt wurde, fand schließlich die schwache Stelle dieses prächtigen Arrangements.

»Hier fehlt’s an Blumen«, sagte sie. »Dieser Kalbskopf würde mit zwei Nelken in den Nasenlöchern und einer Pfingstrose zwischen den Ohren nach viel mehr aussehen.«

»Madame, wir wollten uns nicht unterstehen, auch nur durch ein Petersilienstengelchen mit der Anmut und Geschicklichkeit in Konkurrenz zu treten, die Ihr in jener Domäne an den Tag legt, in der Ihr Königinnen seid«, erwiderte Meister Bourgeaud höchst galant.

Man bat die drei würdigen Damen, vor dem Feuer Platz zu nehmen und holte einen Krug vom besten Wein aus dem Keller. Der anmutige Linot, der auf dem Kaminstein saß, drehte sanft die Kurbel seiner Leier, und Florimond spielte mit Piccolo.

Das Menü des Festessens wurde in einer Atmosphäre ausgesprochener Herzlichkeit festgelegt. Es war kein Zweifel: man verstand sich prächtig.

»Und nun«, seufzte der Bratkoch, nachdem er die Blumenhändlerinnen unter tiefen Bücklingen zur Tür geleitet hatte, »was machen wir mit dem ganzen Kram, der da auf unsern Tischen herumsteht? Gleich werden die Handwerker und Arbeiter kommen. Die denken gar nicht dran, diese delikaten Sachen zu essen, geschweige denn, sie zu bezahlen. Wozu diese unnützen Ausgaben?«

»Ihr verwundert mich, Meister Jacques«, widersprach Angélique streng. »Ich habe Euch wahrhaftig für einen gewitzteren Geschäftsmann gehalten. Diese unnützen Ausgaben, wie Ihr sagt, haben Euch eine Bestellung verschafft, die Euch das Zehnfache der heutigen Kosten einbringen wird. Ganz abgesehen davon, daß man noch gar nicht voraussehen kann, was diese Damen springen lassen, wenn sie erst mal in Stimmung sind. Wir werden sie zum Singen und Tanzen animieren, und wenn die Straßenpassanten merken, wie lustig es in dieser Bratstube zugeht, werden sie Lust verspüren teilzunehmen.«

Wenn er es auch nicht wahrhaben wollte, so teilte Meister Bourgeaud doch im stillen Angéliques Hoffnungen. Der Eifer, den er auf die Vorbereitungen für den Saint-Valbonne-Festschmaus verwandte, ließ ihn seinen Hang zum Weinschoppen vergessen. Er gewann nicht nur seine frühere Behendigkeit zurück, sondern auch die angeborene, salbungsvolle Liebenswürdigkeit des Gastwirts schlechthin, der etwas auf sich hält. Nachdem Angélique ihn schließlich davon überzeugt hatte, daß die äußere Aufmachung für das Florieren seines Unternehmens von größter Wichtigkeit sei, ließ er sich sogar herbei, ein vollständiges Küchenjungenkostüm für seinen Neffen und

- für Flipot zu bestellen.

Turmhohe Mützen, Kittel, Hosen, Schürzen - das und die Tischtücher und Servietten dazu wurden zu den Wäscherinnen geschickt und kamen gestärkt und schneeweiß zurück.

Am Morgen des großen Tages trat Meister Bourgeaud lächelnd und sich die Hände reibend zu Angélique.

»Kindchen«, sagte er in herzlichem Ton, »du hast es fertiggebracht, daß in meinem Haus wieder Leben und Frohsinn herrscht, genau wie zu Lebzeiten meiner gottseligen, guten Frau. Und das hat mich auf einen Gedanken gebracht. Komm mit mir.«

Er ermutigte sie durch ein vielsagendes Augenzwinkern und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Hinter ihm stieg sie die Wendeltreppe bis zum ersten Stock hinauf. Als sie das eheliche Schlafzimmer Meister Bourgeauds betraten, wurde Angélique von einer Besorgnis erfaßt, auf die sie bis dahin noch nicht verfallen war. Wollte der Bratkoch am Ende gar diejenige, die in so vorteilhafter Weise seine Frau zu ersetzen im Begriff war, auffordern, ihre Dienstbeflissenheit auf ein anderes Gebiet auszudehnen?

Sein lächelnd-verschmitzter Gesichtsausdruck, während er die Tür schloß und mit geheimnistue-rischer Miene auf die Kleiderkammer zuschritt, war nicht dazu angetan, sie zu beruhigen.

Von panischer Angst ergriffen, fragte sie sich, wie sie sich dieser katastrophalen Situation gegenüber verhalten sollte. Würde sie auf ihre so schön ausgedachten Projekte verzichten, aufs neue mit ihren beiden Kinder auf dem Arm und gefolgt von ihrer armseligen kleinen Herde diese bequeme Zuflucht verlassen müssen?

Sich fügen? Es wurde ihr heiß bei dem Gedanken, und beklommen sah sie sich in diesem typischen Schlafgemach des kleinen Geschäftsmanns um - mit seinem großen Bett mit den Vorhängen aus grüner Serge, den beiden Sesselchen, der Kommode aus Nußbaumholz, auf der ein Waschbecken und eine silberne Kanne standen. Über dem Kamin hingen zwei Bilder, die Szenen aus der Passionsgeschichte darstellten, und in einem Ständer lehnten die Waffen, der Stolz jedes Handwerkers und Bürgers: zwei kleine Gewehre, eine Muskete, eine Hakenbüchse, eine Lanze, ein Degen mit silbernem Stichblatt und Griff. Denn der Wirt des »Kecken Hahns« war bei aller Lässigkeit im gewöhnlichen Leben Sergeant der Bürgermiliz, und die Sache mißfiel ihm keineswegs. Im Gegensatz zu vielen seiner Zunftgenossen begab er sich frohgemut ins Châtelet, wenn er zum Wachdienst aufgerufen wurde.

Im Augenblick hörte ihn Angélique im anstoßenden kleinen Verschlag rumoren und schnaufen. Endlich kam er mit einer mächtigen Truhe wieder zum Vorschein, die er mühsam vor sich her schob.

»Hilf mir ein bißchen, Mädchen.«

Mit vereinten Kräften zogen sie die Kiste in die Mitte des Raums, und Meister Bourgeaud wischte sich die Stirn.

»So«, sagte er, »ich hab’ nämlich gedacht ... Schließlich hast du selbst mir ja immer erklärt, wir müßten uns für dieses Festmahl so fein machen, wie es nur möglich ist. David, die beiden Knirpse und ich selbst - wir treten ordentlich ins Gewehr. Ich werde meine braunseidene Hose anziehen. Aber du, mein armes Mädchen, du machst uns keine rechte Ehre, trotz deines hübschen Gesichtchens. Nun, da hab’ ich gedacht .«

Er hielt inne, zögerte, dann öffnete er die Truhe. Da lagen, fein säuberlich geordnet und mit einem Büschel Lavendel parfümiert, die Kleider der Meisterin Bourgeaud, ihre Mieder, ihre Hauben, ihre Halstücher, ihre schöne Schweifkappe aus schwarzem Tuch mit eingefügten Quadraten aus Seide.

»Sie war ein bißchen dicker als du«, sagte der Bratkoch mit gedämpfter Stimme, »aber mit Nadeln ...«

Er wischte sich eine Träne ab und brummte:

»Starr mich nicht so an. Such dir was aus.«

Angélique hob die Sachen der Verblichenen hoch: schlichter Putz aus Serge oder Halbseide, dessen Samtbordüren und in lebhaften Farben schillernden Futterstoffe bezeugten, daß die Wirtin des »Kecken Hahns« gegen Ende ihres Lebens eine der wohlhabendsten Geschäftsfrauen des Viertels gewesen war. Sie hatte sogar einen kleinen Muff aus rotem Samt mit goldenen Verzierungen besessen, den Angélique mit unverhohlenem Vergnügen über ihr Handgelenk streifte.

»Eine Marotte!« sagte Meister Bourgeaud mit nachsichtigem Lächeln. »Sie hatte ihn in der Galerie des Palais Royal gesehen und lag mir seinetwegen dauernd in den Ohren. Ich sagte zu ihr: >Amandine, was willst du mit diesem Muff? Er paßt zu einer vornehmen Dame, die in der Wintersonne in die Tuilerien oder auf den Cours-la-Reine liebäugeln geht.< - >Gut<, erwiderte sie, >dann gehe ich eben in die Tuilerien und auf den Cours-la-Reine liebäugeln<, und das hat mich wild gemacht. Ich hab’ ihn ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt. Wie hat sie sich gefreut! Wer hätte gedacht, daß sie ein paar Tage darauf... tot sein würde .«

Angélique bekämpfte ihre Rührung.

»Sicher macht es ihr Freude, wenn sie vom Himmel aus sieht, wie gut und edelmütig Ihr seid. Diesen Muff werde ich nicht tragen, denn er ist viel zu schön für mich, aber ich gehe sehr gern auf Euer Angebot ein, Meister Bourgeaud. Ich werde sehen, was mir paßt. Könntet Ihr mir Barbe schicken, damit sie mir hilft, diese Kleidungsstücke abzuändern?«

Als einen ersten Schritt zu dem Ziel, das sie sich gesteckt hatte, registrierte sie die Tatsache, einen Spiegel vor sich und eine Zofe zu ihren Füßen zu haben. Den Mund voller Stecknadeln, spürte Barbe es gleichfalls und vervielfachte die »Madames« mit offensichtlicher Befriedigung.

»Dabei besteht mein ganzes Vermögen aus den paar Sols, die mir die Blumenfrauen vom Pont-Neuf gegeben haben, und dem Almosen, das die Gräfin Soissons mir täglich schickt«, sagte Angélique sich amüsiert.

Sie hatte einen mit schwarzem Satin besetzten Rock aus grünem Serge und ein ebensolches Mieder gewählt. Eine Schürze aus schwarzem Satin mit goldfarbenem Blümchenmuster gab ihr vollends das Aussehen einer wohlhabenden Geschäftsfrau. Allerdings erlaubte der volle Busen der Meisterin Bourgeaud keine ideale Anpassung des Kleidungsstücks an Angéliques kleine, feste und hochliegende Brüste, und ein rosafarbenes, grünbesticktes Halstuch mußte den ein wenig klaffenden Ausschnitt des Mieders verhüllen.

In einem Säckchen fand Angélique den einfachen Schmuck der Wirtsfrau: drei mit Karneolen und Türkisen besetzte Goldringe, zwei Kreuze, Ohrringe, dazu acht schöne Rosenkränze, von denen einer aus schwarzen Korallenperlen bestand.

Als Angélique wieder unten erschien, trug sie unter ihrer Haube, die das kurzgeschnittene Haar verbarg, die Ohrringe aus Achat und Perlen und am Hals ein kleines goldenes Kreuz, das an einem schwarzen Samtband befestigt war. Der gute Bratkoch verbarg seine Freude angesichts dieser anmutigen Erscheinung nicht.

»Beim heiligen Nikolaus, du gleichst der Tochter, die wir uns immer gewünscht und nie bekommen haben! Manchmal träumten wir von ihr. Sie wäre jetzt fünfzehn, sechzehn Jahre alt, sagten wir. Sie wäre so und so gekleidet ... Sie ginge in unsrer Wirtsstube hin und her und würde mit den Gästen scherzen.«

»Es ist nett von Euch, Meister Bourgeaud, mir so schöne Komplimente zu machen. Ach, ich hab’s erst gestern zu David gesagt, ich bin leider keine fünfzehn oder sechzehn mehr. Ich bin eine Familienmutter .«

»Ich weiß nicht, was du bist«, sagte er und schüttelte traurig sein dickes, rotes Gesicht. »Du kommst mir fast unwirklich vor. Seitdem du in meinem Haus herumwirtschaftest, hab’ ich das Gefühl, daß alles anders geworden ist. Wer weiß, vielleicht verschwindest du eines Tags, wie du gekommen bist ... Es ist mir, als sei eine Ewigkeit vergangen seit jenem Abend, da du aus der Nacht auftauchtest mit deinen auf die Schulter herabhängenden Haaren und zu mir sagtest: >Habt Ihr nicht eine Magd namens Barbe?< Das hat in meinem Schädel wie Glockengeläut gehallt ... Vielleicht bedeutete das bereits, daß du hier eine Rolle spielen würdest.«

»Ich hoffe es sehr«, dachte Angélique im stillen, aber sie widersprach in geheuchelt vorwurfsvollem Ton: »Ihr wart betrunken, das ist der Grund, warum es in Eurem Schädel gehallt hat.«

Da man sich in Sentimentalitäten, in mystischen Vorahnungen erging, schien ihr der Moment nicht geeignet, um mit Meister Bourgeaud über die finanzielle Entschädigung zu reden, die sie durch ihre Zusammenarbeit für sich und ihr Häuflein zu erlangen hoffte.

Wenn die Männer zu träumen anfangen, soll man sie nicht allzu plötzlich auf den Boden der Realitäten zurückführen, mit denen sie nur allzu verhaftet sind. Angélique nahm sich vor, ihre ganze natürliche Ungezwungenheit aufzubieten, um ein paar Stunden lang ohne falsche Töne die reizvolle Rolle der Wirtstochter zu spielen.

Der Festschmaus der Innung des heiligen Valbonne war ein voller Erfolg, und der heilige Valbonne selbst bedauerte nur eins: daß er sich nämlich nicht in Fleisch und Blut zurückverwandeln konnte, um ihn in vollen Zügen mitzugenießen.

Drei Blumenkörbe hatten als Tischdekoration gedient. Meister Bourgeaud und Flipot machten, wie aus dem Ei gepellt, die Honneurs und reichten die Platten. Rosine half Barbe in der Küche. Angélique ging vom einen zum andern, überwachte die Kochtöpfe und die Spieße, beantwortete gewandt die freundlichen Zurufe der Speisenden und spornte abwechselnd durch Komplimente und Vorwürfe Davids Eifer an, der zum Küchenmeister für Spezialitäten des Südens aufgerückt war. Tatsächlich hatte sie nicht übertrieben, als sie ihn als talentierten Kochkünstler vorgestellt hatte. Er verstand sich auf eine Menge von Dingen, und nur seine Faulheit und vielleicht auch Mangel an Gelegenheit hatten ihn bis dahin daran gehindert, zu zeigen, was er konnte. Man bereitete ihm eine Ovation, als sie ihn in die Wirtsstube zerrte. Die vom guten Wein angeheiterten Damen fanden, er habe schöne Augen, stellten ihm indiskrete und schelmische Fragen, küßten, tätschelten und kitzelten ihn .

Nachdem Linot seine Leier ergriffen hatte, wurde mit dem Glas in der Hand gesungen, und schließlich gab es schallendes Gelächter, als Piccolo seine Nummer absolvierte, indem er hemmungslos die Angewohnheiten Mutter Marjolaines und ihrer Genossinnen nachahmte.

Mittlerweile vernahm eine Schar von Musketieren, die auf der Suche nach Unterhaltung durch die Gasse geschlendert war, die fröhlichen weiblichen Laute, worauf man in die Stube des »Kecken Hahns« einbrach und nach »Braten und Finten« verlangte.

Von da an nahm die Zeremonie einen Verlauf, der dem heiligen Valbonne höchlichst mißfallen hätte, wäre dieser provenzalische Heilige, Freund der Sonne und der Freude, nicht von Natur aus der ausgelassenen Stimmung gegenüber duldsam gewesen, die bei den Zusammenkünften von Blumenhändlerinnen und liebeshungrigen Soldaten zwangsläufig aufzukommen pflegt. Sagt man doch, der Trübsinn sei eine Sünde! Und wenn man lachen, aus vollem Herzen lachen will, kann man das nicht auf zwanzigerlei Weise tun? Am leichtesten fällt es immer noch in einer warmen, nach Wein, Soßen und Blumen duftenden Wirtsstube, in Gesellschaft eines unermüdlichen kleinen Leiermanns, der zum Tanzen und Singen verlockt, eines Affen, der einen ergötzt, und knuspriger, lachlustiger, nicht spröder junger Frauen, die sich unter den duldsam-ermunternden Zurufen umfänglicher und burschikoser Gevatterinnen küssen lassen.

Angélique kam zur Besinnung, als die Glocke der Sainte-Opportune-Kirche das Angelus läutete. Mit roten Wangen, schweren Augenlidern, vom Schleppen der Platten und Krüge lahmen Armen, mit Lippen, die von einigen kecken und stachligen Küssen brannten, wurde sie wieder munter, als sie Meister Bourgeaud seine Goldstücke zählen sah.

»Haben wir nicht fein gearbeitet, Meister Jacques?« rief sie ihm zu.

»Gewiß, mein Kind. Meine Bratküche hat lange kein solches Fest erlebt! Und diese Herren haben sich als nicht so schlechte Zahler erwiesen, wie ihre Federbüsche und Rapiere befürchten ließen.«

»Glaubt Ihr nicht, daß sie nächstens ihre Freunde hierher mitbringen werden?«

»Schon möglich.«

»Ich schlage Euch folgendes vor«, erklärte Angé-lique. »Ich helfe Euch weiterhin mit allen meinen Schutzbefohlenen: Rosine, Linot, Flipot, dem Affen. Und Ihr gebt mir ein Viertel Eures Gewinns!«

Der Bratkoch runzelte die Stirn. Diese Art des Geschäftemachens kam ihm immer noch ungewöhnlich vor, zumal er fürchtete, eines Tages Unannehmlichkeiten mit den Innungen zu bekommen. Aber das einträgliche nächtliche Zechgelage vernebelte ihm das Hirn und machte ihn Angéliques Wünschen zugänglich.

»Wir werden vor dem Notar einen Vertrag abschließen«, fuhr diese fort, »der natürlich geheim bleiben wird. Es ist nicht nötig, daß Ihr mit Euren Nachbarn über Eure Angelegenheiten redet. Sagt, ich sei eine junge Verwandte, die Ihr aufgenommen habt, und wir arbeiteten gemeinschaftlich. Ihr werdet sehen, Meister Bourgeaud, wir machen bestimmt glänzende Geschäfte. Mutter Marjolaine hat schon mit mir wegen des Festschmauses der Innung der Apfelsinenverkäuferinnen vom Pont-Neuf gesprochen, der am Tag des heiligen Fiacre fällig ist. Glaubt mir, es liegt in Eurem eigenen Interesse, uns bei Euch zu behalten. Also, für diesmal schuldet Ihr mir folgendes.«

Sie rechnete ihm rasch den Anteil vor, der ihr zukam, was den guten Mann einigermaßen in Verwirrung brachte.

Doch war er bereits überzeugt, ein wagemutiger Geschäftsmann zu sein.

Ein wenig später trat Angélique in den Hof, um die frische Morgenluft einzuatmen. Sie drückte die Hand, die die Goldstücke umschloß, fest an die Brust. Dies war der Schlüssel zur Freiheit. Meister Bourgeaud war gewiß nicht betrogen worden. Angélique rechnete sich aus, daß sie mit ihrer kleinen Truppe, falls sie sich von den Überbleibseln der Festmähler ernähren und in Zukunft mit ihren Bemühungen auch ihre Einnahmen vermehren konnte, schließlich ein kleines Vermögen zusammentragen würde. Dann könnte man versuchen, etwas anderes zu unternehmen. Warum, zum Beispiel, nicht jenes Patent auf die Herstellung eines Schokolade genannten exotischen Getränks ausnützen, das David Chaillou zu besitzen behauptete?

Die Leute aus dem Volk würden wohl kaum etwas dafür übrig haben, aber vielleicht würden die immer nach Neuartigem und Absonderlichem gierenden Stutzer und »Preziösen« eine Mode daraus machen.

Angélique sah schon die Kutschen der vornehmen Damen und bändergeschmückten Edelleute in der Rue de la Vallée-de-Misère halten.

Doch dann schüttelte sie den Kopf. Es hatte keinen Sinn, zu weit in die Ferne zu schauen. Noch war ihr Leben gefährdet. Worauf es in erster Linie ankam, war einzuheimsen, wie eine Ameise einzuheimsen. Der Reichtum war der Schlüssel zur Freiheit, die Gewähr, nicht zu sterben, seine Kinder nicht sterben, die Gewähr, sie lachen zu sehen.

Wäre ihr Besitz nicht beschlagnahmt worden, hätte sie Joffrey gewiß retten können.

Die junge Frau schüttelte abermals den Kopf. Nein, daran durfte sie nicht mehr denken. Denn wenn ihre Gedanken diese Richtung einschlugen, wurde sie von dem Verlangen erfaßt, für immer einzuschlummern wie in der Strömung eines Gewässers, die einen davonträgt.

Angélique blickte zum feuchten Himmel auf, an dem die Morgenröte erlosch und einem lastenden Grau wich. Der Ruf des Branntweinverkäufers erklang auf der Gasse. Am Hofeingang leierte ein Bettler sein Klagelied. Als sie ihn genauer ins Auge faßte, erkannte sie Pain-Noir. Pain-Noir mit seinem Lumpen, seinen falschen Beulen, seinen Muscheln, Pain-Noir, den ewigen Pilger des Elends.

Von Angst erfaßt, holte sie ein Brot und einen Napf Fleischsuppe aus der Küche und brachte sie ihm. Der Gauner starrte sie unter seinen buschigen weißen Augenbrauen hervor böse an. Sie sprachen kein Wort.

Ein paar Tage lang teilte Angélique noch ihre Zeit zwischen den Kasserollen Meister Bourgeauds und den Blumen Mutter Marjolaines. Die Blumenverkäuferin hatte sie um Aushilfe gebeten, denn die Geburt des königlichen Kindes rückte näher, und jene Damen waren stark überlastet.

An einem Novembertag, als sie auf dem Pont-Neuf saßen, begann die Turmuhr des Justizpalastes zu schlagen, der Stundenschläger der Samaritaine ergriff seinen Hammer, und in der Ferne hörte man die dumpfen Böllerschüsse der Bastille-Kanone.

Die Bevölkerung von Paris geriet in äußerste Spannung.

»Die Königin ist niedergekommen! Die Königin ist niedergekommen!«

Atemlos zählte die Menge:

»Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig .«

Beim dreiundzwanzigsten Schuß begannen die Leute sich zu streiten. Einige behaupteten, es sei der fünfundzwanzigste, andere, es sei der zweiundzwanzigste. Die ersten waren die Optimisten, die letzteren die Pessimisten. Und noch immer regneten das Geläute, die Glockenspiele, die Böllerschüsse über das von einem Taumel der Begeisterung ergriffene Paris.

Kein Zweifel mehr: ein Knabe!

»Ein Thronfolger! Ein Thronfolger! Es lebe der Thronfolger! Es lebe die Königin! Es lebe der König!«

Man umarmte einander. Der Pont-Neuf brach in Freudengesänge aus. Die Läden und Werkstätten machten ihre Türen dicht. Die Springbrunnen ver-spien Ströme von Wein. An großen Tischen, die von den Lakaien des Königs auf den Straßen aufgestellt wurden, delektierte man sich an Pasteten und Konfekt.

Am Abend wurde auf der Seine vor dem Louvre ein Feuerwerk abgebrannt, das alle Welt begeisterte. Ein Schiff, von funkensprühenden Meeresungeheuern umrahmt, die die Feinde Frankreichs versinnbildlichten, trieb auf dem Wasser. Ein schöner Kavalier auf geflügeltem Roß sprang vom Dach der LouvreGalerie und durchbohrte die Ungeheuer mit seiner Lanze. Ihre Eingeweide quollen in Form von tausend bunten Schwärmern hervor.

Endlich stieg in einem Raketenbündel eine helleuchtende Sonne zum Nachthimmel auf, und Hunderte von Sternen formten die Namen Ludwig und Maria-Theresia.

Als die Königin von Fontainebleau zurückgekehrt war und sich mit dem königlichen Säugling wieder im Louvre niedergelassen hatte, trafen die Zünfte der Stadt Vorbereitungen, ihr ihre Glückwünsche darzubringen.

Mutter Marjolaine bemerkte zu Angélique, die sie ins Herz geschlossen hatte: »Du kommst mit. Es ist zwar nicht ganz in Ordnung, aber ich erkläre dich zu meinem Lehrmädchen, das meine Blumenkörbe trägt. Wird es dir Spaß machen, den schönen LouvrePalast zu sehen? Die Zimmer dort sollen breiter und höher als Kirchen sein!«

Angélique wagte nicht abzulehnen. Die Ehre, die die gute Frau ihr erwies, war groß. Aber zugleich reizte sie die uneingestandene Neugier, dieser Stätte wiederzubegegnen, die Zeuge so vieler Ereignisse und Tragödien ihres Lebens gewesen war. Würde sie die Tränen der Rührung vergießende Grande Mademoiselle entdecken, die schamlose Herzogin von Soissons, den feurigen Lauzun, den finsteren de Guiche, de Vardes? Wer von diesen vornehmen Damen und großen Herren würde inmitten der Händlerinnen jene Frau wiedererkennen, die unlängst noch in ihrem Hofkleid, von ihrem Mohren gefolgt, durch die Gänge des Louvre geeilt und vom einen zum andern gegangen war, um die Begnadigung ihres im voraus verurteilten Gatten zu erbitten .?

Am betreffenden Tage fand sie sich mit den Blumenfrauen und Apfelsinenverkäuferinnen des Pont-Neuf und den Fischweibern der Markthalle im Hof des Palastes ein. Ihre Waren, gleichermaßen schön, doch von unterschiedlichem Geruch, begleiteten sie: Körbe mit Blumen und Obst und kleine Tonnen mit Heringen, die nebeneinander vor dem Dauphin niedergestellt werden sollten, so daß er mit seinen Händchen die zarten Rosen, die leuchtenden Orangen und die schönen, silbrigen Fische berühren könnte.

Während die Damen die Treppe hinaufstiegen, die zu den königlichen Gemächern führte, begegneten sie dem apostolischen Nuntius, der soeben das traditionsgemäß vom Papst geschenkte Wickelzeug des mutmaßlichen Erben des Throns von Frankreich überreicht hatte: »zum Zeichen, daß er ihn als erstgeborenen Sohn der Kirche anerkannte«.

Im Zimmer der Königin, das sie dann betraten, knieten die Damen der Händlerinnenzünfte nieder und brachten ihre Glückwünsche dar. Wie sie auf den reichgemusterten Teppichen kniend, sah Angélique im Halbdunkel unter dem Baldachin des goldverzierten Bettes die Königin in einem prächtigen Kleide liegen. Sie trug noch immer den gleichen starren Ausdruck zur Schau wie damals in Saint-Jean-de-Luz, als sie eben ihrem düsteren Madrider Palast entronnen war. Aber die französische Mode und Frisur standen ihr weniger gut als der phantastische Infantinnenstaat, als der durch künstliches Haar aufgebauschte Kopfputz, der beinahe priesterlich das Gesicht des dem Sonnenkönig anverlobten jungen Idols eingerahmt hatte.

Als beglückte, liebende, durch die Aufmerksamkeiten des Königs beruhigte Mutter geruhte die Königin, der buntscheckigen, verwegenen Gruppe zuzulächeln. Der König stand an ihrer Seite auf den Stufen des Betts. Auch er lächelte, mit einer aufrichtigeren Leutseligkeit als seine Gattin, und gleichwohl erkannte Angélique ihn kaum wieder.

Die Veränderung drückte sich vor allem in der Haltung des Monarchen aus. Zu der Grazie des robusten jungen Mannes, den sie in Saint-Jean-de-Luz flüchtig gesehen hatte, gesellte sich jetzt eine stolzere Miene, eine Zurückhaltung, die bei der Umgebung des Königs den Eindruck außergewöhnlicher Macht hervorrief.

Seit dem Anfang ebendieses Jahres hatte Ludwig XIV. Mazarin sterben und einen großen Vasallen des Languedoc verschwinden sehen. Er hatte Fouquet seine Gunst entzogen, die La Vallière verführt, den Bau des Versailler Schlosses in Angriff genommen.

Ein Wort drängte sich bei seinem Anblick auf: majestätisch. Ja, das war Ludwig XIV., dessen erste Taten auf dem Wege zur absoluten Macht den Hof verblüfft hatten und Europa einzuschüchtern begannen.

In der heftigen Bewegung, die sie erfaßte, als sie sich zwischen diesen einfachen Frauen zu Füßen des Königs knien sah, fühlte sich Angélique wie geblendet und gelähmt. Sie sah nur noch den König.

Später, nachdem sie mit ihren Genossinnen die königlichen Gemächer verlassen hatte, berichtete man ihr, die Königin-Mutter und Madame d’Orléans seien anwesend gewesen, dazu Mademoiselle de Montpensier, der Herzog von Enghien, Sohn des Fürsten Condé, und viele junge Leute ihrer Häuser.

Sie hatte nichts gesehen. Vor einer ungewissen, dunklen Vision hob sich allein die Silhouette des Königs ab. Er, der lächelnd auf den Stufen des Bettes der Königin stand, er hatte ihr Angst eingeflößt. Er glich dem andern nicht, dem König, der sie in den Tuilerien empfangen hatte und den sie am liebsten an seiner Halsbinde gepackt und geschüttelt hätte. Damals waren sie wie zwei sehr junge Wesen von gleicher Kraft gewesen, die einander erbittert bekämpften, beide überzeugt, den Sieg zu verdienen.

Welche Torheit! Wie war es nur möglich, daß sie nicht sofort begriffen hatte, welch ausgeprägter Charakter in diesem Monarchen steckte, der nie im Leben auch nur die geringste Schmälerung seiner Autorität dulden würde! Von Anfang an war es der König, der triumphieren mußte, und weil sie, Angélique, ihn verkannt hatte, war sie wie Glas zerbrochen worden.

Sie folgte der Gruppe der Lehrmädchen, die schwatzend und kichernd dem Küchenflügel zustrebte, von wo sie ins Freie gelangen würde. Die Innungsmeisterinnen blieben noch, um an einem großen Festmahl teilzunehmen; die Lehrmädchen hatten kein Recht auf solche Bewirtung.

Als sie die Anrichteräume durchschritten, hörte Angélique hinter ihr jemand pfeifen: ein langer, zwei kurze Töne. Sie erkannte das Signal der Bande Calembredaines und glaubte zu träumen. Hier, im Louvre .?

Sie wandte sich um. In der Öffnung einer Tür warf eine kleine Gestalt ihren Schatten auf den Fußboden.

»Barcarole!« Von jäher, aufrichtiger Freude erfaßt, lief sie zu ihm. Er blähte sich würdevoll und stolz.

»Kommt herein, Schwesterchen! Kommt herein, meine teure Marquise! Laßt uns ein wenig plaudern.«

Sie lachte. »O Barcarole, wie schön du bist! Und wie gewählt du sprichst!«

»Ich bin der Zwerg der Königin«, sagte Barcarole voller Selbstgefälligkeit. Er führte sie in ein kleines Empfangszimmer und ließ sie sein Wams aus orangefarbener und gelber Seide bewundern, das von einem mit Schellen besetzten Gürtel zusammengehalten wurde. Dann schlug er verwegene Kapriolen, damit sie das Geläute seines Schellenwerks beurteilen konnte. Der Zwerg sah ausgesprochen gepflegt aus und wirkte glücklich und munter. Angélique bekannte ihm, daß sie ihn verjüngt fände.

»Nunja, ich habe selbst ein bißchen das Gefühl«, gestand Barcarole bescheiden. »Ich führe hier kein übles Leben und habe das Gefühl, daß ich den Leuten dieses Hauses ganz gut gefalle. Komm, Schwesterchen. Ich muß dich einer vornehmen Dame vorstellen, für die ich, wie ich dir nicht verhehlen will, zärtliche Gefühle empfinde - die sie liebevoll erwidert.«

Mit Miene und Haltung des glücklichen Liebhabers führte der Zwerg Angélique durch das finstere Labyrinth des Gesindeflügels. Schließlich hieß er sie in einen düsteren Raum eintreten, in dem sie eine überaus häßliche Frau von ungefähr vierzig Jahren an einem Tisch sitzen sah, auf dem sie mit Hilfe eines kleinen Kohlenbeckens etwas braute.

»Dona Teresita, ich stelle Euch Dona Angelica vor, die schönste Madonna von Paris«, verkündete Barcarole hochtrabend.

Die Frau starrte Angélique mit ihren dunklen, scharfen Augen durchbohrend an und sagte einen Satz auf spanisch, dem man das Wort Marquise der Engel entnehmen konnte.

Barcarole zwinkerte Angélique zu.

»Sie fragt, ob du etwa jene Marquise der Engel seist, von der ich ihr bis zum Überdruß erzählt habe. Du siehst, Schwesterchen, ich vergesse meine Freunde nicht.«

Sie waren um den Tisch herumgegangen, und Angélique bemerkte, daß die winzigen Füße Dona Teresitas kaum über den Rand des Sessels hingen, auf dem sie hockte. Es war die Zwergin der Königin.

Angélique raffte mit zwei Fingern ihren Rock und vollführte einen kleinen Knicks, um die Achtung zu bezeigen, die sie vor dieser hochgestellen Dame empfand.

Mit einer Kopfbewegung bedeutete die Zwergin der jungen Frau, sich auf einen zweiten Schemel zu setzen, und fuhr fort, langsam ihre Mixtur zu rühren. Barcarole war auf den Tisch gesprungen. Er zerknackte und knabberte Haselnüsse, während er seiner Gefährtin in spanischer Sprache Geschichten erzählte.

Ein schöner Windhund näherte sich, um Angélique zu beschnuppern, und legte sich dann zu ihren Füßen nieder. Von jeher hatten sich Tiere in ihrer Nähe wohl gefühlt.

»Das ist Pistolet, der Windhund des Königs«, stellte Barcarole vor, »und hier sind Dorinde und Mignonne, die Hündinnen.«

Es war still und gemütlich in diesem Winkel des Palasts, in dem sich die beiden Knirpse zwischen zwei Kapriolen zu einem Schäferstündchen trafen. Angélique sog neugierig den aus dem Kochgeschirr aufsteigenden Duft in die Nase. Es war ein undefinierbarer, angenehmer Geruch, bei dem Zimt und Piment vorherrschten. Sie betrachtete die Ingredienzen die auf dem Tisch lagen: Haselnüsse und Mandeln, ein Bündchen roten Piments, einen Topf mit Honig, einen zur Hälfte zerkleinerten Zuckerhut, Näpfe mit Anis- und Pfefferkörnern, Dosen mit pulverisiertem Zimt. Endlich bohnenförmige Gebilde, die sie nicht kannte.

Völlig ihrer Beschäftigung hingegeben, schien die Zwergin nicht geneigt, sich sonderlich um den Gast zu bemühen.

Indessen entlockte ihr Barcaroles übermütiges Geplauder schließlich ein Lächeln.

»Ich habe ihr gesagt, daß du mich verjüngt findest und daß ich das den Wonnen verdanke, die sie mir bereitet. Meine Liebe, du kannst mir’s glauben, ich sitze hier dick in der Wolle! Aber freilich, ich verbürgerliche. Zuweilen beunruhigt mich das. Die Königin ist eine herzensgute Frau. Wenn sie gar zu traurig ist, ruft sie mich zu sich, tätschelt mir die Wangen und sagt: >Ach, mein guter Junge! Mein guter Junge!< Ich bin an so was nicht gewöhnt. Ich kriege vor Rührung Tränen

in die Augen - kannst du dir das bei mir vorstellen?«

»Warum ist die Königin traurig?«

»Meiner Treu, sie beginnt zu ahnen, daß ihr Mann sie betrügt!«

»Dann stimmt es also, was man erzählt: daß der König eine Favoritin hat?«

»Bei Gott, er versteckt sie, seine La Vallière, aber die Königin wird schon noch dahinterkommen. Arme kleine Frau! Sie ist nicht sonderlich schlau und kennt das Leben nicht. Weißt du, mein Täubchen, wenn man genauer zusieht, unterscheidet sich das Dasein der Fürsten gar nicht so sehr von dem ihrer bescheidenen Untertanen. Sie tun einander Übles an und streiten sich in der Ehe genau wie unsereins. Man muß sie sehen, die Königin von Frankreich, wenn sie abends auf ihren Gatten wartet, der sich währenddessen mit einer andern verlustiert. Wenn es etwas gibt, auf das wir Franzosen stolz sein können, so ist es die Potenz unseres Herrn auf dem Gebiet der Liebe. Vor noch gar nicht langer Zeit ist Seine Majestät einmal von mittags bis vier Uhr früh bei seiner Mätresse geblieben. Sechzehn Stunden! Hast du Töne? Die Königin wartete vor dem Kamin mit ihrer Hofdame, Madame de Chevreuse. Als der König eintrat, sagte er ärgerlich:

>Was macht Ihr da?<

>Sire, ich habe auf Euch gewartet<, erwiderte die Königin, Tränen in den Augen.

>Ihr habt auf mich gewartet? Nun ja, das kommt wohl öfters vor. Aber worüber beklagt Ihr Euch?

Schlafe ich nicht jede Nacht in Eurem Gemach?<

>In meinem Gemach wohl ...<, unterbrach die Königin mit verdrossener Miene, >aber .<

>Ich verstehe . Was wollt Ihr, Madame? Selbst die Könige bekommen nicht alles auf Kommando. Legt Euch also mit Euren kleinen Kümmernissen schlafen^

Die Königin warf sich ihm zu Füßen und sagte: >Ich werde Euch immer lieben, was Ihr mir auch antun mögt.<

Worauf die Hofdame diskret das Weite suchte. Unser Freibeuter legt sich neben seine Marquise. Aber, ja prosit! Die kleinen Wünsche der Königin kamen höchst ungelegen nach dem sechzehnstündigen Aufenthalt bei Mademoiselle de la Vallière, den Seine Majestät gerade hinter sich hatte. Fünf Sekunden danach schnarchte er dröhnend. Und sie hörten wir leise weinen.«

»Schlaft ihr im Gemach der Königin?« fragte Angélique neugierig.

»Die Hunde schlafen auch dort. Sind wir etwas anderes als Haustiere? Und ich mit meinem Männerhirn in meinem komischen kleinen Körper, ich vergnüge mich damit, die Herzen der Großen zu ergründen. Willst du noch eine Geschichte hören?«

»Du bist geschwätzig wie ein Höfling. Sag mir lieber, was Dona Teresita da so andachtsvoll braut. Es verbreitet einen wunderlichen Geruch, den ich nicht zu benennen weiß.«

»Aber das ist die Schokolade der Königin.« Aufs höchste interessiert, stand Angélique auf und warf einen Blick in die Kasserolle. Sie sah ein schwärzliches Produkt von zäher Konsistenz, das nichts sonderlich Einladendes hatte. Über Bacarole als Mittelsperson knüpfte sie ein Gespräch mit der Zwergin an, die ihr erklärte, man brauche für dieses Meisterwerk, das herzustellen sie im Begriff war, hundert Kakaobohnen, zwei Pfefferkörner, eine Prise Anis, eine Kampescheschote, zwei Drachmen Zimt, zwölf Mandeln, ebenso viele Haselnüsse und ein Klümpchen Zucker. »Das scheint mir ja eine komplizierte Geschichte zu sein«, sagte Angélique enttäuscht. »Schmeckt es wenigstens gut? Könnte ich es probieren?«

»Die Schokolade der Königin probieren! Eine Ruchlose, eine Gaunerin, wie du eine bist! Welche Schamlosigkeit!« rief der Zwerg mit geheuchelter Entrüstung aus.

Obwohl auch die Zwergin die Sache höchst gewagt fand, geruhte sie, Angélique mit einem goldenen Löffel eine Probe des besagten Gebräus zu reichen. Es brannte im Munde und war sehr süß. Aus Höflichkeit sagte Angélique, es sei vorzüglich.

»Die Königin kann ihre Schokolade nicht mehr entbehren«, erläuterte Barcarole. »Sie braucht mehrere Tassen am Tag, aber man bringt sie ihr heimlich, denn der König und der ganze Hof machen sich über ihre Leidenschaft lustig. Im Louvre nehmen nur Ihre Majestät und die Königin-Mutter, die ebenfalls Spanierin ist, das Getränk zu sich.«

»Wo kann man sich die Kakaobohnen verschaffen, die zu seiner Herstellung erforderlich sind?«

»Die Königin läßt sie eigens aus Spanien kommen, durch Vermittlung des Botschafters. Man muß sie rösten, zerstoßen und entölen.«

Er fuhr in geringschätzigem Tone fort:

»Ich verstehe nicht, wie man wegen solcher Scheußlichkeit so viel Theater machen kann!«

In diesem Augenblick trat hastig ein kleines Mädchen in den Raum und verlangte in sich überstürzendem Spanisch die Schokolade für Ihre Majestät. Angélique erkannte Philippa wieder. Es wurde behauptet, sie sei ein uneheliches Kind König Philipps IV von Spanien, und die Infantin Maria-Theresia habe den Säugling in den Gängen des Eskorial gefunden und aufziehen lassen. Das Mädchen war unter dem spanischen Gefolge gewesen, das die Bidassoa überquert hatte.

Angélique erhob sich und nahm Abschied von Dona Teresita. Der Zwerg begleitete sie zu einer kleinen Pforte, die zum Seinequai führte.

»Du hast mich nicht gefragt, was aus mir geworden ist«, sagte Angélique, als sie sich eben trennen wollten.

Plötzlich schien es ihr, als habe sich der Zwerg in einen Kürbis verwandelt, denn sie sah von ihm nur noch den riesigen Hut aus orangefarbenem Atlas. Barcarole starrte zur Erde.

Angélique hockte sich auf die Schwelle, um mit dem kleinen Mann auf gleicher Höhe zu sein und ihm in die Augen sehen zu können.

»Gib mir Antwort!«

»Ich weiß, was aus dir geworden ist. Du hast Calembredaine fallenlassen und bist die Beute deiner schönen Gefühle geworden.«

»Man könnte meinen, du wirfst mir etwas vor. Hast du nicht von der Schlacht auf dem Jahrmarkt in Saint-Germain reden hören? Calembredaine ist verschwunden. Mir ist es geglückt, aus dem Châtelet zu entrinnen. Rodogone ist in der Tour de Nesle.«

»Du gehörst nicht mehr zur Gaunerzunft.«

»Du auch nicht.«

»Oh, ich gehöre noch immer zu ihr. Ich werde immer zu ihr gehören. Sie ist mein Königreich«, erklärte Barcarole in seltsam feierlichem Ton.

»Wer hat dir all das über mich gesagt?«

»Cul-de-Bois.«

»Du hast ihn wiedergesehen?«

»Ich habe ihm gehuldigt. Er ist jetzt unser Großer Coesre. Du weißt es, denk’ ich.«

»Allerdings.«

»Ich habe einen prallen Beutel mit Louisdoren ins Becken geworfen. Huhu, meine Liebe! Ich war der schmuckste Bursche der Versammlung.«

Angélique ergriff die Hand des Zwergs, eine seltsame, kleine, runde und fleischige Hand, die Hand eines Kindes.

»Barcarole, werden sie mir Böses antun?«

»Ich glaube, es gibt in Paris keine Frau, deren hübsche Haut weniger fest an ihrem Körper sitzt.«

Obwohl er sichtlich seine böse Grimasse übertrieb, begriff sie, daß es keine leere Drohung war. Sie schüttelte den Kopf.

»Nun, dann werde ich eben sterben. Ich kann nicht mehr umkehren. Du kannst es Cul-de-Bois sagen.«

Der Zwerg der Königin bedeckte mit tragischer Geste seine Augen.

»Ach, wie schmerzlich wird es doch sein, ein so schönes Mädchen mit durchschnittener Kehle sehen zu müssen.«

Als sie gehen wollte, hielt er sie am Rockschoß fest.

»Unter uns, es wäre besser, du würdest es selbst Cul-de-Bois sagen.«

Es regnete. Angélique, die rasch dahinschritt, verspürte eine unerklärliche Traurigkeit in ihrem Herzen und im Mund den scharfen Geschmack der Schokolade.

»Ich glaube«, sagte sie sich, während sie in die unruhigen Fluten des Flusses blickte, »daß wohl kaum eine Frau innerhalb so kurzer Zeit so verschiedene Schicksale hat erfahren müssen. Als ich vor wenig mehr als einem Jahr in den Louvre kam, wurde ich von der Grande Mademoiselle begrüßt und sprach mit dem König. Jetzt bedeutet es eine hohe Ehre für mich, vom Zwerg der Königin in seinem Raum empfangen zu werden.«

Doch als sie den »Kecken Hahn« betrat, bereiteten ihr die Speisegäste eine Ovation und klopften mit den Messern an ihre Teller.

»Die schöne Angélique! Die schöne Angélique!«

»Gott soll mich strafen, wenn ich zu stolz bin«, dachte sie, »aber ich bin lieber Königin in meiner Bratstube als Magd im Louvre. Meine schöne Angélique, denk daran, daß du an dem Tag, an dem du wieder vor dem König erscheinen wirst, mindestens fünf Millionen Diamanten auf deinem Kleid haben mußt!«

Dieser Gedanke brachte sie zum Lachen, und fröhlich begab sie sich in die Küche.

Vom Monat Dezember an verwandte Angélique all ihre Zeit auf die Geschäfte der Bratküche. Die Kundschaft nahm zu. Die Zufriedenheit der Blumenhändlerinnenzunft hatte die Lawine ins Rollen gebracht. Der »Kecke Hahn« spezialisierte sich auf Innungsfestessen. Handwerker, die selig waren, sich gemeinsam und zu Ehren ihres Schutzpatrons »die Eingeweide anfeuchten« und die Magen mit Futter vollstopfen zu können, ließen es sich unter den frisch gestrichenen und stets mit dem schönsten Wildbret, den leckersten Würsten garnierten Deckenbalken wohl sein.

Selbst die sakrosankte Zunft der Metzger, die größte und älteste von Paris, stellte sich ein, um am Tage des heiligen Sylvester ihren traditionellen Festschmaus abzuhalten. Man stürzte sich in den nicht abreißenden Strom der Festivitäten. Nach Weihnachten kam der Neujahrstag, darauf das Bacchanal des Dreikönigsfests, dann der Karneval.

Nach den Arbeitern, Handwerkern und Händlern erschienen im »Kecken Hahn« allmählich auch Gruppen von Freigeistern und liederlichen Philosophen, die das Recht auf alle Genüsse, die Verachtung der Frauen und die Verneinung Gottes verkündeten. Es war nicht leicht, sich ihren Vertraulichkeiten zu entziehen, aber auf der andern Seite erwiesen sie sich, was die Auswahl der Gerichte betraf, als äußerst heikel. Und obwohl sie zuweilen über deren Zynismus entsetzt war, legte Angélique doch großen Wert auf sie, weil sie ihrem Unternehmen ein Renommee verschafften, das ihm gehobenere Kundschaft zuführen würde.

Auch Komödianten kamen, um die Kunststücke des Affen Piccolo zu bewundern.

»Das ist unser aller Meister«, sagten sie. »Schade, daß dieses Tier kein Mensch ist. Er hätte einen trefflichen Schauspieler abgegeben!«

Ohne an anderes als den gegenwärtigen Augenblick zu denken, packte Angélique ihre Aufgabe an. Lachen, ein harmloses Scherzwort anbringen, einer allzu kecken Hand eins draufgeben, das fiel ihr nicht schwer. Die Soßen rühren, Kräuter verschneiden, Platten garnieren, bedeutete ihr ein Vergnügen. Sie erinnerte sich, wie gern sie in Monteloup als kleines Mädchen in der Küche geholfen hatte. Aber vor allem in Toulouse, unter Joffreys Anleitung, hatte sie das richtige Verständnis für die kulinarischen Dinge bekommen.

Gewisse Rezepte wieder zusammenzustellen, sich auf bestimmte unverletzliche Grundsätze der gastronomischen Kunst zu besinnen verursachte ihr zuweilen melancholische Freude.

Nur eines konnte sie nicht ertragen, nämlich Florimond husten zu hören. Sofort überkam sie bohrende Angst, es könne eine unheilbare Krankheit in ihm stecken. Er war ja so zart. Ihre Nachbarinnen sagten angesichts des eingefallenen Gesichtchens des Kleinen: »Ihr werdet ihn nicht durchbringen. Ich habe dreie verloren ... ich fünfe ... Gott hat sie gegeben, Gott hat sie wieder genommen.« Tiefe Resignation herrschte unter diesen einfachen Leuten, Handwerkern, Tagelöhnern, kleinen Händlern. Ein starker Glaube hatte im Lauf der Jahrhunderte aus ihnen die arbeitsamste und geduldigste Volksklasse des Königreichs gemacht. Sie trugen ihre Prüfungen, ihr oft hartes Los in Ergebung, und da ihre angeborene Heiterkeit rasch wieder die Oberhand gewann, hörte man sie singen.

»Ich müßte Gott lieben. Vielleicht würde es mich dann nicht so grämen, Florimond husten zu hören«, sagte sich Angélique. »Wenn er stirbt, bricht mir das Herz. Ich werde das Leben hassen.«

Florimonds Nase lief, seine Ohren eiterten: er war krank.

Zwanzigmal am Tag nützte Angélique einen ruhigen Augenblick aus, um die sieben Treppen hinaufzulaufen, die zu der Mansarde führten, in der der kleine, vom Fieber geschüttelte Körper einsam gegen den Tod ankämpfte. Sie zitterte, während sie sich der Lagerstätte näherte, und stieß einen Seufzer aus, wenn sie sah, daß er noch atmete. Sanft strich sie über die breite, gewölbte Stirn, auf der feiner Schweiß perlte.

»Mein Herzchen! Mein Liebling! Laß mir meinen zarten, kleinen Jungen, lieber Gott! Ich verlange nichts anderes vom Leben. Ich will wieder zur Kirche gehen, ich will Messen lesen lassen. Aber laß mir meinen zarten, kleinen Jungen ...«

Am dritten Tag von Florimonds Krankheit »befahl« Meister Bourgeaud Angélique grimmig, ins große Schlafzimmer im ersten Stock hinunterzuziehen, das er seit dem Tode seiner Frau nicht mehr benützte. Gehörte sich das, ein Kind in einer Mansarde zu pflegen, die nicht größer war als eine Kleiderkammer und in der sich des Nachts mindestens sechs Menschen drängten, den Affen nicht gerechnet? Das waren ja richtige Zigeunersitten ...!

Florimond genas, aber Angélique blieb mit ihren beiden Kleinen auch weiterhin in der großen Stube des ersten Stocks, während Flipot und Linot eine zweite Mansarde zugewiesen erhielten. Rosine teilte weiterhin Barbes Bett.

»Und ich bitte mir aus«, schloß Meister Bourgeaud, rot vor Zorn, »daß du mir in Zukunft die Schande ersparst, jeden Tag zusehen zu müssen, wie ein Lümmel von Lakai vor der Nase aller Nachbarn Holz in meinem Hof ablädt. Bediene dich gefälligst des Holzstalls, wenn du einheizen willst.«

Angélique ließ also die Herzogin von Soissons durch den Diener wissen, sie bedürfe ihrer Zuwendungen nicht mehr und danke ihr für ihre gütige Hilfe. Als der Lakai zum letztenmal erschien, gab sie ihm ein Trinkgeld. Dieser, der sich von der Verblüffung des ersten Tages noch immer nicht erholt hatte, schüttelte nur den Kopf.

»Das muß ich schon sagen, ich bin in meinem Leben zu vielen Dingen gezwungen worden, aber noch nie dazu, dergleichen wie dich zu sehen!«

»Es wäre alles nur halb so schlimm«, erwiderte Angélique, »wenn nicht ich gezwungen gewesen wäre, auch dich zu sehen.«

In der letzten Zeit hatte sie die von Madame de Soissons geschickten Nahrungsmittel und Kleidungsstücke den Bettlern und Gaunern gegeben, die in wachsender Zahl in der Umgebung des »Kecken Hahns« herumlungerten. Manches bekannte Gesicht tauchte da stumm und drohend vor ihr auf. Sie gab ihnen, wie man etwas gibt, um sich böse Kräfte zu versöhnen.

Schweigend forderte sie von ihnen das Recht auf Freiheit, aber täglich wurden sie anspruchsvoller. Die Springflut ihrer Lumpen und Krücken setzte zum Angriff auf ihre Zuflucht an. Sogar die Gäste des »Kecken Hahns« beschwerten sich über diese Zudringlichkeit und erklärten, der Eingang sei mehr von verlausten Gestalten umlagert als ein Kirchenportal. Ihr Gestank und der Anblick ihrer Eiterbeulen seien kaum appetitanregend.

Meister Bourgeaud wetterte diesmal in echtem Unwillen.

»Du ziehst sie an wie der Schnittlauch die Schlangen oder die Landasseln. Hör auf, ihnen Almosen zu spenden, und befreie mich von diesem Gezücht, oder wir sind geschiedene Leute.«

Sie war um Antwort nicht verlegen:

»Bildet Ihr Euch vielleicht ein, Eure Bratstube hätte unter den Bettlern mehr zu leiden als die andern? Habt Ihr noch nichts von den Gerüchten über eine Hungersnot gehört, die sich im Land verbreitet? Es heißt, die hungernden Bauern zögen gleich Armeen in die Städte und die Zahl der Armen vervielfache sich .«

Aber sie hatte Angst. Des Nachts stand sie in der großen, stillen Stube, in der nur die Atemzüge ihrer beiden Kinder vernehmbar waren, und sah durchs Fenster auf die mondbeglänzten Fluten der Seine. Zu Füßen des Hauses befand sich ein kleiner Platz, auf den die Abfälle der Bratküchen geworfen wurden: Federn, Pfoten, Eingeweide, Reste, die man nicht mehr servieren konnte. Hunde und dunkle Elendsgestalten taten sich gütlich daran. Man hörte sie stöbern. Es war die Stunde, da die Rufe und Pfiffe der Strolche die Nacht durchschnitten. Angélique wußte, daß nur wenige Schritte entfernt, zur Linken, jenseits der Spitze des Pont-au-Change, der Quai de Gesvres begann, dessen hallendes Gewölbe die schönste Räuberhöhle der Hauptstadt bildete. Sie erinnerte sich des feuchten, weiträumigen Schlupfwinkels, durch den in Strömen das Blut der Schlächtereien der Rue de la Vieille-Lanterne floß. Jetzt hatte sie nichts mehr mit dem berüchtigten Volk der Nacht gemein. Sie gehörte zu denen, die sich in ihren wohlverwahrten Häusern bekreuzigen, wenn in den düsteren Gassen ein Todesschrei ertönte. Das war schon viel, aber würde die Last der Vergangenheit sie auf ihrem Weg nicht hemmen?

Angélique trat an das Bett, in dem Florimond und Cantor schliefen. Florimonds lange schwarze Wimpern beschatteten seine perlmutterglänzenden Wangen. Sein Haar bildete einen großen, dunklen Heiligenschein, der sich mit dem von Cantors Haaren vereinigte, die ebenso dicht und üppig wurden. Doch dessen Locken waren goldbraun, während Florimonds schwarz blieben wie die Flügel eines Raben.

Angélique stellte fest, daß Cantor »in ihre Familie schlug«. Er war von jener zugleich verfeinerten und bäuerlichen Rasse der Sancé de Monteloup. Nicht viel Herz, aber Leidenschaft. Nicht übermäßige geistige Regsamkeit, aber Klarheit. Seine eigensinnige Stirn erinnerte sie an Josselin, sein stilles Wesen an Raymond, sein Hang zur Einsamkeit an Gontran. Äußerlich ähnelte er Madelon, ohne deren Sensibilität zu besitzen.

Dieses rundliche, kleine Kerlchen mit den klaren, scharfen Augen war schon eine richtige Persönlichkeit, eine Vereinigung Jahrhunderte hindurch vererbter Tugenden und Untugenden. Vorausgesetzt, daß man ihn nicht in seiner Freiheit und Unabhängigkeit beschränkte, ließ er sich mühelos erziehen. Aber als Barbe ihn wieder ans Gängelband der Kinder seines Alters nehmen wollte und als es ihr geglückt war, ihn eng in seine Windeln zu wickeln, hatte der für gewöhnlich so sanfte Cantor nach ein paar Augenblicken der Verblüffung einen richtigen Zornanfall bekommen. Nach zwei Stunden hatte die taub gewordene Nachbarschaft seine Befreiung gefordert.

Barbe behauptete, Angélique ziehe Florimond vor und beschäftige sich zu wenig mit ihrem Jüngsten. Angélique gab zurück, Cantor habe es ja gar nicht nötig, daß man sich mit ihm beschäftige. Sein ganzes Verhalten bewies eindeutig, daß er vor allem darauf Wert legte, in Ruhe gelassen zu werden, während der sensible Florimond es gern hatte, wenn man sich mit ihm abgab, wenn man mit ihm sprach und seine Fragen beantwortete. Er brauchte viel Fürsorge und Liebe.

Zwischen Angélique und Cantor stellte sich der Kontakt ohne Worte und ohne Gesten ein. Sie waren von gleicher Art. Wenn sich nachmittags ein paar Augenblicke der Muße ergaben, setzte sie sich vors Feuer und nahm ihn auf die Knie. Sie betrachtete ihn, bewunderte sein rosiges, festes Fleisch und wurde sich der Kostbarkeit dieses Geschöpfchens bewußt, das noch nicht ein Jahr alt war und von seiner Geburt an - sogar schon vorher, dachte sie - um sein Leben gekämpft und sich gegen jede Gefahr, die seine zarte Existenz bedrohte, hartnäckig zur Wehr gesetzt hatte.

Das Kind saugte an einem Hühnerknochen, und hin und wieder warf es ihr aus seinen grünen Augen, die den ihren so ähnlich waren, einen spitzbübischen Blick zu.

Cantor war ihre Kraft und Florimond ihre Zartheit. Sie stellten die beiden Pole ihres Wesens dar.

Die Hungersnot, von der Angélique gesprochen hatte, war kein leeres Gerücht. Nach dem Fest der Heiligen Drei Könige begann sie an die Tore von Paris zu pochen. Die Ernte des Jahres war mehr als schlecht gewesen. Zu viele Truppen lagen noch auf dem Lande in Quartier, und vor allem ließ das Steuersystem den Spekulanten freies Spiel. Von ihren Innungen beschützt, litten die Lebensmittelhändler weniger Mangel als die anderen Berufe. Bratköche, Metzger, Bäcker hatten noch immer zu essen, aber die Schwierigkeiten des Geschäftslebens häuften sich. Die Kundschaft wurde rar. Angélique war bekümmert bei dem Gedanken, daß die gute Saison der Feste nicht das einbrachte, was sie erhofft hatte. Aber - Gott sei’s gelobt - sie und ihre kleine Truppe waren vor der Prüfung bewahrt. Sie pries sich wieder einmal glücklich, grade in einer Bratküche Zuflucht gesucht zu haben. Sonst wären sie und ihre Kinder im Verlaufe dieser tragischen Monate wohl verhungert.

- Abermals litten die Pariser Hunger, abermals raffte die Pest, seine ständige Begleiterin, die Menschen dahin. Und abermals trugen die Prozessionen, die die Fürsprache des Himmels erflehten, das prunkende Gold der Reliquienschreine und Banner durch die vereisten Straßen, auf denen von der Seuche dahingeraffte oder von der Kälte zu Boden gezwungene Menschenleiber verwesten.

Im Louvre ließ der König importiertes Korn an die Armen austeilen. Man nannte es »das Korn des Königs«. Der Strom der Ausgehungerten, der Zerlumpten wie der verschämten Armen, die sich verkrochen, um zu sterben, wuchs von Tag zu Tag.

In die Rue de la Vallée-de-Misère flüchteten sich viele, denen die Teuerung dank ihrer wohlgefüllten Börsen nur geringe Beschränkungen auferlegte. Als Angélique einigermaßen wieder zur Besinnung gekommen war, sagte sie sich, daß man die Situation nutzen müsse. War es nicht billig, daß man diese feinen Herren für die Mühe zahlen ließ, die man sich gab, um ihnen Geflügel und Braten zu verschaffen? Mußte sie sich nicht für die Gefahren schadlos halten, denen sie auf den Expeditionen ausgesetzt war, die sie, nur von David begleitet, in die Umgebung von Meudon oder Grenelle unternahm, um heimlich Hammel oder Hühner einzukaufen? Ja, all das mußte man sich gebührend bezahlen lassen. Die Gäste hatten dafür auch durchaus Verständnis. Sie waren reich, aber sie konnten ihr Geld nicht essen, während die Bratköche, Metzger, Kuchenbäcker immer etwas zu essen hatten.

Drei furchtbare Monate verstrichen. Die Kälte nahm zu, die Hungersnot nahm zu, die Zahl der Bettler nahm zu, die sich um Meister Bourgeauds Bratküche drängten. Angélique entschloß sich, Cul-de-Bois aufzusuchen. Sie wußte, daß sie es längst schon hätte tun sollen. Barcarole hatte es ihr geraten, aber es schwindelte ihr bei dem Gedanken, noch einmal das Haus des Großen Coesre betreten zu müssen.

Wiederum galt es, sich zu überwinden, einen Schritt weiter zu gehen, eine neue Schlacht zu gewinnen. In einer dunklen, eisigen Nacht begab sie sich endlich zum Faubourg Saint-Denis.

Man führte sie vor Cul-de-Bois. Er hockte inmit-ten des Rauchs und Rußes der Öllampen wie ein groteskes Götzenbild auf einer Art Thron. Vor ihm auf der Erde stand das Kupferbecken. Sie warf eine schwere Börse hinein und überreichte Geschenke: einen mächtigen Schinken und ein Brot, im Augenblick wahre Raritäten.

»Nicht übel!« brummte Cul-de-Bois. »Ich erwarte dich schon lange, Marquise. Weißt du, daß du ein gefährliches Spiel getrieben hast?«

»Ich weiß, daß ich es dir zu verdanken habe, wenn ich noch lebe.«

Zu beiden Seiten des Throns standen die Schreckgestalten des grausigen Hofstaats: der große und der kleine Eunuch mit ihren Insignien, dem Besen und der Mistgabel mit dem aufgespießten Hund, sowie Jean-le-Barbon mit seinem wallenden Bart und der Rute des ehemaligen Zuchtmeisters des Gymnasiums von Navarra.

Cul-de-Bois, wie immer in sauber gebürstetem Rock und tadellos geschlungener Halsbinde, trug einen prächtigen Hut mit zwei Reihen roter Federn.

Angélique verpflichtete sich, ihm allmonatlich die gleiche Summe zu bringen oder bringen zu lassen, und versprach ihm, daß es seiner »Tafel« niemals an etwas fehlen würde. Als Gegenleistung verlangte sie, daß man sie in ihrer neuen Existenz unbehelligt ließe. Außerdem bat sie, man möge den Bettlern Anweisung geben, die Schwelle »ihrer« Bratstube zu räumen.

Vom Gesicht Cul-de-Bois’ las sie ab, daß sie endlich so gehandelt hatte, wie es sich geziemte, als »Ehrerbietige«, und daß er sich für befriedigt erklärte. Als sie ihn verließ, verneigte sie sich ernst vor ihm und fühlte sich fortan erleichtert. Wohl hatte man noch Hunger in Paris, bitteren Hunger, und die Geschäfte gingen schlecht, aber der Frühling nahte.

»Gott soll mich strafen, mein Kind, wenn ich je wieder eine Bratstube betrete, in der man sich erlaubt, auf solche Weise den feinsten Gaumen von Paris zu täuschen!«

Barbe lief auf diese feierliche Erklärung hin erschrocken in die Küche. Der Gast, ein Parlamentsrat, beklagte sich! Es geschah zum erstenmal, seitdem er in den »Kecken Hahn« kam, um sich einsam, stumm und mit Atlas und Bändern angetan zu Tisch zu setzen.

Er pflegte mit andachtsvoller Miene zu speisen und bezahlte das Doppelte der vorgelegten Rechnung. Daher verdiente seine Beschwerde, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel erfolgte, daß man sich beunruhigte.

Angélique erschien sofort an seinem Tisch. Der Edelmann musterte sie von oben bis unten. Er schien übler Laune zu sein, aber die Schönheit und vielleicht auch die unerwartete Vornehmheit der jungen Wirtin verblüfften ihn.

Nach kurzem Zögern hob er von neuem an: »Mein Kind, ich möchte Euch darauf aufmerksam machen, daß ich Euer Lokal nicht mehr betreten werde, wenn man mich noch ein einziges Mal auf solche Weise betrügt.«

Angélique erkundigte sich in überaus bescheidenem Ton, worüber er sich zu beklagen habe.

Der Gast erhob sich mit puterrotem Gesicht und in höchster Erregung, so daß sie versucht war, ihm auf den Rücken zu klopfen, weil sie vermutete, es sei ihm ein Geflügelknochen im Hals steckengeblieben. »Ich will wissen«, schrie er, »wer kürzlich mein Omelett gebacken hat, denn man soll nicht glauben, daß ich dieses hier unter demselben Titel wie jenes erste verspeisen werde.«

Angélique dachte nach und erinnerte sich, daß sie selbst es gewesen war, die den besagten Eierkuchen gebacken hatte.

»Ich freue mich, daß er Euch geschmeckt hat«, sagte sie, »aber ich muß gestehen, daß er Euch sozusagen zufälligerweise und völlig improvisiert serviert worden ist. Im allgemeinen muß die Bestellung im voraus gemacht werden, damit ich mir die nötigen Zutaten beschaffen kann.«

Die kleinen Schweinsaugen des Gastes leuchteten begehrlich auf. Mit beschwörender Stimme bat er sie, ihm ihr Rezept anzuvertrauen, und sie mußte, um ihr Küchengeheimnis zu hüten, ebenso viele Kniffe anwenden, als gälte es, ihre Tugend zu verteidigen.

Rasch den Mann einschätzend, entschied sie, daß man ihn nur richtig zu behandeln brauchte, um ihn in eine unerschöpfliche Einnahmequelle für den »Kecken Hahn« zu verwandeln.

Resolut stemmte sie daher in der blitzschnell übernommenen Rolle der artigen, aber auch geschäftstüchtigen Wirtin die Arme in die Hüften und erklärte ihm, da er auf diesem Gebiete so beschlagen sei, wisse er sicher, daß jahrhundertealter Tradition gemäß die Küchenmeister ihre Spezialrezepte nur gegen klingende Münze preisgäben.

Seiner hohen gesellschaftlichen Stellung zum Trotz stieß der behäbige Edelmann ein paar derbe Flüche aus, gab dann aber mit einem Seufzer zu, daß die Forderung gerechtfertigt sei. Gut denn, er wolle einen angemessenen Preis zahlen, unter der Voraussetzung freilich, daß das neu aufgelegte Meisterstück genau dem allerersten entspreche. Er gedenke, als Begutachter eine Tischgesellschaft der ausgepichtesten Feinschmecker aus Justizpalast und Parlament mitzubringen.

Angélique ging auf seine Bedingungen ein und wurde von der eleganten Kundschaft wärmstens beglückwünscht. Dann übergab sie das aufgeschriebene Rezept dem Parlamentsrat du Bernay, der es mit bewegter Stimme vorlas, als handele es sich um einen Liebesbrief:

»Man füge einem Dutzend geschlagener Eier eine Prise Schnittlauch bei, zwei oder drei getrocknete Hahnenkammblätter, zwei oder drei Stiele Pimper-nell, zwei oder drei Boretschblätter, ebensoviel Spitzwegerich, fünf oder sechs Sauerampferblätter, ein oder zwei Stiele Thymian, zwei bis drei zarte Lattichblätter, ein wenig Majoran, Ysop und Brunnenkresse. Das ganze in einer irdenen Kasserolle backen lassen, in die man zuvor zur Hälfte Öl, zur Hälfte Vanves-Butter gegeben hat. Mit frischer Sahne übergießen .«

Nach dieser Verlesung trat weihevolle Stille ein, und der Parlamentsrat wandte sich feierlich an Angélique:

»Mademoiselle, ich gebe zu, daß ich selbst mich niemals, auch nicht gegen eine weit höhere Summe als die, die wir Euch soeben übergaben, dazu hätte überwinden können, ein solches Geheimnis preiszugeben, das allein der Götter würdig ist. Ich erkenne darin Euer Bestreben, uns gefällig zu sein, und meine Freunde und ich werden uns dafür erkenntlich zeigen, indem wir häufig diese gastliche Stätte besuchen.«

Auf solche Weise gewann Angélique die Kundschaft der »Leckermäuler«. Diesen Herren bedeuteten die Tafelfreuden mehr als alle andern einschließlich derjenigen der Liebe. Und immer mehr Kutschen und Sänften hielten unter dem Wirtshausschild des »Kecken Hahns«, so wie sie es sich einstens erträumt hatte.

Meister Bourgeaud war sichtlich beeindruckt und beunruhigt ob des Ansturms dieser neuen Stammgäste. Die Beliebtheit, deren sich seine Bratstube erfreute, drohte ihn in zahllose Schwierigkeiten zu verwickeln, und infolge seiner angeborenen Trägheit stand er der Sache hilflos gegenüber.

Indessen war der behäbige Küchenmeister auf vielen Gebieten seiner Kunst nicht zu schlagen. Er verstand sich trefflich darauf, Geflügel, Fleisch und Wildbret auszuwählen und zu braten, und auch darauf, sie zu zerteilen und die besten Stücke auszuwählen. Freilich kannte er sich bei den Fischen weniger gut aus, was in erster Linie von der Tatsache herrührte, daß sein Lokal als Bratstube prinzipiell nicht das Recht hatte, Fischgerichte zu bereiten, die man bei einem speziellen Gastwirt holen lassen mußte. Angélique erlangte, nachdem sie einige ihrer Stammgäste um Fürsprache gebeten hatte, von der entsprechenden Gastwirtskorporation die Genehmigung, Zwischengerichte und Zuckergebackenes zu verabreichen.

Hinterlistig verwies sie Meister Bourgeaud aus seiner eigenen Küche und schickte ihn in die Wirtsstube, wo seine wieder jovial gewordene Miene die Gäste erfreute; sie überließ ihm das Revier der Weinfässer und die Zubereitung der einfacheren Gerichte für die Kundschaft aus dem niederen Volk: Tagelöhner und Handwerker. Aber diese verschwanden allmählich angesichts der Invasion von Spitzenmanschetten und Federhüten. Sie wurden alsbald durch eine andere Kategorie von Speisegästen ersetzt, die an einem einzigen Abend ebensoviel auf den Tisch warfen wie ein bescheidener Handwerker in einem Monat: Nach den »Leckermäulern« fanden die »Vielfraße« den Weg in den »Kecken Hahn«.

Eines Tages bereitete der Tisch der Edelleute einem dickwanstigen Herrn eine Ovation, der eben auf der Schwelle erschienen war. Man nannte ihn Montmaur. Er war schlicht gekleidet und hatte ein rotes, lustiges Gesicht.

Der neue Gast setzte sich, nachdem er die Zurufe der Leckermäuler mit einem herablassenden Lächeln beantwortet hatte, an einen Einzeltisch und bestellte mit lauter Stimme einen Kapaun am Spieß, ein gebratenes Spanferkel, einen Karpfen in Petersilie und sechs Täubchen.

Aus der Gruppe der ausgepichten Epikureer erscholl belustigtes Gelächter.

Einer von ihnen, Graf Rochechouart, stand auf und trat zum Tisch des einsamen Gastes.

»Dieser gute Montmaur«, sagte er, »ist also noch immer unverbesserlich. Ihr hättet als Gans auf die Welt kommen müssen, um das Vergnügen zu genießen, bis zum Platzen vollgestopft zu werden. Macht doch mal Euren Mund auf! Ich möchte gar zu gerne wissen, ob Mutter Natur etwa vergessen hat, Euch mit einem Gaumen auszurüsten!«

Der dicke Schlemmer nahm sich Zeit, um ein riesiges, zu einer Kugel geformtes Stück Brot mit Butter und Käse zu verschlingen, das als Hors-d’œuvre dienen sollte, dann rollte er mit seinen sanften Augen und brummte:

»Na, was denn! Jeder nach seinem Geschmack?«

»Was für ein Ausspruch, Freund! Wie könnt Ihr von Geschmack reden, wenn Ihr als gelehrter und berühmter Professor des Collège de France Euch gleich drei ungeheuerliche Verstöße auf einmal gegen den elementarsten kulinarischen Geschmack zuschulden kommen laßt?«

»Ihr seid Streithähne!« knurrte der weise Professor gutmütig. »Der Geschmack dessen, was ich esse, genügt mir, und ich sehe nicht ein, worin, zum Teufel, die angeblichen Fehler bestehen sollen, die Ihr mir vorwerft.«

»Nun denn, so wißt zunächst einmal, daß man eine Mahlzeit nicht mit dem Käse beginnt. Das wäre das eine. Dann ist es eine Unmöglichkeit, Petersilie an einen Karpfen zu tun. Schließlich, den Fisch nach dem Fleisch und dem Wildbret zu essen ist unerhört! Das wäre das dritte. Aber da fällt mir ein: das ist noch nicht alles. Ihr habt einen weiteren Fehler begangen. Wer nennt ihn mir?«

Die ganze Tischgesellschaft versank in angestrengtes Nachdenken. Rochechouart seufzte:

»Ihr Herren, Ihr Herren, wie stumpf Euer Geist heute ist! Freilich kann ich Euch verstehen. Allein vom Anhören des Menüs des Herrn Professors bekommt man schon einen leeren Kopf. Ich bedauere, daß unsre teure und edle Freundin, die Marquise de Sablé, nicht anwesend ist, um mir die rechte Antwort zu geben, sie, die alle Nuancen der gastronomischen Etikette kennt. Nun, Ihr Herren, laßt Euch durch die Anwesenheit dieses wohlbeleibten Barbaren nicht aus der Ruhe bringen, der die Spezies der Vielfraße vertritt. Wer also findet es heraus?«

»Darf auch die Wirtin sich zu Worte melden?« fragte Angélique.

Graf Rochechouart wandte sich auf seinen hohen Absätzen um, lächelte und legte den Arm um ihre Taille.

»Eine gewöhnliche Wirtin würde von unsrer epikureischen und empfindlichen Gesellschaft nicht angehört werden. Aber der Fee, die Ihr seid, steht jegli-ches Recht zu.«

»Nun, Ihr Herren, der vierte Fehler, den Ihr Monsieur de Montmaur vorwerft, besteht darin, daß er nach dem Osterfest Täubchen in sein Menü aufnahm ...«

»Meiner Treu, das stimmt!« rief der Rat du Bernay enthusiastisch aus. »In dieser Jahreszeit sind die Täubchen entweder schon zu alt oder noch zu jung.«

Man klatschte Angélique frenetisch Beifall, und Graf Rochechouart küßte sie.

Kleine Zwischenfälle dieser Art befestigten Angéliques Ruf. Gar selten begegnete man einer Wirtin, die wundervoll kochte und zudem auch noch den an das flinke Hof- und Gassengeschwätz gewöhnten Edelleuten schlagfertige Antworten zu geben vermochte. So mancher wußte aus Erfahrung, daß sie von unbestechlicher Tugendhaftigkeit war, aber ihre Liebenswürdigkeit und Heiterkeit heilten die Wunden der enttäuschten Liebhaber. Sicherheit und Erfahrung, die sie sich in ihrem früheren Milieu erworben hatte, ließen sie das Salz ihrer Scherzworte vorzüglich dosieren, und während sie einerseits vor einem gewissen vulgären Ton nicht zurückscheute, vermochte sie andrerseits bei passender Gelegenheit in ihren Antworten gleich einer Preziösen auf die mythologischen Gottheiten anzuspielen.

Man kam in den »Kecken Hahn«, um sie zu sehen. Aber es wurde ihr angst, als sie eines Tages den Herzog von Lauzun und einige junge Leute vom Hof bemerkte. Um nicht von ihnen erkannt zu werden, erschien sie in jener roten Maske, die sie eines Nachts bei dem toten Italiener am Seineufer gefunden hatte.

Man spendete dieser Laune Beifall, und einer der Edelleute feierte in Versen »den Glanz ihrer smaragdgrünen Augen in purpurnem Schrein«. Wenn sie in der Folgezeit befürchtete, in der Gaststube einem bekannten Gesicht zu begegnen, maskierte sie sich, und die Leute nahmen allmählich die Gewohnheit an, die Rote Maske zu besuchen.

Indessen verlor Angélique zwischen ihren Leckermäulern und Vielfraßen den Appetit, wenn sie auch ziemlich rundlich wurde. Manchmal träumte ihr, sie ersticke unter Fleischbergen oder ertrinke in Soßenströmen. Der Heißhunger einiger ihrer Gäste erschreckte sie.

»Ehrlich gesagt, Ihr Herren«, erklärte sie, »die Fastenzeit wird Euch guttun.«

»Schweigt uns von dieser Pein!« seufzten Feinschmecker und Vielfraße.

Denn die Bestimmungen für die Fastenzeit waren seit der von Calvin verkündeten Reform sehr verschärft worden, um ein Volk zur strikten Befolgung der Fastenregeln zu zwingen, das sich eher hätte kreuzigen lassen, als dem Fleischgenuß zu entsagen. Die Gläubigen wurden daher unter schlimmsten Strafandrohungen ermahnt, während der vierzig Tage vor der Auferstehung Christi keinerlei Fleischgerichte zu speisen. Sie durften nur zwei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen, und Dispens wurde lediglich den Kranken und den Greisen über Siebzig gewährt. Bratköchen, Geflügelhändlern und Wiederverkäufern drohte beim kleinsten Kapaun die Kirchenbuße.

In jenem Jahr wurde der Sieur Gardy, Metzger der Rue de la Vieille-Lanterne, mit einem Kalbsgeschlinge um den Hals an den Pranger des Grand Châtelet gestellt, weil er das Verbot übertreten hatte. Die Müßiggänger gafften ihn vor allem wegen des Kalbsgeschlinges an, das ihnen den Mund wäßrig machte.

Im Jahre 1663 nützte Angélique die zwangsläufige Muße der Fastenzeit, um drei Pläne zu verwirklichen, die ihr am Herzen lagen.

Zunächst einmal zog sie um. Sie hatte das enge und laute Viertel im Schatten des Grand Châtelet nie gemocht, durch das die Schreie des Schlachtviehs gellten und das nach Fleisch, Fisch und allen möglichen Abfällen stank. Sie fand im schönen Marais-Bezirk eine zweistöckige Pförtnerwohnung mit drei Räumen, die ihr wie ein Palast vorkam.

Sie lag in der Rue des Francs-Bourgeois, nicht weit von der Ecke der Rue Vieille-du-Temple entfernt. Unter Heinrich IV. hatte hier ein Finanzmann ein schönes Haus aus Quadersteinen und Ziegeln zu bauen begonnen, aber da er durch die Kriege oder seine unsauberen Geschäfte ruiniert worden war, hatte er den Bau unvollendet lassen müssen. Lediglich der von zwei Torgebäuden flankierte Vorhof war fertig geworden. Ein altes Frauchen, das - niemand wußte so recht, wieso - Besitzerin des Gebäudes war, bewohnte die eine Seite der Toreinfahrt; sie vermietete die andere zu mäßigem Preise an Angélique.

Im Erdgeschoß erhellten zwei solide vergitterte Fenster einen kleinen Gang, der zu einer winzigen Küche und einer ziemlich geräumigen Stube führte, die Angélique bewohnte. Im Zimmer des oberen Stockwerks richteten sich die Kinder mit Barbe, ihrer neuen Gouvernante, ein, die den Dienst bei Meister Bourgeaud quittierte, um in den von Madame Morens zu treten. Das war der Name, den Angélique sich neuerdings zugelegt hatte. Vielleicht würde sie ihm eines Tages auch die Partikel beifügen können. Dann würden die Kinder den Namen ihres Großvaters tragen: de Morens. Und später wollte sie für sie Anspruch auf alle weiteren Titel, vielleicht sogar auf das Erbe erheben.

Sie war voller Hoffnungen. Geld vermochte alles. War sie nicht bereits »daheim«?

Barbe hatte die Bratküche ohne Bedauern verlassen. Sie hatte diese Arbeit nie gemocht und fühlte sich viel wohler bei »ihren Kleinen«. Schon seit einer Weile beschäftigte sie sich ausschließlich mit ihnen. Sie zu ersetzen, hatte Angélique zwei Küchenmädchen und einen Küchenjungen eingestellt. Mit Rosine, die sich zu einer gewandten und munteren Kellnerin entwik-kelte, Flipot als Küchenjungen und Linot, der die Gäste zu unterhalten und Krapfen, Fleischpasteten und Oblaten zu verkaufen hatte, wurde das Personal des »Kecken Hahns« oder vielmehr der »Roten Maske« recht stattlich.

Angélique war froh, Florimond endlich aus der geräuschvollen Wirtshausatmosphäre lösen zu können. Er mochte den Lärm und den Umtrieb nicht, den zumal die sogenannten Leute aus gutem Hause verursachten.

Die Adligen kamen in die Schenken, um einmal des Zwangs der Etikette ledig zu sein, und ihre mutwillige Ausgelassenheit artete nicht selten in Schlägereien aus Man warf einander Krüge an die Köpfe, man zog die Degen. Angélique zögerte nicht, sich mitten in das Getümmel zu stürzen. Bei solchen Gelegenheiten fühlte sie sich vom Geist der Polackin beseelt, und ihr derber Wortschatz verfehlte seine Wirkung auf die erhitzten Gemüter nie. Auch das fiel ihr nicht schwer. Es gehörte zu ihrem Kampf mit dem Alltag, den unnachgiebig bis zum Ende zu führen, sie fest entschlossen war. Doch der Gedanke, daß droben Florimond bei dem Geschrei weinend und zitternd wachlag, verzehnfachte ihren Zorn.

Hier würde er Ruhe haben. Statt der Speise- und Abfallgerüche würde er die frische Luft der Gärten und Anlagen atmen, die überall dieses schöne Viertel schmückten, in dessen Bereich seit dem Beginn des Jahrhunderts der Adel seine vornehmen Stadthäuser errichten ließ. Mit Barbe würden die Kinder im Garten des Temple Spazierengehen und Ziegenmilch trinken oder in dem des Hôtel de Guise oder auch im Klosterbezirk der Coelestiner, der für seine schönen Früchte und seine von Weinreben überrankten, schattigen Laubengänge berühmt war.

Am ersten Abend nach ihrem Einzug in der Rue des Francs-Bourgeois ging Angélique in ihrer freudigen Erregung unaufhörlich treppauf, treppab. Die Einrichtung war noch ziemlich dürftig: ein Bett in jedem Raum, dazu ein kleines Kinderbett, zwei Tische, drei Stühle, flache Polster zum Sitzen. Aber das Feuer tanzte im Kamin, und die große Stube duftete nach Krapfen. Denn mit Krapfen weiht man eine Wohnung ein.

Der Hund Patou wedelte mit dem Schwanz, und die kleine Magd Javotte lächelte Florimond zu, der ihr das Lächeln fröhlich zurückgab. Angélique hatte nämlich die einstigen Elendsgefährten Florimonds und Cantors aus Neuilly geholt. Als sie sich in der Rue des Francs-Bourgeois niederließ, war ihr klargeworden, daß sie einen Wachhund brauchte. Das Marais-Viertel lag isoliert und war des Nachts wegen der unbebauten Flächen und Äcker zwischen den noch weit auseinanderliegenden Häusern gefährlich. Der Beschützung durch Cul-de-Bois war sie zwar sicher, aber Einbrecher konnten sich, zumal im Dunkeln, leicht in der Adresse irren. So hatte sie sich des Mädchens erinnert, dem ihre Kinder zweifellos ihr Leben verdankten, sowie des Hundes, der Florimond in seinem Jammer ein treuer Kamerad gewesen war.

Die Amme hatte sie nicht erkannt, denn Angélique war in einer Mietkutsche gekommen und hatte ihre Maske getragen. Strahlend über die runde Summe, die ihr da geboten wurde, hatte sie die Kleine, die ihre Nichte war, und den Hund ohne Bedauern ziehen lassen. Angélique war besorgt gewesen, wie Florimond reagieren würde, aber die beiden Neuankömmlinge schienen nur erfreuliche Erinnerungen in ihm zu wecken. Nur ihr selbst zog sich beim Anblick Javottes und Patous das Herz zusammen, weil durch sie die Erinnerung an Florimond in der Hundehütte wieder schmerzhaft lebendig wurde, und sie schwor sich wieder einmal, daß ihre Kinder nie mehr hungern und frieren sollten.

An diesem Abend hatte sie einer Laune nachgegeben und ihnen Spielzeug gekauft. Nicht etwa eine jener Mühlen oder einen am Stock befestigten Pferdekopf, wie man sie für ein paar Sols auf dem Pont-Neuf erwerben konnte, sondern Spielzeug aus der Galerie des Palais, das angeblich in Nürnberg hergestellt wurde: eine kleine Kutsche aus vergoldetem Holz mit vier Figuren, drei kleine Hunde aus Glas, eine Elfenbeinpfeife und für Cantor ein Ei aus bemaltem Holz, das in sich eine Anzahl immer kleinerer barg.

Während Angélique ihre glücklich spielende Familie betrachtete, stieg warme Zuversicht in ihr auf, und sie sagte zu Barbe:

»Barbe, eines Tages werden diese beiden jungen Leute auf die Akademie des Faubourg Saint-Germain gehen, und wir werden sie bei Hofe vorstellen.«

Und Barbe erwiderte, indem sie die Hände faltete: »Ich glaub’s, Madame.«

Angéliques zweiter Plan bestand darin, das Schild über der Tür der Bratstube zum »Kecken Hahn« zu erneuern, die inzwischen dank ihres Wirkens längst zum Wirtshaus zur »Roten Maske« geworden war. Sie hatte ehrgeizige Absichten, denn außer einem schmiedeeisernen »Weinzeichen« in der Form einer Karnevalsmaske wollte sie ein bemaltes Schild, das man über die Tür hängen würde.

Als sie eines Tages vom Markt zurückkehrte, blieb sie verblüfft vor dem Laden eines Waffenhändlers stehen. Dessen Aushängeschild stellte einen alten, weißbärtigen Soldaten dar, der aus seinem Helm Wein trank, während die neben ihm lehnende stählerne Lanze in der Sonne funkelte.

»Das ist ja der alte Wilhelm!« rief sie aus.

Sie stürzte ins Innere des Ladens, wo der Inhaber ihr wohlgefällig verriet, daß das Meisterwerk über seiner Tür von der Hand eines Malers namens Gontran Sancé stamme, der im Faubourg Saint-Marcel domiziliere.

Angélique begab sich eilends und mit klopfendem Herzen dorthin. Im dritten Stock eines schlichten Hauses öffnete ihr eine lächelnde, rosige junge Frau. Gontran fand sie im Atelier vor seiner Staffelei, inmitten seiner Bilder und Farben: Azur, Rotbraun, Bergblau, Ungarisch-Grün ... Er rauchte Pfeife und malte ein nacktes Engelchen, dessen Modell ein hübsches, auf einem blauen Samtteppich liegendes, wenige Monate altes Mädelchen war.

Die Besucherin, die maskiert war, begann, ihre Wünsche hinsichtlich des Wirtshausschilds vorzutragen, dann gab sie sich lachend zuerkennen. Es schien ihr, als sei Gontran ehrlich erfreut, sie wiederzusehen. Er kam immer deutlicher auf seinen Vater heraus und hatte dieselbe Art, beim Zuhören die kräftigen Hände auf die Knie zu stützen. Er berichtete ihr, daß er die Meisterprüfung abgelegt und die Tochter seines einstigen Lehrherrn van Ossel geheiratet habe.

»Aber dann bist du ja eine Mesalliance eingegangen«, rief sie aus, einen Augenblick nutzend, in dem die kleine Holländerin gerade in die Küche gegangen war.

»Und du? Wenn ich recht vernommen habe, betreibst du ein Wirtshaus und schenkst Getränke an Leute aus, von denen manche unter meinem Stand sind.«

Nach kurzem Schweigen fuhr er mit einem feinen Lächeln fort:

»Und du bist gerannt, um mich aufzusuchen, ohne zu zögern, ohne falsche Scham. Wärst du genauso gerannt, um Raymond von deiner gegenwärtigen Situation in Kenntnis zu setzen, der soeben Beichtvater der Königin-Mutter geworden ist, oder Marie-Agnès, Hofdame der Königin, die im Louvre in Anpassung an die Sitten des Ortes die Dirne spielt, oder gar den kleinen Albert, der Page bei dem Marquis de Castelnau ist?«

Angélique gab zu, daß sie sich von diesem Teil der Familie fernhielt. Sie fragte, was aus Denis geworden sei.

»Er ist bei der Armee. Unser Vater jubiliert. Endlich ein Sancé im Dienste des Königs! Jean-Marie ist auf dem Gymnasium. Möglich, daß Raymond ihm ein Kirchenstipendium verschafft, denn er steht sehr gut mit dem Beichtvater des Königs, von dem die Gewährung abhängt. Paß auf, eines Tages werden wir einen Bischof unter uns haben.«

»Findest du nicht, daß wir eine merkwürdige Familie sind?« sagte Angélique kopfschüttelnd. »Es gibt Sancés auf allen Sprossen der Stufenleiter.«

»Hortense hält sich mühsam in der Mitte mit ihrem Staatsanwaltsgatten. Sie haben vielerlei Beziehungen, aber sie leben kümmerlich. Seit dem Verkauf seines Amts vor nahezu vier Jahren zahlt ihnen der Staat keinen Sol mehr.«

»Siehst du sie zuweilen?«

»Ja. Auch Raymond und die andern. Keiner ist sonderlich stolz, mir zu begegnen, aber sie haben nichts dagegen, sich von mir porträtieren zu lassen.« Angélique zögerte einen Augenblick.

»Und . wenn ihr einander begegnet . sprecht ihr jemals von mir?«

»Nie!« sagte der Maler in hartem Ton. »Du bist eine zu bittere Erinnerung für uns, eine Katastrophe, ein Zusammenbruch, der uns das Herz zermalmt hat, so wir eines haben. Glücklicherweise haben wenig Leute erfahren, daß du unsere Schwester bist, du, die Frau eines Hexenmeisters, den man auf der Place de Grève verbrannt hat!«

Während er sprach, hatte er gleichwohl ihre schmalen Finger in seine fleckige, von den Säuren rauh gewordene Hand genommen. Er spreizte sie, berührte die zarte Handfläche, die noch die Spuren der Blasen, der Brandwunden des Küchenherds bewahrte, und legte mit schmeichelnder Geste seine Wange darauf, wie er es in seiner Kindheit hin und wieder getan hatte.

Angélique war es so weh ums Herz, daß sie glaubte, weinen zu müssen. Aber sie hatte zu lange nicht mehr geweint. Ihre letzten Tränen hatte sie eine gute Weile vor dem Tode Joffreys vergossen. Nun war sie ihrer entwöhnt.

Sie zog ihre Hand zurück und sagte in nüchternem Ton, während sie die an die Wand gelehnten Bilder betrachtete:

»Du machst sehr hübsche Dinge, Gontran.«

»Ich weiß. Und trotzdem belieben die großen Herrn mich zu duzen, und die Bürger sehen dünkelhaft auf mich herab, weil ich diese hübschen Dinge mit meinen Händen mache. Ich arbeite mit meinen Händen. Soll ich vielleicht mit meinen Füßen arbeiten? Und wieso ist die Handhabung des Degens ein weniger manueller und verächtlicher Vorgang als die Handhabung des Pinsels?« Er schüttelte den Kopf, und ein Lächeln hellte seine Züge auf. Die Ehe hatte ihn fröhlicher und gesprächiger gemacht.

»Schwesterchen, ich habe Vertrauen in die Zukunft. Eines Tages werden wir beide nach Versailles an den Hof gehen, wo der König viele Maler braucht. Ich werde die Decken der Gemächer ausmalen, die Prinzen und Prinzessinnen porträtieren, und der König wird zu mir sagen: >Ihr macht sehr hübsche Dinge, Monsieur.< Und zu dir wird er sagen: >Madame, Ihr seid die schönste Frau von Versailles.<«

Sie lachten beide von ganzem Herzen.

Angéliques drittes Projekt bestand darin, in die Pariser Feinschmeckergesellschaft jenes exotische Getränk einzuführen, das man Schokolade nannte. Der Gedanke daran hatte sie nicht losgelassen, trotz der Enttäuschung, die die Folge der ersten Berührung mit jener seltsamen Mixtur gewesen war.

David hatte ihr die besagte Patenturkunde seines Vaters gezeigt. Sie schien der jungen Frau alle Zeichen der Glaubwürdigkeit und Legalität zu tragen und wies sogar die persönliche Unterschrift des jungen Königs Ludwig XIV auf, der dem Sieur Chaillou das Monopol auf die Herstellung und den Verkauf der Schokolade in Frankreich gewährte und bestimmte, daß die Urkunde neunundzwanzig Jahre Gültigkeit haben sollte.

»Dieser junge Taugenichts ist sich des Werts des Schatzes, den er da geerbt hat, überhaupt nicht bewußt«, dachte Angélique. »Man sollte aus diesem Dokument unbedingt Kapital schlagen.«

Sie fragte den jungen Mann, ob er Gelegenheit gehabt habe, mit seinem Vater zusammen Schokolade herzustellen, und welcher Geräte er sich dabei bedient habe.

Der Küchengehilfe, der nur zu glücklich war, auf diese Weise die Aufmerksamkeit seiner Dulcinea zu fesseln, erklärte ihr in wichtigtuerischem Ton, die Schokolade komme aus Mexiko und sei im Jahre 1500 durch den berühmten Seefahrer Fernand Cortez am spanischen Hofe eingeführt worden. Von da aus sei sie in Flandern bekanntgeworden. Dann hätten sich zu Beginn des Jahrhunderts Florenz und Italien für das neue Getränk erwärmt, die deutschen Fürsten desgleichen, und jetzt genieße man es sogar in Polen.

»Mein Vater hat mir diese Geschichten seit meiner frühesten Kindheit eingetrichtert«, erklärte David, ein wenig verwirrt über sein unvermutetes Wissen.

Angéliques aufmerksam auf ihn gerichtete Augen ließen ihn abwechselnd erröten und erblassen, während er ihr anvertraute, einige von seinem Vater selig für die Schokoladeherstellung verfertigte Geräte befänden sich noch in seinem Geburtshaus in Toulouse, unter der Obhut entfernter Verwandter, die dort wohnten. Die Fabrikation der Schokolade sei zugleich einfach und kompliziert.

Sein Vater habe die Bohnen zuerst aus Spanien, dann direkt von Martinique bezogen, von einem jüdischen Kaufmann namens Costa. Sie müßten eine gewisse Zeitspanne gären, und der Vorgang habe im Frühjahr vonstatten zu gehen, wenn die Hitze noch nicht so groß sei. Dann ließe man sie trocknen, aber nur so weit, daß sie während der Prozedur des Schälens nicht zerbrechen. Danach sei der Trockenprozeß fortzusetzen, um sie für den Mörser bereitzumachen, ohne daß sich jedoch das Aroma dabei verflüchtigen dürfe.

Darauf würden sie zerstampft. In diesem Vorgang liege das Geheimnis des Gelingens der Schokolade beschlossen. Man müsse ihn kniend vollziehen, und der Mörser müsse zur Hälfte aus Holz, zur Hälfte aus Eisenblech bestehen und leicht angewärmt sein. Das Gerät heiße »Metati«, ein Name, der sich von den Azteken, den roten Männern Amerikas, herleite.

»Ich habe einmal auf dem Pont-Neuf einen solchen roten Mann gesehen«, sagte Angélique. »Vielleicht könnte man ihn ausfindig machen. Die Schokolade wäre sicher noch besser, wenn er sie zerstampfen würde.«

»Mein Vater war nicht rot, und seine Schokolade hatte einen guten Ruf«, sagte Chaillou, ohne die Ironie zu spüren. »Es wäre also auch ohne Indianer zu schaffen.«

»Gut«, schloß Angélique, »du wärst also imstande, dieses Getränk herzustellen, wenn wir uns das Material deines Vaters und Kakaobohnen schicken ließen.«

David schien perplex, doch angesichts der erwartungsvollen Miene Angéliques gab es kein Zurück mehr. Tapfer bejahte er die Frage und wurde durch ein strahlendes Lächeln und einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange belohnt.

Von diesem Augenblick an nützte Angélique jede Gelegenheit, um sich über das zu orientieren, was in Frankreich über den Genuß dieses alkoholfreien Getränks bekannt war. Ein befreundeter alter Apotheker, bei dem sie bestimmte Gewürze und seltene Kräuter zu kaufen pflegte, erklärte ihr, die Schokolade werde als das wirksamste Mittel gegen die Vapeurs der Milz betrachtet. Diese Eigenschaft sei soeben durch die noch unveröffentlichten Untersuchungen des berühmten Arztes Rene Moreau ans Licht gebracht worden, der sie an dem Marschall de Gramont beobachtet habe, einem der wenigen Liebhaber der Schokolade bei Hof.

Angélique notierte sich sorgfältig sowohl die Auskünfte wie den Namen des Arztes. Am folgenden Tage suchte sie die Zwergin der Königin abermals auf, diesmal, um das Produkt in dem Zustand zu kosten, in dem es noch nicht durch Piment geschärft und durch Zucker verdickt war. Sie fand es wohlschmek-kend. Die auf ihr Geheimnis stolze Dona Teresita versicherte ihr, nur sehr wenige Menschen verstünden sich auf seine Zubereitung, aber der pfiffige Barcarole behauptete, er habe von einem jungen Mann reden hören, der sich nach Italien begeben habe, um dort das Kochen zu lernen, und nun für seine vorzügliche Schokolade bekannt sei.

Es sei ein gewisser Audiger, derzeitig Haushofmeister des Grafen Soissons und im Begriff, die Genehmigung zur Herstellung von Schokolade in Frankreich zu erhalten.

»Das darf nicht sein!« sagte sich Angélique. »Ich bin diejenige, die das ausschließliche Patent auf die Herstellung hat.«

Sie beschloß, nähere Erkundigungen über den Haushofmeister Audiger einzuziehen. Jedenfalls bewies das, daß die Idee mit der Schokolade in der Luft lag und daß man sie schleunigst realisieren mußte, wenn einem nicht geschicktere Konkurrenten oder solche mit wirksamerer Protektion zuvorkommen sollten.

An einem der folgenden Nachmittage, als sie eben im Begriff war, mit Linots Unterstützung Blumen in die auf den Tischen stehenden Zinngefäße zu verteilen, kam ein hübscher, prächtig gekleideter junger Mann die Stufen zur Eingangstür herab und näherte sich ihr.

»Ich heiße Audiger und bin der Haushofmeister des Grafen Soissons«, sagte er. »Man hat mir berichtet, daß Ihr im Sinn habt, Schokolade herzustellen, daß Euch aber das Patent dazu fehlt. Nun, ich habe dieses Patent, und deshalb möchte ich Euch in aller Freundschaft darauf hinweisen, daß es zwecklos ist, eine Konkurrenz aufzunehmen, bei der Ihr nur verlieren könnt.«

»Ich bin Euch für Eure Aufmerksamkeit sehr verbunden, Monsieur«, erwiderte sie, »aber wenn Ihr dermaßen sicher seid zu gewinnen, dann verstehe ich nicht, weshalb Ihr mich aufsucht, denn Ihr lauft Gefahr, Euch zu verraten, indem Ihr mir einen Teil Eurer Waffen und vielleicht auch die Unsicherheit Eurer Projekte zeigt.«

Der junge Mann zuckte verblüfft zusammen. Er betrachtete seine Gesprächspartnerin genauer, und ein Lächeln kräuselte seine Lippen, die ein schmaler, brauner Schnurrbart zierte.

»Gott, seid Ihr hübsch, mein Täubchen!«

»Wenn Ihr das Feuer auf solche Weise eröffnet, frage ich mich, was für eine Schlacht Ihr hier eigentlich zu schlagen gedenkt«, erwiderte Angélique, die sich gleichfalls eines Lächelns nicht zu erwehren wußte.

Audiger warf Mantel und Hut auf einen Tisch und setzte sich ihr gegenüber. Er war etwa dreißig Jahre alt. Sein leichtes Embonpoint tat seiner guten Figur keinen Abbruch. Wie alle Mundköche im Dienste hoher Persönlichkeiten trug er den Degen und war genauso vornehm gekleidet wie sein Herr.

In der vertraulichen Stimmung, die sich rasch ergeben hatte, erzählte er, daß seine Eltern ziemlich wohlhabende Provinzbürger seien, die ihm ein Studium ermöglicht hätten. Er habe die Stelle eines Furageurs in der Armee gekauft und nach einigen Feldzügen, mehr oder weniger aus Vergnügen, die Meisterprüfung als Koch abgelegt. Zwecks Vervollkommnung seiner Fertigkeiten sei er hierauf nach Italien gegangen und habe sich mit den Spezialitäten auf dem Gebiet der Limonaden, der Zuckerwaren, des Speiseeises und auch der Schokolade in flüssiger und fester Form vertraut gemacht.

»Bei meiner Rückkehr aus Italien, im Jahre 1660, hatte ich das Glück, Seiner Majestät einen Gefallen erweisen zu können, so daß meine Zukunft seither gesichert ist. Und zwar auf folgende Weise: Als ich in der Gegend von Genua durch das Land streifte, bemerkte ich auf den Feldern unvergleichliche Schotenerbsen. Dabei befanden wir uns im Januar. Ich kam auf den Gedanken, sie pflücken und in einen Kasten schütten zu lassen, und vierzehn Tage danach, als ich wieder in Paris war, überreichte ich sie durch Vermittlung Monsieur Bontemps’, des ersten Kammerdieners, dem König. Jawohl, meine Liebe, Ihr braucht mich nicht mit so großen Augen anzuschauen. Ich habe den König aus nächster Nähe gesehen, und er hat sich außerordentlich huldvoll mit mir unterhalten. Wenn ich mich recht erinnere, waren außerdem noch sein Bruder, der Graf Soissons, der Marschall Gramont, der Marquis de Vardes, der Graf Noailles und der Duc de Crequi anwesend. Beim Anblick meiner Erbsen riefen alle Herren einstimmig aus, sie hätten nie etwas Schöneres gesehen. Graf Soissons enthülste einige von ihnen im Angesicht des Königs. Nachdem dieser mir sodann seine Befriedigung bezeigt hatte, befahl er mir, sie dem Haushofmeister, Sieur Beaudoin, mit der Anweisung zu überbringen, davon je einen kleinen Teller voll für die Königin-Mutter, für die Königin sowie für den Herrn Kardinal zubereiten zu lassen, der sich gerade in Louvre befand, und den Rest für ihn aufzuheben. Er werde ihn am Abend mit Monsieur zusammen verspeisen. Zu gleicher Zeit befahl Seine Majestät Monsieur Bontemps, mir ein Geldgeschenk zu überreichen, das ich jedoch dankend ablehnte. Woraufhin Seine Majestät erklärte, Sie werde mir jede Bitte erfüllen. Zwei Jahre später, nachdem ich einen gewissen Besitz zu Geld gemacht hatte, ließ ich ihm ein Gesuch überreichen, in dem ich um die Genehmigung bat, ein Limonadengeschäft zu eröffnen, in dem unter anderen Produkten auch Schokolade ausgeschenkt werden sollte.«

»Warum habt Ihr dieses Geschäft noch nicht eingerichtet.«

»Hübsch langsam, meine Schöne. Diese Dinge brauchen ihre Zeit. Aber kürzlich hat mir der Kanzler Séguier nach Prüfung meiner königlichen Patenturkunde versprochen, sie einzutragen und mit seiner Unterschrift zu versehen, damit sie sofort wirksam würde. Ihr seht also, schöne Freundin, daß es Euch angesichts dieser Sachlage schwerfallen dürfte, mir den Rang abzulaufen, selbst wenn Ihr ein entsprechendes Patent erlangen solltet.«

Trotz der Sympathie, die Lustigkeit und Offenheit des Besuchers ihr einflößten, empfand die junge Frau tiefe Enttäuschung.

Sie war schon im Begriff, ihm energisch zu widersprechen und seinen Übermut durch die Feststellung zu dämpfen, daß auch sie oder vielmehr der junge Chaillou ein ähnliches Monopol besitze, das zudem noch den Vorteil habe, früher eingetragen zu sein. Aber sie versagte es sich im letzten Augenblick, ihre Trümpfe aufzudecken. Nur eines der beiden Papiere konnte gültig sein. Sie würde sich erst einmal bei den Innungen und beim Vorsteher der Kaufmannschaft erkundigen.

Da sie jedoch von Innungsangelegenheiten und dergleichen nicht viel verstand, beschloß sie, diesem Konkurrenten gegenüber Zurückhaltung zu üben, der ihr so vieles voraus hatte: vor allem Reichtum, weitreichende Beziehungen und eine gewisse geschäftliche Gewandtheit.

Sie sagte also nur hinterlistig: »Falls Ihr mit Eurer Schokolade zum Zuge kommt - welcher Innung gedenkt Ihr Euch zu unterstellen?«

»Überhaupt keiner, da ich eine königliche und spezielle Genehmigung besitze.«

»Gut, daß ich das weiß, denn für Davids Dokument gilt vermutlich dasselbe«, sagte sich die junge Frau und fuhr laut fort: »Für unser Geschäft hat Meister Bourgeaud, der ein Verwandter von mir ist und mit dem ich Euch bekannt machen werde, sobald er von der Markthalle zurückkommt, ein Speisewirt-Patent kaufen müssen, um seinen Gästen an den Fastentagen Fischgerichte servieren zu können. Wir dachten daher, daß wir uns nur mit den Innungen zu verständigen brauchten, um die entsprechenden Patente auch in diesem Fall zu erhalten.«

Audiger hob Arme und Augen gen Himmel.

»Aber, mein armes Kind, auf was habt Ihr Euch da eingelassen! Selbst wenn Ihr die Kosten aufbringen könntet - Ihr müßtet ja außerdem Unsummen an die verschiedenen Innungsobermeister zahlen und ebensoviel oder gar noch mehr an die königlichen Kontrolleure. Ihr werdet Euch ruinieren und Eure Zeit vergeuden.«

»Was soll ich denn tun?«

»Gar nichts, denn ich allein habe die Genehmigung, Schokolade zu verkaufen.«

»Oh, das geht zu weit!« rief Angélique und stampfte mit dem Fuße auf. »Es ist nicht galant von Euch, Monsieur, auf solche Weise die Absichten einer Frau zu durchkreuzen. Und wenn ich nun darauf brenne, Schokolade zu verkaufen, wenn ich davon träume, mich inmitten leckermäuliger junger Damen zu bewegen und ihnen Tassen mit duftendem Trank zu reichen ...«

»Nun, das ist höchst einfach.«

»Wieso? Vorhin sagtet Ihr, es sei sehr kompliziert beziehungsweise unmöglich!«

»Der Teufel soll die räsonnierenden Frauen holen! Man könnte meinen, Ihr wäret ständiger Gast im Salon der Mademoiselle de Scudéry. Ich gebe zu, daß ich hin und wieder ganz gern dorthin gehe, aber ich kenne nichts Unerfreulicheres als Frauen, die Verstand vortäuschen, wo man seit Anbeginn der Welt doch weiß, daß sie keinen besitzen. Aber kehren wir zur Sache zurück. Wenn Ihr unbedingt Schokolade verkaufen wollt, so gibt es einen sehr einfachen Weg, diesen Traum zu verwirklichen: heiratet mich!«

Aus der Küche drang ein unterdrückter Ausruf, dann klirrte splitternd Geschirr auf den Boden. Die Tür wurde heftig aufgerissen, und David erschien, die Ärmel über seine kümmerlichen Armmuskeln krempelnd.

Audiger schien nicht zu begreifen, was dieser Küchenjunge wollte.

»Ist das Euer kleiner Bruder?«

»Nein, es ist der Neffe Meister Bourgeauds und bereits ein vorzüglicher Koch.«

»Für einen Koch ist er nicht besonders dick ... und im übrigen scheint er nicht ausgesprochen umgänglich. Warum streckt er mir dauernd die Fäuste entgegen?«

Audiger legte lässig die Hand auf den Griff seines Degens.

»Ihr wagt es wohl nicht, Euch mit bloßen Händen zu schlagen, wie?« schrie David mit seiner Fistelstimme, ohne aus dem Haushofmeister mehr als ein kühles Lächeln herauszulocken.

»Hör mit diesen Dummheiten auf, David!« gebot Angélique streng.

Der gute Junge ließ die Arme sinken und zog ein Gesicht wie ein gescholtenes Kind. Aber er konnte sich nicht entschließen zu gehen und brummte endlich:

»Mein Onkel mag keine Gäste, die nichts verzehren und einem nur die Zeit wegstehlen.«

»Hast recht, Junge. Bring uns also schleunigst einen Krug guten Weins.«

»Dies hier ist keine Schenke. Man kommt, um zu essen.«

»Um welche Zeit?«

»Nicht vor acht Uhr jetzt im Frühling.«

»Kurz gesagt, du wirfst mich hinaus. Schön, wir wollen uns nicht streiten. Ich komme ein andermal wieder her.«

Audiger erhob sich und warf elegant seinen Mantel über die Schulter. Er lächelte Angélique zu, und sie fand, daß er schöne, volle, gutgeformte Lippen habe.

»Aber ich komme wieder, schöne Wirtin ... um die Antwort abzuholen. Es ist ernst gemeint, müßt Ihr wissen. Überlegt es Euch gut!«

Angélique lachte gezwungen. »Wie könnt Ihr nur so leichtsinnig sein? Meine hausfraulichen Fähigkeiten sind Euch doch völlig unbekannt!«

»Ich weiß, daß Ihr eine Zauberin auf dem Gebiet der Kochkunst seid, was übrigens in unserm Haushalt nicht so wichtig wäre, da ich selbst Koch bin. Und was das sonstige betrifft, nun ja, ich nähme fürlieb«, sagte er fröhlich. Und mit einer tiefen, höfischen Verbeugung verließ er sie.

Am Abend wartete Angélique, bis der letzte Gast gegangen war, um Meister Bourgeaud von Audigers Besuch in Kenntnis zu setzen.

»Er hat mir versichert, er werde sein Patent in allernächster Zeit bekommen. Ich habe mir die Sache genau überlegt, und ich glaube, wir dürfen keinen Augenblick mehr verlieren. Seid Ihr nicht auch der Ansicht, daß .«

»Aber natürlich bin ich der Ansicht«, rief der Bratkoch aus und fuchtelte mit seinen kurzen Armen. »Wenn ich’s nicht wäre, würde das vielleicht etwas ändern.«

»Gebt Ihr mir also freie Hand, nach meinem Gutdünken zu handeln?«

»Hast du jemals anders gehandelt? Handle, mein Kind, handle! Du weißt genau, daß mich alle diese großen Projekte aufregen und beunruhigen. Es wird übel ausgehen, ich fühle es.«

»Gewiß, es kann mißlingen, aber man riskiert nichts, wenn man’s versucht.«

»Versuche, mein Kind, versuche.«

Und da er für die Nacht zur Polizeiwache eingeteilt war, ging er seine Waffen holen. Angélique fragte ihn, ob sie in der Stube schlafen dürfe, die sie vor der Übersiedlung in die Rue des Francs-Bourgeois bewohnt hatte. Es war spät, und sie fühlte sich recht erschöpft.

»Aber natürlich, bleib nur hier. Das Haus gehört dir ... Alles gehört dir .«

»Meister Bourgeaud«, sagte Angélique bekümmert, »Ihr redet, als sei Euch meine Gegenwart lästig.«

Der Bratkoch lachte und kniff sie in die Wange.

»Du bist die Sonne meines Heims, aber ich bin ein alter, mürrischer Großpapa. Mein Gott, du solltest mich allmählich kennen!«

Nachsichtig lächelnd, verfolgte sie ihn mit dem Blick, als er davontrottete, die Hellebarde in der einen, die Laterne in der anderen Hand. Dann machte sie die Fenster dicht, schob die Türriegel vor, stieg hinauf und sank mit einem Seufzer der Erleichterung ins Bett. Aber ehe sie noch recht eingeschlafen war, brachte ein Schritt draußen die Treppenstufen zum Knarren. Die Tür ging auf, und der unruhige Schein einer Kerze ließ die schlotternde Gestalt Davids erkennen.

»Madame Angélique?«

Sie richtete sich auf. »Was ist denn? Was willst du?«

Das Licht zuckte auf wunderliche Art. David zitter-te an allen Gliedern.

»Das kann doch nicht wahr sein, wie? Ihr werdet ihn nicht . Ihr werdet Euch nicht mit ihm verheiraten ...?«

Angélique gähnte.

»Ach, das ist es, was dich plagt, mein guter David? Hast du’s denn nicht begriffen, du Dummkopf? Dieser Herr ist schön, reich, er hält sich für unwiderstehlich und versucht, mir die Cour zu schneiden, um mich einzulullen und sein Schäfchen ins trockene zu bringen. Aber er kann lange warten. Morgen gehen wir beide zusammen zum Vorsteher der Kaufmannschaft, der die Gültigkeit deines Patents prüfen soll, und danach lassen wir uns das Prioritätsrecht bestätigen.«

»Dann ... dann ist es also wahr? Es war nicht ernst gemeint? Dieser junge Mann hat Euch nicht ausnehmend gut gefallen? Ihr habt ihn mit einem so seltsamen Lächeln angeschaut .!«

»Ich mußte doch seinen Argwohn einschläfern. Überhaupt, mit welchem Recht richtest du über mich? Kannst du mir auch nur ein einziges Abenteuer nachweisen, seitdem ich hier bin? Glaubst du, ich hätte neben der Arbeit in der Bratküche und meinen Mutterpflichten noch Zeit für Firlefanzereien?«

Der Jüngling näherte sich langsam dem Bett und stellte seinen Leuchter auf den Nachttisch. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Was bin ich froh!« sagte er ekstatisch. »Allein der Gedanke, dieser Mann könnte seinen Arm um Eure Taille legen, hat mich wahnsinnig gemacht.«

Er schloß die Augen, schien nachzudenken und sagte:

»Fünf Werkzeuge hat sie, die mir Wonne bereiten:

Ihre Hände die ersten, ihre Augen die nächsten beiden.

Fürs letzte muß leichtfertig man sein und galant,

doch sein Name bleibt besser ungenannt.«

»O David!« rief Angélique lachend aus. »Wo hast du diese Salon-Schlüpfrigkeiten aufgegabelt?«

»Der Schmutzpoet hat das Gedicht für mich gemacht. Ich ... ich hab’ ihn gefragt, wie ich Euch zu verstehen geben könnte, daß ich Euch liebe. Aber Ihr lacht«, schrie der arme Junge auf, »Ihr macht Euch über mich lustig!«

»Pst! Du weckst ja die ganze Nachbarschaft! Ich lache, weil du ein großer Tölpel bist. Du weißt wie alle Welt genau, daß dieser berüchtigte Schmutzpoet ein Hanswurst und übles Bürschchen ist. So, nun geh und leg dich wieder schlafen!«

Aber David trat noch einen Schritt näher und beugte sich über sie. Das Licht der Kerze zeichnete tiefe Schatten in sein Gesicht, das seinen kindlichen Ausdruck verloren hatte. Unwillkürlich schob sie den Träger ihres Hemdes hoch, der über den Arm herabgeglitten war.

»Ich liebe Euch«, sagte er mit fester und tiefer Stimme. »Es gibt keine schönere Frau als Euch. In der Nacht träume ich, daß ich meine Hand auf Eure Brust lege, mit meinen Lippen Eure Lippen berühre. Ich möchte neben Euch in diesem Bett liegen, Euren Körper an mich pressen, bis Ihr vor Schmerz stöhnt. Und dann, meine ich, würde etwas so Wunderbares geschehen, daß ich vor Wonne stürbe ...«

»Nicht übel«, sagte sich Angélique. »Diese Leute aus dem Süden haben von Natur aus eine lyrische Ader; die ihnen kein Mensch abstreiten kann. Aber werde ich nun wahrhaftig gezwungen sein, mich mit diesem siebzehnjährigen Bengel zu schlagen?«

Indessen hatten sich Davids Züge plötzlich wie in einem Krampf verzerrt. Verzweiflung verwandelte sein Gesicht, und er sank schluchzend am Bettrand zusammen.

»Oh, seid mir nicht böse, ich flehe Euch an! Ich weiß nicht, was mit mir ist ... Als ob ich wahnsinnig würde! Ich bin krank, nicht wahr?«

Angélique lächelte und streichelte mütterlich das borstige Haar des Jungen.

»Aber nein, du bist nicht krank. Es ist sogar durchaus natürlich. Du bist ein Mann geworden. Das heißt, vielleicht noch nicht ganz. Bist du schon mal bei einer Frau gewesen, David?«

Der Jüngling wandte das Gesicht ab, um sein Erröten zu verbergen, das Angélique im Halbdunkel des Raums freilich ohnehin nicht bemerkt hätte. »Nein«, sagte er scheu. »Ich mag die Frauen nicht. Sie flößen mir Angst ein.«

»Und ich? Ich, die dich den ganzen Tag hart anfährt, dir Püffe versetzt und dich beschimpft, ich flöße dir keine Angst ein?«

»Doch, ein wenig. Vor allem, wenn Ihr mich auf eine gewisse Art anschaut. Aber ich glaube, Ihr wäret weder spöttisch noch böse. Seitdem Ihr mich geküßt habt .«

»Was, ich habe dich geküßt?«

»Ja, an jenem Tage, an dem Ihr erfuhrt, daß ich aus Toulouse bin. Damals habe ich gemerkt, daß Ihr auch gut seid. Und ich habe gedacht, Ihr könntet mich lehren ...«

»Was könnte ich dich lehren, David?«

Während seine Augenlider sich senkten, hauchte er:

»Das ... jene wunderbare Sache .«

»Die Liebe? Wie ich dich das Kochen lehrte? Nein, mein Kleiner. Schau, diese Dinge lernt man bei einem Mädchen deines Alter oder aber ... Nun, ich bin nicht mehr jung oder noch nicht alt genug für diese Rolle. Im übrigen glaube ich, daß du dir Illusionen über das Gefühl machst, dessen Anlaß ich zu sein scheine. In Wirklichkeit wirst du merken, daß des Nachts im Bett

- wenn die Kerze gelöscht ist - alle Frauen einander gleichen. Aber was dir fehlt, ist das Wissen, worin sie einander gleichen. Drum gib mir meinen Umhang dort vom Stuhl und laß mich aufstehen.«

Sie ging zum Tisch, kritzelte ein paar Worte auf ein Stück Papier, fügte einige Geldstücke bei und übergab beides David.

»So, damit gehst du in die Stadt, überschreitest den Pont-au-Change und begibst dich in die Rue Glatigny. Du klopfst an die Tür des dritten Hauses zur Linken, dort, wo du eine rote Laterne siehst. Du sagst, du möchtest eine Frau sprechen, die man die Polackin nennt. Du erklärst ihr, du kämst von Angélique. Sie kann nicht lesen, aber Beau-Garçon wird ihr das Nötige sagen, und an dem Geld wird sie schon merken, um was es sich handelt und daß sie dich wie einen Edelmann hätscheln soll. Geh also, mein Junge, und hab keine Angst. Tummel dich, ich bekomme kalte Füße auf dem Steinboden!«

Gesenkten Kopfes ließ er sich hinausdrängen. Da er gewohnt war, ihr zu gehorchen, hörte sie ihn wirklich das Haus verlassen, und gleich darauf sah sie durchs Fenster, wie er auf den vom Mondlicht überfluteten Pont-au-Change einbog.

»Es ist nicht gerade sehr moralisch, was ich da getan habe«, dachte Angélique, während sie sich wieder niederlegte, »aber in diesem Fall das Richtige. Und was mich betrifft, ich kann, wie unsere Nachbarin, die Tante Alice, sagen würde, meine Zeit nicht mit Überflüssigem vertrödeln.«

Am nächsten Morgen vermied es Angélique aus Feingefühl, dem jungen Chaillou Fragen zu stellen. Er schien indessen durchaus zufrieden, obwohl sein Atem und die Ringe um seine Augen verrieten, daß er in dieser Nacht im Tal der Liebe mehr getrunken hatte als im ganzen Jahr.

Gemäß ihrem Versprechen begab sie sich mit ihm zum Vorsteher der Kaufmannschaft. Sie wurden von einem schwitzenden, beleibten Biedermann in ziemlich schmutzigem Spitzenkragen empfangen, der die Gültigkeit des dem jungen Chaillou gewährten Patents bestätigte, für das freilich eine neuerliche Gebühr zu entrichten sei.

Angélique erhob Widerspruch:

»Aber wir haben doch eben erst die Abgaben für den Bratstuben- und Speiseküchenbetrieb geleistet und weitere für die Genehmigung, selbst Fische zu braten. Weshalb sollen wir darüber hinaus noch etwas bezahlen, nur um ein alkoholfreies Getränk ausschenken zu dürfen?«

»Ihr habt ganz recht, mein Kind, denn das bringt mich darauf, daß Ihr ja außer den Innungsvorstehern des Spezereiwarenhandels, die diese Sache betrifft, auch noch die Genossenschaft der Limonadehersteller entschädigen müßt. Wenn alles in Eurem Sinne verläuft, dürft Ihr zwei zusätzliche Patente bezahlen: eines an die Innung der 2. Klasse, die der Gewürzkrämer, das andere an die der 3. Klasse, der Limonadenhersteller.«

Angélique beherrschte mühsam ihren Zorn.

»Und das wäre dann alles?«

»O nein«, erwiderte er bedauernd. »Wohlverstanden, wir haben bisher weder von den fällig werdenden staatlichen Abgaben gesprochen noch von denen an die Prüfer sowie an die Gewichts- und Qualitätskontrolleure .«

»Aber wie könnt Ihr Anspruch erheben, dieses Produkt zu kontrollieren, wenn Ihr es überhaupt nicht kennt?«

»Darum geht es nicht. Dieses Produkt ist eine Handelsware, und alle Innungen, die es betrifft, müssen die Kontrolle darüber haben sowie ihren Anteil am Gewinn. Da Eure Schokolade, wie Ihr sagt, ein gewürztes Getränk ist, müßt Ihr einen Gewürzmeister einstellen, außerdem einen Limonadenmeister, beiden angemessenen Lohn und Unterkunft gewähren, den Preis für das Meisterrecht des neuen Gewerbes an jede einzelne Innung zahlen, und da Ihr mir nicht sonderlich willig zu sein scheint, darf ich Euch gleich darauf aufmerksam machen, daß wir genauestens aufpassen werden, daß alles seine Richtigkeit hat.«

»Und was hat das wohl zu bedeuten?« fragte Angélique herausfordernd, indem sie die Arme in die Hüften stemmte.

Aber ihre Geste belustigte die seriösen Kaufleute nur, die sich inzwischen dazugesellt hatten, und einer der jüngeren unter ihnen glaubte ihr erklären zu müssen:

»Das hat zu bedeuten, daß Ihr Euch bei der Aufnahme in die Innung damit einverstanden erklärt, daß dieses neue Produkt von allen Gewürzkrämern und Limonadenverkäufern vertrieben wird, vorausgesetzt, daß es, wunderlich wie es ist, bei den Kunden größeren Anklang findet.«

»Das ist ja alles ungemein ermutigend, was Ihr mir da erzählt, Ihr Herren. Danke schön! Wir sollen also sämtliche Unkosten tragen, neue Meister mit Kind und Kegel bei uns aufnehmen, die Reklametrommel rühren, die Wohnung trockenwohnen, wie man so sagt, und uns dabei entweder ruinieren oder aber hinterher den Ertrag unserer Mühen und unseres Geheimnisses mit denen teilen, die nichts dazu getan haben?«

»Die im Gegenteil alles dazu getan haben, meine Teure, indem sie Euch aufnahmen und Eurem Geschäft keine Hindernisse in den Weg legten.«

»Kurz und gut, es ist also eine Art Wegezoll, was Ihr verlangt?«

Der junge Innungsmeister suchte sie zu beruhigen.

»Vergeßt nicht, daß die Zünfte wachsenden Geldbedarf haben, und da Ihr selbst ein Gewerbe betreibt, wißt Ihr ja, daß man uns bei jedem neuen Krieg, bei jeder Geburt im Königs- oder auch nur in einem Prinzenhause zwingt, unsere teuer erworbenen Privilegien abermals zu kaufen. Und darüber hinaus ruiniert uns der König, indem er bei jedem Anlaß oder auch ohne jeglichen Anlaß neue Patente fabriziert, wie zum Beispiel dieses da, das Ihr im Namen des Sieur Chaillou vorweist .«

»Der Sieur Chaillou bin ich«, bemerkte David, »nachdem mein Vater gestorben ist, und ich kann Euch versichern, Ihr Herren, daß ihm sein Patent durch kostspielige Forschungen und Abgaben an den König teuer zu stehen gekommen ist.«

»Eben in diesem Punkt, junger Mann, seid Ihr nicht im reinen mit uns: vor allem seid Ihr kein Gewürzmeister, werdet es auch nie sein, und unsere Innung hat daher nichts von Euch erhalten.«

»Aber sein Vater bringt Eurer Innung doch eine Erfindung .«

»Beweist uns das auf Eure Kosten, und verpflichtet Euch, uns von ihr profitieren zu lassen.«

»Aber die Innung hat weder für diesen jungen Mann noch für seinen Vater etwas getan!«

»Wenn Ihr nichts einbringt, kann die Innung Euch auch nicht aufnehmen.«

»Ist denn das überhaupt nötig?« fragte Angélique brüsk. »Da dieser junge Mann vom König die alleinige Genehmigung erhalten hat, dieses Produkt herzustellen und zu vertreiben, und da sein Onkel und ich selbst willens sind, ihm die Mittel zur Verfügung zu stellen und die Sache zu leiten, sehe ich nicht ein, wieso wir gezwungen sein sollten, auf Eure Forderungen einzugehen.«

An den verstohlenen Blicken, die die Innungsmeister tauschten, erkannte sie, daß sie die schwache Stel-le im Gebäude des Zunftwesens berührt hatte. Was jene die »Launen« des Königs nannten, rüttelte an seit vierhundert Jahren gültigen Bestimmungen.

Der junge Kaufmann sagte erregt:

»Seid nicht so störrisch, junge Frau, und glaubt nicht, daß Ihr uns ungestraft trotzen könntet. Andererseits möchte ich Euch darauf verweisen, daß Ihr, wenn Ihr Euch der Innung verbindet, gewichtige Vorteile genießen werdet.«

»Welche? Könnt Ihr garantieren, daß mir nicht auch noch die Wasserverkäufer Schwierigkeiten bereiten und ihren Anteil verlangen werden? Könnt Ihr garantieren, daß sich, falls ich unser Geheimnis mit Euch teile, nicht auch die Apotheker oder die Ärzte einschalten werden, die behaupten, daß die Schokolade ein Produkt von eminent heilsamer Wirkung sei .?«

»In diesem Punkt könnt Ihr beruhigt sein, mein Kind. Die Ärzte und Apotheker sind sich nie einig.«

Doch der beleibte Innungsvorsteher mischte sich ein:

»Ich habe freilich gehört, die Ärzteschaft halte viel von der Schokolade und empfehle den Apothekern, sich damit zu versorgen.«

»Dann allerdings kompliziert sich Euer Fall, meine Liebe, denn die Innung der Spezereiwarenhändler kann sich nicht mit dem Vertrieb eines Medikaments befassen ...«

Angélique hatte ein Gefühl, als platze ihr der Kopf, und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie verabschiedete sich mit der Erklärung, sie werde über die uner-forschlichen Geheimnisse der Gewerbeverordnungen nachdenken, und sie sei überzeugt, daß die Herren bis zum nächsten Mal einen trefflichen Grund gefunden hätten, um sie daran zu hindern, etwas Neuartiges zu unternehmen.

Auf dem Heimweg machte sie sich Vorwürfe, daß sie ihre Erregung nicht besser beherrscht hatte. Aber sie wußte, daß bei diesen Leuten auch mit einem Lächeln nichts auszurichten gewesen wäre. Audiger hatte mit seiner Versicherung ganz recht gehabt, daß ihn die Genehmigung des Königs der Notwendigkeit enthebe, sich um den Schutz der Innungen zu bemühen.

Aber er war wohlhabend und hatte einflußreiche Persönlichkeiten hinter sich, während Angélique und der gute David einigermaßen hilflos der Feindseligkeit der Gilden ausgeliefert waren.

Die Protektion des Königs für dieses erste, vor fünf Jahren ausgestellte Patent zu erbitten, erschien ihr ebenso mißlich wie schwierig. Also begann sie, nach einem Wege zu suchen, der zur Verständigung mit Audiger führen konnte. War es, statt einander zu bekämpfen, schließlich nicht vernünftiger, gemeinsame Anstrengungen zu machen und sich in das Geschäft zu teilen? So konnte Angélique mit Hilfe des Patents und der Fabrikationsgeräte die Beschaffung der Kakaobohnen übernehmen und diese bis zum gebrauchsfertigen Zustand aufbereiten. Der Haushofmeister würde aus dem Pulver das Getränk und alle möglichen Arten von Konfekt her-stellen.

Im Verlauf ihrer ersten Unterhaltung war ihr klargeworden, daß der junge Mann sich noch nicht ernsthaft mit dem Gedanken an die Beschaffungsmög lichkeiten des Rohprodukts befaßt hatte. Ganz obenhin hatte er erwidert, »das bereite nicht die leisesten Schwierigkeiten«, er werde »durch Freunde« genug bekommen.

Nun, durch die Zwergin der Königin wußte Angélique, daß der Transport einiger für die Naschhaftigkeit Ihrer Majestät erforderlicher Säcke Kakao eine wahre diplomatische Mission darstellte und daß es zahlreicher Mittelspersonen und Verbindungen zum spanischen Hof oder nach Florenz bedurfte ... Auf solche Weise konnte man sich aber für den laufenden Bedarf nicht verproviantieren, und bis dahin schien nur Davids Vater sich ernsthaft mit diesem Gedanken beschäftigt zu haben.

Audiger kam häufig in die Schenke zur »Roten Maske«. Wie der »Vielfraß« Montmaur ließ er sich an einem abseits stehenden Tische nieder, immer allein und sichtlich jede Gesellschaft meidend. Seit seinem ersten, sehr kecken und munteren Auftreten war er plötzlich recht einsilbig geworden, und Angélique wunderte sich ein wenig darüber, daß dieser bereits renommierte Berufsgenosse ihr kein Kompliment über ihre Kochkünste machte. Im übrigen nippte er nur an den Speisen und folgte Angélique auf Schritt und Tritt mit den Augen. Der ernste und hartnäckige Blick dieses hübschen, gutgewachsenen und selbstbewußten Burschen schüchterte schließlich die junge Frau ein, die das Getändel des ersten Tags bereute und nicht wußte, wie sie auf die Sache zu sprechen kommen sollte, die ihr am Herzen lag. Vielleicht war sich Audiger klargeworden, daß es schwieriger sein würde, sie beiseite zu schieben, als er ursprünglich gedacht hatte. Vielleicht überwachte er sie jetzt gar?

Allmählich jedoch trieb er es mit dem Überwachen ein wenig weit, denn bei den Ausflügen, die die ganze Familie an diesen Sommersonntagen aufs Land unternahm, tauchte Audiger wiederholt zu Pferde auf und lud sich zu ihrer Mahlzeit im Grünen ein. Wie durch Zufall fanden sich in seiner Satteltasche stets eine Hasenpastete und eine Flasche Champagner.

Oder aber man stieß auf ihn in der Galeote, die auf dem Wasserweg nach Chaillot fuhr, im Marktschiff von Saint-Cloud, in dem seine Bänder, seine Federn und seine Kleidung aus feinem Tuch sich seltsam genug ausnahmen. Am Tage nach einem dieser Ausflüge trat Audiger plötzlich aus seiner Reserve heraus und sagte zu Angélique: »Je länger ich Euch beobachte, desto mehr Rätsel gebt Ihr mir auf, schöne Freundin. Es ist da etwas in Euch, das mich beunruhigt .«

»Bezüglich Eurer Schokolade?«

»Nein . oder vielmehr doch . indirekt. Zuerst bildete ich mir ein, Ihr wärt für die Dinge des Herzens ... und auch des Geistes geschaffen. Und nun merke ich immer mehr, daß Ihr in Wirklichkeit sehr praktisch, ja sogar materiell seid und daß Ihr nie den Kopf verliert.«

»Ich will es hoffen«, dachte sie. Aber sie begnügte sich damit, auf die liebreizendste Art zu lächeln.

»Im Leben gibt es Perioden, in denen man gezwungen wird, sich voll und ganz einer einzigen Sache zu widmen, dann wieder einer andern. Zu gewissen Zeiten ist es die Liebe, die vorherrscht, gewöhnlich dann, wenn das Dasein einem leichtfällt. Zu andern ist es die Arbeit, ein gestecktes Ziel. So will ich Euch auch nicht verheimlichen, daß ich zur Zeit mein Augenmerk in erster Linie darauf richte, Geld für meine Kinder zu verdienen, deren ... deren Vater gestorben ist.«

»Ich möchte nicht indiskret erscheinen, aber da Ihr schon einmal von Euren Kindern sprecht - glaubt Ihr, daß es Euch bei einem ebenso anstrengenden wie unsicheren und vor allem mit echtem Familienleben so wenig zu vereinbarenden Gewerbe gelingen kann, sie ordentlich zu erziehen und glücklich zu machen?«

»Ich habe keine Wahl«, sagte Angélique hart. »Im übrigen kann ich mich über Meister Bourgeaud nicht beklagen und habe bei ihm ein im Verhältnis zu meiner bescheidenen Stellung unverhofft gutes Auskommen gefunden.«

Audiger hüstelte, spielte eine Weile nachdenklich mit den Quasten seines Spitzenkragens und sagte zögernd:

»Und ... wenn ich Euch diese Wahl böte?«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

Sie sah ihn an und erkannte in seinen braunen Augen den Ausdruck verhaltener Verehrung. Der Augenblick schien ihr günstig, um die Verhandlungen voranzutreiben: »Da fällt mir ein: Habt Ihr endlich Euer Patent?«

Audiger seufzte.

»Aha, Ihr seid also doch interessiert und verbergt es auch gar nicht! Nun, offen gesagt, ich habe den Stempel der Staatskanzlei noch nicht und werde ihn wohl auch nicht vor Oktober bekommen, denn während der Sommermonate hält sich der Präsident Séguier in seinem Landhause auf. Aber von diesem Zeitpunkt an wird alles ganz rasch gehen, denn ich habe meine Angelegenheit mit dem Grafen de Guiche besprochen, des Kanzlers Schwager. Ihr seht, daß Ihr binnen kurzem keine Aussicht mehr habt, eine hübsche Schokoladenwirtin zu werden ... falls Ihr nicht ...«

»Jawohl ... falls ich nicht ...«, sagte Angélique. »So hört mich an.«

Und sie teilte ihm frank und frei ihre Absichten mit. Sie verriet ihm, daß sie ein Patent besitze, das älteren Datums als das seinige sei und mit dem sie ihm Verdruß bereiten könne, doch sei es wohl am besten, man einige sich. Sie würde die Herstellung des Produkts übernehmen und er die Zubereitung. Und um am Gewinn des Schokoladegeschäfts beteiligt zu sein, würde Angélique ihm helfen und Geld investieren.

»Wo gedenkt Ihr Euer Schokoladegeschäft einzurichten?«

»Im Quartier Saint-Honoré bei der Croix du Tra-hoir. Aber Eure Geschichten haben weder Hand noch Fuß!«

»Sie haben durchaus Hand und Fuß, das wißt Ihr genau. Das Quartier Saint-Honoré ist ein ausgezeichnetes Viertel. Der Louvre liegt in der Nähe, das Palais Royal ebenfalls. Es darf keine Gaststätte werden, die wie eine Schenke oder eine Bratstube wirkt. Ich sehe schöne schwarze und weiße Fliesen, Spiegel und vergoldetes Tafelwerk und dahinter einen Garten mit Weinlauben wie im Klosterbezirk der Coelestiner, behagliche Lauben für Liebespaare.«

Der Haushofmeister, den Angéliques Ausführungen verdrießlich gemacht hatten, entrunzelte bei dieser letzten Schilderung die Stirn.

»Ihr seid wirklich bezaubernd, wenn Ihr Euch so von Eurer Phantasie fortreißen laßt. Ich liebe Euren Frohsinn und Euren Schwung, denen Ihr das richtige Maß von Bescheidenheit beizumischen versteht. Ich habe Euch aufmerksam beobachtet. Ihr seid schlagfertig, aber von untadeliger Sittsamkeit, und das gefällt mir. Was mich abstößt an Euch, das ist, ich will es nicht verheimlichen, Eure allzu praktische Einstellung und Eure Art, Euch mit erfahrenen Männern auf gleiche Stufe zu stellen. Die Zartheit der Frauen läßt sich schlecht mit forschem Ton und schneidigem Gehaben vereinen. Sie sollen es den Männern überlassen, diese Dinge auszuhandeln, bei denen ihre kleinen Köpfchen nur in Verwirrung geraten.«

Angélique lachte laut auf. »Ich sehe schon Meister Bourgeaud und David über diese Dinge diskutieren!«

»Es handelt sich nicht um sie.«

»So? Ihr habt also noch nicht erfaßt, daß ich mich allein durchbeißen muß?«

»Das ist es ja, Euch fehlt ein Beschützer.«

Angélique stellte sich taub.

»Hübsch langsam, Meister Audiger. In Wirklichkeit seid Ihr ein eifersüchtiges Ekel und wollt Eure Schokolade alleine trinken. Und weil das, was ich Euch auseinandersetze, Euch nicht paßt, versucht Ihr auszuweichen, indem Ihr Reden über die Zartheit der Frauen haltet. Aber in dem kleinen Krieg, den wir gegeneinander führen, scheint mir die Lösung, die ich Euch vorschlage, noch immer die vernünftigste.«

»Ich weiß eine hundertmal bessere.«

Unter dem bohrenden Blick des jungen Mannes gab Angélique vorderhand ihr Bemühen auf. Sie nahm ihm seinen Teller weg, wischte den Tisch ab und erkundigte sich, was er als Zwischengericht wünsche. Doch als sie zur Küche ging, stand er auf und holte sie mit zwei Schritten ein.

»Angélique, mein Täubchen, seid nicht grausam«, flehte er. »Versprecht mir, daß Ihr am Sonntag allein mit mir einen Spaziergang machen werdet. Ich möchte ernsthaft mit Euch reden. Wir könnten zur Javel-Mühle gehen. Wir essen dort ein Fischgericht, und dann wandern wir über die Felder. Wollt Ihr?«

Er hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt. Sie hob die Augen zu ihm, gefesselt von diesem frischen Gesicht, zumal von den unter den beiden dunklen Strichen des Schnurrbarts kräftig sich abzeichnenden Lippen. Lippen, die sich fordernd dem Fleisch aufdrängen mußten, das sie berührten.

Ein Schauer der Lust durchrieselte sie, und mit kraftloser Stimme willigte sie ein, sich am Sonntag von ihm zur Javel-Mühle geleiten zu lassen.

Die Aussicht auf diesen Ausflug beschäftigte Angélique viel mehr, als ihr lieb war. Sie mochte sich noch so sehr bemühen, vernünftig zu sein - jedesmal, wenn sie an Audigers Lippen dachte und an den um ihre Taille gelegten Arm, überlief sie ein heißer Schauer. Solche Empfindungen waren ihr völlig fremd geworden. Als sie darüber nachdachte, stellte sie fest, daß seit nahezu zwei Jahren, sei jenem Abenteuer im Châtelet, kein Mann sie berührt hatte. Nun, das war freilich nicht ganz wörtlich zu nehmen, denn dieses Nonnendasein hatte sich in einer Atmosphäre der Sinnlichkeit abgespielt, in der man sich nur mit Mühe behaupten konnte; sie konnte die dreisten Küsse und Liebkosungen gar nicht mehr zählen, die sie mit Ohrfeigen hatte abwehren müssen. Mehrmals war sie im Hof von betrunkenen Kerlen angefallen worden und hatte sich mit Fußtritten ihrer erwehren und um Hilfe rufen müssen. All das, zusammen mit den Erinnerungen an den Polizeihauptmann und die derben Umarmungen Calembredaines, hinterließ in ihr den bitteren Geschmack von Gewalttätigkeiten, die ihre Sinne abgestumpft hatten.

Verwundert spürte sie, daß sie wieder erwacht waren, mit einer Plötzlichkeit und Süße, wie sie es noch vor wenigen Tagen nicht für möglich gehalten hätte. Ob dieser Audiger ihre Verwirrung ausnutzen würde, um ihr das Versprechen zu entlocken, ihn in seinem Geschäft nicht zu behindern?

»Nein«, sagte sich Angélique. »Das Vergnügen und die Geschäfte sind getrennte Dinge. Ein in herzlichem Einvernehmen verbrachter Tag kann meinen Zukunftsplänen nicht abträglich sein. Im übrigen, was berechtigt mich zu der Vermutung, daß sich etwas zutragen könne? Audiger hat sich stets völlig korrekt verhalten.«

Vor ihrem Spiegel strich sie mit dem Finger über ihre langen, feinen Augenbrauen. War sie noch immer schön? Man sagte es ihr, aber hatte die Hitze des Herdfeuers ihren von Natur matten Teint nicht noch mehr gebräunt?

»Ich bin ein bißchen voller geworden, was mir gar nicht übel steht. Außerdem hat dieser Typ von Männern eine Vorliebe für rundliche Frauen.«

Sie schämte sich ihrer von der Küchenarbeit rauh und dunkel gewordenen Hände und kaufte beim Großen Matthieu auf dem Pont-Neuf eine Salbe, um sie zu bleichen. Auf dem Rückweg erstand sie einen Kragen aus normannischer Spitze, den sie über den Ausschnitt ihres schlichten Kleides aus blaugrünem Tuch legen wollte. So würde sie wie eine kleine Bürgersfrau wirken und nicht wie eine Magd oder Händlerin. Dazu besorgte sie sich, einer leichtferti-gen Laune nachgebend, ein Paar Handschuhe und einen Fächer.

Wirklichen Kummer machten ihr nur ihre Haare. Sie waren krauser und blonder nachgewachsen, aber sie wollten nicht wieder die alte Länge erreichen. Betrübt dachte sie an das schwere und seidige Vlies, das sie in ihrer Kindheit über die Schultern zu schütteln pflegte.

Am Morgen des großen Tages verbarg sie sie unter einem dunkelblauen seidenen Tuch, das der Meisterin Bourgeaud gehört hatte. Am Ausschnitt ihres Mieders befestigte sie eine Kamee aus Karneol und an ihrem Gürtel ein mit Perlen besticktes Täschchen, das ebenfalls aus deren Hinterlassenschaft stammte. -Angélique wartete unter dem Torbogen. Der Tag versprach schön zu werden. Der Himmel breitete sich klar über den hohen Giebeln. Als Audigers Kutsche endlich erschien, lief sie ihr mit der Ungeduld eines Pensionatszöglings an seinem Ausgangstag entgegen.

Der Haushofmeister sah geradezu prächtig aus. Er trug gelbe Kniehosen mit leuchtenden Bändern. Sein Wams aus gemsfarbenem Samt, das mit schmalen, orangegelben Litzen gesäumt war, öffnete sich über einem gefältelten Hemd aus feinstem Linon. Die Spitzen an seinen Knien, seinen Manschetten und seiner Halsbinde waren hauchzart.

Angélique berührte sie voller Bewunderung.

»Das sind irische Spitzen«, erklärte der junge Mann. »Sie haben mich ein kleines Vermögen gekostet.«

Ein wenig geringschätzig hob er den schlichten Kragen seiner Gefährtin.

»Später werdet Ihr ebenso schöne haben, Liebste. Mich dünkt, Ihr seid fähig, mit Grazie eine große Toilette zu tragen. Ich kann mir Euch gut im Seidenkleid, ja sogar im Atlaskleid vorstellen.«

»Und sogar in einem aus Goldbrokat«, dachte Angélique mit zusammengebissenen Zähnen.

Doch gleich darauf, als die Kutsche an der Seine entlangrollte, kehrte die gute Laune wieder.

Die Javel-Mühle spreizte zwischen den Schafherden der Ebene von Grenelle ihre langen Fledermausflügel, deren sanftes Klipp-klapp die Begleitmusik zu den Küssen und Schwüren der Liebespaare bildete. Man kam in aller Heimlichkeit nach Javel. Ein großes Nebengebäude hatte man als Herberge eingerichtet, und der Wirt war verschwiegen.

»Wenn man in einem Haus wie dem unsrigen nicht zu schweigen wüßte«, pflegte er zu erklären, »wäre das mehr als schlimm. Wir würden die ganze Stadt durcheinanderbringen.«

Angélique atmete genießerisch die frische Luft ein. Kleine weiße Wölkchen zogen sachte über den tiefblauen Himmel, und sie lächelte ihnen zu. Von Zeit zu Zeit streifte sie mit einem Seitenblick Audigers Lippen und genoß den köstlichen kleinen Schauer, den sie alsbald verspürte.

Ob er versuchen würde, sie zu küssen? Es schien, als fühle er sich nicht recht behaglich in seinem schönen Gewand und als seien seine Gedanken einzig darauf gerichtet, mit dem Wirt, der sich durch seinen Besuch höchst geehrt fühlte, das Menü für ihre Mahlzeit zusammenzustellen.

Im Gastraum, in dem ein vorteilhaftes Halbdunkel herrschte, setzten sich weitere Paare zu Tisch. Je mehr der Wein in den Krügen zur Neige ging, desto lockerer wurde die Stimmung. Man ahnte gewagte Gesten, die das girrende Gelächter der Damen weckten. Angélique trank, um ihre Unruhe zu beschwichtigen. Ihre Wangen begannen zu glühen.

Audiger erzählte von seinen Reisen und seinem Beruf. Er gab einen überaus genauen Bericht und unterschlug weder ein Datum noch eine gebrochene Wagenachse.

»Wie Ihr Euch überzeugen könnt, meine Liebe, ruht meine Existenz auf sicheren Grundlagen, so daß ich keine Überraschungen zu befürchten habe. Meine Eltern ...«

»Oh, laßt uns hinausgehen!« flehte Angélique, die ihren Löffel niedergelegt hatte.

»Aber die Hitze ist unerträglich!«

»Draußen weht wenigstens ein bißchen Wind ... und außerdem sieht man nicht all diese Leute, die sich küssen«, fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu.

Angesichts der grellen Sonne warnte Audiger sie von neuem, sie werde einen Sonnenstich bekommen und sich zudem noch den Teint verderben. Er setzte ihr seinen breitkrempigen Hut mit den weißen und gelben Federn auf und rief aus, wie er es am ersten Tage getan hatte: »Gott, was seid Ihr hübsch, mein Schatz!«

Doch nach ein paar Schritten schon nahm er, während sie einen schmalen Pfad am Seineufer entlangspazierten, den Bericht über seinen Werdegang wieder auf. Er erklärte, wenn die Schokoladefabrikation in Gang gebracht sei, wolle er ein sehr gewichtiges Buch über den Beruf des Mundkochs schreiben, das alles Wissenswerte für die Pagen und Köche enthalten werde, die sich zu vervollkommnen wünschten.

»Wenn der Haushofmeister dieses Buch liest, wird er lernen, wie man eine Tafel richtet und wie man die Gedecke anordnet. Ebenso wird ihm beigebracht, daß er, ist die Stunde der Mahlzeit gekommen, eine weiße Serviette zu nehmen, sie der Länge nach zu falten und über seine Schulter zu legen hat. Ich werde ihn darauf aufmerksam machen, daß die Serviette das Sinnbild seiner Gewalt ist. Ich kann mit dem Degen an der Seite, dem Mantel über den Schultern, dem Hut auf dem Kopf servieren, immer aber muß die Serviette sich an der besagten Stelle befinden.«

Angélique lachte spöttisch. »Und wenn Ihr eine Frau im Arm habt, wo legt Ihr sie dann hin, die Serviette?«

Die entrüstete und verblüffte Miene des jungen Mannes bewog sie, sich sofort zu entschuldigen.

»Verzeiht mir. Weißwein macht mich immer ein wenig albern. Aber habt Ihr mich etwa kniefällig beschworen, zur Javel-Mühle mitzukommen, um mir von der richtigen Lage der Servietten zu berichten .?«

»Macht Euch nicht über mich lustig, Angélique.

Ich erzähle Euch von meinen Plänen, von meiner Zukunft. Und das entspricht den Absichten, die ich hegte, als ich Euch bat, heute einmal allein mit mir zu gehen. Entsinnt Ihr Euch eines Worts, das ich Euch sagte, als wir uns zum erstenmal sahen? Es war damals nicht viel mehr als eine Laune: >Heiratet mich!< Seither habe ich oft und gründlich darüber nachgedacht, und es ist mir klargeworden, daß Ihr tatsächlich die Frau seid, die .«

»Oh, dort sind Heuschober!« rief sie aus. »Kommt, wir gehen rasch hinüber. Da läßt sich’s besser sein als in der prallen Sonne.«

Sie begann zu laufen, wobei sie ihren großen Hut festhielt, und ließ sich, am Ziel angelangt, atemlos ins warme Heu sinken. Der junge Mann machte gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich lachend neben ihr nieder.

»Kleine Närrin! Immer bringt Ihr mich aus dem Konzept. Ich glaube, mit einer klugen Geschäftsfrau zu reden, und dabei ist es ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte flattert.«

»Einmal ist keinmal. Audiger, seid nett, nehmt Eure Perücke ab. Ihr macht mir heiß mit diesem dicken Pelz auf dem Kopf, und ich möchte Eure richtigen Haare streicheln.«

Er zuckte leicht zurück, folgte jedoch nach einer kleinen Weile ihrer Weisung und fuhr sich erleichtert mit den Fingern durch sein kurzes, braunes Haar.

»Jetzt bin ich dran«, sagte Angélique und streckte die Hand aus.

Aber er hielt sie verlegen fest.

»Angélique! Was fällt Euch ein? Ihr werdet ja geradezu diabolisch! Ich wollte doch ernsthafte Dinge mit Euch besprechen.«

Er berührte das Handgelenk der jungen Frau, und sie verspürte etwas wie einen brennenden Schmerz. Jetzt, da er sich verwirrt und aufgewühlt über sie beugte, kehrten ihre Empfindungen wieder. Audigers Lippen waren wirklich schön, seine Haut war straff und kühl, seine Hände weiß. Es wäre nicht übel, wenn er ihr Liebhaber würde. Sie würde sich seinen kraftvollen, gesunden, fast ehelichen Umarmungen hingeben, und es würde eine Erholung von ihrem mühevollen Dasein bedeuten. Dann würden sie friedlich nebeneinanderliegen und vom Schokoladehandel sprechen.

»Horcht«, flüsterte sie, »hört Ihr die Javel-Mühle? Ihr Lied protestiert. In ihrem Schatten spricht man nicht von ernsten Dingen. Das ist verboten ... Horcht, schaut, der Himmel ist blau. Und Ihr, Ihr seid schön. Und ich, ich .«

Sie wagte nicht weiterzusprechen, aber sie sah ihn mit ihren glänzenden grünen Augen herausfordernd an. Ihre halbgeöffneten, ein wenig feuchten Lippen, die Glut ihrer Wangen, das hastige Wogen ihrer Brüste drückten deutlicher noch als Worte aus: »Ich verlange nach dir.«

Er neigte sich ihr zu, doch dann richtete er sich brüsk auf und blieb einen Augenblick abgewandt stehen.

»Nein«, sagte er schließlich mit fester Stimme, »Euch nicht. Wohl habe ich hin und wieder eine Soldatendirne oder eine Magd im Heu genommen. Aber Euch nicht. Ihr seid die Frau, die ich erwählt habe. Ihr werdet mein sein in der Nacht nach der von einem Priester gesegneten Hochzeit. Ich achte die, die ich zu meinem Weib und zur Mutter meiner Kinder erwähle. Und Euch habe ich erwählt, Angélique, in dem Augenblick, als ich Euch das erstemal sah. Ich wollte Euch heute um Eurer Jawort bitten, aber Ihr habt mich mit Eurem wunderlichen Gehaben außer Fassung gebracht. Ich möchte glauben, daß das nicht Eure eigentliche Natur ist. Überschätzt man Euch etwa, wenn man Euch nachsagt, daß Ihr eine sittenstrenge Witwe seid?«

Angélique schüttelte lässig den Kopf. Sie kaute an einem Halm, während sie zwischen ihren Lidern hervor den jungen Mann betrachtete. Sie versuchte, sich als Frau des Haushofmeisters Audiger vorzustellen: eine gute, kleine Bürgersfrau, die die großen Damen auf dem Cours-la-Reine herablassend grüßen würden, wenn sie dort in einer bescheidenen Kutsche spazierenführe. Mit den Jahren würde Audiger einen Bauch und ein rotes Gesicht bekommen, und wenn er seinen Kindern oder Freunden zum soundsovielten Male die Geschichte von den Erbsen Seiner Majestät erzählte, würde sie den Drang verspüren, ihn umzubringen.

»Ich habe mit Meister Bourgeaud über Euch gesprochen«, fuhr Audiger bekümmert fort, »und er hat mir nicht verhehlt, daß es Euch, auch wenn Ihr ein beispielhaftes Leben führt und Euch vor keiner Arbeit scheut, an Frömmigkeit gebricht. Allenfalls sonntags hört Ihr die Messe, und zur Vesper geht Ihr nie. Nun, die Frömmigkeit ist recht eigentlich eine weibliche Tugend, die Gewähr einer sauberen Lebensführung.«

»Was wollt Ihr, man kann nicht zugleich fromm und scharfsinnig, gläubig und logisch sein.«

»Was erzählt Ihr da, mein armes Kind! Seid Ihr etwa von der Ketzerei angesteckt? Die katholische Religion .«

»Oh, ich beschwöre Euch«, rief sie in plötzlicher Erregung aus, »sprecht mir nicht von Religion! Die Menschen haben alles verfälscht, was sie angerührt haben. Aus dem Heiligsten, das Gott ihnen gegeben hat, aus der Religion, haben sie einen Galimathias von Kriegen, Heuchelei und Blut gemacht, daß mir übel wird. Jedenfalls glaube ich, daß Gott in einer jungen Frau, die das Bedürfnis hat, an einem Sommertag in die Arme genommen zu werden, das Werk seiner Schöpfung erkennt, denn er ist es ja, der sie so geschaffen hat.«

»Angélique, Ihr verliert den Verstand! Es ist Zeit, daß man Euch der Gesellschaft jener Freigeister entreißt, deren Reden Ihr Euch unrechterweise anhört. Ich glaube wirklich, daß Ihr nicht nur einen Beschützer braucht, sondern auch einen Mann, der Euch bändigt und auf Euren Platz als Frau verweist. Zwischen Eurem Onkel und seinem Kretin von Neffen, die Euch anbeten, glaubt Ihr Euch alles herausnehmen zu können. Ihr seid zu sehr verwöhnt worden, man müßte Euch dressieren .«

»Oh, meint Ihr wirklich?« erwiderte Angélique gähnend.

Die Auseinandersetzung hatte abkühlend auf sie gewirkt. Sie streckte sich behaglich im Heu aus, nachdem sie listig ihren langen Rock so weit hochgehoben hatte, daß ihre feinen Knöchel sichtbar wurden.

»Euer Schaden«, murmelte sie.

Fünf Minuten später schlief sie. Mit klopfendem Herzen betrachtete Audiger den gelöst sich selbst überlassenen, geschmeidigen Körper. Sie war von mittlerem Wuchs, aber so wohlproportioniert, daß sie groß wirkte. Er hatte nie ihre Knöchel gesehen; sie ließen schöngeschwungene Beine ahnen, schöne Frauenbeine, die im Liebeskampf den Körper des Mannes, der sich zu ihrem Herrn aufgeworfen hatte, wollüstig pressen würden.

Audiger entschloß sich zu gehen, um einer Versuchung zu entrinnen, der er zu erliegen drohte.

Angélique träumte, sie führe in einem Heukahn übers Meer. Eine Hand streichelte sie, und eine Stimme sagte zu ihr: »Weine nicht.«

Загрузка...