Mit selbstsicherer Geste griff Desgray nach seinem Barett, setzte es auf und stieg die Stufen der kleinen Tribüne hinab.
Da erhob sich der Richter Bourié, und seine scharfe Stimme widerhallte in der betretenen Stille:
»So soll er kommen! So soll er persönlich kommen! Pater Kircher möge von dieser heimlichen Prozedur Zeugnis ablegen, die in mehr als einer Hinsicht verdächtig erscheint, weil sie ohne Wissen der Justiz durchgeführt wurde.«
»Pater Kircher wird kommen«, versicherte Desgray in ruhigem Ton. »Er müßte bereits hier sein. Ich habe ihn holen lassen.«
»Nun, und ich sage Euch, daß er nicht kommen wird«, schrie Bourié, »denn Ihr habt gelogen. Ihr habt diese ganze alberne Geschichte mit dem heimlichen Exorzismus frei erfunden, um die Richter zu beeindrucken. Ihr habt Euch hinter den Namen bedeutender kirchlicher Persönlichkeiten verschanzt, um den Freispruch zu erzwingen. Der Betrug wäre entdeckt worden, aber zu spät .!«
Der junge Advokat faßte sich rasch und fuhr mit gewohnter Behendigkeit auf ihn los.
»Ihr beleidigt mich, Monsieur. Ich bin kein ausgepichter Fälscher wie Ihr. Ich gedenke des Eides, den ich vor der Königlichen Anwaltskammer abgelegt habe, als ich meine Zulassung bekam.«
Das Publikum bekundete aufs neue lärmend sei-ne Meinung. Masseneau suchte sich verständlich zu machen. Doch noch immer war Desgrays Stimme beherrschend.
»Ich beantrage ... ich beantrage die Vertagung der Verhandlung auf morgen. Der R. P Kircher wird seine Erklärung bekräftigen, ich schwöre es.«
In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür. Ein kalter Luftzug, in dem sich Schneeflocken mischten, drang durch einen der Eingänge des Halbrunds, der an der Hofseite lag. Alles wandte sich dieser Pforte zu, in deren Rahmen zwei schneebedeckte Polizisten erschienen waren und nun zur Seite traten, um einen kleinen, untersetzten, aufs sorgfältigste gekleideten Mann durchzulassen, dessen Perücke und Mantel ohne Schneespuren bewiesen, daß er soeben einer Kutsche entstiegen war.
»Herr Präsident«, sagte er mit rauher Stimme, »ich habe erfahren, daß Ihr zu dieser späten Stunde noch Sitzung abhaltet, und ich glaubte, Euch umgehend eine Nachricht bringen zu müssen, die ich für wichtig halte.«
»Bitte, Herr Polizeipräfekt«, erwiderte Masseneau verwundert.
Monsieur d’Aubrays wandte sich dem Advokaten zu.
»Maître Desgray hier hatte mich gebeten, in der Stadt Nachforschungen nach einem Jesuitenpater namens Kircher anzustellen. Nachdem ich einige Beamte an die verschiedenen Orte geschickt hatte, wo er hätte sein können, jedoch nicht gesehen worden war, wurde mir mitgeteilt, daß ein im Eis der Seine gefundener Ertrunkener in das Leichenschauhaus des Châtelet gebracht worden sei. Ich begab mich in Begleitung eines Jesuitenpaters aus dem Temple dorthin. Dieser erkannte seinen Ordensbruder, den Pater Kircher, eindeutig wieder. Sein Tod ist vermutlich in den ersten Morgenstunden erfolgt .«
»So schreckt Ihr also auch nicht vor dem Verbrechen zurück!« kreischte Bourié und wies mit ausgestrecktem Arm auf den Advokaten.
Die übrigen Richter ereiferten sich und schienen Masseneau Vorwürfe zu machen. Aus der Menge stiegen Schreie auf:
»Genug! Schluß machen ...!«
Mehr tot als lebendig, gelang es Angélique nicht einmal mehr zu erkennen, wem diese Rufe galten. Sie sah, daß Masseneau aufstand, und gab sich Mühe, ihn zu verstehen.
»Meine Herren, die Verhandlung wird fortgesetzt. Da der vom Verteidiger in letzter Stunde angekündigte Hauptzeuge, der ehrwürdige Jesuitenpater Kircher, tot aufgefunden wurde und der hier anwesende Herr Polizeileutnant keinerlei Dokument bei ihm entdeckte, das bezeugen könnte, was Maître Desgray uns mitgeteilt hat, da im übrigen ausschließlich die Person des R. P Kircher dem angeblich aufgesetzten heimlichen Protokoll Glaubwürdigkeit verleihen könnte, betrachtet das Gericht diese Einwendungen als null und nichtig und wird sich jetzt zur Urteilsfindung zurückziehen.«
»Tut das nicht!« rief Desgray verzweifelt. »Wartet noch mit dem Urteilsspruch. Ich werde Zeugen beibringen. Pater Kircher ist ermordet worden.«
»Von Euch!« warf Bourié ein.
»Maître, beruhigt Euch«, sagte Masseneau. »Habt Vertrauen zur Entscheidung der Richter.«
Dauerte die Beratung ein paar Minuten oder länger?
Es kam Angélique vor, als hätten sich die Richter nie von der Stelle gerührt, als seien sie immer dagewesen mit ihren viereckigen Baretten, ihren roten und schwarzen Roben, als würden sie immer dort bleiben, festgebannt an ihre Plätze, vor denen sie nun standen. Die Lippen des Präsidenten de Masseneau bewegten sich. Mit zitternder Stimme verlas er:
»Im Namen des Königs verkünde ich, daß Joffrey de Peyrac de Morens der Verführung, der Gottlosigkeit, der Magie, der Hexerei und anderer in diesem Prozeß zur Sprache gekommener Verbrechen für schuldig befunden wurde, zu deren Sühnung er den Händen des Scharfrichters übergeben und von allen zum Vorplatz von Notre-Dame geleitet werden soll, um dort barhäuptig und mit bloßen Füßen, den Strick um den Hals und eine Kerze in der Hand, die Vergebung seiner Sünden zu erbitten.
Alsdann soll er zur Place de Grève gebracht und dort lebendigen Leibes auf einem zu diesem Zweck zu errichtenden Scheiterhaufen verbrannt werden, bis daß sein Fleisch und seine Knochen zu Asche zerfallen, welch selbige man in alle Winde verstreuen wird.
Und jedes seiner Güter soll erfaßt und zugunsten des Königs eingezogen werden.
Und bevor er hingerichtet wird, soll er der peinlichen und hochnotpeinlichen Befragung unterworfen werden.
Weiterhin verkünde ich, daß der Sachse Fritz Hauer zum Mitschuldigen erklärt wurde und zur Sühne an einem auf der Place de Grève zu errichtenden Galgen gehenkt und gewürgt werden soll, bis daß der Tod eingetreten ist. Und ich verkünde, daß der Mohr Kouassi-Ba zum Mitschuldigen erklärt und zur Sühne zu lebenslänglicher Galeere verurteilt wurde.«
Neben dem Sünderbänkchen schwankte, auf zwei Stöcke gestützt, die hohe Gestalt Joffrey de Peyracs. Er erhob sein fahles Gesicht zum Tribunal.
»Ich bin unschuldig!«
Sein Schrei verklang in Totenstille.
Dann fuhr er mit ruhiger, dumpfer Stimme fort:
»Baron de Masseneau de Pouillac, ich weiß, daß jetzt nicht mehr Zeit ist, meine Unschuld zu beteuern. Ich werde also schweigen. Doch bevor ich von hier weggeführt werde, möchte ich Euch öffentlich für das Bemühen um Rechtlichkeit Dank sagen, das Ihr in diesem Prozeß gezeigt habt, dessen Vorsitz und Abschluß Euch aufgezwungen wurden. Empfangt von einem Edelmann aus altem Geschlecht die Versicherung, daß Ihr würdiger seid, das Adelswappen zu führen als diejenigen, die Euch regieren.«
Im roten Gesicht des toulousanischen Parlamen-tariers zuckte es. Einen Moment hob er die Hand vor die Augen, dann rief er in jener langue d’oc, die nur Angélique und der Angeklagte verstanden:
»Adieu! Adieu, >Bruder meines Landes
Draußen in der tiefen Nacht, die sich bereits der Morgendämmerung näherte, schneite es, und der Wind trieb große Flocken vor sich her. Im dicken, weißen Teppich stolpernd, verließen die Leute den Justizpalast. Laternen schaukelten an den Wagenschlägen.
Eine halbnärrische Frau, Carmencita de Mérecourt, klammerte sich an die Roben der nach Hause eilenden Richter. Schreiend bezichtigte sie sich, ihre einzige Liebe gemordet zu haben.
Angélique schritt im Gewühl der vor Übermüdung trunkenen Zuschauer dahin, die wie von Entsetzen gelähmt schwiegen. Sie erkannte in der zerzausten, trotz der eisigen Kälte halbentblößten Frau, deren Stimme das Heulen des Schneesturms übertönte, Carmencita nicht wieder.
»Nehmt mich doch fest ... Er ist unschuldig! Ich habe ihn verleumdet! Ich wollte mich rächen, weil er sie liebte! Er liebte sie, die >andere<, und er hat mich nicht mehr geliebt .«
Zehn Leuten gelang es nur mit Mühe, die Rasende loszureißen, die sich an die Rockschöße des Präsidenten de Masseneau geklammert hatte.
Die >andere< wanderte einsam durch die finsteren, verschneiten Straßen von Paris. Beim Verlassen des Justizpalasts hatte Angélique die Nonne im Gedränge verloren. Nun strebte sie mechanisch dem Temple-Bezirk zu. Sie dachte an nichts; sie hatte nur ein einziges Bedürfnis: ihr kleines Zimmer aufzusuchen und sich über Florimonds Bettchen zu beugen.
Als sie sich der Festungsmauer des Temple näherte, fiel ihr ein, daß die Tore geschlossen sein würden. Aber sie hörte die gedämpften Töne der Turmuhr von Notre-Dame de Nazareth und zählte fünf Schläge. In einer Stunde würde der Bailli aufschließen lassen. So überschritt sie die Zugbrücke und kauerte sich unter das Gewölbe des Torturms. Geschmolzene Schneeflocken rannen über ihr Gesicht. Glücklicherweise hatten sie das Nonnenkleid mit seinen mehrfachen Röcken, die weite Haube und der Kapuzenmantel gut geschützt. Nur ihre Füße waren eiskalt.
Das Kind regte sich in ihr. Sie legte die Hände auf ihren Leib und preßte ihn in plötzlich aufflammendem Zorn. Warum wollte dieses Kind leben, da Joffrey sterben mußte .?
In diesem Augenblick zerriß der Schneevorhang, und etwas Dunkles sprang keuchend unter das Gewölbe. Angélique erkannte den Hund Sorbonne. Er näherte sich ihr, legte die Pfoten auf ihre Schultern und leckte mit seiner rauhen Zunge ihr Gesicht.
Angélique streichelte ihn und spähte forschend in die von Flocken durchwirbelte Finsternis: Sorbonne, das war Desgray. Desgray würde kommen, und mit ihm die Hoffnung. Sicher hatte er einen Gedanken. Er würde ihr sagen, was man jetzt noch tun konnte, um Joffrey zu retten.
Schon hörte sie den Schritt des jungen Mannes auf der Holzbrücke. Er näherte sich vorsichtig.
»Seid Ihr da?« flüsterte er.
»Ja.«
Er kam näher. In der Dunkelheit unter dem Gewölbe sah sie ihn nicht, aber er neigte sich beim Sprechen so dicht zu ihr, daß der Tabakgeruch seines Atems sie schmerzlich an Joffreys Küsse erinnerte.
»Sie haben versucht, mich beim Verlassen des Justizpalastes festzunehmen. Sorbonne hat einen der Polizisten erwürgt. Ich konnte entkommen. Der Hund ist Eurer Spur gefolgt und hat mich hierhergeführt. Ihr müßt nun verschwinden. Habt Ihr verstanden? Keinen Namen, keine Versuche, nichts mehr. Andernfalls findet Ihr Euch eines Morgens in der Seine - wie der Pater Kircher -, und Euer Sohn wird Doppelwaise sein. Was mich betrifft, so habe ich den Ausgang des Prozesses vorausgesehen. Ein Pferd erwartet mich an der Porte Saint-Martin. In ein paar Stunden bin ich weit fort.«
Angélique klammerte sich an das durchnäßte Wams des Advokaten. Ihre Zähne klapperten.
»Ihr werdet doch nicht fliehen? Ihr könnt mich nicht im Stich lassen!«
Er ergriff die zarten Handgelenke der jungen Frau und löste die verkrampften Finger.
»Ich habe für Euch alles aufs Spiel gesetzt und alles verloren, außer meiner Haut.«
»So sagt mir doch ... sagt mir, was ich für meinen Gatten tun kann!«
»Alles, was Ihr für ihn tun könnt .«
Er zögerte, dann fuhr er überstürzt fort:
»Sucht den Scharfrichter auf und gebt ihm dreißig Silberstücke, damit er ihn erdrosselt - ja, vor dem Feuer. So wird er wenigstens nicht leiden. Da, hier habt Ihr dreißig Silberstücke.«
Sie spürte, daß er ihr eine Börse in die Hand schob. Ohne ein weiteres Wort ging er davon. Der Hund zögerte, seinem Herrn zu folgen, kehrte zu Angélique zurück und schaute sie aus warmen Augen an. Desgray pfiff. Der Hund spitzte die Ohren und verschwand in der Nacht.
Meister Aubin, der Scharfrichter, wohnte an der Place du Pilori, bei der Fischhalle. Hier mußte er wohnen und nirgendwo sonst. Die Bestallungsurkunde der Scharfrichter von Paris bestimmte das seit undenklichen Zeiten. Alle Läden und Verkaufsstände des Platzes gehörten ihm, und er vermietete sie an kleine Krämer. Überdies stand ihm das Recht zu, sich von jedem der Marktstände eine gute Handvoll Gemüse oder Korn zu nehmen, einen Süßwasserfisch, einen Seefisch und ein Bündel Heu. Wenn die Hökerinnen die Königinnen der Markthallen waren, so war der Scharfrichter ihr heimlicher und verlästerter Herr.
Angélique begab sich bei Einbruch der Dunkelheit zu ihm. Der junge Corde-au-cou führte sie. Selbst zu dieser späten Tagesstunde war die Gegend sehr belebt. Durch die Rue de la Poterie und die Rue de la Fromagerie drang Angélique in diesen »Bauch von Paris« ein. Hier hallten die seltsamen Rufe der Marktfrauen wider, die mit ihren derben, roten Gesichtern und ihrer originellen malerischen Sprache eine berühmte und privilegierte Gilde bildeten. Die Hunde stritten sich in den Gassen um die Abfälle. Heu- und Holzkarren versperrten die Straßen. Über allem lag der scharfe Meeresgeruch, der den Ständen der Fischhalle entströmte.
Der Pranger erhob sich mitten auf dem Platz. Es war ein kleiner, achteckiger Turm mit spitzem Dach.
Er bestand aus einem Erdgeschoß und einem einzigen Stockwerk mit hohen Spitzbogenfenstern, durch die man das große eiserne Rad erkennen konnte, das in der Mitte des Turms angebracht war.
Eine beträchtliche Menschenmenge drängte sich am Fuße des Prangers, weniger, um den Dieb zu betrachten, der an diesem Tage aufs Rad gebunden worden war, als um sich mit zwei Knechten zu verständigen, die im Erdgeschoß Marken ausgaben.
»Seht, Madame«, sagte Corde-au-cou nicht ohne Stolz, »das sind alles Leute, die für die Hinrichtung morgen Plätze haben wollen. Sicher kriegen nicht alle welche.«
Mit der seinem Beruf eigenen Gefühllosigkeit, die ihn zu einem vorzüglichen Henker prädestinierte, zeigte er ihr den Anschlagzettel, dessen Inhalt die Ausrufer an diesem Morgen an allen Straßenecken verkündet hatten:
»Der Sieur Aubin, Scharfrichter der Stadt Paris und ihrer Umgebung, macht bekannt, daß er auf seiner Tribüne zu mäßigem Preise Plätze vermietet, die es erlauben, das Feuer zu sehen, das morgen auf der Place de Grève für einen Hexenmeister entzündet wird. Die Billette sind am Pranger bei den Knechten erhältlich. Die Plätze werden durch eine Lilie bezeichnet, die Marken durch ein Andreaskreuz.«
»Soll ich ’nen Platz für Euch nehmen, falls Ihr’s zahlen könnt?« schlug der Scharfrichterlehrling dienstfertig vor.
»Nein, nein«, wehrte Angélique entsetzt ab.
»Das solltet Ihr aber tun«, meinte der Junge. »Denn ohne das bekommt Ihr bestimmt nichts zu sehen. Fürs Henken interessiert sich kaum jemand: da sind die Leute dran gewöhnt. Aber einen Scheiterhaufen gibt’s nicht alle Tage. Wird ein schönes Gedränge werden, o lala! Meister Aubin sagt, daß es ihn schon im voraus graust. Er hat’s nicht gern, wenn die Leute in dicken Haufen drum herumstehen und schreien. Er sagt, man kann nie wissen, was ihnen plötzlich einfällt. So, da sind wir, Madame. Geht nur hinein.«
Die Wohnung in die Corde-au-cou sie geführt hatte, war reinlich und gut gehalten. Man hatte gerade die Kerzen angezündet. Um den Tisch saßen drei kleine, blonde, sauber gekleidete Mädchen und aßen Brei aus Holznäpfen. Am Herd flickte die Scharfrichtersfrau das scharlachrote Trikot ihres Mannes.
»’n Abend, Meisterin«, sagte der Lehrling. »Ich hab’ die Frau da hergebracht, weil sie mit dem Meister sprechen will.«
»Er ist im Justizpalast, muß aber jeden Augenblick kommen. Setzt Euch doch, junge Frau.«
Angélique ließ sich auf einer Bank an der Wand nieder. Die Frau warf ihr verstohlene Blicke zu, stellte ihr aber keine Fragen, wie es jede andere Kleinbürgersfrau getan hätte. Wie viele verstörte Ehefrauen, schmerzerfüllte Mütter, verzweifelte Mädchen mochte sie schon auf dieser Bank haben sitzen sehen, die gekommen waren, um vom Scharfrichter eine letzte Fürsprache, das Abkürzen der Qualen eines geliebten Wesens oder gar das Verhelfen zur Flucht zu erflehen!
Ob aus Gleichgültigkeit, ob aus Mitgefühl, die Frau schwieg jedenfalls, und man hörte nur das unterdrückte Kichern der kleinen Mädchen, die Cordeau-cou neckten.
Ein Schritt auf der Schwelle ließ Angélique aufschrecken. Aber es war noch nicht der, den sie erwartete. Der Ankömmling war ein junger Priester, der seine verschmutzten, derben Schuhe abstrich, bevor er eintrat.
»Meister Aubin ist nicht da?«
»Er muß gleich kommen. Tretet ruhig ein, Herr Abbé, und setzt Euch ans Feuer, wenn Ihr mögt.«
»Das ist sehr freundlich, Madame. Ich bin ein Priester des Missionshauses, und man hat mich dazu ausersehen, dem Verurteilten beizustehen, der morgen hingerichtet wird. Ich wollte Meister Aubin meinen vom Herrn Polizeikommissar unterzeichneten Brief vorweisen und ihn bitten, mich zu dem Unglücklichen zu lassen. Eine im Gebet verbrachte Nacht ist nicht zuviel, um sich auf den Tod vorzubereiten.«
»Freilich wohl«, sagte die Scharfrichtersfrau. »Setzt Euch, Herr Abbé, und trocknet Euren Mantel. Cordeau-cou, leg ein paar Scheite auf.«
Sie legte das rote Trikot beiseite und holte ihren Spinnrocken.
»Ihr seid mutig«, meinte sie dabei. »Habt Ihr vor einem Hexenmeister keine Angst?«
»Alle Geschöpfe Gottes, auch die schuldigsten, verdienen es, daß man sich mitleidvoll über sie neigt, wenn die Todesstunde geschlagen hat. Aber dieser Mann ist nicht schuldig. Er hat das furchtbare Verbrechen nicht begangen, dessen man ihn anklagt.«
»Das sagen sie alle«, erklärte die Henkersfrau tiefsinnig.
»Wäre Monsieur Vincent noch am Leben, so gäbe es morgen keinen Scheiterhaufen. Ein paar Stunden vor seinem Tode noch habe ich ihn mit Besorgnis von der Ungerechtigkeit reden hören, mit der man gegen einen Edelmann des Königreichs vorzugehen im Begriff stand. Lebte er noch, würde er neben dem Verurteilten den Scheiterhaufen besteigen und dem Volk zurufen, man möge ihn an Stelle eines Unschuldigen verbrennen.«
»Ach, das ist es ja, was meinen armen Mann so quält«, rief die Frau aus. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, Herr Abbé, was für Gewissensbisse er sich wegen der morgigen Hinrichtung macht. Er hat in Saint-Eustache sechs Messen lesen lassen, eine in jeder Seitenkapelle. Und er will noch eine am Hauptaltar lesen lassen, wenn alles gutgeht.«
»Wenn Monsieur Vincent noch da wäre .«
». gäbe es keine Diebe und Hexenmeister mehr, und wir wären ohne Arbeit.«
»Ihr würdet vor den Markthallen Heringe verkaufen oder Blumen auf dem Pont-Neuf, und es würde Euch bestimmt nicht schlechter gehen.«
»Meiner Treu .«, sagte die Frau lachend.
Angélique betrachtete den Priester. Fast wäre sie auf seine Worte hin aufgesprungen, hätte sich zu erkennen gegeben, ihn um einen Beweis seiner Nächstenliebe gebeten. Er war noch jung, aber die Flamme des Monsieur Vincent leuchtete durch ihn hindurch; er hatte derbe Hände, die bescheidene und schlichte Haltung der Leute aus dem Volk. Vor dem König hätte er keine andere angenommen. Doch Angélique rührte sich nicht. Seit zwei Tagen brannten ihre Augen von den Tränen, die sie in der Einsamkeit ihres kleinen Zimmers vergossen hatte. Nun hatte sie keine Tränen, kein Herz mehr. Kein Balsam vermochte den Schmerz der offenen Wunde zu lindern. Ihrer Verzweiflung war eine ungute Frucht entsprossen: der Haß. »Was sie ihm angetan haben, werde ich ihnen hundertfach heimzahlen.« Aus diesem Entschluß hatte sie den Willen geschöpft, weiterzuleben und zu handeln. Worte des Erbarmens und Verzeihens hätten sie dieser letzten Stütze beraubt. Konnte man einem Becher verzeihen?
Sie blieb unbeweglich, wie erstarrt sitzen und hielt unter dem Umhang die Börse, die Desgray ihr gegeben, in verkrampften Händen.
»Ihr mögt es mir glauben oder nicht, Herr Abbé«, sagte die Scharfrichtersfrau, »aber meine größte Sünde ist der Stolz.«
»Da verblüfft Ihr mich freilich«, rief der Priester aus und schlug mit den Händen auf die Knie. »Ohne mich wider die christliche Nächstenliebe vergehen zu wollen, meine Tochter, aber Ihr, die Ihr wegen des Berufs Eures Mannes von allen verachtet werdet, Ihr, deren Nachbarinnen Verwünschungen murmeln und sich abwenden, wenn Ihr vorübergeht - ich möchte wissen, wie Ihr da noch an Stolz und Überheblichkeit leiden könnt!«
»Na ja, ist schon richtig«, seufzte die gute Frau. »Und dennoch, wenn ich meinen Alten so betrachte, wie er breitbeinig dasteht, sein großes Beil schwingt und - peng! - mit einem einzigen Hieb einen Kopf rollen läßt, dann muß ich einfach stolz auf ihn sein. So mit einem Hieb ist das nämlich gar nicht leicht, müßt Ihr wissen, Herr Abbé.«
»Meine Tochter, Ihr macht mich erschauern«, sagte der Priester.
Nachdenklich setzte er hinzu:
»Der Menschen Herz ist unerforschlich.«
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und ein Riese mit massigen Schultern trat schweren und ruhigen Schrittes ein. Er brummte ein Grußwort und ließ den gebieterischen Blick desjenigen in die Runde gehen, der stets und überall im Recht ist. Sein volles, von Blatternnarben gezeichnetes Gesicht zeigte derbe, strenge Züge. Er wirkte nicht böse, nur kalt und hart wie eine Maske aus Stein. Er hatte das Gesicht der Menschen, die unter gewissen Umständen weder lachen noch weinen dürfen, das Gesicht der Leichenträger ... und der Könige, dachte Angélique, die trotz des groben Handwerkerkittels eine Ähnlichkeit mit Ludwig XIV. an ihm entdeckte.
Es war der Scharfrichter.
Sie stand auf, und der Priester tat desgleichen; wortlos hielt er das Schreiben des Polizeikommissars hin. Meister Aubin trat mit einer Kerze herzu, um es zu lesen.
»Es ist gut«, sagte er. »Morgen bei Tagesanbruch gehe ich mit Euch hinüber.«
»Ginge es nicht schon heute abend?«
»Unmöglich. Alles ist verschlossen. Nur ich allein kann Euch zu dem Verurteilten einlassen, und offen gesagt, Herr Abbé, ich hab’ einen Mordshunger. Den übrigen Arbeitern ist es untersagt, nach Feierabend zu arbeiten, aber für mich gibt es weder Tag noch Nacht. Wenn sie es sich in den Kopf gesetzt haben, diese Herren von der hohen Justiz, einen armen Sünder zum Geständnis zu zwingen, dann sind sie sogar imstande, dort drüben die Nacht zu verbringen, verbissen, wie sie sind! Heute ist wieder mal nichts ausgelassen worden: weder Wasser noch spanische Stiefel, noch das hölzerne Pferd.«
Der Priester faltete die Hände.
»Der Unglückliche! Allein in der Finsternis eines Verlieses mit seinen Leiden und der Angst vor dem nahen Tod! Mein Gott, steh ihm bei.«
Der Scharfrichter warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Ihr werdet mir doch nicht auch noch Unannehmlichkeiten machen? Es langt mir grade, daß ich diesen Mönch Becher ewig auf den Fersen habe, der immer findet, ich täte nicht genug. Beim heiligen Kosmus und Eligius, es sieht mir eher danach aus, daß er selber vom Teufel besessen ist!«
Während des Redens leerte Meister Aubin die weiten Taschen seines Kittels. Er warf ein paar Gegenstände auf den Tisch, und plötzlich stießen die kleinen Mädchen einen Schrei der Bewunderung aus. Ein entsetzter Schrei antwortete ihnen.
Angélique hatte unter einigen Goldstücken das mit Perlen besetzte Etui erkannt, in dem Joffrey die Tabakstäbchen unterzubringen pflegte, die er rauchte.
Mit einer jähen Bewegung nahm sie es und preßte es an sich.
Ohne böse zu werden, öffnete der Scharfrichter ihr die Finger.
»Hübsch langsam, mein Kind. Was ich in den Taschen des Verurteilten finde, gehört rechtens mir.«
»Ihr seid ein Dieb«, sagte sie keuchend, »ein gemeiner Aasgeier, ein Leichenfledderer.«
Seelenruhig holte der Mann vom Sims ein silbernes Kästchen herunter und legte seine Beute hinein, ohne etwas zu erwidern. Die Frau spann achselzuk-kend weiter. Sie murmelte in nachsichtigem Ton, während sie den Priester ansah:
»Sie sagen alle das gleiche, müßt Ihr wissen. Man darf es ihnen nicht übelnehmen. Die da sollte sich freilich klarmachen, daß einem ein Verbrannter nicht grade viel einbringt. Ich kann nicht mal die Leiche an mich nehmen, um mir mit dem Fett, das die Apotheker haben wollen, kleine Nebeneinkünfte zu verschaffen, oder mit den Knochen, die .«
»Oh, habt Erbarmen, meine Tochter«, sagte der Priester und hielt sich die Ohren zu.
Er betrachtete Angélique mit mitfühlenden Augen, aber sie sah es nicht. Sie zitterte und zerbiß sich die Lippen. Sie hatte den Scharfrichter beschimpft; nun würde er die schauerliche Bitte ablehnen, die sie an ihn richten wollte.
Mit seinem schweren, wiegenden Schritt kehrte Meister Aubin um den Tisch herum zu ihr zurück. Die Daumen in seinem breiten Gürtel, musterte er sie gelassen.
»Davon abgesehen, was habt Ihr auf dem Herzen?«
Zitternd, unfähig, ein Wort zu äußern, hielt sie ihm die Börse hin. Er nahm sie, wog sie ab, dann starrte er sie abermals aus seinen ausdruckslosen Augen an.
»Ihr wollt, daß man ihn erdrosselt .?«
Sie nickte.
Der Mann öffnete die Börse, ließ ein paar Silberstücke auf seine breite Handfläche gleiten und sagte: »Gut, es wird geschehen.«
Da er den bestürzten Blick des jungen Priesters bemerkte, der dem Gespräch gelauscht hatte, runzelte er die Stirn.
»Ihr laßt nichts verlauten, Pfarrer, wie? Für mich ist das nämlich ’ne gefährliche Sache. Wenn’s rauskommt, krieg’ ich ’ne Menge Ärger. Ich muß es im letzten Augenblick machen, wenn der Pfahl schon im Rauch verschwunden ist und die Menge es nicht mehr sehen kann. Ich tu’s nur, um einen Gefallen zu erweisen, versteht Ihr?«
»Ja ... Ich werde nichts sagen«, brachte der Abbé mühsam hervor. »Ich ... Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«
»Ich mach’ Euch angst, wie?« sagte der Scharfrichter. »Ist es das erstemal, daß Ihr einem Verurteilten beisteht?«
»Im Krieg habe ich gar oft die Unglücklichen, die gehenkt werden sollten, bis zum Fuße des Baums begleitet. Aber da war, wie gesagt, Krieg ... während hier .«
Er deutete auf die blonden kleinen Mädchen, die vor ihren Näpfen saßen. »Hier ist es die Justiz«, sagte der Scharfrichter nicht ohne Würde.
Ungezwungen lehnte er sich an den Tisch wie einer, dem es Freude macht, sich zu unterhalten.
»Ihr seid mir sympathisch, Pfarrer. Ihr erinnert mich an einen Gefängnisgeistlichen, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe. Ich kann ihm das Zeugnis ausstellen, daß alle Verurteilten, die wir gemeinsam begleiteten, im Sterben das Kruzifix küßten. Wenn es vorbei war, weinte er, als habe er sein eigenes Kind verloren, und er war so blaß, daß ich ihn zwingen mußte, einen Becher Wein zu trinken, damit er sich wieder erholte. Ich nehme immer einen Krug guten Weins mit. Man kann nie wissen, was passiert, besonders mit den Lehrlingen. Mein Vater war Knecht, als man Ravaillac, den Königsmörder, auf der Place de Grève vierteilte. Er hat mir erzählt ... Na ja, das sind für Euch keine erfreulichen Geschichten. Ich werde sie Euch später erzählen, wenn Ihr dran gewöhnt seid. Kurz, manchmal sagte ich zu dem Gefängnisgeistlichen:
>Pfarrer, glaubst du, daß ich verdammt werde?<
>Wenn du es wirst, Scharfrichter, dann werde ich Gott bitten, daß er mich mit dir verdammt<, erwiderte er.
Wartet mal. Abbé, ich will Euch was zeigen, das Euch jedenfalls ein wenig beruhigen wird.«
Nachdem er eine Weile in seinen vielen Taschen gewühlt hatte, zog Meister Aubin ein kleines Fläschchen hervor.
»Das ist ein Rezept, das mir mein Vater vererbt hat, der es seinerseits von seinem Onkel, dem Henker unter Heinrich IV., bekam. Ich lasse es heimlich von einem befreundeten Apotheker herstellen, dem ich dagegen menschliche Schädel liefere, aus denen er sein >Zauberpulver< fabriziert. Er sagt, gegen Blasengrieß und Apoplexie gebe es nichts Besseres als das Zauberpulver, aber es sei nur wirksam, wenn man Schädel von jungen Männern verwende, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Schon möglich. Das ist seine Sache. Ich liefere ihm einen oder zwei Schädel, und er braut mir insgeheim meinen Trank. Wenn ich einem Todeskandidaten ein paar Tropfen davon gebe, wird er höchst vergnügt und weniger empfindlich. Freilich, das kriegen nur diejenigen, die gut zahlende Familien haben. Immerhin, ich erweise mich dadurch gefällig, ist es nicht so, Herr Abbé?«
Angélique hörte offenen Mundes zu. Der Scharfrichter wandte sich an sie. »Soll ich ihm auch ein bißchen davon geben, morgen früh?«
Sie brachte mit bleichen Lippen heraus:
»Ich ... ich habe kein Geld mehr.«
»Das ist dabei eingeschlossen«, sagte Meister Aubin, indem er die Börse in seiner Hand hüpfen ließ. Abermals holte er das silberne Kästchen herunter, um sie einzuschließen.
Angélique murmelte einen Gruß und verließ den Raum. Sie verspürte eine bohrende Übelkeit und fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen. Aber der Lärm des Platzes schien ihr weniger peinigend als die düstere Atmosphäre der Scharfrichterwohnung.
Trotz der Kälte standen die Ladentüren noch offen: es war die Stunde der nachbarlichen Unterhaltungen. Polizisten führten den Dieb, den man vom Pranger heruntergeholt hatte, ins Chätelet-Gefängnis; ein Schwarm Gassenjungen verfolgte die Gruppe mit Schneebällen.
Angélique hörte hinter sich hastige Schritte. Der kleine Abbé tauchte atemlos neben ihr auf.
»Meine Schwester ... meine arme Schwester«, stammelte er, »ich konnte Euch nicht so fortgehen lassen!«
Sie wich vor ihm zurück. Im kümmerlichen Licht der Laterne über einer Ladentür erblickte der Geistliche ein wachsbleiches Gesicht, in dem zwei grüne Augen von geradezu phosphoreszierender Leuchtkraft funkelten.
»Laßt mich«, sagte Angélique mit metallischer Stimme. »Ihr könnt mir nicht helfen.«
»Meine Schwester, betet zu Gott .«
»Im Namen Gottes verbrennt man morgen meinen unschuldigen Gatten!«
»Macht es Euch nicht noch schwerer, meine Schwester, indem Ihr Euch gegen den Himmel auflehnt. Vergeßt nicht, daß der Heiland im Namen Gottes gekreuzigt wurde.«
»Euer Geschwätz macht mich wahnsinnig!« schrie Angélique mit schriller Stimme, die ihr wie aus weiter Ferne zu kommen schien. »Ich werde keine Ruhe finden, bevor ich einen der Euren gestraft, bevor ich ihn unter den gleichen Foltern umgebracht habe.«
Sie lehnte sich an die Mauer, barg ihr Gesicht in den Händen, und ein heftiges Schluchzen durchbebte sie.
»Da Ihr ihn sehen werdet . sagt ihm, daß ich ihn liebe, daß ich ihn liebe ... Sagt ihm ... ach, daß er mich glücklich gemacht hat! Und dann ... fragt ihn, welchen Namen ich dem Kind geben soll, das ich zur Welt bringen werde.«
»Ich will es tun, meine Schwester.«
Er wollte ihre Hand ergreifen, aber sie entzog sich ihm und verschwand in der Menge.
Der Priester verzichtete darauf, ihr zu folgen. Unter der Last menschlichen Jammers gebeugt, wanderte er durch Gassen, in denen der Schatten Monsieur Vincents umging.
Angélique eilte dem Temple zu. Es kam ihr vor, als summten ihre Ohren, denn mit einem Male hörte sie rings um sich her rufen:
»Peyrac! Peyrac!«
Schließlich blieb sie stehen, und diesmal träumte sie nicht.
». der dritte, der hieß Peyrac, der dritte, der hieß Peyrac!«
Auf einem jener Randsteine hockend, die den Reitern dazu dienten, sich in den Sattel zu schwingen, brüllte ein junger Bursche mit heiserer Stimme die letzten Verse eines Liedes, von dem er ein ganzes Bündel unter dem Arm hielt.
Angélique kehrte um und verlangte ein Blatt. Das grobe Papier roch noch nach frischer Druckerschwärze. Da sie die Buchstaben in der dunklen Gasse nicht entziffern konnte, faltete sie es und setzte ihren Weg fort. Je mehr sie sich dem Temple näherte, desto intensiver beschäftigten sich ihre Gedanken mit Florimond. Sie war immer unruhig, wenn sie ihn allein lassen mußte, zumal er immer lebhafter wurde. Man mußte ihn in seinem Bettchen geradezu festbinden, und dieses Verfahren mißfiel dem kleinen Mann aufs äußerste. Meistens weinte er während ihrer Abwesenheit, und bei ihrer Rückkehr fand sie ihn hustend und fiebernd vor. Sie wagte nicht, Madame Scarron zu bitten, ihn zu beaufsichtigen, denn seit Joffreys Verurteilung ging diese ihr aus dem Weg und bekreuzigte sich beinahe, wenn sie doch einmal einander begegneten.
Auf der Treppe hörte Angélique das Schluchzen des Kleinen, und sie verdoppelte ihre Eile.
»Da bin ich ja, mein Liebling, mein kleiner Prinz. Warum benimmst du dich nicht wie ein großer Junge?«
Rasch warf sie Reisig in den Kamin und stellte den Breitopf auf die Feuerböcke. Florimond schrie aus Leibeskräften und streckte kläglich die Arme aus. Schließlich befreite sie ihn aus seinem Gefängnis, worauf er wie durch Zauberei verstummte und sogar höchst lieblich zu lächeln geruhte.
»Du bist ein kleiner Gauner«, sagte Angélique und wischte ihm die Tränen ab.
Mit einem Male schmolz ihr Herz. Sie nahm ihn auf den Arm und betrachtete ihn im wabernden Flammenschein, der die schwarzen Augen des Kindes aufleuchten ließ.
»Mein kleiner König! Du wenigstens bleibst mir. Wie schön du bist!«
Nachdem Florimond eingeschlafen war, stand sie auf und streckte ihren zerschlagenen Körper. Wirkten sich die Folterungen, durch die man Joffrey gebrochen hatte, auf sie selbst aus? Schmerzhaft kamen ihr die Worte des Scharfrichters in Erinnerung: »Heute ist wieder mal nichts ausgelassen worden: weder Wasser noch spanische Stiefel, noch das hölzerne Pferd.« Sie wußte nicht, was für Schrecken diese Worte bargen, aber sie wußte, daß man ihm Qualen verursacht hatte. Ach, wenn es doch rasch zu Ende ginge!
Sie sagte laut: »Morgen wirst du Ruhe finden, Liebster. Endlich erlöst von den unwissenden Menschen .«
Auf dem Tisch hatte sich das vorhin gekaufte Blatt mit dem Lied entfaltet. Sie stellte die Kerze neben sich und las:
»In der Hölle tiefstem Schlund Satan vor dem Spiegel stund und fand sich gar nicht so übel geraten, wie droben auf Erden die Menschen taten.«
Das Gedicht beschrieb im folgenden in zuweilen drolligen, häufig zotigen Ausdrücken, wie der Teufel Betrachtungen darüber anstellte, ob letzten Endes sein von den Kirchenmalern so sehr in Verruf gebrachtes Gesicht neben dem der Menschenwesen nicht doch bestehen könne. Die Hölle schlug ihm vor, mit den in nächster Zeit ankommenden Erdenkindern einen Schönheitswettbewerb zu veranstalten.
»Grade warf man in das Feuer drei Hexenmeisterungeheuer.
Der eine hatte ein blaues Gesicht, der andre war ein kohlschwarzer Wicht, der dritte, der hieß Peyrac, der dritte, der hieß Peyrac!
Als diese scheußlichen Gestalten kamen, alle Höllengeister Reißaus nahmen.
Nur der Teufel war voll Wonnen,
hatt’ er doch den Schönheitspreis gewonnen!«
Angélique suchte nach der Unterschrift. Dort stand sie: »Claude Le Petit, der Schmutzpoet.«
Erbittert knüllte sie das Blatt zusammen.
»Auch den da werde ich umbringen«, dachte sie.
»Die Frau soll ihrem Manne folgen«, sagte sich Angélique, als der Morgen dämmerte und ein Himmel von irisierender Reinheit sich über die Glockentürme der Stadt zu breiten begann.
Sie würde also gehen. Sie würde ihm bis zur letzten Station folgen. Sie mußte auf der Hut sein, um sich nicht zu verraten, denn sie lief noch immer Gefahr, verhaftet zu werden. Aber vielleicht würde er sie erkennen.
Mit dem schlafenden Florimond auf dem Arm ging sie hinunter und klopfte an die Tür Madame Cordeaus, die bereits beim Feuermachen war.
»Kann ich ihn für ein paar Stunden bei Euch lassen, Mutter Cordeau?«
Die Alte wandte ihr ihr trauriges Hexengesicht zu.
»Legt ihn in mein Bett, ich werde auf ihn aufpassen. Das ist nicht mehr als recht und billig. Der Scharfrichter nimmt sich des Vaters an, die Scharfrichtersfrau wird sich des Sohnes annehmen. Geht, mein Kind, und bittet Unsere Liebe Frau von den Sieben Schmerzen, sie möge Euch in Eurem Leid beistehen.« Von der Türschwelle aus rief sie ihr noch nach:
»Und wegen Eures Imbisses macht Euch keine Sorgen. Ihr eßt einen Teller Suppe bei mir, wenn Ihr zurückkommt.«
Angélique antwortete müde, das sei nicht nötig, sie werde gewiß keinen Hunger verspüren, worauf die Alte kopfschüttelnd ins Haus zurückkehrte.
Wie eine Nachtwandlerin durchschritt die junge Frau das Tor des Temple und schlug den Weg nach der Place de Grève ein. Der Seinenebel begann sich eben aufzulösen und enthüllte das schöne Gebäude der Präfektur am Rande des Platzes. Es war noch sehr kalt, aber schon versprach der blaue Himmel einen sonnigen Tag.
Im vorderen Teil des Platzes erhob sich neben einem Galgen, an dem der Leichnam eines Gehenkten schaukelte, ein hohes Kreuz auf einem Steinsockel. Das Volk begann in hellen Haufen herbeizuströmen und sich rings um den Galgen zu drängen.
»Das ist der Mohr«, hieß es.
»Nicht doch, es ist der andere. Man hat ihn hingerichtet, als es noch dunkel war. Der Hexenmeister wird ihn sehen, wenn er auf seinem Karren ankommt.«
»Aber er hat doch ein ganz schwarzes Gesicht.«
»Das kommt davon, daß er hängt. Vorhin war sein Gesicht noch blau. Du kennst doch das Lied .?«
Jemand begann zu trällern:
»Der eine hatte ein blaues Gesicht, der andre war ein kohlschwarzer Wicht, der dritte, der hieß Peyrac .«
Angélique hielt die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. In dem unförmigen Leichnam, der dort schaukelte, hatte sie den Sachsen Fritz Hauer erkannt. Erschauernd zog sie ihren Umhang fester um sich zusammen.
Ein vierschrötiger Metzger, der in der Tür seines Ladens lehnte, sagte in gutmütigem Ton zu ihr:
»Ihr solltet Euch wegverfügen, mein Kind. Was hier vorgeht, ist kein Schauspiel für eine Frau, die kurz vor der Niederkunft steht.«
Angélique schüttelte eigensinnig den Kopf, und nachdem er ihr blasses Gesicht mit den großen, verstörten Augen gemustert hatte, zuckte er die Schultern.
Als Anwohner des Platzes waren ihm die kläglichen Gestalten vertraut, die bei solchen Gelegenheiten um die Galgen und Schafotte herumzustreichen pflegten.
»Findet hier die Exekution statt?« fragte Angélique mit tonloser Stimme.
»Das kommt drauf an, zu welcher Ihr wollt. Ich weiß, daß heute morgen im Châtelet ein Pasquillenschreiber gehenkt werden soll. Aber wenn es sich um den Hexenmeister handelt, dann seid Ihr hier richtig. Seht, dort drüben ist der Scheiterhaufen.«
Der Scheiterhaufen war in beträchtlicher Entfernung am Flußufer errichtet worden. Es war ein riesiger Aufbau aus übereinandergeschichteten Reisigbündeln, auf dessen Gipfel man einen Pfahl erkennen konnte. Man bedurfte einer Leiter, um hinaufzustei-gen.
Die Plattform des einige Meter entfernten Schafotts, das für die Enthauptung diente, war mit Hockern ausgerüstet worden, auf denen sich die Inhaber der gemieteten Plätze bereits niederzulassen begannen. Zuweilen erhob sich ein trockener Wind und blies feinen Schneestaub um die geröteten Gesichter.
Plötzlich spürte Angélique, wie ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Sie hatte ja die erste Nummer des grausigen Programms vergessen: den Bußgang nach Notre-Dame.
Sofort setzte sie sich nach der Rue de la Coutellerie in Bewegung, aber der Menschenstrom, der sich von dort her auf den Platz ergoß, versperrte ihr den Weg und drängte sie zurück. Nie, nie würde sie rechtzeitig nach Notre-Dame kommen!
Der dicke Metzger verließ seine Tür und holte sie ein.
»Wollt Ihr nach Notre-Dame gehen?« erkundigte er sich leise in mitfühlendem Ton.
»Ja«, stammelte sie, »ich habe nicht mehr daran gedacht ... ich ...«
»Ich will Euch sagen, wie Ihr’s machen müßt. Überquert den Platz und geht bis zum Weinhafen hinunter. Dort bittet Ihr einen Flußschiffer, Euch nach Saint-Landry überzusetzen. Dann erreicht Ihr Notre-Dame in fünf Minuten.«
Sie bedankte sich und lief davon. Der Metzger hatte sie gut beraten. Für ein paar Sols nahm sie ein Schiffer in seinen Kahn und brachte sie mit drei Ruderschlägen nach dem Hafen Saint-Landry. Während sie die vorüberziehenden hohen Holzhäuser betrachtete, die in Haufen fauliger Obstabfälle versanken, mußte sie einen Augenblick an den klaren Morgen denken, da Barbe zu ihr gesagt hatte: »Dort drüben vor der Präfektur, das ist die Place de Grève. Ich habe da einen Hexenmeister brennen sehen .«
Angélique rannte. Die Straße, der sie folgte, führte an den Domherrnhäusern des Chors von Notre-Dame vorüber und war fast menschenleer. Doch der tosende Lärm der Menge, in den sich die ernsten und düsteren Töne der Armsünderglocke mischten, schlug bis hierher. Angélique rannte. Sie wußte später nicht zu sagen, woher sie die übermenschliche Kraft genommen hatte, sich auf dem Vorplatz der Kathedrale durch die dichte Menge der Gaffer bis in die vordersten Reihen zu drängen.
Im gleichen Augenblick verkündete weithin hallendes Geschrei das Nahen des Verurteilten. Die Menge stand so enggedrängt, daß der kleine Zug nur mühsam vorwärtskam, obwohl die Henkersknechte die Leute mit Peitschenhieben auseinanderzutreiben versuchten.
Endlich erschien ein kleiner, zweirädriger Karren. Es war eines jener plumpen Gefährte, die ansonsten der Müllabfuhr dienten.
Mächtig, die Arme in die Hüften gestemmt, in roter Hose und rotem Trikot, stand Meister Aubin auf diesem unwürdigen Fahrzeug und ließ seinen schweren Blick über den johlenden Pöbel schweifen. Der Priester hockte unbequem auf der Karrenwand. Der Hexenmeister war nicht zu sehen.
»Er liegt wahrscheinlich auf dem Boden«, sagte eine Frau neben Angélique. »Es heißt, er sei halbtot.«
Indessen war der Karren neben der riesigen Statue des Fasters stehengeblieben. Berittene Büttel drängten mit ihren Hellebarden den Pöbel zurück. Von Mönchen der verschiedensten Orden umgeben, erschienen einige Polizisten auf dem Platz.
Die Menge geriet in Bewegung, und Angélique wurde zurückgedrängt. Sie schrie auf und machte wie eine Furie von ihren Nägeln Gebrauch, um ihren Platz zurückzuerobern.
Das Armsünderglöckchen läutete noch immer. Plötzlich verstummte die Menge. Eine gespenstische Erscheinung erklomm die Stufen, die zum Platz führten. Angéliques getrübte Augen erfaßten nur die fahle Gestalt, die sich näherte. Dann erkannte sie, daß der Verurteilte einen Arm um die Schultern des Scharfrichters, den andern um die des Priesters gelegt hatte und daß er in Wirklichkeit geschleppt wurde, ohne sich der Beine bedienen zu können. Sein Kopf mit den langen, schwarzen Haaren war vornübergeneigt.
Vor ihm schritt ein Mönch, der eine riesige brennende Kerze trug. Angélique erkannte Conan Becher. Sein Gesicht war ekstatisch verzerrt. Er trug ein mächtiges weißes Kruzifix um den Hals, das ihm zuweilen zwischen die Beine geriet, so daß er stolperte. Man hätte meinen können, er gebe sich vor dem Verurteilten einem grotesken, makabren Tanze hin.
Die kleine Prozession näherte sich in alptraumhafter Langsamkeit. Endlich auf dem Platz angelangt, blieb sie vor dem Portal des Jüngsten Gerichtes stehen.
Ein Strick hing um den Hals des Verurteilten. Unter dem weißen Hemd sah ein bloßer Fuß hervor, der auf dem eisigen Steinboden stand.
»Das ist nicht Joffrey«, sagte Angélique bei sich.
Es war nicht der, den sie gekannt hatte, nicht der kultivierte Mensch, der an allen Freuden des Lebens teilgehabt hatte: es war eine Jammergestalt wie all die Jammergestalten, die vor ihm zu dieser Stätte gekommen waren, »barfuß, im Hemd, den Strick um den Hals .«
In diesem Augenblick hob Joffrey de Peyrac den Kopf. In dem abgehärmten, bleichen, entstellten Gesicht leuchteten nur die riesengroßen Augen in düsterem Feuer. Sie glitten langsam über die graue Front von Notre-Dame, über die Reihe der alten steinernen Heiligen. Was für ein Gebet sprach er zu ihnen? Welche Verheißung empfing er dafür? Sah er sie überhaupt?
Zu seiner Linken hatte sich ein Gerichtsbeamter aufgestellt, der nun mit näselnder Stimme das Urteil verlas. Die Armsünderglocke war verstummt. Gleichwohl vernahm man nur einzelne Worte.
». der Verführung, der Gottlosigkeit, der Magie ... den Händen des Scharfrichters übergeben ... barhäuptig und barfuß ... eine brennende Kerze in der Hand und kniend .«
Nur daran, daß man ihn sein Pergament zusammenrollen sah, erkannte man, daß er die Verlesung beendet hatte.
Darauf sprach Conan Becher den Wortlaut des Reuebekenntnisses vor:
»Ich bekenne mich der genannten Verbrechen für schuldig. Ich bitte Gott um Vergebung. Ich nehme meine Verurteilung zur Sühnung meiner Verfehlungen an.«
Der Priester hatte die Kerze ergriffen, die der Verurteilte nicht halten konnte. Nun wartete man, daß der Übeltäter die Stimme erhebe, und die Menge wurde ungeduldig.
»Wirst du reden, Satansbruder?«
»Du willst wohl bei deinem Meister in der Hölle schmoren?«
Angélique hatte unversehens den Eindruck, daß ihr Gatte seine letzten Kräfte sammelte. Eine Woge von Leben überflutete sein fahles Gesicht. Er stützte sich auf die Schultern des Scharfrichters und des Priesters und schien in solchem Maß zu wachsen, daß er selbst Meister Aubin überragte. Eine Sekunde, bevor er den Mund öffnete, wußte Angélique, was er tun würde.
Und plötzlich erklang in der eisigen Luft seine volle, vibrierende, außerordentliche Stimme. Ein letztes Mal erhob sich die Goldene Stimme des Königreichs. In der langue d’oc sang Joffrey eine béarnische Schäferweise, die Angélique zärtlich vertraut war:
»Klarer Morgen auf den Pyrenäen.
Goldene Sonne in den Tälern.
O Brüder meines Landes,
laßt uns die rosige Morgenröte besingen!«
Ein scharfer körperlicher Schmerz durchzuckte Angélique, während das Geheul des Pöbels Joffreys Stimme erstickte. Rasende Wut hatte die Zuschauer ergriffen. Noch nie war es auf dem Platz von Notre-Dame zu einem solchen Skandal gekommen. Zu singen .! Wenn er wenigstens noch ein Kirchenlied gesungen hätte! Aber er sang in einer fremden Sprache, einer Teufelssprache.
Der Aufruhr der Menge riß Angélique wie eine ungeheure Welle hinweg. Sie sah eben noch, wie der Mönch Becher sein elfenbeinernes Kruzifix hob und mit ihm auf den Mund des Singenden schlug. Joffreys Kopf fiel vornüber, während ihm Blut die Lippen färbte.
Fortgerissen, zerschunden, getreten, fand sie sich unter einem Portal wieder. Sie stieß einen Türflügel auf, trat keuchend in das Dunkel der menschenleeren Kathedrale und versuchte den Schmerz zu meistern, der sie zu überwältigen drohte. Das Kind in ihr gebärdete sich wie rasend. Gedämpft drangen die Rufe von draußen in den Kirchenraum. Ein paar Minuten lang hielt sich das Geschrei noch auf einem betäubenden Höhepunkt, dann ebbte es langsam ab.
»Ich muß wieder hinaus, ich muß zur Place de Grève!« sagte sich Angélique.
Sie lief. Jenseits der Notre-Dame-Brücke holte sie die Menge ein, die den Karren begleitete, aber in der Rue de la Vannerie und in der Rue de la Coutellerie war kaum vorwärtszukommen. Angélique flehte, man möge sie durchlassen. Niemand hörte auf sie. Die Leute waren wie in einem Trancezustand. Unter der Einwirkung der Sonne löste sich der Schnee von den Dächern und fiel in dicken Fladen auf Köpfe und Schultern herab, aber niemand achtete darauf.
Schließlich gelangte Angélique an die Ecke des Platzes und sah im gleichen Augenblick eine riesige Flamme vom Scheiterhaufen emporlodern.
»Er brennt! Er brennt!« schrie sie mit schriller Stimme.
Der Gluthauch drang bis zu ihr. Vom Wind angefacht, knatterte das Feuer wie ein Hagelschlag.
Was hatten jene menschlichen Gestalten zu bedeuten, die sich dort im gelben Schein der Flammen bewegten? Wer war jener scharlachrot gekleidete Mann, der um den Scheiterhaufen herumging und die brennende Fackel in die untersten Reisigbündel stieß?
Wer war jener Mann in der schwarzen Sutane, der sich an die Leiter preßte, ein Kruzifix emporreckte und »Hoffnung! Hoffnung!« rief.
Wer war jener im feurigen Ofen eingeschlossene Mann? O Gott! Konnte es denn in dieser Glut überhaupt ein lebendes Wesen geben? Nein, kein lebendes, der Scharfrichter hatte es erdrosselt!
Plötzlich schlug der Wind die Flammen nieder. Während des Bruchteils eines Augenblicks sah Angélique den Pfahl, an den ein schwarzes, zuckendes Etwas gebunden war.
Sie verlor die Besinnung.
Im Metzgerladen der Place de Grève kam sie wieder zu sich. Eine Frau, die einen Leuchter in der Hand hielt, beugte sich über sie.
»Nun, fühlt Ihr Euch besser, kleine Frau? Ich hab’ schon gedacht, Ihr wärt am Ende tot. Ein Arzt ist gekommen und hat Euch zur Ader gelassen, aber ich glaube vielmehr, wenn Ihr’s wissen wollt, daß Ihr in Kindsnöten seid.«
»O nein«, sagte Angélique und legte die Hand auf den Leib, »ich erwarte mein Kind erst in drei Wochen. Warum ist es so dunkel?«
»Ei, es ist schon spät. Gerade hat man das Angelus geläutet.«
»Und ... der Scheiterhaufen?«
»Es ist vorbei«, sagte die Metzgersfrau mit gedämpfter Stimme. »Aber es hat lang gedauert. Meiner Treu, was für ein Tag! Der Leichnam ist erst gegen zwei Uhr nachmittags völlig vom Feuer aufgezehrt gewesen. Und als man die Asche verstreute, hat es eine richtige Schlacht gegeben. Jeder wollte etwas davon haben. Der Scharfrichter konnte sich kaum seiner Haut erwehren.«
Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu:
»Habt Ihr ihn gekannt, den Hexenmeister?«
»Nein«, sagte Angélique mit Überwindung, »nein! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich habe dergleichen zum erstenmal gesehen.«
»Ja, ja, es nimmt einen mit. Wir Kaufleute von der Place de Grève sehen so vielerlei, daß wir uns schon nichts mehr draus machen. Für uns ist es was Ungewöhnliches, wenn mal keiner am Galgen hängt.«
Angélique hätte sich den guten Leuten gegenüber gern erkenntlich gezeigt, aber sie hatte nur ein paar Kupfermünzen bei sich. So versprach sie, wiederzukommen und ihnen das Geld für den Arzt zurückzuerstatten.
In der bläulichen Abenddämmerung läutete die Feierabendglocke der Präfektur. Mit Einbruch der Nacht nahm die Kälte zu. Am Ende des Platzes fachte der Wind eine rotglühende Rose glimmender Holzreste an: die letzten Reste des Scheiterhaufens. Im Näherkommen hörte Angélique die Stimme Meister Aubins, der mit seinen Gehilfen die Stätte in Ordnung brachte. Sie trat zögernd auf ihn zu, ohne recht zu wissen, was sie ihn fragen wollte. Der Scharfrichter erkannte sie sofort.
»Ah, Ihr seid’s!« sagte er. »Ich habe Euch erwartet. Hier habt Ihr Eure dreißig Silberstücke.«
Ohne zu begreifen, starrte Angélique auf die Börse, die er ihr hinhielt.
»Es war nicht meine Schuld«, fuhr der Mann in bedauerndem Tone fort. »Ich habe ihn nicht erdrosseln können.«
Er beugte sich zu ihr und flüsterte:
»Jemand hatte einen Knoten in den Strick gemacht.«
»Einen Knoten?«
»Ja. Jemand muß die Sache geahnt haben, und um sie zu verhindern, hat man einen Knoten gemacht. Unmöglich, den Strick gleiten zu lassen, versteht Ihr? Und für mich war es höchste Zeit hinunterzusteigen.«
Er sah sich vorsichtig um und fuhr fort:
»Ich glaube, es war der Mönch mit dem heimtückischen Blick, der uns den Streich gespielt hat. Übrigens hat der Delinquent gewußt, was vorging, denn ich hatte ihm vorher gesagt, daß ich ihn erdrosseln würde. Er sagte zu mir: >Bring dich rasch in Sicherheit, Scharfrichter.< Und dann hat er so laut gerufen, daß viele Leute es gehört haben und es heute abend in Paris verbreiten: >Conan Becher, in einem Monat sehen wir uns vor dem Gericht Gottes wieder!<«
»Behaltet das Geld«, sagte Angélique mit tonloser Stimme.
Abermals glaubte sie ohnmächtig zu werden.
Die schlichte Gestalt des Geistlichen löste sich aus dem Dunkel des Schafotts. Seiner Sutane haftete der gleiche unerträgliche Geruch nach verkohltem Holz und verbranntem Fleisch an wie den Kleidern des Scharfrichters.
»Meine Schwester«, sagte er, »ich möchte Euch wissen lassen, daß Euer Gatte als Christ gestorben ist. Er war gefaßt und ergeben. Er trennte sich schwer vom Leben, aber er fürchtete sich nicht vor dem Tod. Zu wiederholten Malen hat er mir gesagt, er freue sich darauf, vor den Herrn aller Dinge zu treten. Ich glaube, er hat viel Trost aus der Gewißheit geschöpft, daß er endlich erfahren würde .«
Zögernd und mit einer gewissen Verwunderung in der Stimme vollendete er: ». daß er endlich erfahren würde, ob die Erde sich dreht oder nicht.«
»Oh!« rief Angélique, die der Zorn plötzlich neu belebte. »Oh, das sieht Joffrey ähnlich! Die Männer sind doch alle gleich. Es war ihm ganz gleich, mich in Elend und Verzweiflung auf dieser Erde zurückzulassen, die sich dreht oder auch nicht!«
»Nein, meine Schwester! Er trug mir immer wieder auf: >Sagt ihr, daß ich sie liebe. Sie hat mich überglücklich gemacht. Ach, ich bin nur eine Etappe in ihrem Leben gewesen, aber ich habe Vertrauen, daß sie ihren Weg gehen wird.< Er äußerte außerdem den Wunsch, man möge das Kind Cantor nennen, wenn es ein Knabe, und Clémence, wenn es ein Mädchen ist.«
Cantor de Marmont, Troubadour des Languedoc, Clémence Isaure, Muse der Blumenspiele von Toulouse .
Wie weit all das zurücklag! Wie unwirklich es war angesichts der bösen Stunden, die Angélique durchlebte. Sie versuchte, sich in den Temple zurückzuschleppen, aber sie kam nur mühsam vorwärts. Für eine Weile erwachte ihr Groll gegen Joffrey und hielt sie aufrecht. Doch dann überschwemmte eine Tränenflut ihr Gesicht, und sie mußte sich an eine
Mauer stützen, um nicht zu fallen.
»O Joffrey, Liebster«, flüsterte sie, »nun weißt du endlich, ob die Erde sich dreht oder nicht! Sei glücklich in der Ewigkeit!«
Ihr körperlicher Schmerz wurde reißend und unerträglich, kehrte in betäubenden Wellen wieder, und sie begriff, daß sie niederkommen würde.
Sie war weit vom Temple entfernt. Auf ihrem unschlüssigen Gang hatte sie sich verirrt, und sie war vor der Notre-Dame-Brücke angelangt. Ein Karren kam vorüber. Angélique rief den Fahrer an.
»Ich bin krank. Könnt Ihr mich zum Spital fahren?«
»Dorthin will ich ohnedies«, erwiderte der Mann, »eine Ladung für den Friedhof abholen. Ich bin nämlich der, der die Leichen fährt. Steigt also auf.«
Angélique blieb nur vier Tage im Spital. Es war eine andere Angélique als die, die Joffrey gekannt hatte. Die einstige war mit ihm gestorben; mit dem kleinen Cantor - denn Joffreys Kind war ein Sohn - war eine neue geboren worden, in der sich nur noch wenige Spuren der Naivität und seltsamen Süße fanden, die ihr früher eigen gewesen waren. Hitzig und schroff war sie nun darauf aus, sich in diesem Milieu des Elends zu behaupten. Sie wehrte sich dagegen, daß man eine zweite Kranke zu ihr ins Bett legte, sie beanspruchte die besten Decken und verbat sich, daß die Pflegerin sie und ihr Kind mit ihren schmutzigen Fingern berührte. Eines Morgens riß sie einer Nonne die saubere Schürze ab, die diese sich eben umgebunden hatte, und ehe noch die arme Novize die Superiorin holen konnte, hatte sie aus dem Tuch Binden gemacht, um den Säugling zu wickeln und sich selbst zu verbinden.
Den Vorwürfen setzte sie verbissenes Schweigen entgegen und schoß verächtliche, haßerfüllte Blicke auf die, die mit ihr rechten wollten. Eine Zigeunerin, die im selben Saale lag, erklärte, nach ihrer Ansicht sei dieses Mädchen mit den grünen Augen eine Wahrsagerin.
Sie sprach nur ein einziges Mal, als einer der Verwalter des Spitals persönlich erschien und ihr, während er sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase hielt, bekümmert Vorwürfe machte.
»Wie ich höre, mein Kind, widersetzt Ihr Euch, daß eine andere Kranke dieses Bett teilt, das die öffentliche Mildtätigkeit Euch gewährt hat. Findet Ihr solches Verhalten nicht bedauerlich? Das Spital fühlt sich verpflichtet, alle Kranken aufzunehmen, die ihm zugeführt werden, und wir haben nicht genügend Betten.«
»Dann tätet Ihr besser, die Kranken, die man Euch schickt, gleich in ihr Leichentuch einzunähen«, erwiderte die junge Frau brüsk. »In den Hospizen, die Monsieur Vincent gegründet hat, bekommt jeder Kranke sein Bett, das weiß ich. Aber Ihr wolltet gar nicht, daß man Eure unwürdigen Methoden verbessert, weil Ihr dann hättet Rechenschaft ablegen müssen. Was geschieht mit all den Stiftungen der öffentlichen Mildtätigkeit, von denen Ihr mir redet, und den Zuschüssen des Staats? Man könnte meinen, die Herzen seien wenig großmütig und der Staat sei sehr arm, wenn man nicht einmal in der Lage ist, genügend Stroh zu kaufen, um täglich die Unglücklichen frisch zu betten, die Ihr auf ihrem Unrat verkommen laßt. Wenn der Schatten Monsieur Vincents einmal durch dieses Spital wandern sollte, würde er vor Kummer weinen, so tot wie er ist.«
Hinter seinem Taschentuch wurden die Augen des verblüfften Verwalters immer größer. Gewiß, im Verlauf der fünfzehn Jahre, in denen ihm eine bestimmte Abteilung des Spitals unterstellt gewesen war, hatte er zuweilen mit anmaßenden Subjekten, mit zungenfertigen Marktweibern und ordinären Prostituierten zu tun gehabt. Doch nie war von diesen Lagerstätten eine so deutliche Antwort in so strafendem Ton an sein Ohr gedrungen.
»Frau«, sagte er, indem er sich mit seiner vollen Würde umgab, »ich entnehme Euren Worten, daß Ihr kräftig genug seid, um Euch nach Hause zu verfügen. Verlaßt also dieses Asyl, dessen Segnungen Ihr nicht anerkennen wollt.«
»Das will ich gern tun«, erwiderte Angélique bissig, »aber zuvor verlange ich, daß meine Kleider, die man mir bei meiner Ankunft hier wegnahm und die man zusammen mit den Lumpen der Pockenkranken, Syphilitiker und Pestkranken aufbewahrte, vor mir in reinem Wasser gewaschen werden. Andernfalls verlasse ich das Spital im Hemd und werde auf dem Platz vor Notre-Dame ausposaunen, daß die Spenden der Großen und die Zuschüsse des Staates in die Taschen der Spitalverwalter wandern. Ich werde mich auf Monsieur Vincent, das Gewissen des Königreichs, berufen. Ich werde so laut schreien, daß der König selbst verlangen wird, die Abrechnungen des Spitals zu prüfen.«
»Wenn Ihr das tut«, sagte er, während er sich mit einem grausamen Ausdruck über sie beugte, »werde ich Euch zu den Irren stecken lassen.«
Angélique zitterte, wandte aber das Gesicht nicht ab. Plötzlich fiel ihr ein, in welchen Ruf die Zigeunerin sie gebracht hatte.
»Und ich sage Euch, wenn Ihr diese neuerliche Infamie begeht, werden alle Eure Angehörigen im kommenden Jahr sterben.«
»Man riskiert ja nichts, wenn man ihnen so etwas erklärt«, überlegte sie, während sie sich wieder auf ihrem schmutzigen Strohsack ausstreckte. »Die Männer sind ja so dumm .!«
Die Luft der Straßen von Paris, die sie einmal so übelriechend gefunden hatte, kam ihr köstlich rein vor, als sie sich endlich frei, lebendig und in sauberer Kleidung vor dem abstoßenden Gebäude wiederfand.
Ihr Kind auf dem Arm, schritt sie geradezu munter einher. Ein einziger Umstand beunruhigte sie: sie hatte sehr wenig Milch, und Cantor, der bis dahin musterhaft artig gewesen war, begann sich zu beklagen. Gierig an der leeren Brust saugend, hatte er die ganze Nacht geweint.
»In den Temple kommen Ziegenherden. Ich werde ihn mit der Flasche aufziehen. Er wird den Verstand eines Zickleins bekommen, ich kann’s nicht ändern ...«, sagte sie sich.
Und Florimond, was war aus ihm geworden? Sicher hatte Mutter Cordeau ihn nicht im Stich gelassen, sie war eine brave Frau; aber es kam Angélique vor, als seine Jahre vergangen, seitdem sie ihren Erstgeborenen verlassen hatte.
Die Leute, die an ihr vorübergingen, trugen Kerzen in der Hand. Ein Duft nach heißen Krapfen drang aus den Häusern. Es muß der 2. Februar sein, der Tag der Darbringung des Jesuskindes im Tempel und Maria Reinigung. Man feierte ihn, indem man einander Kerzen schenkte, nach einem Brauch, der diesem Tag den Namen Lichtmeß eingetragen hatte.
»Armes kleines Jesuskind«, dachte sie und küßte Cantors Stirn, während sie das Templetor durchschritt.
Als sie sich dem Hause Mutter Cordeaus näherte, hörte sie ein Kind weinen. Ihr Herz klopfte, denn sie ahnte, daß es Florimond war. Gleich darauf sah sie eine kleine dunkle Gestalt durch den Schnee stolpern, von Gassenjungen verfolgt, die sie mit Schneebällen bewarfen.
»Hexenmeister! He, kleiner Hexenmeister! Zeig uns deine Hörner!«
Mit einem Schrei lief sie auf das Kind zu, fing es auf und drückte es an sich. Dann trat sie in die Küche, wo die alte Frau am Herd saß und Zwiebeln schälte.
»Wie könnt Ihr zulassen, daß diese Taugenichtse ihn quälen!« rief sie.
Mutter Cordeau fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, in die die Zwiebeln Tränen getrieben hatten.
»Sachte, sachte, mein Kind, schreit nicht so! Ich hab’ mich Eures Kleinen sehr wohl angenommen, während Ihr fort wart, wenn ich auch nicht allzu sicher war, ob ich Euch eines Tages wiedersehen würde. Aber ich kann ihn ja schließlich nicht den ganzen Tag auf dem Rücken haben. Ich hab’ ihn rausgetan, damit er frische Luft bekommt. Was kann ich denn dazu, wenn die Buben ihn >Hexenmeister< nennen? Es stimmt ja schließlich, daß sein Vater auf der Place de Grève verbrannt worden ist - oder nicht? Na also. Er muß sich eben dran gewöhnen. Mein Junge war nicht viel größer als er, als sie anfingen, ihm Steine nachzuwerfen und ihn >Corde-au-cou< zu nennen. Oh, das herzige Schätzchen!«
Die Alte hatte Cantor auf ihrem Arm entdeckt, legte das Messer beiseite und trat mit verzückter Miene näher, um Cantor zu bewundern.
In dem ärmlichen Zimmer oben im ersten Stock, das sie mit einem Gefühl des Geborgenseins wieder in Besitz nahm, legte Angélique ihre beiden Kinder aufs Bett und beeilte sich, Feuer zu machen.
»Jetzt bin ich froh«, sagte Florimond und sah sie aus seinen leuchtenden, schwarzen Augen an. »Du gehst nicht mehr fort, Mama?«
»Nein, mein Liebling. Schau doch das hübsche Kindchen an, das ich dir mitgebracht habe.«
»Ich mag es nicht«, erklärte Florimond sofort und schmiegte sich eifersüchtig an sie.
Indessen wickelte Angélique Cantor aus und brachte ihn ans Feuer. Er streckte seine kleinen Glieder und gähnte.
Mein Gott! Durch welches Wunder hatte sie in all den grausigen Martern ein so gesundes, kräftiges Kind zur Welt bringen können? Cantor war das lebendige Zeugnis dessen, was künftige Jahrhunderte den Verteidigungsreflex der Natur nennen würden.
Ein paar Wochen lang lebte Angélique einigermaßen friedlich im Temple-Bezirk. Sie hatte ein wenig Geld und hoffte auf Raymonds Rückkehr. Doch eines Nachmittags ließ der Bailli sie zu sich rufen.
»Mein Kind«, erklärte er ohne Umschweife, »ich muß Euch im Auftrag des Herrn Großpriors mitteilen, daß Ihr diesen Bezirk zu verlassen habt. Ihr wißt, daß er nur diejenigen unter seinen Schutz nimmt, deren Ruf in keiner Hinsicht dem Ansehen seines kleinen Staatswesens schaden kann. Ihr müßt also gehen.«
Angélique öffnete den Mund, um zu fragen, was man ihr vorwerfe. Dann dachte sie daran, sich dem Herzog von Vendôme, dem Großprior, zu Füßen zu werfen. Schließlich erinnerte sie sich der Worte des Königs: »Ich möchte nicht mehr von Euch reden hören!«
Man wußte also, wer sie war. Fürchtete man sie etwa noch? Sie begriff, daß es nutzlos war, die Jesuiten um Unterstützung zu bitten. Sie hatten ihr bereitwillig geholfen, als es etwas zu verteidigen gab, aber es war ja alles entschieden. Man würde ein Auge auf diejenigen haben, die sich, wie ihr Bruder Raymond, in dieser peinlichen Angelegenheit kompromittiert hatten.
»Gut«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »ich werde den Bezirk heute abend verlassen.«
Nach Hause zurückgekehrt, tat sie, was ihr geblieben war, in einen kleinen Lederkoffer, packte die beiden Kinder warm ein und lud alles auf den Schubkarren, den sie schon bei ihrem ersten Umzug benützt hatte.
Mutter Cordeau war in der Markthalle, und Angélique ließ etwas Geld auf dem Tisch zurück.
»Wenn ich reicher bin, werde ich meine Schuld abtragen«, nahm sie sich vor.
»Gehn wir spazieren, Mama?« fragte Florimond.
»Wir kehren zu Tante Hortense zurück.«
»Sehe ich dann Baba?«
Es war der Name, den er Barbe einmal gegeben hatte.
»Ja.«
Er klatschte in die Hände und schaute entzückt umher.
Während sie ihren Schubkarren durch die Straßen fuhr, in denen der Schlamm sich mit geschmolzenem Schnee vermischte, betrachtete Angélique die kleinen Gesichter ihrer Kinder, die eng aneinandergepreßt unter der Decke lagen. Das Schicksal dieser zarten Wesen lastete bleischwer auf ihr.
Über den Dächern war der Himmel klar, von Wolken reingefegt. Gleichwohl würde es in dieser Nacht keinen Frost geben, denn seit ein paar Tagen war das Wetter milder geworden, und die Armen schöpften an ihren leergebrannten Kaminen neue Hoffnung.
In der Rue Saint-Landry stieß Barbe einen freudigen Schrei aus, als sie Florimond erkannte. Das Kind streckte ihr die Arme entgegen und küßte sie stür-misch.
»Du bist es, mein Engelchen!« stammelte die Magd.
Ihre Lippen bebten, ihre großen gutmütigen Augen füllten sich mit Tränen. Sie starrte Angélique wie ein aus dem Grabe auferstandenes Gespenst an. Verglich sie die Frau mit dem harten abgemagerten Gesicht, die dürftiger gekleidet war als sie selbst, mit jener, die ein paar Monate zuvor an ebendiese Tür geklopft hatte?
Angélique fragte sich, ob Barbe wohl von ihrer Mansarde aus das Feuer auf der Place de Grève hatte brennen sehen, als von der Treppe her ein unterdrückter Ausruf erscholl und sie veranlaßte, sich umzuwenden.
Hortense, einen Leuchter in der Hand, war bei ihrem Anblick vor Entsetzen erstarrt. Hinter ihr erschien Maître Fallot de Sancé auf dem Treppenabsatz: ohne Perücke, in Schlafrock und gestickter Mütze. Entgeistert starrte er seine Schwägerin an.
Nach einer schier endlosen Stille gelang es Hortense, steif und zitternd einen Arm zu heben.
»Hinaus!« sagte sie mit hohler Stimme. »Mein Dach hat schon allzu lange eine verfluchte Familie beherbergt.«
»Sei doch still, du unverbesserliche Törin!« erwiderte Angélique achselzuckend.
Sie näherte sich der Treppe. »Ich selber gehe ja. Aber ich bitte dich, diese unschuldigen Kleinen aufzunehmen, die dir in keiner Hinsicht schaden können?«
»Hinaus!« wiederholte Hortense.
Angélique wandte sich zu Barbe, die Florimond und Cantor an sich drückte. »Ich vertraue sie dir an, Barbe, du Gute! Hier hast du alles Geld, das mir geblieben ist, um Milch für sie zu kaufen. Cantor braucht keine Amme. Er hat sich an Ziegenmilch gewöhnt .«
»Hinaus! Hinaus! Hinaus!« schrie Hortense in gellendem Crescendo und begann, mit den Füßen zu stampfen.
Der letzte Blick, den Angélique zurückwarf, galt nicht ihren Kindern, sondern ihrer Schwester.
Die Kerze, die Hortense in der Hand hielt, schwankte und zeichnete grausige Schatten in ihr verzerrtes Gesicht.
»Und dennoch«, sagte sich Angélique, »haben wir sie nicht gemeinsam gesehen, die kleine Edelfrau von Monteloup? Jenes Gespenst mit den vorgestreckten Armen, das durch unsere Zimmer ging .? Und wir schmiegten uns vor Entsetzen aneinander im großen Bett .«
Sie trat auf die Gasse hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick blieb sie stehen und sah gedankenlos einem Schreiber zu, der auf einem Schemel stand und die große Laterne vor der Kanzlei des Monsieur Fallot de Sancé anzündete.
Dann wandte sie sich ab und tauchte in Paris unter.
Ein Raunen geht in dieser Nacht des Tauwetters durch die Straßen von Paris. Das Schneewasser tropft von den Dachrändern und Traufrinnen. Der gelbe, feuchte Mond trocknet sich an den vorbeiziehenden Wolken.
Auf der Place de Grève schaukelt wieder ein Gehenkter leise im lauen Wind. Die Turmuhr der Präfektur schlägt die Stunden, und in seinem Laden betet der Metzger der Place de Grève mit seiner Frau und seinen Kindern vor einer zwischen zwei Schinken aufgestellten kleinen Statue der Heiligen Jungfrau.
Die Ratten nagen in den Wänden, oder sie huschen über die schlammigen Gassen, zwischen den Beinen später Passanten hindurch, die einen Schrei ausstoßen und ihre Degen ziehen.
Dem Bürgersehepaar, das aus dem Theater des Hôtels de Bourgogne kommt und sich vor der Finsternis ängstigt, bietet Forfant-la-Pivoine seine Laterne. Er begleitet sie bis zur Place des Vosges und verdient sich damit ein paar Sols, wenn er nicht grade unterwegs einem Gauner seiner Bande begegnet. Dann freilich werden sie selbander die guten Bürgersleute, ohne lange zu fackeln, um ihre Börsen und ihre Mäntel erleichtern und danach einträch-tiglich zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein wandeln, wohin sie der Große Coesre, der König der Rotwelschen, bestellt hat.
In seinem Schlupfwinkel im Faubourg Saint-Martin steht der Große Coesre im Begriff, sich zu seinen Gefolgsleuten zu begeben. Sein Narr Bavottant hat den Karren, in dem er den Herrn und Meister fährt, mit warmen Edelmannsmänteln ausgepolstert, die ihm Strolche von ihren Streifzügen mitgebracht haben. Der Erzgauner Rôt-le-Barbon, sein ständiger Berater, unterrichtet ihn von einer heiklen Angelegenheit, die es zwischen zwei Anführern der Gaunerzunft zu bereinigen gebe: zwischen Calembredaine, der im alten Gemäuer von Nesles, und Rodogone dem Ägypter, der im Faubourg Saint-Denis haust. Calembredaine ist der Stärkere, denn er herrscht über alle Brücken von Paris, über die Tore des Universitätsviertels und die Seineufer, aber Rodogone ist gefürchtet, denn er hat die Zigeuner und die braunen Hexen auf seiner Seite.
Der schreckliche Jean-Pourri kommt von seinem Streifzug durch die Straßen zurück und hält einen Säugling im Arm. Zwanzig Sols hat er einer Amme von »La Couche«, dem städtischen Heim für Findelkinder hinter Notre-Dame, dafür bezahlt. Das Kind ist erst sechs oder sieben Monate alt; es wird ein leichtes sein, ihm die Beine zu krümmen, es zu verstümmeln und dann mit einem der Weiber der Zunft, einer »Marquise«, betteln zu schicken. Das Geschäft macht sich seit einer Weile, genauer gesagt, seitdem dieser verdammte Priester Vincent die Kinder nicht mehr auf den Türschwellen einsammelt und wer weiß wohin schickt. Jean-Pourri eilt sich. Heute nacht ist Vollversammlung der Gaunerzunft auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein. Man wird wieder einmal zahlen müssen, obwohl die Zeiten immer noch hart sind. Aber Rolin-le-Trapu ist ein großer Fürst, und es ist nicht mehr wie recht und billig, ihm Zins zu berappen.
Auf der Place des Vosges duelliert man sich unter einem Balkon und bringt ein Ständchen unter einem andern. Artemise, Roxane, Glicerie und Crisolie, die schönen Preziösen des Quartier du Marais, lehnen sich entzückt aus den Fenstern.
Nicht weit davon entfernt schläft der Koloß der Bastille im Grunde der Nacht wie ein riesiger Walfisch auf dem Grunde des Meers. Auf den Wällen rufen die Soldaten einander zu, während der Mond sich in den kleinen, bronzenen Kanonen spiegelt. In den Verliesen bekommen die Gefangenen Besuch von rotäugigen Ratten.
König Ludwig XIV. dagegen spaziert über die Dächer des Louvre. Es genügt ihm nicht, daß die Infantin, seine Gattin, aus blauen Augen verliebt zu ihm aufschaut, daß Madame de Soissons ihm glühende Blicke zuwirft und daß Madame d’Orléans, die durchtriebene Henriette, ihn herausfordernd anlächelt. Der König hat ein Auge auf Mademoiselle de La Mothe-Houdancourt geworfen, die Hofdame der Königin. Doch als er an diesem Abend die Schöne in ihrer Wohnung aufsuchen wollte, hat ihm Madame de Navailles den Eintritt verwehrt.
Nach kläglichem Rückzug hat Seine Majestät in ihrem Kabinett den großen galanten Rat zusammengerufen, der sich aus Péguillin, de Guiche, de Vardes und Bontemps, seinem Kammerdiener, zusammensetzt.
Péguillin kennt sich genau aus. Der einzige Weg zu den Schönheiten sei, so erklärt er, zuerst die Dachrinne und dann der Kamin.
»Das sind ja reichlich halsbrecherische Liebeswege«, seufzt der verlegene König.
Doch Péguillin ermutigt ihn. Und schließlich klimmt der große Rat durch eine Mansardenluke aufs Dach. Der einzuschlagende Weg ist weder breit noch sicher ...
»Es geht, es geht«, meint der Monarch. »Ich werde zur Sicherheit meine Schuhe in die Hand nehmen.«
Bontemps seufzt:
»Eure Majestät wird sich in der nassen Dachrinne erkälten.«
»Wir werden bei unsrer Rückkehr in meinem Kabinett einen Glühwein trinken.«
»Jetzt müssen wir bis zum Fuß des Kamins über das Schieferdach vorrücken«, verkündet de Guiche, der den Vortrab bildet.
»Teufel noch eins!« knurrt der König und klammert sich fest.
»Und dabei ist das noch nicht mal das Schlimmste«, spottet de Vardes und läßt leise eine Strickleiter in den Kamin hinuntergleiten.
»Kommt, Sire«, sagt Péguillin zappelnd. »Dies ist der Augenblick für den Sturmangriff. Ich bezwinge als erster die Festung.«
»Einverstanden, Péguillin, aber nistet Euch nicht etwa auch gleich als Sieger ein.«
»Keine Angst, Sire, ich warte, bis Ihr Quartier bezogen habt.«
»Ich für mein Teil bleibe auf der Schutzwehr«, sagt der Marquis de Vardes. »Ich werde mit Bontemps die Leiter halten.«
Péguillin de Lauzun, der schon fast völlig in den Schlund hinabgetaucht ist, streckt noch einmal seine Gaskognernase heraus.
»Ah, seitdem de Vardes Soissons erobert hat, hält er die Stellung«.
»Dennoch steht sie jedem Daherkommenden offen«, sagte der König.
Der Marquis wartet, bis sein erhabener Herr verschwunden ist, und zuckt dann die Schultern. Mit Bontemps’ Hilfe hält er die schwankende Strickleiter fest. Der Mond verschwindet hinter einer Wolke, und es wird sehr dunkel. De Vardes fletscht die Zähne wie ein Hund, der im Begriff ist zuzubeißen. »Als ob es um die Soissons ginge, diese Dirne!« Beim Henker, warum läßt ihn die Erinnerung an jene andere Frau mit den grünen Augen nicht los? Eigentlich wird Seine Majestät von Mademoiselle de La Mothe nicht erwartet; und Péguillin noch weniger von der anderen Hofdame, deren Namen er nicht einmal weiß. Aber es gibt nichts Süßeres und Fügsameres als die Hofdamen.
Kaum daß Mademoiselle de La Mothe die Hand vor den Mund hält, um einen Schrei zu unterdrük-ken, als ihr königlicher Liebhaber schwarz wie ein Schornsteinfeger vor ihr auftaucht. Nicht der kleinste Ausruf läßt sich vernehmen.
Vergessen wir nicht, daß man hinter der Tür zur Linken Madame de Navailles schnarchen hört und daß sich hinter der Tür zur Rechten das Schlafzimmer der Königin befindet.
Die Königin liegt allein in ihrem großen Bett. Sie wartet auf den König und versucht, die Müdigkeit zu verjagen, die sie überwältigen will. Der König arbeitet immer bis tief in die Nacht. Es kommt der Infantin Maria-Theresia vor, als bestehe ihr Leben nur daraus, auf ihn zu warten. Und gleichwohl ist er ein aufmerksamer Gatte, der schönste, den man sich erträumen kann.
Maria-Theresia richtet sich ein wenig auf, und alsogleich bewegen sich im Halbdunkel des Raums zwei winzige Schatten: ihr Zwerg und ihre Zwergin. Sie immerhin sind stets da, treu und träge, traurig und närrisch; sie schlafen mit dem Hund in einem dunklen Winkel.
Die Königin bittet die Zwergin, ihr recht dicke Schokolade mit einem geschlagenen Ei und Zimt zu bereiten. Sie wird sie in ganz kleinen Schlucken trinken und dabei an Spanien denken ...
Der König liegt in den Armen von Mademoiselle de La Mothe-Houdancourt, und wenn er sie küßt, schwärzt er ihr frisches Gesicht.
Péguillin andrerseits ist ein wenig unruhig. Die großen, hellen und verschüchterten Augen seiner Eroberung, die Schwierigkeiten des Nehmens machen ihn unsicher. War er gar der erste, der dieses köstliche Porzellanfigürchen mit den zarten Gliedern, das sich immer wieder seinen Umarmungen entzog, die Liebeskünste lehrte?
»Sagt mir, mein Herz«, flüstert er, »seid Ihr noch Jungfrau?«
Im gleichen Augenblick zwickt ihn die Unschuldige in die Nase. Nun, man würde sich verständigen. Sie macht sich über ihn lustig, weiter nichts, ohne zu ahnen, daß die Zeit kostbar ist und daß da droben de Vardes und Bontemps gähnen und steif werden, während sie die Leiter halten. Man muß die Minuten nutzen, zum Teufel! Oh, das ist schon besser! Wirklich köstlich, diese Kleine. Komisch, daß er sie bisher nicht bemerkt hat. Dennoch hat er das Gefühl, sie schon lange zu kennen, und in ihrem Lachen ist etwas Vertrautes.
»Sagt mir Euren Namen, mein Schätzchen«, bittet er beim Abschied.
Sie verzieht trotzig das Gesicht.
»Sagt mir den Eurigen!«
»Ich bin doch Péguillin. Habt Ihr mich nicht erkannt?«
Sie lacht abermals. »Péguillin, der Schornsteinfeger.«
Dann geruht sie, sich mit kindlichem Ernst vorzu-stellen:
»Ich heiße Marie-Agnès de Sancé.«
In seinen Gemächern im Louvre fühlt Monsieur de Mazarin den Tod nahen. Heute hat er sich ins Palais der Rue Neuve-des-Petits-Champs tragen lassen, um die herrliche Bibliothek zu besichtigen, in der Gabriel Nausé fünfunddreißigtausend Bände aufgestellt hat, die er aus Holland, Flandern, England und Italien kommen ließ. Dann hat man ihn in seine riesigen Stallungen geführt, die die Ausländer als das achte Weltwunder bestaunen. Und er mußte beim Anblick der so herrlich bestickten Schabracken seiner Maultiere lachen, weil die Theatinerpatres sie unbedingt haben wollen, um ihre Kirche damit auszuschmücken. Doch bei der Rückkehr von diesem Ausflug ist der Kardinal in Ohnmacht gesunken. Der Tod ist nicht fern, er weiß es. Er muß all die köstlichen Dinge im Stich lassen, die er um den Preis so vieler Mühen und Demütigungen erworben hat.
Vor dem Kamin schreibt Monsieur Colbert, sein erster Beamter, mit kratzendem Gänsekiel an einem kleinen Tisch.
Die Kerzen sind heruntergebrannt, die letzten Gäste Madame de Soissons’ haben die Tuilerien verlassen. Betrunken grölend, wanken sie die Rue du Faubourg Saint-Honoré hinunter, schlagen gegen die Schutzgitter der Läden und löschen die Laternen aus.
Umnebelt vom süßen Weindunst sucht Madame de Soissons ihr Schlafzimmer auf. Dank ihrer ist der düstere Louvre endlich zu Luxus und Fröhlichkeit erwacht. Tanz und Feste am Tage. In der Nacht ... die Freuden der Liebe. Das Bett der Olympia Mancini, Herzogin von Soissons, ist nie leer. Gleichwohl überkommt die schöne Italienerin eine leise Unruhe. Wird sich Vardes von ihr lösen .? Nachdem sie den König den Reizen ihrer unerträglichen kleinen Schwester Marie hatte überlassen müssen, war sie so stolz gewesen, Vardes, dieses Raubtier mit dem grausamen Lächeln, erobert und mürbe gemacht zu haben ... Seit einiger Zeit wirkt er zerstreut, geistesabwesend. Er bekommt sich wieder in die Gewalt. Er ist nicht mehr so empfindlich gegen ihre Stiche oder ihre Verachtung.
Sie muß unbedingt einmal die berühmte Wahrsagerin La Voisin aufsuchen. Die wird ihr den Namen ihrer Rivalin offenbaren. Denn wenn es eine Rivalin gibt, wird sie sterben ... Ist Vardes eigentlich all diesen Kummer wert? Den König müßte sie zurückerobern. Sicher ist er seiner faden, kleinen Gemahlin überdrüssig, dieser Infantin, die noch kein Wort Französisch spricht und den strengen Anweisungen ihres jesuitischen Beichtvaters blind gehorcht. Sie wird nie irgendeine Rolle am Hofe spielen. Am Hofe Ludwigs XIV. wird die jeweilige Mätresse herrschen. Aber wer wird diese Favoritin sein?
Die Herzogin von Soissons streckt ihren schönen, weißen Körper auf dem wappenbestickten Laken ihres Bettes aus. ja, sie wird La Voisin aufsuchen. Die hat Drogen aller Art, und sicher wird sie ihr das Nötige verschaffen, um die unangenehmen Ursachen jenes »Ausbleibens« zu beseitigen, das sie schon seit zwei Monaten festgestellt hat. Ein Mittel solcher Art zu nehmen ist lästig, aber neun Monate lang ein Kind zu tragen ist noch lästiger, zumal wenn man einen eifersüchtigen Gatten und das unbezähmbare Verlangen hat, sich zu amüsieren.
Was hätte man schon vom Leben, wenn man nicht mit den Männern spielte .? Obwohl sie im Grunde alle einander gleichen und ein wenig anstrengend sind.
Eigentlich hat nur ein einziger ihr neuartige Sinnenfreuden verschafft. Aber kann man da überhaupt von einem Mann sprechen? Ein unheimliches Wesen war es, stumm, rasend wie der Stier, sanft wie der Wind, blind und hemmungslos wie ein Naturelement, dessen Umarmung eine unbestimmte, zugleich schreckenerregende und berauschende mythische Erinnerung auslöste.
Die Herzogin von Soissons erschauert. Ihr Mund ist mit einem Male wie ausgedörrt, und sie richtet sich auf, um zu lauschen. Nein, ihr schwarzer Sklave wird nicht mehr kommen. Er ist ein Galeerensträfling.
Die finsteren Gänge des Louvre werden den stummen Mohren nicht mehr vorübergehen sehen, der geräuschlos die Türen öffnete und als verachtungsvoller Eroberer auf die sich darbietende weiße Fürstin zutrat.
Der König taucht aus dem Kamin auf, und Péguillin folgt ihm hinterdrein. Sie sind beide höchst befriedigt.
Der Marquis de Vardes und der Kammerdiener niesen und sind weniger befriedigt.
Der König Ludwig XIV. spaziert über die Dächer des Louvre.
Der König der Rotwelschen, der Große Coesre, macht sich auf den Weg, um auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein Gericht zu halten.
Die Nacht ist für die Unterhaltung der Fürsten und für die Arbeit der Bettler und Gauner geschaffen.
Die desertierten Soldaten mit ihren Haudegen an der Seite, die echten und falschen Krüppel, die Kuppler, Hehler, Betrüger, Tagediebe und Strolche, sie alle samt den dazugehörigen Weibern verlassen ihre Mauselöcher. Längs der Seineufer sehen die um ihre Feuer versammelten Flußschiffer flüchtige Schatten vorüberziehen. Zuweilen schlüpft eine Gestalt zwischen den Zillen hindurch: ein Zunftbruder, der in der Wärme der Heukähne erwachte und vom Turm des Justizpalastes oder der Präfektur die Mitternachtsstunde schlagen hörte.
Zwischen den Füßen eines Pferdes hat sich der Schmutzpoet zum Schlafen ausgestreckt. Genauer gesagt, zwischen den Füßen des Bronzepferdes Heinrichs IV. auf dem Pont-Neuf. Nicht daß es dort besonders warm wäre, aber wenn es regnet, bietet der Bauch des königlichen Streitrosses hinreichend Schutz. Von diesem Beobachtungsposten aus betrachtet Claude Le Petit die vorüberstreichenden Stromer, die ihn kennen und in Frieden lassen. Er sieht Calembredaine, zerlumpt und schrecklich anzusehen mit seinen struppigen Haaren und der entstellenden violetten Geschwulst, die er sich auf die Wange zu kleben pflegt, mit seinem Gefolge von Unterführern und Gehilfen, »Marquisen« und Dirnen. Wehe den Bürgern, die sich heute nacht in Paris verspäten!
O Paris bei Nacht! Stätte der Wonne für die Diebe, die Mäntel stehlen, Börsen abjagen, Passanten schlagen und ermorden, Stätte der Wonne für die lockeren Vögel, die eingehängt und singend aus den Kneipen und Bordells kommen.
Le Petit, Poet des Pont-Neuf, lauscht den vertrauten und geliebten Geräuschen der nächtlichen Stadt: dem Pfiff der Diebe, dem Klirren der Degen, dem Krakeelen der Betrunkenen, dem Jammern der Unglücklichen, die umgebracht werden, den Schreien jener, die um Hilfe rufen, und er lächelt über das grausige Lautgewirr, das zuweilen von der grellen Stimme eines Oblaten- oder Tabakverkäufers übertönt wird, des gleichgültigen oder vielleicht auch mitschuldigen Zeugen dieser Verbrechen.
Aber es ist ganz hübsch kalt. Ein scharfer Wind hat sich von der Seine erhoben. Claude Le Petit schleicht aus seinem Schlupfwinkel. Er wird sich an den Schenkentüren herumtreiben und den köstlichen Duft der Bratküchen einatmen.
Die Rue de la Vallée de Misère ist die Straße der Bratküchen. Zu dieser späten Stunde ist sie noch voller Leben, und die Geflügelspieße drehen sich brotzelnd im Hintergrunde jedes Ladens. Nur die letzte, die »Zum kecken Hahn« heißt, ist dunkel und ohne Gäste. Meisterin Bourgeaud, die Herrin des Lokals, ist heute abend an den Pocken gestorben, und Meister Bourgeaud weint an ihrem Totenbett droben in der großen Stube. Sein Neffe Louis Calhaillou, der aus Toulouse gekommen ist, betrachtet ihn ratlos von der anderen Seite des Tisches her, auf dem zwei Leuchter stehen und in einem Teller mit Weihwasser ein Buchsbaumzweig. Gehen wir ein Stück weiter, dorthin, wo es warm und lustig ist.
Die Kneipen und Bratküchen sind die Sterne des nächtlichen Paris, duftende, warme Höhlen. Da sind der »Tannenzapfen« in der Rue de la Licorne und die »Löwengrube« in der Rue de la Coiffure, die »Guten Kinder« in der Straße gleichen Namens und der »Reiche Landmann« in der Rue des Mauvais Garçons, die »Drei Mohren«, die »Schwarze Trüffel« und das »Grüne Gitter« in der Rue Hyacinthe, wo die Kapuziner, Coelestiner und Jakobiner zusammenkommen und wohin der Mönch Becher sich eben mit verstörter Miene geschlichen hat, um zu versuchen, beim Wein die Flammen eines Scheiterhaufens zu vergessen.
Angélique betrachtete durch das Fenster das Gesicht des Mönchs Becher. Unbekümmert um den geschmolzenen Schnee, der vom Dach auf ihre Schultern tropfte, blieb sie vor der Schenke »Zum grünen Gitter« stehen. Der Mönch saß vor einer Zinnkanne und trank starren Blicks.
Angélique konnte ihn trotz des dicken Fensterglases deutlich erkennen. Der Schankraum war kaum verräuchert. Die Mönche und Geistlichen, die den Hauptteil der Gäste bildeten, machten sich nichts aus der Pfeife. Sie kamen hierher, um zu trinken und vor allem des Dame- und Würfelspiels wegen.
»Schätzchen, solltest dich heut nacht nicht hier rumtreiben. Hast du keine Pinke, um was in den Topf zu schmeißen?«
Angélique wandte sich um und suchte zu erkennen, wer diese seltsamen Worte an sie richtete, aber sie sah niemand. Plötzlich kam der Mond zwischen zwei Wolken zum Vorschein, und sie entdeckte zu ihren Füßen die untersetzte Gestalt eines Zwergs, der zwei auf merkwürdige Weise gekreuzte Finger zu ihr emporhob. Sie erinnerte sich der Geste, die der Mohr Kouassi-Ba ihr einmal mit den Worten gezeigt hatte: »Du kreuzest die Finger so, und meine Freunde sagen: Es ist gut, du bist einer der Unsrigen.«
Mechanisch machte sie Kouassi-Bas Zeichen. Das Gesicht des Knirpses verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Du gehörst dazu, ich hab’ mir’s gedacht. Aber ich weiß dich nicht unterzubringen. Gehörst du zu Rodogone dem Ägypter, zu Johann dem Zahnlosen, zum Blauen Mathurin oder zum Raben?«
Ohne zu antworten, wandte sich Angélique ab und starrte abermals durch die Scheibe auf den Mönch Becher. Mit einem Satz sprang der Zwerg auf die Fensterbrüstung. Der aus der Schenke dringende Lichtschein beleuchtete sein derbes Gesicht, auf dem ein speckiger Hut saß. Er hatte rundliche, fleischige Hände und winzige Füße, die in Leinenschuhen steckten, wie die Kinder sie tragen.
»Wo ist er denn, dieser Gast, den du nicht aus den Augen läßt?«
»Der dort in der Ecke.«
»Glaubst du, der alte Knochensack, dessen eines Auge dem andern zuplinkt, gibt dir was für deine Mühe?«
Angélique holte tief Atem. Plötzlich begann das Leben wieder in ihr zu pulsieren: Sie wußte, was sie zu tun hatte.
»Diesen Mann dort muß ich umbringen«, sagte sie.
Behende tastete der Zwerg um ihre Taille.
»Du hast ja nicht mal dein Messer. Wie willst du’s machen?«
Zum erstenmal schaute die junge Frau das seltsame Wesen richtig an, das wie eine Ratte aus dem Pflaster aufgetaucht war, wie eines jener gemeinen Nachttiere, von denen Paris bedrängt wurde, je mehr die Dunkelheit zunahm.
Stundenlang war sie verstört durch diese Finsternis geirrt, schwankend wie eine Mondsüchtige. Welcher Haß-, welcher Jagdinstinkt hatte sie vor das »Grüne Gitter« geführt, hinter dessen Scheibe sie den Mönch Becher erkannt hatte?
»Komm mit mir, Marquise«, sagte der Zwerg unvermittelt, indem er auf die Erde sprang. »Wir gehen zu den Unschuldigen Kindern. Da wirst du jemand finden, der’s für dich besorgt.«
Sie folgte ihm, ohne zu zögern. Der Zwerg schritt ihr tänzelnd voraus.
»Ich heiße Barcarole«, erklärte er nach einer Weile. »Ist es nicht ein anmutiger Name, genau so anmutig wie ich? Huhu!«
Er stieß einen fröhlichen Juchzer aus, schlug einen Purzelbaum, dann formte er einen Schneeball und warf ihn in ein Fenster.
»Machen wir uns aus dem Staub, Teuerste«, fuhr er fort, »sonst kriegen wir den Inhalt des Nachttopfs dieser biederen Bürgersleute auf den Kopf, die wir aus dem Schlaf geweckt haben.«
Kaum hatte er ausgesprochen, knarrte oben auch schon ein Fensterflügel, und Angélique mußte zur Seite springen, um der prophezeiten Dusche zu entrinnen.
Der Zwerg war verschwunden. Angélique ging weiter. Ihre Füße versanken im Schlamm. Ihre Kleider waren feucht, aber sie empfand die Kälte nicht.
Ein leiser Pfiff lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Mündung einer Kloake, der der Zwerg Barcarole entstieg.
»Verzeiht, daß ich Euch im Stich ließ, Marquise, aber ich habe meinen Freund Janin Cul-de-Bois geholt.«
Hinter ihm zwängte sich ein zweiter Knirps aus der Kloake. Es war kein Zwerg, sondern ein beinloser Krüppel, dessen Oberkörper auf einem hölzernen Sockel befestigt war. In seinen knotigen Händen hielt er Holzgriffe, auf die er sich stützte, während er sich von Pflasterstein zu Pflasterstein schwang. Sein Gesicht strotzte von Finnen. Das spärliche Haar war sorgfältig über den glänzenden Schädel verteilt. Sein einziges Kleidungsstück bestand aus einer Art blauen Tuchrocks mit goldbestickten Aufschlägen, der einmal einem Offizier gehört haben mußte.
Er stülpte einen federgezierten Hut auf, nahm seine hölzernen Handgriffe und machte sich mit ihnen auf den Weg.
»Was will sie?« fragte er mit einem prüfenden Blick auf Angélique.
»Daß man ihr hilft, einen Kerl umzulegen.«
»Warum nicht? Zu wem gehört sie?«
»Weiß ich nicht.«
Je länger sie gingen, desto mehr Gestalten schlossen sich ihnen an. Zuerst waren Pfiffe zu hören, die aus dunklen Winkeln, von Uferböschungen oder aus Höfen kamen. Dann tauchten Vagabunden mit langen Bärten, bloßen Füßen und zerschlissenen Umhängen auf, alte Weiber, die wie wandelnde Lumpenbündel aussahen, Blinde und Lahme, die ihre Krücken über die Schulter legten, um rascher vorwärtszukommen, Bucklige, die nicht die Zeit gehabt hatten, ihre künstlichen Buckel abzunehmen. Echte Arme und echte Gebrechliche mischten sich unter die falschen Bettler.
Angélique hatte Mühe, ihre mit bizarren Ausdrücken gespickte Sprache zu verstehen. An einer Straßenkreuzung wurden sie von einer Gruppe von Raufbolden mit verwegenen Schnurrbärten angesprochen. Sie hielt sie für Bürgersoldaten oder gar Büttel, bemerkte aber bald, daß sie verkleidete Gauner vor sich hatte.
Es war in diesem Augenblick, daß sie vor den Wolfsaugen um sie her erschrak.
Sie blickte über die Schulter und sah sich von scheußlichen Gestalten umringt.
»Hast du Angst, meine Schöne?« fragte einer der Strolche und legte frech den Arm um ihre Taille.
Sie schlug den Arm herunter und erwiderte: »Nein.« Und als er zudringlicher wurde, gab sie ihm eine Ohrfeige.
Ein kleiner Tumult brach aus, und Angélique fragte sich, was wohl mit ihr geschehen würde. Aber sie spürte keine Angst. Haß und Empörung, die sie schon allzu lange mit sich herumgetragen hatte, verdichteten sich zu einem wilden Bedürfnis, um sich zu schlagen, zu beißen und Augen auszukratzen.
Der wunderliche Cul-de-Bois war es, der durch seine Autorität und sein wütendes Gebrüll die Ordnung wiederherstellte. Er besaß eine hohle Grabesstimme, die seine Umgebung erzittern ließ.
Jetzt erst sah sie, daß das Gesicht des Strolchs, der sie herausgefordert hatte, blutig war und daß er die Hand über die Augen hielt. Die andern lachten.
»Hoho! Sie hat dich ganz schön zugerichtet, die Kleine!«
Auch Angélique hörte sich lachen, und zwar auf eine ihr fremde, aufreizende Weise. So leicht war das also, in die Unterwelt hinabzusteigen? Angst? Was war das: Angst? Ein Gefühl, das es nicht gab. Es paßte höchstens zu den biederen Bürgern von Paris, die erzitterten, wenn sie unter ihren Fenstern die Brüder und Schwestern der höllischen Zunft auf dem Wege zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein und zur Huldigung vor ihrem Fürsten, dem Großen Coesre, vorbeigehen hörten.
»Wem gehört sie?« fragte jemand.
»Uns!« brüllte Cul-de-Bois. »Und daß ihr’s euch gesagt sein laßt!«
Man ließ ihn vorausgehen. Keiner der Bettler, und wäre er auch noch so flink auf den Beinen gewesen, wagte es, den Mann auf dem Sockel zu überholen. Als es bergauf ging, stürzten zwei der falschen Soldaten herzu, um ihn hochzuheben und eine Weile zu tragen.
Noch nie war Angélique bei den Unschuldigen Kindlein gewesen, obwohl der schauerliche Ort einer der beliebtesten Treffpunkte von Paris war. Man begegnete in seinem Umkreis sogar vornehmen Damen, die mit ihren Kavalieren kamen, um in den unterhalb der Beinhäuser eingerichteten Läden einzukaufen.
Nachts diente er, da auf ihm traditionsgemäß niemand verhaftet werden durfte, den Spitzbuben und Straßenräubern als Unterschlupf, und die Nachtschwärmer wählten unter den dort versammelten Dirnen die Gefährtinnen ihrer Schäferstündchen.
Mit großen Augen wanderte Angélique über diese seit Jahrhunderten mit Leichen vollgepfropfte Stätte. Hier und dort gähnten offene Massengräber, die nur auf eine letzte Fuhre warteten, um zugeschüttet zu werden. Ein paar Stelen, ein paar Platten kennzeichneten die Grabstellen wohlhabenderer Familien, aber dies hier war der Friedhof der armen Leute. Die Aristokratie ließ sich in Saint-Paul beisetzen.
Der Mond beleuchtete jetzt die dünne Schneehaut, die die Dächer der Kirche und der umliegenden Gebäude überzog. Das Kreuz, ein hohes metallenes Kruzifix, das sich nahe der Kanzel in der Mitte des Terrains erhob, glänzte matt. Die Kälte milderte den Gestank. Niemand schien ihn zu bemerken, und selbst Angélique sog die mit Miasmen gesättigte Luft gleichgültig ein.
Was ihren Blick anzog und sie in einem Maße faszinierte, daß sie glaubte, in einem Alptraum zu leben, waren die vier Galerien, die, von der Kirche ausgehend, die Einfassung des Friedhofs bildeten. Die aus dem frühen Mittelalter herrührenden Gebäude bestanden in ihrem unteren Teil aus spitzbogigen Kreuzgängen, in denen tagsüber die Kaufleute ihre Buden aufbauten. Über den Kreuzgängen aber befanden sich mit Schindeln gedeckte Bodenkammern, die auf der Friedhofsseite auf Holzpfeilern ruhten und offene Zwischenräume zwischen den Dächern und den Wölbungen der Bogen bildeten. Sie alle waren mit Gebeinen angefüllt. Scheuern des Todes, bis zum Rande voll einer furchtbaren Ernte, boten sie den Blicken und der Meditation der Lebenden eine seltsame Anhäufung von Knochen und Schädeln, so zahlreich, daß sich ihr Überfluß schon nach außen ergoß. Die Winde trockneten sie, und die Zeit wandelte sie zu Asche, aber unaufhörlich wurden sie durch neuen Nachschub aus der Erde des Friedhofs ergänzt.
»Was - was ist da?« stammelte Angélique entsetzt.
Auf dem Gesims eines Grabes hockend, hatte sie der Zwerg Barcarole neugierig beobachtet.
»Die Beinhäuser«, antwortete er, »die Beinhäuser der Unschuldigen.«
Nach einem Moment des Schweigens fügte er hinzu:
»Wo kommst du her, mein Mädchen? Hast du noch nichts dergleichen gesehen?«
Sie setzte sich neben ihn. Seitdem sie fast unbewußt mit ihren Fingernägeln das Gesicht jenes Kerls bearbeitet hatte, war sie in Ruhe gelassen worden, und niemand hatte mehr mit ihr gesprochen. Wenn neugierige oder verlangende Blicke sich auf sie richteten, hatte sich sogleich eine warnende Stimme erhoben:
»Cul-de-Bois sagt: Sie gehört zu uns. Vorsicht, Jungs!«
Um sie herum füllte sich der weiträumige Friedhof allmählich mit verdächtigen Gestalten: Sie merkte es nicht, sie war vom Anblick der Beinhäuser völlig gefesselt. Sie wußte nicht, daß der grausige Brauch, Skelette aufzustapeln, eine Eigentümlichkeit von Paris war, daß alle großen Kirchen der Hauptstadt mit den Unschuldigen Kindlein im Wettbewerb standen. Angélique schien es schrecklich, während der Zwerg Barcarole es herrlich fand. Er murmelte:
». Und schließlich holt der Tod uns leise.
Im Dunkeln liegt das Ziel der Reise,
wenn Abschied wir genommen von der Welt.«
Langsam wandte Angélique sich ihm zu.
»Bist du ein Dichter?«
»Nicht ich spreche so, sondern der kleine Schmutzpoet.«
Die Glut zuckte in ihr von neuem auf und belebte sie.
»Kennst du ihn?«
»Und ob ich ihn kenne! Er ist der Dichter vom Pont-Neuf.«
»Auch den will ich töten.«
Der Zwerg neben ihr hüpfte empor wie eine Kröte.
»Hoho! Jetzt hört der Spaß aber auf. Er ist mein Kamerad.«
Er schaute in die Runde und rief die andern zu Zeugen an, indem er sich mit dem Finger an die Schläfe klopfte.
»Sie spinnt, die Kleine! Sie will alle Welt um die Ecke bringen.«
Plötzlich entstand Lärm, und die Menge teilte sich vor einem wunderlichen Aufzug.
An der Spitze schritt eine sehr lange und magere Gestalt, deren bloße Füße durch den schlammigen Schnee trippelten. Fülliges weißes Haar hing über ihre Schultern, doch auf dem Scheitel war der Schädel kahl. Man hätte das Wesen für eine alte Frau halten können, trotz seiner Hosen und seines zerschlissenen Rocks. Mit seinen vorspringenden Backenknochen, seinen trüben, graugrünen Augen wirkte dieser Mensch so geschlechtslos wie ein Skelett und paßte zu der grausigen Szenerie. Er trug eine lange Pike, an der ein toter Hund aufgespießt war. Neben ihm schwang ein rundliches Jüngelchen einen Besen.
Den beiden grotesken Bannerträgern folgte ein Leiermann, der hingegeben die Kurbel seines Instrumentes drehte. Die Originalität des Musikers lag in seinen riesigen Strohhut, in dem er fast bis zu den Schultern verschwand. Aber er hatte in den vorderen Teil des Randes ein Loch gebohrt, und man sah seine spöttischen Augen funkeln. Ein Kind begleitete ihn, das aus Leibeskräften auf ein kupfernes Becken trommelte.
»Soll ich dir die Namen dieser hochwohllöblichen Edelmänner nennen?« erkundigte sich der Zwerg bei Angélique.
Er setzte augenzwinkernd hinzu: »Du kennst das Zeichen, aber ich merke sehr wohl, daß du nicht zu uns gehörst. Die beiden da vorn sind der Große Eunuch und der Kleine Eunuch. Seit Jahren liegt der Große Eunuch im Sterben, aber er stirbt nie. Der Kleine Eunuch ist der Wächter der Frauen des Großen Coesre. Er trägt die Insignien des Bettlerkönigs.«
»Einen Besen?«
»Pst! Spotte nicht. Der Besen bedeutet das häusliche Leben. Hinter ihnen Thibault der Leiermann und sein Page Linot. Und hier nun die Weiber des Bettlerkönigs.«
Unter schmutzigen Hauben zeigten die Frauen, auf die er wies, ihre gedunsenen Gesichter mit den blauumränderten Prostituiertenaugen. Manche waren noch schön, und alle blickten herausfordernd umher, aber nur die erste, ein junges Mädchen, fast ein Kind noch, sah einigermaßen unverdorben aus. Trotz der Kälte war ihr Oberkörper nackt, und sie trug ihre jungen, kaum entwickelten Brüste stolz zur Schau.
Sodann folgten Fackelträger, degenbewehrte Musketiere und ein schwerer, auf seiner Achse knarrender Karren, der von einem Riesen mit irrendem Blick und vorgeschobener Unterlippe gezogen wurde.
»Bavottant, der Idiot des Großen Coesre«, bemerkte der Zwerg.
Hinter dem Schwachsinnigen beschloß eine weißbärtige Gestalt den Zug, die in einem langen, kaftanartigen schwarzen Gewande steckte, dessen Taschen mit Pergamentrollen vollgestopft waren. An seinem Gürtel hingen drei Ruten, ein Tintenhorn und Gänsefedern.
»Das ist Jean der Graubart, der Obergehilfe des Großen Coesre, der die Gesetze unseres Königreichs macht.«
»Und der Große Coesre selbst, wo ist er?«
»Im Karren.«
»Im Karren?« wiederholte Angélique verblüfft.
Sie reckte sich ein wenig, um besser zu sehen.
Der Karren hatte vor der Kanzel gehalten. Sie war, inmitten des Friedhofs, um einige Stufen erhöht und durch ein pyramidenförmiges Dach geschützt. Eben beugte sich der Idiot über den Karren, hob etwas heraus, ließ sich auf der obersten Stufe nieder und setzte das Ding auf seine Knie.
»Mein Gott!« stöhnte Angélique.
Sie erblickte den Großen Coesre. Es war ein Wesen mit einem monströsen Oberkörper, an dem die schwächlichen, weißen Beinchen eines zweijährigen Kindes hingen. Struppiges schwarzes Haar bedeckte den mächtigen Schädel, die tiefliegenden Augen unter den dichten Brauen schimmerten hart. Er trug einen dicken, schwarzen Schnurrbart mit aufgezwirbelten Spitzen.
»Hehe!« meckerte Barcarole, der sich an Angéliques Staunen weidete. »Du wirst merken, mein Herzchen, daß bei uns die Kleinen über die Großen herrschen. Weißt du auch, wer vermutlich Großer Coesre wird, wenn’s mit Rolin dem Kurzen zu Ende geht?«
Er flüsterte ihr ins Ohr: »Cul-de-Bois.«
Bedeutungsvoll nickend fuhr er fort:
»Das ist ein Naturgesetz. Man braucht Verstand, um über die Zunft zu regieren. Und daran fehlt’s, wenn man zuviel Beine hat. Was meinst du, Leichtfuß?«
Der so Angeredete lächelte. Er hatte sich eben gleichfalls auf den Rand des Grabes gesetzt und hielt eine Hand gegen die Brust gepreßt, als ob er dort Schmerzen habe. Es war ein noch ganz junger Mann von sanftem und schlichtem Wesen. Mit kurzatmiger Stimme erwiderte er:
»Du hast recht, Barcarole. Es ist besser, einen Kopf zu haben als Beine, denn wenn die Beine einen im Stich lassen, ist es aus.«
Verwundert betrachtete Angélique die Beine des jungen Mannes, die lang und muskulös waren.
Er lächelte melancholisch.
»Oh, sie sind noch immer da, aber ich kann nicht viel mit ihnen anfangen. Ich war Läufer bei Monsieur de La Sablière, und eines Tages, an dem ich an die zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, setzte mein Herz aus. Seitdem kann ich kaum mehr gehen.«
»Du kannst nicht mehr gehen, weil du zuviel gelaufen bist«, rief der Zwerg und schlug einen Purzelbaum. »Huhu, ist das komisch!«
»Halt’s Maul, Barco«, grollte eine Stimme, »du kotzt uns an.«
Eine kräftige Faust packte den Zwerg an seinem Kittel und schleuderte ihn auf einen Knochenhaufen.
Der Mann, der sich eingemischt hatte, wandte sich Angélique zu. Nach so viel Mißbildung und Grausen ringsum wirkte sein einnehmendes Äußere beruhigend auf sie. Sie konnte sein Gesicht nur undeutlich erkennen, da es durch einen großen, mit einer mageren Feder geschmückten Hut halb verdeckt wurde. Indessen ahnte sie regelmäßige Züge, große, dunkle Augen, einen wohlgeformten Mund. Er war jung und in der Vollkraft seiner Jahre. Seine sehr braune Hand ruhte auf der Scheide eines an seinem Gürtel befestigten kurzen Dolchs.
»Wem gehörst du, hübscher Vogel?« fragte er mit schmeichelnder Stimme, in der ein leichter fremdländischer Akzent mitklang.
Sie gab keine Antwort und starrte verächtlich in die Ferne.
Dort drüben, auf den Stufen der Kanzel, hatte man soeben vor dem Großen Coesre und dem hünenhaften Schwachsinnigen das kupferne Becken aufgestellt, das vorhin als Trommel benützt worden war. Und einer nach dem andern traten die Leute der Bettlerzunft herzu, um in dieses Becken den vom Fürsten geforderten Tribut zu werfen.
Jeder wurde nach seiner Spezialität veranlagt, und die Sols, die Silber- und Goldstücke fielen klirrend hinein. Der Mann mit der braunen Hautfarbe hatte Angélique nicht aus den Augen gelassen. Er beugte sich von neuem dicht zu ihr, streifte mit der Hand über ihre Schulter, und als sie eine abwehrende Geste machte, sagte er hastig:
»Ich bin Rodogone der Ägypter. Mir gehorchen siebentausend Kerle in Paris. Alle durchziehenden Zigeuner zahlen mir Abgaben, auch die braunen Weiber, die die Zukunft aus der Hand lesen. Willst du eins von meinen Weibern sein?«
Sie gab auch diesmal keine Antwort. Der Mond wanderte über den Glockenturm der Kirche und die Beinhäuser. Vor der Kanzel zogen nach den Deserteuren nun die falschen und echten Krüppel vorüber, die, die sich selbst verstümmeln, um das Mitleid der Vorübergehenden auf sich zu lenken, und die, die nach Feierabend Krücken und Verbände beiseite tun können. Deswegen hat man ihren Schlupfwinkel auch »Hof der Wunder« getauft.
Rodogone der Ägypter legte abermals seine Hand auf Angéliques Schulter. Diesmal machte sie sich nicht frei. Die Hand war warm und lebendig, und sie fror so sehr. Der Mann war stark, und sie war schwach. Sie wandte ihm ihren Blick zu und suchte im Schatten des Huts die Züge dieses Gesichts, das ihr keinen Abscheu einflößte. Sie sah das Weiße der Augen des Zigeuners leuchten. Er stieß einen Fluch zwischen den Zähnen hervor und lehnte sich an sie.
»Willst du >Marquise< sein? Ich glaube, ich könnte so weit gehen.«
»Würdest du mir dann helfen, jemand umzubringen?« fragte sie.
Der Bandit bog in häßlichem, stummem Gelächter den Kopf nach hinten.
»Zehn, zwanzig, wenn du willst. Brauchst ihn mir nur zu zeigen, und ich schwöre dir, bis zum Morgengrauen hat der Bursche seine Eingeweide aufs Pflaster gebreitet.«
Er spuckte in die Hand und streckte sie ihr hin.
»Topp! Abgemacht!«
Aber sie tat die ihren auf den Rücken und schüttelte den Kopf.
»Noch nicht.«
Rodogone fluchte abermals, dann entfernte er sich, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen.
»Du bist schwierig. Aber ich will dich haben. Und ich werde dich haben.« Angélique fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wer hatte ihr schon einmal diese bösen und lüsternen Worte gesagt ...? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.
Nachdem die Bettler vorbeigezogen waren, erschienen die Banditen der Hauptstadt auf der Szene. Nicht nur die Beutelschneider und Mantelmarder, auch die Mörder auf Bestellung, die Diebe und Einbrecher, unter die sich verlotterte Studenten, Diener, ehemalige Sträflinge und ein ganzes Heer von Ausländern mischten, die von den Wechselfällen der Kriege hierher verschlagen worden waren: Spanier, Iren, Deutsche, Schweizer, auch Zigeuner.
Plötzlich trieben die Erzgehilfen des Großen Coesre die Menge mit Rutenschlägen auseinander und bahnten sich einen Weg zu dem Grab, an dem Angélique lehnte. Erst als die unrasierten Männer vor ihr standen, begriff sie, daß sie es war, die sie suchten. Der Greis, den sie Jean der Graubart nannten, führte sie an.
»Der König der Bettler will wissen, wer diese da ist«, sagte er, indem er auf sie wies.
Rodogone legte schützend den Arm um die junge Frau.
»Bleib ruhig«, flüsterte er. »Wir werden’s schon machen.«
Er zog sie zur Kanzel, wobei er sie fest an sich drückte und zugleich herausfordernde und argwöhnische Blicke auf die Menge warf, als fürchte er, es könne ein Feind auftauchen und ihm seine Beute entreißen.
Seine Schuhe waren aus feinem Leder gefertigt, und der Stoff seines Rocks war von vorzüglicher Qualität. Angélique stellte es fest, ohne daß es ihr recht bewußt wurde. Der Mann flößte ihr keine Furcht ein. Er war an die Macht und den Kampf gewöhnt. Sie ergab sich seinem Anspruch als besiegte Frau, die sich um jeden Preis einen Gebieter und Beschützer erwählen muß.
Vor dem Großen Coesre angelangt, warf der Ägypter mit großer Geste seine Geldbörse in das Becken und sagte:
»Ich, Herzog von Ägypten, nehme diese da zur Marquise.«
»Nein«, sagte hinter ihnen eine ruhige und brutale Stimme.
Rodogone fuhr herum.
»Calembredaine!«
Wenige Schritte entfernt stand der Mann mit der violetten Geschwulst, der sich schon zweimal höhnisch lächelnd Angélique in den Weg gestellt hatte. Er war so groß wie Rodogone, aber kräftiger gebaut. Seine zerlumpte Kleidung ließ muskulöse Arme und eine behaarte Brust erkennen. Er stand breitbeinig da, die Daumen hinter den Ledergürtel geklemmt, und starrte den Zigeuner herausfordernd an. Sein athletischer Körper wirkte jünger als sein abstoßendes Gesicht, über dessen niedrige Stirn struppiges graues Haar hing. Zwischen den schmutzigen Strähnen funkelte das einzige Auge. Das andere war durch eine schwarze Binde verdeckt.
Das Mondlicht fiel voll auf ihn und weckte ein Schimmern auf den schneebedeckten Dächern ringsum.
»O welch ein grausiger Ort!« dachte Angélique. »Welch ein grausiger Ort!«
Sie suchte bei Rodogone Schutz. Der Herzog von Ägypten war damit beschäftigt, seinen gelassenen Gegner mit einer Flut von Schimpfworten zu überschütten.
»Hund, Sohn einer Hündin, Lumpenkerl, das wird dir übel ausgehen ... Einer von uns ist zuviel ...!«
»Halt’s Maul!« erwiderte Calembredaine und warf eine Börse in das Kupferbecken, die noch schwerer war als die Rodogones. Ein jähes Lachen schüttelte den auf den Knien des Schwachsinnigen hockenden Knirps.
»Ich habe verteufelte Lust, diese Schöne zu versteigern«, rief er mit heiser krächzender Stimme. »Man ziehe sie aus, damit die Burschen die Ware prüfen können. Für den Augenblick gehört sie Calembredaine.«
Die Gauner johlten vor Freude. Gierige Hände griffen nach Angélique, doch der Ägypter schob sie hinter sich und zog seinen Dolch. In diesem Augenblick bückte sich Calembredaine und schleuderte blitzschnell ein rundes, weißes Wurfgeschoß gegen ihn, das Rodogone am Handgelenk traf. Als es über den Boden rollte, sah Angélique mit Entsetzen, daß es ein Totenschädel war.
Das Messer war Rodogone aus der Hand gefallen. Schon hatte sich Calembredaine auf ihn gestürzt. Die beiden Banditen umschlangen einander, daß die Knochen krachten, dann rollten sie in den Morast.
Das war das Signal zu einem wilden Getümmel. Die Vertreter der fünf oder sechs rivalisierenden Banden von Paris fielen übereinander her. Angélique hatte sich mit einem Satz mitten ins Handgemenge gestürzt, in der Absicht, sich davonzumachen, aber kräftige Fäuste packten sie und führten sie wieder vor die Kanzel, wo die Erzgehilfen des Großen Coesre sie festhielten. Von seiner Leibgarde umgeben, verfolgte dieser gelassen den Kampf, während der Mond langsam am Horizont unterging.
Rodogone und Calembredaine kämpften wie rasende Doggen. Sie waren einander ebenbürtig. Doch plötzlich erscholl ein verblüffter Schrei: Rodogone war wie durch Zauberei spurlos verschwunden. Schon wurde die Menge von Panik und Entsetzen ob dieses Wunders erfaßt, als man ihn dumpf rufen hörte. Ein Faustschlag Calembredaines hatte ihn auf den Grund eines der großen Massengräber befördert. Nachdem er zwischen den Toten wieder zur Besinnung gekommen war, flehte er, daß man ihn doch herausziehen möge.
Homerisches Gelächter schüttelte die Nächststehenden und teilte sich den übrigen mit. Und die Handwerker und Arbeiter der benachbarten Straßen lauschten entsetzt dem schallenden Gelächter, das den Hilferufen auf dem Fuße folgte. Die Frauen an den Fenstern bekreuzigten sich.
Als gleich darauf eine Glocke silberhell das Angelus zu läuten begann, erhob sich eine Salve von Schmähungen und Obszönitäten vom Friedhof in die sich lichtende Dunkelheit. Man mußte sich aus dem Staub machen. Die Nacht war vorbei, und wie lichtscheue Eulen oder Dämonen wichen die Leute der Gaunerzunft aus dem Bezirk der Unschuldigen Kindlein.
In der schmutzigen und stinkenden, kaum rötlich angehauchten Morgendämmerung stand Calembredaine vor Angélique und betrachtete sie lachend.
»Sie gehört dir«, erklärte der Große Coesre.
Angélique riß sich los und lief zum Tor. Aber wieder hielten sie gewalttätige Hände fest und lähmten sie. Ein Knebel aus Lumpen benahm ihr den Atem. Sie wehrte sich, dann verlor sie das Bewußtsein.
»Fürchte dich nicht«, sagte Calembredaine.
Er saß auf einem Schemel vor ihr, stützte die riesigen Hände auf seine Knie. Auf der Erde kämpfte eine Kerze in schönem silbernem Leuchter gegen das fahle Tageslicht an.
Angélique sah um sich und fand sich auf einer Lagerstätte ausgestreckt, auf der sich eine stattliche Zahl von Mänteln jeglicher Stoffart und Farbe türmte. Da gab es gar prächtige aus goldbesticktem Samt, wie junge Edelleute sie tragen, wenn sie unter den Fenstern ihrer Geliebten Gitarre spielen, andere aus grobem Barchent, bequeme Reise- oder Kaufmannsmäntel.
»Fürchte dich nicht . Angélique«, wiederholte der Bandit.
Verblüfft hob sie den Blick zu ihm, denn er hatte im Poitou-Dialekt gesprochen, den sie verstand.
Er fuhr sich mit der Hand ins Gesicht und riß den Auswuchs ab, den er auf der Wange hatte. Sie stieß einen Schrei aus. Doch schon warf er auch seinen schmutzigen Hut auf den Boden und mit ihm eine Perücke aus struppigem Haar. Dann nahm er die schwarze Binde ab, die er über dem Auge trug.
Nun hatte Angélique einen jungen Mann mit derben Zügen vor sich, dessen kurzgehaltenes schwarzes Haar sich über der eckigen Stirn kräuselte. Tiefliegende braune Augen starrten sie an. Ihr Ausdruck verriet Erwartung und Ängstlichkeit.
Angélique fuhr sich mit der Hand an die Kehle; sie glaubte zu ersticken. Sie brachte keinen Ton heraus. Endlich stammelte sie wie eine Taubstumme, die ihre Lippen bewegt und den Klang ihrer Stimme nicht kennt:
»Ni . co . las.«
Der Mann lächelte.
»Ja, ich bin’s. Du hast mich wiedererkannt?«
Sie warf einen Blick auf den schmutzigen Plunder, der neben dem Schemel auf der Erde lag: die Perücke, die schwarze Binde ...
»Und du bist auch der, den man Calembredaine nennt?«
Er richtete sich auf und schlug dröhnend mit der Faust auf seine Brust.
»Ich bin’s. Calembredaine, der berühmte Strolch vom Pont-Neuf. Ich bin vorangekommen, seitdem wir uns zum letztenmal sahen, wie?«
Sie starrte ihn an. Sie lag noch immer auf dem Bett aus alten Mänteln und war unfähig, sich zu bewegen. Durch eine vergitterte Schießscharte schwamm dichter Nebel wie Rauch in den Raum. Vielleicht war es deshalb, daß ihr diese zerlumpte Gestalt, dieser Herkules im Bettlergewand, der sich an die Brust schlug und sagte: »Ich bin Nicolas ... Ich bin Calembredaine!« wie ein Trugbild erschien.
Er begann auf und ab zu gehen, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»In den Wäldern läßt sich’s leben, solange es warm ist«, sagte er. »Im Wald von Mercœur kam ich mit einer Bande zusammen: ehemaligen Söldnern, früheren Bauern aus dem Norden, entwichenen Sträflingen. Sie waren gut organisiert. Ich hab’ mich mit ihnen zusammengetan. Wir fielen auf der Landstraße, die von Paris nach Nantes führt, über die Reisenden her und forderten Lösegeld von ihnen. Aber in den Wäldern läßt sich’s nur leben, solange es warm ist. Wenn der Winter kommt, muß man in die Städte zurück. Üble Sache. Wir waren in Tours, in Chateaudun. So sind wir vor Paris angekommen. Oh, die verfluchten Scherereien mit all den Bettlerjägern und Bütteln, die uns auf den Fersen waren! Denen, die sich an den Toren schnappen ließen, wurden die Augenbrauen und der halbe Bart abrasiert, und dann hieß es: »Hau ab, Geselle, zurück aufs Land, zurück zu deinem niedergebrannten Hof, zu deinen geplünderten Äckern und deinem Schlachtfeld! Oder aber du wirst ins Arbeitshaus oder gar ins Chätelet-Gefängnis gesteckt, wenn du nämlich in deiner Tasche ein Stück Brot hast, das die Bäckersfrau dir gab, weil sie schlecht anders konnte. Ich aber hab’ mir die günstigen Winkel gemerkt, um mich dünnzumachen, wenn’s not tut: die Keller, die von einem Haus zum andern gehn, Abflußlöcher, die in die Kloaken führen, und - da es Winter war - die eingefrorenen Zillen längs der Seine. Von einer Zille zur andern, hoppla! Und eines Nachts sind wir alle wie die Ratten in Paris eingedrungen .«
In unsicherem Ton sagte sie: »Wie konntest du so tief sinken?«
Er beugte sich mit zornverzerrtem Gesicht über sie.
»Und du?«
Angélique sah auf ihr zerrissenes Kleid. Ihr aufgelöstes, ungekämmtes Haar quoll unter einer Leinenhaube hervor, wie sie die Frauen aus dem Volke trugen.
»Das ist nicht dasselbe«, sagte sie.
Nicolas’ Zähne knirschten, er knurrte wie eine wütende Dogge.
»O doch! Jetzt ... ist es fast dasselbe. Verstehst du, Dirne!«
Angélique betrachtete ihn mit einem Ungewissen, fernen Lächeln .Ja, das war er. Sie sah ihn wieder ...
Nicolas, in der Sonne stehend, die plumpe Hand voller Walderdbeeren. Und auf dem Gesicht derselbe böse, rachsüchtige Ausdruck .Ja, das kam ihr allmählich in Erinnerung. So hatte er sich vorgebeugt . Ein linkischer, noch bäuerlicher Nicolas, aber schon mit dem Hauch des Besonderen umgeben in der Süße des Frühlingswäldchens . Leidenschaftlich wie ein lüsternes Tier, und dennoch hatte er seine Arme auf den Rücken gelegt, um nicht in Versuchung zu geraten, sie zu packen und ihr Gewalt anzutun. »Ich werd’s dir sagen . es hat in meinem Leben nur dich gegeben . Ich bin wie etwas, das nicht an seinem Platz ist und ewig umherschweift, ohne zu wissen . Mein einziger Platz warst du .« Keine üble Liebeserklärung für einen Bauernjungen. Aber in Wirklichkeit war sein richtiger Platz der, den er jetzt eingenommen hatte: Räuberhauptmann in der Hauptstadt ... Der Platz der Taugenichtse, die von den andern nehmen wollen, statt sich ihren Lebensunterhalt ehrlich zu verdienen. Das war schon damals zu ahnen, als er seine Kuhherde im Stich ließ, um das Vesperbrot der andern kleinen Hirten zu stehlen. Und Angélique war seine Komplicin.
Mit einem Ruck richtete sie sich auf und funkelte ihn aus ihren meergrünen Augen an.
»Ich verbiete dir, mich zu beschimpfen. Für dich bin ich nie eine Dirne gewesen. Und jetzt gib mir zu essen. Ich habe Hunger.«
Nicolas Calembredaine schien seine Aggressivität zu bereuen.
»Bleib liegen«, sagte er, »ich werde mich drum kümmern.«
Er ergriff einen Metallstab und schlug auf einen kupfernen Gong, der an der Wand blinkte. Alsbald waren eilige Schritte auf der Treppe zu hören, und ein Mann mit törichtem Gesicht erschien im Türrahmen.
»Ich stelle dir Jactance vor, einen meiner Taschendiebe. Er hat’s zuwege gebracht, sich erwischen und vergangenen Monat an den Schandpfahl stellen zu lassen. Fürs erste bleibt er ein Weilchen hier, bis die Leute von den Hallen seine Nase vergessen. Danach kriegt er eine Perücke auf den Schädel geklebt, und es heißt von neuem: Leute, paßt auf eure Geldbörsen auf! Was hast du in deinem Kochtopf, Nichtsnutz?«
Jactance schnupfte und fuhr sich mit dem Ärmel unter seiner feuchten Nase vorbei.
»Schweinsfüße, Chef, mit Kohl.«
»Bist selber ein Schwein«, fuhr Nicolas ihn an. »Ist das ein anständiges Essen für eine Dame?«
»Weiß nicht, Chef!«
»Es ist schon recht«, sagte Angélique ungeduldig.
Der Essensgeruch raubte ihr schier die Besinnung. Wahrhaft demütigend war dieser Hunger, unter dem sie in den entscheidendsten oder dramatischsten Augenblicken ihres Lebens litt. Und je dramatischer er war, desto mehr Hunger hatte sie!
Als Jactance mit einem wohlgefüllten Holznapf zurückkehrte, tänzelte der Zwerg Barcarole vor ihm her. Beim Eintreten schlug er einen Purzelbaum, dann vollführte er vor Angélique eine höfische Verbeugung, die durch seine winzigen, stämmigen Beine und den großen Hut einen recht grotesken Anstrich erhielt. Seinem unförmigen Kopf fehlte es weder an intelligenten Zügen noch an einer gewissen melancholischen Schönheit. Vielleicht hatte er deshalb, trotz seiner Mißgestalt, vom ersten Augenblick an auf Angélique sympathisch gewirkt.
»Ich hab’ den Eindruck, daß du mit deiner neuen Eroberung nicht unzufrieden bist, Calembredaine«, meinte er und zwinkerte Nicolas zu, »aber was wird die Marquise der Polacken dazu sagen?«
»Halt’s Maul, Knirps«, knurrte der Chef. »Mit welchem Recht dringst du in meinen Bau ein?«
»Mit dem Recht des treuen Dieners der Belohnung verdient! - Vergiß nicht, daß ich es war, der dir dieses hübsche Mädchen zugeführt hat, auf das du schon so lange in allen Winkeln von Paris lauerst.«
»Sie zu den Unschuldigen Kindlein zu bringen! Was für eine Idee! Um ein Haar hätte sie mir der Große Coesre oder Rodogone der Ägypter weggeschnappt.«
»Du mußtest sie dir ja erobern«, sagte der winzige Barcarole. »Wär’ mir ein schöner Chef, der sich nicht für seine Marquise schlägt! Und vergiß nicht, daß du die ganze Mitgift noch nicht bezahlt hast. Nicht wahr, meine Schöne?«
Angélique hatte nicht zugehört; sie aß gierig.
»Was willst du damit sagen, daß die Mitgift noch nicht bezahlt ist?« fragte Calembredaine mit gerunzelter Stirn.
»Teufel noch eins! Der Kerl, den sie umgelegt haben will! Der Mönch mit den schielenden Augen .«
Der Chef wandte sich Angélique zu.
»Stimmt das?«
Sie hatte zu hastig gegessen. Gesättigt und erschöpft hatte sie sich wieder auf den Mänteln ausgestreckt. Auf Nicolas’ Frage antwortete sie mit geschlossenen Augen:
»Ja, es muß sein.«
»Das ist nicht mehr wie recht und billig«, kreischte der Zwerg. »Die Hochzeit der Gauner muß mit Blut begossen werden. Huhu! Mit Mönchsblut ...!«
Vor einer drohenden Geste seines Chefs floh er behende und kichernd die Treppe hinunter. Calembredaine schlug die klapprige Tür mit einem Fußtritt zu.
Er blieb am Fußende des seltsamen Lagers stehen, auf dem die junge Frau ruhte, und betrachtete sie lange. Endlich schlug sie die Augen auf.
»Ist es wahr, daß du mich schon lange belauerst?«
»Ich hatte dich gleich ausfindig gemacht. Kannst dir vorstellen, mit all meinen Leuten bin ich rasch auf dem laufenden über jeden, der kommt, und ich weiß besser als sie selbst Bescheid über die Zahl der Juwelen und wie man bei ihnen einsteigen kann, wenn es vom Turm der Place de Grève Mitternacht schlägt. Du hast mich ja in den Drei Mohren gesehen .«
»Schuft, du!« murmelte sie erschauernd. »Oh, warum hast du gelacht, als du mich ansahst?«
»Weil ich begriff, daß du mir bald gehören würdest.«
Sie betrachtete ihn kühl, dann zuckte sie die Schultern und gähnte. Sie fürchtete Nicolas nicht, wie sie Calembredaine gefürchtet hatte. Sie war Nicolas immer überlegen gewesen. Wenn man vor einem Menschen Angst haben soll, darf man ihn nicht als Kind gekannt haben. Die Müdigkeit überwältigte sie. Matt fragte sie noch:
»Weshalb . weshalb hast du eigentlich Monteloup verlassen?«
»Das ist wirklich die Höhe!« rief er aus und verschränkte die Arme über der Brust. »Weshalb? Glaubst du vielleicht, ich hätte Lust gehabt, mich vom alten Wilhelm auf seiner Lanze aufspießen zu lassen . nachdem was zwischen dir und mir geschehen war?
Ich hab’ Monteloup am Abend deiner Hochzeit verlassen. Hattest du auch das vergessen?«
Ja, auch das hatte sie vergessen. Hinter ihren gesenkten Lidern erwachte die Erinnerung mit ihrem Geruch nach Stroh und Wein, dem auf ihr lastenden Gewicht von Nicolas’ muskulösen Körper und jenem quälenden Gefühl von Hast und Zorn, von Unbeendigtem.
»Ah«, meinte er bitter, »man kann wohl sagen, daß in deinem Herzen kein Platz für mich war. Bestimmt hast du in all diesen Jahren nie an mich gedacht!«
»Bestimmt«, wiederholte sie lässig. »Ich hatte anderes zu tun, als an einen Bauernknecht zu denken.«
»Dirne!« schrie er außer sich. »Überleg dir, was du sagst. Der Bauernknecht ist jetzt dein Herr. Du gehörst mir .«
Er schrie noch, als sie einschlief Weit davon entfernt, sie zu reizen, gab ihr diese Stimme vielmehr das Gefühl, auf brutale, aber dennoch wohltuende Weise beschützt zu sein. Mitten im Wort hielt er inne.
»Jetzt ist es wieder wie früher«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »als du mitten in unseren Streitigkeiten auf dem Moos einschliefst. Nun, dann schlaf schön, mein Schätzchen. Du gehörst mir trotzdem. Ist dir’s kalt? Soll ich dich zudecken?«
Mit den Augenlidern gab sie ein kaum merkbares zustimmendes Zeichen. Er holte einen prächtigen Mantel aus schönem Tuch und breitete ihn sorgsam über sie.
Dann strich er in einer fast scheuen Bewegung mit der Hand leise über ihre Stirn.
Dieses Zimmer war wirklich eine wunderliche Stätte. Die Mauern wie bei alten Warttürmen aus riesigen Steinen gefügt, war es rund und wurde von dem durch eine vergitterte Schießscharte einfallenden Tageslicht nur kümmerlich erhellt. Die Einrichtung bestand aus einem Sammelsurium seltsamer Gegenstände, angefangen von kostbaren Spiegeln in Ebenholz- und Elfenbeinrahmen bis zu altem Eisenkram, Handwerkszeug wie Hämmern und Hacken, Waffen .
Angélique rekelte sich. Schlaftrunken und verwundert umherschauend, richtete sie sich auf und griff nach einem der Spiegel. Sie entdeckte in ihm die fremde Physiognomie eines blassen Mädchens mit verwegenen, allzu starren Augen, die denen einer auf der Lauer liegenden Katze glichen. Erschrocken legte sie den Spiegel zurück. Diese Frau mit dem gehetzten, heruntergekommenen Ausdruck - das konnte doch unmöglich sie sein! Was ging mit ihr vor? Wo war sie? Wozu all die Dinge in diesem runden Raum: Degen, Kochtöpfe, Kasten voller Kleinkram, Schärpen, Fächer, Handschuhe, Schmuck, Spazierstöcke, Musikinstrumente, eine Wärmflasche, ganze Stapel von Hüten und vor allem Mäntel .? Ein einziges Möbelstück, ein zierliches Nähtischchen mit Intarsien, schien höchst verwundert, sich zwischen diesen feuchten Mauern wiederzufinden.
An ihrem Gürtel spürte sie einen harten Gegenstand. Sie zog an einem ledernen Griff und brachte
einen langen, spitzen Dolch zum Vorschein. Wo hatte sie diesen Dolch gesehen? Es war in einem schmerzhaften Alptraum gewesen, in dem der Mond mit Totenschädeln jongliert hatte. Der Mann mit der braunen Hautfarbe hatte ihn in der Hand gehalten. Dann war der Dolch auf die Erde gefallen, und Angélique hatte ihn aufgehoben, während zwei Männer sich auf der Erde wälzten. Es war der Dolch Rodogones des Ägypters ... Sie steckte ihn wieder zu sich. Ihr Geist suchte wirre Bilder zu klären. Nicolas ... Wo war Nicolas?
Sie lief ans Fenster. Zwischen den Gitterstäben erblickte sie die gemächlich dahinfließende Seine, absinthfarben unter dem bewölkten Himmel, und das unaufhörliche Hin und Her der Kähne und Zillen. Am andern Ufer, schon in Dämmerung gehüllt, erkannte sie die Tuilerien und den Louvre ...
Diese Vision ihres früheren Lebens versetzte ihr einen Schock und bestärkte sie in dem Gefühl, nicht bei Sinnen zu sein. Nicolas! Wo war Nicolas?
Sie stürzte zur Tür, und da sie sie doppelt verschlossen fand, schlug sie aus Leibeskräften mit den Fäusten gegen das verwitterte Holz und schrie nach Nicolas.
Ein Schlüssel knarrte, und Jactance, der Mann mit der roten Nase, erschien.
»Was soll denn das Geschrei, Marquise?«
»Warum war diese Tür verschlossen?«
»Weiß nicht.«
»Wo ist Nicolas?«
»Weiß nicht.«
Er betrachtete sie nachdenklich, dann schlug er vor:
»Komm auf ’ne Weile mit zu den Kameraden, das wird dich ablenken.«
Sie folgte ihm über eine feuchte steinerne Wendeltreppe nach unten. Lautes Stimmengewirr wurde vernehmbar, in das sich derbes Gelächter und Kindergeheul mischten.
Sie gelangte in einen großen, gewölbeartigen Saal, der von einer bunten Menschenmenge erfüllt war. Zuerst erblickte sie Cul-de-Bois, der wie ein grotesker Tafelaufsatz mitten auf dem großen Tisch aufgebaut war. Im Hintergrund flackerte ein Feuer, und Leichtfuß überwachte, auf dem Kaminstein hok-kend, den Kochkessel. Eine dicke Frau rupfte eine Ente, eine andere, jüngere hielt ein halbnacktes Kind auf den Knien und gab sich dem wenig appetitlichen Geschäft des Lausens hin. Überall auf dem mit Stroh ausgelegten Estrich lagen mit Lumpen bedeckte Greise und Greisinnen, dazwischen schmutzstarrende Kinder, die sich mit den Hunden um Abfälle balgten. Einige Männer saßen auf alten Fässern am Tisch, spielten Karten oder rauchten und tranken.
Als Angélique erschien, richteten sich aller Augen auf sie, und es trat beinahe Stille ein.
»Komm näher, mein Kind«, sagte Cul-de-Bois mit feierlicher Geste. »Du bist das Mädchen unseres Chefs Calembredaine. Man ist dir Achtung schuldig. Macht also der Marquise Platz!«
Einer der Pfeifenraucher stieß seinem Nachbarn den Ellenbogen in die Seite.
»Verdammt hübscher Fratz! Calembredaine hat diesmal fast ebenso viel Geschmack entwickelt wie du.«
Der Angeredete stand auf, näherte sich Angélique und faßte sie ebenso freundlich wie ungeniert unters Kinn.
»Ich bin Beau-Garçon[7]«, sagte er.
Sie schlug ärgerlich seine Hand herunter.
»Das ist Geschmacksache.«
Die Zuschauer brachen ob dieser Schlagfertigkeit in johlendes Gelächter aus.
»Das ist nicht Geschmacksache«, sagte Cul-de-Bois belustigt, »sondern ganz einfach sein Name. Beau-Garçon - so wird er genannt. Komm, Jactance, bring der Neuen was zu trinken. Mir gefällt sie.«
Ein großes, mit einem Adelswappen verziertes Stengelglas wurde vor sie gestellt, das die Bande Calembredaines vermutlich in einer mondlosen Nacht aus einem Palais hatte mitgehen lassen. Jactance füllte es bis zum Rand mit Rotwein und schenkte dann reihum ein.
»Auf dein Wohl, Marquise! Wie heißt du?«
»Angélique.«
Abermals erschallte das wüste Gelächter der Banditen unter den Gewölben. »Das ist gut! Angélique! Ein leibhaftiger Engel. So was hat’s bei uns noch nie gegeben! Und warum eigentlich nicht? Warum sollten schließlich nicht auch wir Engel sein! Da sie doch unsre Marquise ist .! Auf dein Wohl, Marquise der Engel!«
Sie lachten und schlugen sich dröhnend auf die Schenkel.
»Auf dein Wohl, Marquise! Komm, trink . so trink doch!«
Aber sie rührte sich nicht, während sie die Horde unrasierter Saufbolde anstarrte, die sich um sie drängte.
»Trink doch, Schlumpe«, brüllte Cul-de-Bois mit seiner grausig-hohlen Stimme.
Sie trotzte dem Unhold, ohne zu antworten.
Unheimliche Stille trat ein, dann seufzte Cul-de-Bois und sah sich ratlos im Kreise um.
»Sie will nicht trinken! Was ist los mit ihr? Beau-Garçon, du kennst dich bei den Frauen aus - sieh zu, ob du sie zur Vernunft bringst.«
Beau-Garçon setzte sich neben Angélique und streichelte ihr wie einem Kind liebevoll die Schulter.
»Hab keine Angst. Sie sind nicht böse, weißt du. Das ist so ihre Art, wenn sie die Bürgersleute einschüchtern wollen. Aber dich haben wir schon richtig gern. Du bist unsere Marquise. Die Marquise der Engel! Gefällt’s dir nicht? Marquise der Engel! Ein hübscher Name. Und er paßt so gut zu deinen schönen Augen. Komm, trink einen Schluck, mein Herzchen, das ist ein guter Wein. Ein Faß vom Grève-Hafen, das ganz allein zur Tour de Nesles gerollt ist. So gehen bei uns die Dinge vor sich, bei uns am Hof der Wunder.«
Er führte das Glas an ihre Lippen. Sie konnte dem Klang dieser männlichen, schmeichelnden Stimme nicht widerstehen und trank. Der Wein war gut. Er erzeugte in ihrem erstarrten Körper eine wohlige Wärme, und mit einemmal wurde alles einfacher und weniger beängstigend. Sie trank ein zweites Glas, dann stützte sie ihre Ellbogen auf den Tisch und betrachtete ihre Umgebung.
Abends vereinigten sich die unter Calembredaines Befehl stehenden Bettler und Bettlerinnen in diesem Schlupfwinkel. Viele der Frauen trugen verkrüppelte Kinder oder in Lumpen gewickelte, plärrende Säuglinge auf ihren Armen, von denen einer, dessen Gesicht mit eitrigen Pusteln bedeckt war, eben der an der Feuerstelle sitzenden Frau übergeben wurde. Diese riß mit behender Hand den Schorf vom Gesicht des Neugeborenen, fuhr mit einem Lappen über das Frätzchen, das wieder rosig und rein wurde, dann legte sie das Kind an ihre Brust.
Angélique war unwillkürlich zusammengefahren. Cul-de-Bois lächelte und erklärte mit seiner heiseren Stimme:
»Du siehst, bei uns wird man schnell gesund. Du brauchst nicht zu den Prozessionen zu gehen, um Wunder zu sehen. Hier gibt’s alle Tage welche. Vielleicht erzählt in diesem Augenblick ‘ne Dame von den Guten Werken, wie sie das nennen: >Oh, meine Liebe, ich habe ein Kind auf dem Pont-Neuf gesehen, welch ein Jammer! Ganz mit Pusteln bedeckt ... Natürlich hab’ ich der armen Mutter ein Almosen gegeben .< und fühlt sich ordentlich Gott wohlgefällig bei ihrem Sabbeln. Dabei waren’s bloß ein paar Plätzchen aus trockenem Brot mit Honig drauf, um die Fliegen anzulocken. Aha, da kommt Mort-aux-Rats. Jetzt kannst du gehen .«
Angélique sah ihn verwundert an.
»Brauchst es nicht zu kapieren«, brummte er. »Es ist mit Calembredaine so ausgemacht.«
Der besagte Mort-aux-Rats, der eben hereinkam, war ein spindeldürrer Spanier, dessen spitze Knie und Ellbogen Hose und Wams durchgescheuert hatten. Trotz seines heruntergekommenen Aussehens tat er mit seinem langaufgezwirbelten schwarzen Schnurrbart, seinem Federhut und seinem über der Schulter getragenen Rapier, an dessen Klinge fünf oder sechs dicke Ratten aufgereiht waren, sehr großspurig. Am Tage verkaufte der Spanier auf den Straßen ein Mittel zur Vertilgung der lästigen Nager, nachts half er seinen mageren Einkünften auf, indem er Calembredaine seine Talente als Duellant zur Verfügung stellte.
Höchst würdevoll nahm er einen Becher Wein an und nagte an einer Rübe, die er aus der Tasche zog, während ein paar alte Weiber sich um seine Jagdbeute stritten; er verlangte zwei Sols für eine Ratte. Nachdem er das Geld eingesteckt hatte, ergriff er sein Rapier, machte auf Soldatenweise einen Ausfall, grüßte und schob es wieder in die Scheide.
»Ich bin bereit«, erklärte er mit Emphase.
»Geh«, befahl Cul-de-Bois Angélique. Sie wollte aufbegehren, besann sich aber eines Besseren.
Mehrere Männer hatten sich mit ihr erhoben, »Schnapphähne« oder »Frühere«, wie man sie nannte, ehemalige Soldaten, denen es nach Plünderung und Kampf gelüstete und die der kürzlich geschlossene Frieden zum Müßiggang verurteilte.
Sie sah sich umringt von ihren Galgenvogelgestalten, an deren zerschlissenen Uniformen noch die Borten und goldenen Aufschläge irgendeines fürstlichen Regiments hingen.
Angélique tastete nach dem Dolch des Ägypters unter ihrem Mieder. Im Notfall war sie entschlossen, ihr Leben mit ihm zu verteidigen. Doch der Dolch war verschwunden.
Alle Vernunft vergessend, schrie sie:
»Wer hat mir mein Messer genommen?«
»Da ist es«, meldete sich Jactance mit seiner trägen Stimme. Er reichte ihr die Waffe mit unschuldsvoller Miene. Sie war verblüfft. Wie war es ihm gelungen, den Dolch aus ihrem Mieder zu stehlen, ohne daß sie es gemerkt hatte?
Indessen erscholl von neuem das dröhnende Gelächter, dieses grausige, hohnvolle Gelächter der Bettler und Banditen, das Angélique von nun an ihr ganzes Leben lang verfolgen sollte.
»Eine gute Lehre, mein Herzchen«, rief Cul-de-Bois. »Du wirst die Hände von Jactance noch kennenlernen. Jeder seiner Finger ist geschickter als ein Zauberer. Frag nur die Hausfrauen auf dem Marktplatz, was sie von ihm halten.«
»Er ist schön, dieser Hirschfänger«, sagte einer der Männer, der ihn neugierig in die Hand nahm. Doch nachdem er ihn genauer betrachtet hatte, warf er ihn entsetzt auf den Tisch zurück.
»Teufel! Das ist das Messer Rodogones des Ägypters.«
In einer aus Respekt und Besorgnis gemischten Stimmung betrachteten sie den Dolch, der im Kerzenlicht funkelte.
Angélique schob ihn wieder hinter ihren Gürtel. Es schien ihr, als ob erst diese Geste sie in den Augen der Gauner zu einer der Ihren machte. Niemand wußte, unter welchen Umständen sie sich dieser Trophäe eines der gefürchtetsten Feinde der Bande bemächtigt hatte. Es haftete ihr etwas Mysteriöses an, das Angélique mit einem ein wenig beunruhigenden Glorienschein umgab.
Cul-de-Bois pfiff vor sich hin.
»Hoho! Sie hat es dicker hinter den Ohren, als ich dachte, die Marquise der Engel.«
Wohlgefällige, ja geradezu bewundernde Blicke folgten ihr, als sie hinausging.
Draußen hoben sich die zerbröckelnden Umrisse der Tour de Nesles vor dem nächtlichen Dunkel ab. Angélique begriff, daß sich der Raum, in den Nicolas Calembredaine sie geführt hatte, im obersten Geschoß dieses Turms befindet und den Dieben als Lager für ihre Beute dienen mußte. Einer der »Früheren« erklärte ihr bereitwillig, daß es Calembredaines Idee gewesen sei, Mitglieder seiner Bande in den alten Befestigungswerken der Stadt unterzubringen. Tatsächlich boten sie ideale Schlupfwinkel für Strolche: halbzerfallene Säle, eingestürzte Wälle, wacklige Türmchen lieferten so ideale Verstecke, wie sie die übrigen Banden der Vorstädte nicht besaßen.
Die Wäscherinnen, die lange Zeit ihre Wäsche über die Zinnen der Tour de Nesle zum Bleichen gehängt hatten, waren vor der grausigen Invasion geflohen. Niemand hatte den Mut gehabt, die üblen Burschen zu vertreiben. Man hatte sich seufzend damit abgefunden, daß dieser Torturm mitten in Paris zu einer wahren Diebesherberge geworden war. Selbst die Schiffer des nahe gelegenen kleinen Holzhafens dämpften die Stimmen, wenn sie die unheimlichen Gestalten die Uferböschung herabsteigen sahen. Sie fanden, daß dies hier allmählich zu einer unmöglichen Gegend wurde. Wann würden sich die Schöffen der Stadt endlich dazu entschließen, dieses alte Gemäuer abzutragen und das ganze Gesindel zu verjagen?
»Messires, ich grüße Euch«, sagte Mort-aux-Rats, indem er auf sie zutrat. »Habt Ihr wohl die Güte, uns zum Quai de Gesvres zu bringen?«
»Habt Ihr Geld?«
»Wir haben das«, erklärte der Spanier und setzte dem Sprecher die Spitze seines Degens auf den Bauch .
Der Mann zuckte resigniert die Schultern. Tagtäglich hatte man mit diesen Strolchen zu tun, die sich in den Kähnen verbargen, die Waren stahlen und sich wie Edelleute ans andere Ufer übersetzen ließen. Waren die Schiffer einigermaßen zahlreich, endeten solche Unterhaltungen gewöhnlich mit einer blutigen Schlägerei, denn sie waren nicht eben sanftmütige Leute.
An diesem Abend indessen merkten die drei Männer, die eben ihr Feuer angezündet hatten, um bei den Zillen zu wachen, daß es keinen Sinn hatte, lange zu diskutieren. Auf ein Zeichen seines Meisters erhob sich ein Junge und machte den Kahn los, in dem Angélique und ihre Begleiter Platz genommen hatten.
Der Kahn glitt langsam unter den Bogen des Pont-Neuf hindurch und legte vor dem Pont Notre-Dame am Unterbau des Quai de Gesvres an.
»Gut so, Kleiner«, sagte Mort-aux-Rats zu dem jungen Flußschiff er. »Wir danken dir nicht nur, wir lassen dich sogar mit heiler Haut zurückkehren. Brauchst uns nur noch deine Laterne zu leihen. Kriegst sie zurück, wenn wir mal dran denken sollten .«
Das riesige Gewölbe, das den eben erst gebauten Quai de Gesvres trug, war eine gigantische Leistung, ein Meisterwerk der Steinbaukunst. Als Angélique es betrat, hörte sie das Brausen des eingeengten Flusses, der wie ein Gebirgsbach dahinschoß und dessen widerhallendes Donnern an die mächtige Stimme des Meers erinnerte. Das Geräusch der mit fern dröhnendem Echo über das Gewölbe hinwegrollenden Kutschen verstärkte noch diesen Eindruck. Die Luft war eisig und feucht. Diese grandiose Höhle im Herzen von Paris schien dazu geschaffen worden zu sein, um allen Verbrechern der großen Stadt als
Zuflucht zu dienen.
Die Banditen folgten ihr bis zum Ende. Drei oder vier Quergänge, die angebracht worden waren, um den Schlächtereien der Rue de la Vieille Lanterne als Abflußrinne zu dienen, spien Blutströme aus. Man mußte sie mit einem Sprung überqueren. Als sie wieder an der Oberfläche von Paris auftauchten, war es stockfinster, und Angélique hätte nichts zu sagen gewußt, wo sie sich befand. Es schien ein kleiner Platz mit einem Brunnen in der Mitte zu sein, denn man hörte Wasser plätschern.
Plötzlich hörte sie in nächster Nähe Nicolas’ Stimme:
»Seid ihr das? Ist das Mädchen dabei?«
Einer der Männer hielt die Laterne über Angélique.
»Da ist sie.«
Vor sich erkannte sie die hohe Gestalt und das abstoßende Gesicht des Banditen Calembredaine und schloß angewidert die Augen.
Mit rohem Griff packte Nicolas ihren Arm.
»Brauchst dich nicht zu ängstigen, mein Herzchen, du weißt doch, daß ich’s bin«, sagte er mit spöttischem Lachen.
Dann drängte er sie in den Schatten eines Torbogens.
»Du, Jean-la-Pivoine, stellst dich auf die andere Straßenseite hinter den Prellstein. Du, Martin bleibst bei mir. Gobert dort hinüber. Ihr andern steht Schmiere an den Straßenecken. Bist du auf deinen Posten, Barcarole?«
Eine Stimme, die wie vom Himmel zu kommen schien, antwortete:
»Hier, Chef.«
Der Zwerg hockte auf einem Ladenschild.
Aus dem Torbogen heraus, unter dem sie neben Nicolas stand, konnte Angélique eine enge Gasse übersehen. Laternen, die vor den besseren Häusern hingen, beleuchteten sie kümmerlich. Die Krambuden der Handwerker waren dicht verschlossen. Die Leute schienen sich zu Bett zu begeben, denn hier und da huschte hinter den Fensterscheiben Kerzenschein vorüber.
»Du sollst deine Morgengabe bekommen, Angélique«, brummte Nicolas. »Das ist bei den Gaunern so üblich. Der Mann zahlt für seine Frau. Wie man einen schönen Gegenstand kauft, nach dem einem der Sinn steht.«
»Das ist ja wohl auch das einzige, was man bei uns kauft«, spottete einer der Strolche und wurde durch einen Fluch seines Chefs zum Schweigen gebracht. Dann ertönte auf der anderen Straßenseite ein Pfiff.
»Schau, wer dort kommt, Angélique«, flüsterte Nicolas und preßte den Arm der jungen Frau.
Völlig erstarrt und in solchem Maße empfindungslos, daß sie nicht einmal den Druck dieser Hand spürte, erwartete Angélique das Kommende. Sie wußte, was geschehen würde. Es war unvermeidlich. Es mußte sich vollziehen. Erst danach würde sie wieder aufleben können. Denn außer dem Haß war alles tot in ihr.
Im gelblichen Schein der Laternen sah sie zwei Mönche Arm in Arm sich nähern. In dem einen erkannte sie sofort Conan Becher. Der andere, ein dicklicher und geschwätziger Bursche, erging sich, wild gestikulierend, in langen lateinischen Reden. Er schien angetrunken zu sein, denn von Zeit zu Zeit drängte er seinen Begleiter torkelnd an eine Hausmauer und schwankte unter einem Schwall von Entschuldigungen gleich darauf in die Gasse zurück.
Angélique hörte den scharfen Stimmklang des Alchimisten. Auch er sprach lateinisch, aber im Ton erbitterten Widerspruchs. Als er auf der Höhe des Torbogens ankam, rief er empört auf französisch aus: »Nun hab’ ich aber wirklich genug, Bruder Am-boise. Eure Theorien über die Taufe mit Fleischbrühe sind einfach ketzerisch! Ein Sakrament kann nichts taugen, wenn das Wasser, mit dem man es erteilt, durch unreine Elemente wie tierische Fette entweiht ist. Eine Taufe mit Fleischbrühe! Welche Blasphemie! Warum nicht gar mit Rotwein? Das könnte Euch so passen, Euch, der Ihr ihn so zu lieben scheint.«
Und mit einem Stoß machte sich der hagere Franziskaner vom Arm des Bruders Amboise frei. Der dicke Mönch stammelte im weinerlichen Ton des Betrunkenen:
»Vater, Ihr bekümmert mich . Ach, ich hätte Euch so gern überzeugt!«
Plötzlich begann er wie ein Wahnsinniger zu schreien:
»Ha! Ha! Deus coeli!«
Und tauchte blitzschnell im Schatten des Torwegs neben Angélique unter.
»Nun macht ihn fertig. Zeigt, was ihr könnt«, flüsterte er, indem er vom Lateinischen in die Sprache der Rotwelschen überging.
Conan Becher hatte sich umgewandt.
»Was ist denn nun wieder los mit Eu.«
Er hielt inne und spähte ängstlich forschend die Gasse entlang.
»Bruder Amboise«, rief er, »Bruder Amboise, wo seid Ihr?«
Sein mageres Gesicht verzerrte sich, seine Augen quollen hervor, und man hörte ihn keuchen, während er ein paar Schritte weiterging und sich immer wieder verängstigt umsah.
»Huhuhu!«
Der Zwerg Barcarole machte sich durch sein unheimliches Nachtvogelgekrächze bemerkbar. Vom knarrenden Ladenschild herab sprang er wie eine riesige Kröte mit einem elastischen Satz dem Mönch vor die Füße. Becher fuhr entsetzt zurück und preßte sich an die Mauer.
»Huhuhu!« machte der Zwerg von neuem.
Er führte einen höllischen Tanz vor seinem angstschlotternden Opfer auf und erging sich in wilden Kapriolen, grotesken Verbeugungen, Grimassen und obszönen Gesten.
Dann tauchte eine zweite scheußliche Kreatur aus dem Dunkel und schlug ein grausiges Gelächter an.
Es war ein Buckliger mit verkrüppelten Beinen, der sich nur in einem grotesken Watschelgang vorwärtsbewegen konnte. Auf der Stirn saß ihm eine bizarre, rote Fleischwucherung.
Das Röcheln, das aus der Kehle des Mönches drang, hatte nichts Menschliches mehr. »Haaah! Die bösen Geister!« wimmerte er.
Sein magerer Körper krümmte sich, er sank auf dem schmutzigen Pflaster in die Knie. Sein Gesicht wurde aschfahl. Langsam hob er die knochigen Hände und stammelte: »Erbarmen . Peyrac!«
Wie ein Dolchstoß drang der von der verhaßten Stimme ausgesprochene Name in Angéliques Herz. Sie schrie wild auf:
»Tötet ihn! Tötet ihn!«
Doch mit einemmal brach der Körper des Mönchs zu Füßen der Mauer zusammen, und als Calembredaine in der lastenden Stille hinzutrat, konnte er nur noch seinen Tod feststellen.
»Dabei haben wir ihn nicht einmal berührt«, sagte Barcarole. »Wir haben nur Grimassen geschnitten, um ihm Angst zu machen.«
»Das ist euch nur zu gut gelungen. Er ist vor Angst gestorben. Verschwinden wir. Hier gibt’s für uns nichts mehr zu tun.«
Als man den Mönch Becher am nächsten Morgen leblos und ohne jegliche Spur einer Verletzung auffand, erinnerten sich die Pariser der Worte jenes Hexenmeisters, der auf der Place de Grèves verbrannt worden war: »Conan Becher, in einem Monat sehen wir uns vor dem Gericht Gottes wieder .«
Man schaute auf dem Kalender nach und stellte fest, daß der Monat um war. Und die Bewohner der in der Nähe des Zeughauses gelegenen Rue de la Cerisaie erzählten unter vielfachen Bekreuzigen von den seltsamen Schreien, die sie am Abend zuvor aus ihrem ersten Schlaf geschreckt hatten.
Man mußte dem Totengräber, der den verfluchten Mönch begrub, den doppelten Lohn zahlen. Und auf den Grabstein setzte man die Inschrift:
»Hier ruht Pater Conan Becher, Franziskaner, der am letzten Tage des Monats Februar 1661 durch die bösen Geister den Tod fand.«
Die Bande Nicolas Calembredaines, des berühmten Banditen, beschloß die Nacht in den Schenken. Alle Spelunken zwischen dem Zeughaus und dem Pont-Neuf erhielten ihren stürmischen Besuch. Sie hatten eine Frau mit leichenblassem Gesicht und aufgelöstem Haar bei sich und gaben ihr fleißig zu trinken. Die Nacht war nicht mehr schwarz. Sie war rot, rot wie der Wein, sie leuchtete und lohte wie eine Feuersbrunst!
»Untergang! Das ist der Untergang .!« Das war alles, was Angélique zu denken vermochte, bis Nicolas sie auf seine Arme nahm und mit ihr in die Gasse hinaustrat.
Die Nacht war kalt, doch an Nicolas’ Brust fühlte sie sich warm und geborgen. Von seiner Lagerstätte zwischen den Füßen des Bronzepferdes aus sah der Schmutzpoet vom Pont-Neuf den großen Banditen vorübergehen, die weiße Gestalt auf seinen Armen so mühelos tragend, als sei es eine Puppe.
Als Calembredaine den großen Saal im Erdgeschoß der Tour de Nesle betrat, war ein Teil seiner Bande vor dem Feuer versammelt. Eine Frau sprang kreischend auf und stürzte ihm entgegen.
»Schuft! Hast dir ‘ne andere genommen . Die Kameraden haben mir’s gesagt. Ausgerechnet, während ich mich mit einer Horde liederlicher Musketiere rumschlagen mußte . Aber ich werd’ dich wie ein Schwein abstechen - und sie auch!«
Gelassen ließ Nicolas die erschöpfte Angélique auf einen Sitz gleiten. Dann hob er seine mächtige Faust, und das Mädchen wich zurück.
»Hört mir mal alle gut zu«, sagte Nicolas Calembredaine. »Die hier« - er deutete auf Angélique - »gehört mir und niemandem sonst. Wer sie anrührt oder Händel mit ihr sucht, bekommt es mit mir zu tun. Ihr wißt, was das bedeutet! Was die Marquise der Polacken betrifft .«
Er packte das Mädchen an ihrem Mieder und schleuderte sie mit einem kraftvollen und verächtlichen Stoß in eine Gruppe von Kartenspielern.
». so könnt ihr mit ihr machen, was ihr wollt.«
Sodann wandte sich Nicolas Merlot, der zum Wolf gewordene einstige Hirte, derjenigen zu, die er immer geliebt hatte und die das Schicksal ihm zurückgab.
Er nahm sie wieder in seine Arme und begann, die Treppe des Turms hinaufzusteigen. Er ging langsam, um nicht zu schwanken, denn der Weindunst umnebelte sein Gehirn. Das gab diesem Aufstieg fast etwas Feierliches.
Ganz oben angekommen, öffnete Nicolas Calembredaine durch einen Fußtritt den Raum mit dem Diebesgut. Dann trat er zum Mantellager, ließ Angélique wie ein Paket darauffallen und rief:
»Nun zu uns beiden.«
Die grobe Geste und das triumphierende Lachen des Mannes rissen Angélique aus der dumpfen Gleichgültigkeit, in die sie in der letzten Schenke verfallen war. Ernüchtert fuhr sie hoch und lief ans Fenster, wo sie sich an die Gitterstäbe klammerte, ohne recht zu wissen, weshalb.
»Was soll’s?« schrie sie wütend über ihre Schulter zurück. »Was meinst du mit deinem >Zu uns beiden<, du Dummkopf? Bildest du dir etwa ein, du würdest mein Geliebter werden, du, Nicolas Merlot?«
Mit zwei Schritten stand er düster-drohend vor ihr.
»Ich bilde es mir nicht ein«, sagte er trocken, »ich bin dessen gewiß.«
»Abwarten.«
»Es gibt nichts abzuwarten.«
Sie hielt seinem Blick stand. Der rote Schein eines Flußschifferfeuers am Ufer, zu Füßen des Turms, beleuchtete ihre Gesichter. Nicolas atmete tief.
»Hör zu«, begann er von neuem mit gedämpfter, drohender Stimme, »ich will noch einmal mit dir reden, weil du’s bist und weil du begreifen sollst. Aber du hast kein Recht, mir zu verweigern, was ich von dir verlange. Ich habe mich für dich geschlagen, ich habe den Kerl umgebracht, den du beseitigt haben wolltest, der Große Coesre hat seine Zustimmung gegeben: Alles geht klar mit der Gaunerzunft. Du gehörst mir.«
»Und wenn mir die Gesetze der Gaunerzunft gleichgültig sind?«
»Dann wirst du sterben«, sagte er, und seine Augen funkelten böse. »Am Hunger oder an sonst was. Aber davonkommen wirst du nicht, mach dir da keine Illusionen. Im übrigen bleibt dir keine Wahl. Hat denn dein boshaftes kleines Adligengehirn immer noch nicht kapiert, was auf der Place de Grève zugleich mit deinem Hexenmeister verbrannt ist? Alles das nämlich, was dich von mir getrennt hat - vorher. Kammerdiener und Gräfin, das existiert nicht mehr. Ich, ich bin Calembredaine, und du . du bist nichts mehr. Die Deinen haben dich im Stich gelassen. Die von gegenüber .«
Er streckte den Arm aus und deutete zum anderen Ufer der Seine hinüber, auf den Komplex der Tuilerien und die Galerie des dunklen Louvre, wo Lichter blinkten.
»Für die dort existierst du auch nicht mehr. Und das ist der Grund, warum du zur Gaunerzunft gehörst ... weil sie die Heimat derer ist, die man im Stich gelassen hat. Hier wirst du immer zu essen haben. Man wird dich rächen, man wird dir helfen. Aber begehe nie Verrat .«
Er verstummte, und sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Schulter. Er streifte sie, und die Glut seiner Begierde löste eine fiebrige Unruhe in ihr aus. Sie sah, wie er seine großen Hände öffnete und zu ihr erhob, um sie zu berühren; aber er wagte es nicht.
Da begann er, sie im heimatlichen Dialekt zu beschwören:
»Mein Kleines, sei nicht böse. Warum bist du so trotzig? Es ist doch so einfach! Wir sind beieinander ... allein ... wie früher. Wir haben gut gegessen, gut getrunken. Da bleibt doch gar nichts übrig, als sich zu lieben. Willst mich etwa glauben machen, daß du Angst vor mir hast?«
Angélique lachte auf und zuckte die Schultern.
Er fuhr fort:
»Also komm ... Erinnere dich. Wir haben uns so gut verstanden, wir beide. Wir waren für einander geschaffen, mein Spätzchen ... Ich wußte es, daß du mir einmal gehören würdest. Ich habe es ersehnt. Und jetzt ist es soweit, siehst du?«
»Nein«, sagte sie und schüttelte mit einer eigensinnigen Bewegung ihr langes Haar über ihre Schultern.
»Nimm dich in acht!« schrie er außer sich. »Ich kann dich mit Gewalt nehmen, wenn ich will.«
»Versucht doch. Dann kratze ich dir mit meinen Nägeln die Augen aus.«
»Ich lasse dich von meinen Leuten festhalten«, brüllte er.
Aber sie hörte kaum mehr auf ihn. Wie eine Gefangene, die nichts mehr zu erhoffen hat, lehnte sie ihre Stirn an die eisigen Gitterstäbe der Schießscharte. Sie fühlte sich tief erschöpft. »Die Deinen haben dich im Stich gelassen .« Gleichsam als Echo jenes Satzes, den Nicolas vorhin ausgesprochen hatte, klangen andere auf, scharf wie Fallbeile: »Ich will nicht mehr von Euch reden hören . Ihr müßt verschwinden . Keine Titel, keinen Namen, nichts mehr.«
Und Hortense tauchte auf wie eine Harpyie, den Leuchter in der Hand: »Hinaus! Hinaus!«
Nicolas war es, der recht hatte, Nicolas Calembredaine, der Herkules mit dem schweren und heißen Blut, der bebend hinter ihr stand und fluchte, daß die alten Steine der Tour de Nesle erzitterten. Seinen Lumpen haftete der widerliche Geruch der Stadt an, aber sein Körper - wenn man ihn fest an sich preßte und wütend in ihn hineinbiß, vielleicht würde man dann den unvergeßlichen Geschmack Monteloups wiederfinden .?
Plötzlich schritt sie resignierend an ihm vorbei und begann, vor der Lagerstätte ihr Mieder aus braunem Wollstoff aufzuknöpfen. Dann ließ sie ihren Rock heruntergleiten. Zögernd stand sie einen Augenblick im Hemd. Die Kälte schnitt ihr ins Fleisch, aber ihr Kopf brannte. Rasch legte sie auch das letzte Kleidungsstück ab und streckte sich auf den gestohlenen Mänteln aus.
»Komm«, sagte sie ruhig.
Er starrte sie an. Ihre Gefügigkeit erschien ihm verdächtig. Vorsichtig trat er auf sie zu und entledigte sich dabei seiner Lumpen.
Doch kurz vor der Verwirklichung seiner kühnsten Träume zögerte Nicolas, der ehemalige Knecht.
Der unbestimmte Schein des Feuers am Ufer warf seinen riesenhaften Schatten an die Wand.
»Komm«, wiederholte sie. »Ich friere.«
Tatsächlich, auch sie hatte zu zittern begonnen, aus Kälte vielleicht, aber auch aus mit Angst vermischter Ungeduld angesichts dieses großen, nackten Körpers.
Mit einem Raubtiersprung fiel er über sie her, preßte sie zwischen seinen Armen, als wolle er sie zerbrechen, und stieß immer wieder ein wildes Gelächter aus.
»Ah, jetzt hab’ ich dich! Ah, wie schön das ist. Du gehörst mir. Du entkommst mir nicht mehr, du gehörst mir ... mir ... mir!«
Und mit wilder Hast nahm er sie in Besitz, als wolle er sie ermorden.
Noch zweimal nahm er sie in dieser Nacht. Benommen tauchte sie aus drückendem Schlaf, um die Beute dieses Wesens der Finsternis zu werden, das sie fluchend umklammerte und bezwang, während es sinnlose Worte und tiefe, röchelnde Seufzer ausstieß.
Im Morgengrauen weckte sie ein Geräusch. Sie wagte einen Blick durch halbgeschlossene Lider. Nicolas war schon auf und hatte seine Lumpen angelegt. Er kehrte ihr den Rücken zu und beugte sich über einen Kasten, in dem er etwas zu suchen schien. Nach einer Weile klappte er den Kasten wieder zu und trat mit einem Gegenstand in der Hand vor das Bett. Sie stellte sich schlafend.
Er beugte sich über sie und rief sie mit gedämpfter Stimme an: »Angélique, hörst du mich? Ich muß gehen. Aber vorher möcht’ ich dir sagen . Ich möchte wissen . bist du mir sehr böse wegen heut nacht .? Ich kann nichts dafür. Es ist einfach über mich gekommen. Du bist so schön! Hab’ ich dir wirklich weh getan? Soll ich dir den Großen Matthieu vom Pont-Neuf schicken, damit er nach dir sieht .?«
Er legte seine rauhe Hand auf die perlmutterglänzende Schulter, die unter der Decke sichtbar war, und sie erschauerte unwillkürlich.
»Gib mir Antwort. Ich seh’ genau, daß du nicht schläfst. Schau, was ich für dich ausgesucht hab’. Es ist ein Ring, ein echter. Ich hab’ ihn durch einen Händler vom Quai des Orfèvres prüfen lassen. Sieh ihn dir an . Willst du nicht? Da, ich leg’ ihn neben dich . Und sag mir, was du sonst haben möchtest? Schinken vielleicht, einen feinen Schinken? Er ist ganz frisch von heut morgen. Man hat ihn beim Metzger von der Place de Grève herausgeholt, während er zuschaute, wie einer von den Unsrigen gehenkt wurde. Willst du ein neues Kleid? Ich hab’ welche . Gib Antwort, oder ich werde böse.«
Sie ließ sich herbei, zwischen ihrem wirren Haar hindurchzublinzeln, und sagte in schroffem Ton:
»Ich will eine große Wanne mit ganz heißem Wasser.«
»Eine Wanne?« wiederholte er verblüfft. Er betrachtete sie argwöhnisch.
»Wozu denn?«
»Um mich zu waschen.«
»Gut«, sagte er beruhigt. »Die Polackin wird’s dir herauf bringen. Verlange von ihr, was du haben willst. Und wenn’s nicht klappt, sag mir’s bei meiner Rückkehr. Ich werd’ ihr das Nötige schon beibringen.«
Froh, daß sie einen Wunsch geäußert hatte, wandte er sich zu einem kleinen venezianischen Spiegel auf dem Kaminsims und begann, gefärbtes Wachs auf seine Wange zu kleben, um sein Gesicht unkenntlich zu machen.
Mit einem Ruck setzte sich Angélique auf.
»Das gibt’s nicht«, sagte sie kategorisch. »Ich verbiete dir, Nicolas Merlot, dich in dieser widerlichen Greisenmaske vor mir zu zeigen. Sonst ertrage ich es nicht, daß du mich noch einmal berührst.«
Ein Ausdruck kindlicher Freude hellte das brutale, vom Dasein des Verbrechers bereits gezeichnete Gesicht auf.
»Und wenn ich dir gehorche . dann darf ich’s wieder?«
Sie deckte rasch einen Zipfel des Mantels über ihr Gesicht, um die Bewegung zu verbergen, die das Aufleuchten in den Augen des Banditen Calembredaine in ihr auslöste. Denn es war der altvertraute Blick des kleinen Nicolas, der leichtsinnig und unbeständig gewesen war, aber »kein schlechter Kerl«, wie seine arme Mutter gesagt hatte. Das also konnte das Leben aus einem kleinen Jungen, aus einem kleinen Mädchen machen! In ihrem Herzen quoll Mitleid auf mit ihnen beiden. Sie waren allein und von allen verlassen.
»Möchtest du, daß ich dich wieder liebhabe?« flüsterte er.
Zum erstenmal, seitdem sie einander auf so seltsame Weise wiedergefunden hatten, lächelte sie ihm zu.
»Vielleicht.«
Nicolas hob feierlich den Arm.
»Dann schwör ich’s. Selbst auf die Gefahr hin, daß mich die Schleicher von der Polizei dabei erwischen, wenn ich mir mitten auf dem Pont-Neuf das Zeug vom Gesicht reiße - du wirst mich nie mehr als Calembredaine sehen.«
Er stopfte seine Perücke und die Augenbinde in die Tasche.
»Ich will mich drunten unkenntlich machen.«
Als er hinausgegangen war, rollte sie sich zusammen und versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Es war empfindlich kalt in dem runden Raum, aber sie hatte sich gut eingepackt und empfand es nicht. Die fahle Wintersonne warf rechteckige Lichtflecke auf die grauen, grob zubehauenen Wände.
Ihr Körper war erschöpft und schmerzte, und doch empfand sie etwas wie Wohlbehagen.
»Es tut gut«, sagte sie sich. »Es ist, als ob Hunger und Durst gestillt sind. Man denkt an nichts mehr. Es tut gut, an nichts mehr zu denken.«
Neben ihr funkelte der Diamant des Ringes. Sie lächelte. Nun ja, diesen Nicolas würde sie eben an der Nase herumführen!
Wenn Angélique später dieser Zeiten gedachte, in denen sie in die tiefsten Niederungen hinabgestiegen und in die schlimmsten Scheußlichkeiten verwickelt worden war, pflegte sie nachdenklich und kopfschüttelnd zu murmeln: »Ich war verrückt.«
Und das war es vielleicht auch wirklich, was ihr ermöglichte, in dieser grausigen und erbärmlichen Welt zu leben. Es war wie ein Aussetzen der Sinnesfunktionen, wie der Schlaf des Tieres, das sich vor dem Winter schützt. Ihre Bewegungen und Handlungen ergaben sich aus primitiven Reflexen. Sie wollte essen, wollte es warm haben. Das fröstelnde Bedürfnis nach Schutz drängte sie an Nicolas’ harte Brust und machte sie seinen brutalen und herrischen Umarmungen gefügig.
Sie war die Beute eines zum Banditen gewordenen Knechts, der eifersüchtig, der vor Stolz närrisch war, ihr Herr zu sein, und trotzdem fürchtete sie ihn nicht, ja, sie fand sogar einigen Geschmack an den überströmenden Gefühlen, die er ihr entgegenbrachte.
Seine Freunde waren Mörder und Bettler, seine Wohnung altes Gemäuer, Kähne, Spelunken; seine einzige Welt schließlich war jener gefürchtete, unzugängliche Bezirk des Hofs der Wunder, wohin die Offiziere des Châtelet und die Gerichtsbüttel sich nur am hellen Tage wagten. Und dennoch geschah es, daß Angélique nach jenem geflüsterten »Ich war verrückt« später zuweilen nachdenklich wurde bei der Erinnerung an die Zeit, da sie neben dem berüchtigten Calembredaine über die alten Befestigungswerke und die Brücken von Paris geherrscht hatte.
Es war Nicolas’ Idee gewesen, die Reste der von Karl V. um das mittelalterliche Paris aufgeführten Stadtmauer durch ihm ergebene Strolche und Bettler »einnehmen« zu lassen. Seit drei Jahrhunderten hatte die Stadt ihren steinernen Gürtel gesprengt. Die Mauern des rechten Ufers waren fast völlig verschwunden; die auf dem linken Ufer existierten noch, zerfallen, von Efeu überwuchert, aber voller Rattenlöcher und Schlupfwinkel. Um sie in Besitz zu nehmen, hatte Nicolas Calembredaine einen wohlüberlegten, tückischen und hartnäckigen Krieg geführt, bei dessen Strategie Cul-de-Bois, sein Berater, eine Gerissenheit entwickelt hatte, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.
Zuerst hatte man hier und dort verlauste Kinder mit ihren zerlumpten und keifenden Müttern untergebracht, von der Sorte, wie sie der Armenbüttel nicht verjagen kann, ohne ein ganzes Stadtviertel in Aufruhr zu versetzen.
Dann erschienen die Bettler auf der Bildfläche: Greise und Greisinnen, Krüppel, Blinde, die sich mit wenigem zufrieden gaben, mit einer Mauerlücke, in die das Wasser tropfte, einer einstigen Statuennische, einem Kellerwinkel. Dann hatten die ehemaligen Soldaten mit ihren Degen und mit alten Nägeln geladenen Musketen gewaltsam die besten Orte in Anspruch genommen, die noch bewohnbaren Wachtürme und Torgebäude mit geräumigen Sälen und unterirdischen Gewölben. In ein paar Stunden hatten sie die Handwerkerfamilien vertrieben, die dort billige Unterkunft zu finden hofften. Die armen Leute, die mit den Behörden auf gespanntem Fuße standen, wagten nicht, sich zu beschweren, und waren froh, wenn sie wenigstens ein paar Möbel mitnehmen konnten und mit heiler Haut davonkamen.
Indessen verliefen diese Unternehmungen nicht immer so harmlos. Es gab eine bestimmte Kategorie von »Widerspenstigen« unter den Besitzern. Das waren die Mitglieder anderer Banden der Gaunerzunft, die sich weigerten, den Platz zu räumen. Es kam zu fürchterlichen Kämpfen, für deren Heftigkeit die in Lumpen gehüllten Leichen zeugten, die die Seine in der Morgendämmerung wieder an ihre Ufer spülte.
Am schwersten war die Eroberung des alten Nesle-Turms gewesen, der sich mit seinen ungefügen Zinnen im Winkel der Seine und der alten Gräben erhob. Doch als man sich dort häuslich niederließ - welch ein Wunder! Ein wahres Schloß .!
Calembredaine erkor ihn zu seiner Zufluchtsstätte.
Und da nun stellten die anderen Anführer der Gaunerzunft fest, daß dieser Neuankömmling unter den »Brüdern« das ganze Universitätsviertel und die Umgebung der einstigen Tore von Saint-Germain, Saint-Michel, Saint-Victor bis zum Seineufer beherrschte.
Die Studenten, die sich mit Vorliebe auf dem Pré-aux-Clercs duellierten, die Kleinbürger, die sonntags den Gründling in den ehemaligen Stadtgräben angelten, die schönen Damen, die ihre Freundinnen im Faubourg Saint-Germain oder ihre Beichtväter im Val de Grâce aufsuchen wollten, konnten nicht früh genug ihre Börsen zücken. Ein Schwarm von Bettlern vertrat ihnen den Weg, hielt ihre Pferde auf, versperrte den Kutschen die enge Durchfahrt durch die Tore.
Die Bauern und die Reisenden, die von auswärts kamen, mußten neuerlich Zoll an die Straßenräuber zahlen, die jäh vor ihnen auftauchten, obwohl sie sich längst mitten in Paris befanden. So erweckten die Leute des Calembredaine die alte Stadtmauer Karls V zu neuem Leben, indem sie den Durchlaß fast ebenso erschwerten wie zu den Zeiten, als noch die Zugbrücken aufgezogen und wieder herabgelassen wurden.
Während sie sich in Begleitung von Barcarole oder Cul-de-Bois durch diese Pariser Unterwelt bewegte, wurde Angélique allmählich mit dem System der Räubereien und Erpressungen vertraut, das ihr einstiger Spielgefährte mit so viel Bedacht geschaffen hatte.
»Du bist noch gerissener, als ich dachte«, sagte sie eines Abends zu ihm. »Du hast mehr als Stroh in deinem Kopf.«
Und sie strich ihm mit der Hand über die Stirn.
Solche Gesten, an die er so gar nicht gewöhnt war, brachten den Banditen außer Fassung. Er zog sie auf seine Knie.
»Da staunst du, wie? Hättst es von einem Mistschaufler wie mir nicht erwartet? Aber ein Mistschaufler bin ich nie gewesen, hab’ ich nie sein wollen .« Er spuckte verächtlich auf die Fliesen.
Sie saßen vor dem Kamin des großen Saals in der Tour de Nesle. Hier versammelten sich die Genossen Calembredaines und eine Menge zerlumpten Volks, um ihrem Potentaten ihre Aufwartung zu machen. Wie allabendlich herrschte lärmendes Treiben, und die Gewölbe hallten vom Geklapper der Zinnbecher, von den Flüchen und Rülpsern der Strolche wider. Vor dem prasselnden Feuer, das mit gestohlenen Reisigbündeln genährt wurde, schmiegte sich Angélique in Calembredaines harte Arme. Es gab keine Unze Fett an diesem athletischen Körper. Der kleine Junge von einstmals, der wie ein Eichhörnchen auf die Bäume geklettert war, hatte sich zu einem Herkules mit mächtigen und festen Muskeln ausgewachsen. An seinen breiten Schultern konnte man noch die bäuerliche Herkunft erkennen, wenn er auch längst den Lehm von den Schuhen abgeschüttelt hatte. Er war ein Wolf der Städte geworden, geschmeidig und behende. Wenn seine Arme sich um Angélique schlossen, hatte sie das Gefühl, in einem eisernen Ring gefangen zu sein, den keine Gewalt zu sprengen vermochte. Je nach ihrer Laune wehrte sie sich, oder sie legte mit katzenartiger Bewegung ihr Gesicht an Nicolas’ rauhe Wange. Sie genoß es, wenn sie diese Raubtieraugen aufglimmen sah und sie sich ihrer eigenen Macht bewußt wurde.
Der Stolz, sie zu besitzen, den dieser Mann empfand, war zugleich kränkend und erregend. »Du warst eine Adlige . Du warst mir versagt«, pflegte er zu sagen, »und ich, ich sagte mir: Ich kriege sie . Und ich wußte, daß du kommen würdest . Und jetzt gehörst du mir.«
Sie beschimpfte ihn, aber sie verteidigte sich matt. Ihre Vertrautheit hatte zu tiefe Wurzeln.
»Weißt du, woran ich dachte?« sagte Nicolas. »All die Ideen, auf die ich in Paris gekommen bin, haben mich an unsre gemeinsamen Abenteuer und Unternehmungen erinnert. Wir haben sie immer gründlich vorbereitet, weißt du noch? Nun, als es hieß, all dies hier zu organisieren, sagte ich mir .«
Er hielt inne, um nachzudenken, und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ein junger Bursche namens Flipot, der zu seinen Füßen kauerte, reichte ihm einen Becher Wein.
»Ist schon recht«, brummte Calembredaine und wies den Becher zurück. »Stör uns nicht. Siehst du«, fuhr er fort, »ich sagte mir manchmal: Was hätte Angélique gemacht? Was hätte sie in ihrem klugen Köpfchen ausgeheckt? Und das half mir .«
Er zögerte, dann wagte er eine Liebkosung, wobei er scheu ihre Miene beobachtete. Es war Angéliques Stärke, daß er nie wußte, wie sie seine Zärtlichkeiten aufnehmen würde. Wegen eines Kusses sprang sie ihn mit blitzenden Augen an, drohte sie, sich vom Turm hinabzustürzen, überschüttete sie ihn mit dem Vokabular eines Heringsweibs, das sie sich in beachtlicher Geschwindigkeit angeeignet hatte.
Sie schmollte tagelang und war so abweisend, daß es Beau-Garçon die Sprache verschlug und daß Barcarole ihr aus dem Wege ging. Dann versammelte Calembredaine seine Bande, und jedermann fragte sich betreten, woher diese üble Laune rührte.
Zu andern Stunden wiederum konnte sie sanft und heiter, ja geradezu zärtlich sein. Dann erkannte er sie wieder. Ja, das war sie! Sein ewiger Traum! Das Kind Angélique, das barfuß, in zerrissenen Kleidern, mit Halmen in den Haaren durch die Gegend tollte.
Und ein andermal wurde sie passiv und wie geistesabwesend, sich in alles fügend, was er von ihr wollte, doch so gleichgültig, daß er beunruhigt und verängstigt von ihr ließ. Wirklich ein seltsames Wesen, diese Marquise der Engel .!
Dabei war sie keineswegs berechnend. Ihre erschütterte Nervenkraft ließ sie zwischen extremen Gemütsverfassungen schwanken, zwischen Verzweiflung, Entsetzen und stumpfer oder fast beglückter Hingabe. Aber ihr weiblicher Instinkt hatte ihr die einzig mögliche Art der Verteidigung vorgeschrieben. Wie sie den kleinen Bauerntölpel Merlot unterjocht hatte, so gängelte sie den Banditen, der er geworden war - und entging der Gefahr, durch allzu große Fügsamkeit oder Anmaßung seine Sklavin oder sein Opfer zu werden. Mehr noch als durch heftige Verweigerung steigerte sie durch zögernde Hingabe seine Ergebenheit. Und Nicolas’ Leidenschaft wurde täglich verzehrender.
Angesichts dieser Lage tobte die Polackin vor Wut. Calembredaines bisherige Mätresse konnte ihre plötzliche »Absetzung« nicht verwinden, und das um so weniger, als Calembredaine sie mit der Grausamkeit der echten Tyrannen zu Angéliques Dienerin bestimmt hatte. Sie mußte ihrer Rivalin das heiße Wasser hinaufbringen, mit dem sie sich wusch, eine in der Gaunerwelt so wunderliche Angewohnheit, daß man bis zum Faubourg Saint-Denis davon sprach. In ihrem Zorn verschüttete die Polackin jedesmal die Hälfte des kochenden Wassers auf ihre Füße, aber der einstige Knecht genoß bei seinen Leuten eine solche Autorität, daß sie der gegenüber, die ihr den Liebhaber abspenstig gemacht hatte, kein Wort zu äußern wagte.
Angélique empfing die Dienste und haßerfüllten Blicke des plumpen, braunen Mädchens mit unerschütterlichem Gleichmut. Die Polackin war ein Soldatenmädchen, eine von denen, die im Krieg den Heeren folgen. Sie hatte mehr Erinnerungen an Schlachtengetümmel als ein alter schweizerischer Söldner. Sie konnte überall mitreden, wenn es um Kanonen, Hakenbüchsen und Lanzen ging, denn sie hatte mit allen militärischen Dienstgraden Verhältnisse gehabt. Sie hatte während eines ganzen Feldzugs über ein polnisches Regiment geherrscht, und daher stammte ihr Spitzname. Am Gürtel trug sie ein Messer, das sie bei jeder Gelegenheit zückte, und sie stand im Ruf, aufs trefflichste mit ihm umgehen zu können.
Wenn sie des Abends auf dem Grunde ihres Weinkrugs angelangt war, begann die Polackin, Soldatenlieder zu singen und die »Früheren«, die ehemaligen Krieger, abzuküssen.
Wieder nüchtern geworden, vergaß sie ihre kriegerischen Weisen und dachte nur noch daran, Calembredaine zurückzuerobern. Dabei bot sie alle Mittel ihres skrupellosen Charakters und vulkanischen Temperaments auf.
Nach ihrer Meinung, so erklärte sie, werde Calembredaine ohnehin bald dieses Mädchens überdrüssig sein, das kaum lachte und dessen Augen einen manchmal nicht zu sehen schienen. Gewiß, sie waren Landsleute. Das verbindet; aber sie kannte ihren Calembredaine. Auf die Dauer würde ihm das nicht genügen. Nun ja, und eigentlich wollte sie, die Polackin, auch weiter nichts als an ihm teilhaben. Zwei Frauen, das war für einen Mann schließlich nicht viel. Der Große Coesre hatte sechs .!
Das unvermeidliche Drama kam zum Ausbruch. Es war kurz, aber heftig.
Eines Abends hatte Angélique Cul-de-Bois in dem Schlupfwinkel in der Nähe des Pont Saint-Michel aufgesucht, wo er hauste. Sie hatte ihm eine Wurst gebracht. Cul-de-Bois war das einzige Mitglied der Bande, vor dem sie eine gewisse Achtung empfand. Aber er quittierte ihre Aufmerksamkeiten mit der mürrischen Miene einer Bulldogge, die dergleichen als selbstverständlich empfindet.
Als er an diesem Abend argwöhnisch die Wurst beschnuppert hatte, sah er Angélique forschend an und fragte:
»Wohin willst du jetzt?«
»Nach Nesle.«
»Nein. Schau unterwegs beim Schankwirt Ramez am Pont-Neuf vorbei. Calembredaine ist dort mit den Leuten und der Polackin.«
Er wartete eine Weile, wie um ihr Zeit zu lassen, die Sache zu begreifen, dann sagte er nachdrücklich:
»Hast du kapiert, was du tun sollst?«
»Nein.«
Sie kniete nach ihrer Gewohnheit vor ihm, um mit dem beinlosen Krüppel auf gleicher Höhe zu sein. Der Boden und die Wände dieser Räuberhöhle bestanden aus festgestampfter Erde. Das einzige Möbelstück war eine mit Leder überzogene Truhe, in der Cul-de-Bois seine vier Wämser und drei Hüte aufbewahrte. Das Loch wurde durch eine gestohlene Kirchenampel von köstlicher Goldschmiedearbeit beleuchtet.
»Du gehst in die Kneipe«, erklärte Cul-de-Bois gewichtig, »und wenn du gesehen hast, was Calembre-daine und die Polackin miteinander treiben, nimmst du, was dir grade unter die Finger kommt - einen Topf, eine Flasche -, und haust es ihm auf den Schädel.«
»Wem?«
»Calembredaine, zum Teufel! In solchen Fällen befaßt man sich nicht mit dem Mädchen.«
»Ich habe ein Messer«, sagte Angélique.
»Laß es stecken, du verstehst nicht, mit ihm umzugehen. Und um einem Gauner, der seine Marquise betrügt, eine Lektion zu erteilen, ist ein Schlag über den Schädel noch immer das beste, glaub mir!«
»Aber es ist mir völlig gleichgültig, ob dieser Strolch mich betrügt oder nicht«, sagte Angélique mit einem geringschätzigen Lächeln.
Cul-de-Bois’ Augen funkelten hinter dem Gestrüpp seiner Brauen auf. Er sprach bedächtig.
»Hast kein Recht ... Ich sage sogar: Hast keine Wahl. Calembredaine ist unter den Unsrigen allmächtig. Er hat dich gewonnen. Hast kein Recht mehr, ihn geringschätzig zu behandeln. Hast kein Recht mehr zuzulassen, daß er dich geringschätzig behandelt. Er ist dein Mann.«
Angélique überlief ein Schauer, in dem sich Zorn und dumpfte Wollust mischten.
»Ich will nicht«, murmelte sie mit erstickter Stimme.
Der Krüppel brach in ein bitteres Gelächter aus.
»Ich hab’ auch nicht gewollt, als mir bei Nördlingen eine Kugel beide Beine abrasierte. Sie hat mich nicht nach meiner Ansicht gefragt. Man muß sich eben damit abfinden, das ist alles . und lernen, auf einem Holzteller spazierenzugehen .«
Die Flamme der Ampel verriet alle Bewegungen in Cul-de-Bois’ grobem Gesicht. Angélique fand, daß er einer riesigen Trüffel glich, einem im Dunkel und in der Feuchtigkeit der Erde gewachsenen Pilz.
»Lerne also auch du zwischen den Gaunern zu gehen«, fuhr er mit leiser und eindringlicher Stimme fort. »Tu, was ich dir sage. Andernfalls wirst du sterben.«
Sie warf in einer aufbegehrenden Bewegung das Haar zurück.
»Ich habe keine Angst vor dem Tod.«
»Ich rede nicht von diesem Tod«, brummte er, »sondern von dem andern, dem schlimmsten, der dich in deinem Innern trifft .«
Plötzlich geriet er in Zorn.
»Du zwingst mich dazu, lauter Unsinn zu reden. Ich bemühe mich, dir die Geschichte begreiflich zu machen, Teufel noch eins! Hast kein Recht, dich von einer Polackin ausstechen zu lassen! Hast kein Recht . du nicht! Kapiert?«
Er durchbohrte sie mit einem brennenden Blick.
»Los, steh auf und geh dort hinüber! Nimm die Flasche und den Becher. Bring sie her .«
Und nachdem er Branntwein eingegossen hatte:
»Trink das in einem Zuge aus und dann geh . Schlag ruhig fest zu. Ich kenne meinen Calembredaine. Er hat eine harte Birne .!«
Als Angélique die Spelunke des Auvergnaten Ramez betrat, hielt sie schon auf der Schwelle inne. Drinnen war der Nebel fast ebenso dicht wie draußen. Der Kamin zog schlecht und füllte die Schenke mit Rauch. Ein paar Arbeitsleute saßen mit aufgestützten Ellbogen an den wackligen Tischen und tranken schweigend.
Im Hintergrund des Raums, vor dem Kamin, entdeckte Angélique die vier ehemaligen Soldaten, die Calembredaines Leibwache bildeten: La Pivoine, Gobert, Riquet und La Chaussee. Sodann Barcarole, der zwischen ihnen auf dem Tisch hockte, Jactance, Prudent, Gros-Sac, Mort-aux-Rats, schließlich Nicolas selbst mit der halbnackten Polackin auf dem Schoß, die Trinklieder grölte.
Es war der Nicolas, den sie haßte, der Nicolas mit dem scheußlich entstellten Gesicht Calembredaines.
Dieser Anblick und die Anweisung, die Cul-de-Bois ihr gegeben hatte, weckten ihren Kampfgeist. Kurzerhand nahm sie eine schwere Zinnkanne von einem der Tische, trat unbemerkt hinter Nicolas, nahm ihre ganze Kraft zusammen und schlug blind zu.
Barcarole gab ein erschrockenes »Huh!« von sich. Dann taumelte Nicolas und stürzte kopfüber in die Kaminglut, wobei er die schreiende Polackin mitriß.
Im entstehenden Tumult flüchteten die andern Gäste hinaus. Man hörte sie Mordio schreien, während die »Früheren« wild ihre Degen zogen und Jactance Nicolas’ Körper aus dem Kamin zu zerren suchte.
Plötzlich vernahm man von der Gasse Pferdegetrappel, und eine schrille Stimme rief:
»Macht euch aus dem Staub, Brüder! Der böse Feind ist vor der Tür!«
Im nächsten Augenblick erschien ein Sergeant des Châtelet mit einer Pistole in der Hand auf der Schwelle, aber der dichte Rauch und die fast völlige Finsternis in der Schenke ließen ihn kostbare Zeit verlieren. Denn schon hatten die Leibwächter den regungslosen Körper ihres Anführers in den Hinterraum und durch einen andern Ausgang davongeschleppt.
»Tummel dich, Marquise der Engel!« brüllte Gros-Sac.
Sie sprang über eine umgestürzte Bank, um ihm zu folgen, doch eine harte Faust packte sie, und eine Stimme rief:
»Ich hab’ das Banditenweib, Sergeant.«
Plötzlich sah Angélique neben sich mit erhobenem Dolch die Polackin auftauchen.
»Ich werde sterben«, dachte Angélique. Die Klinge blitzte und fuhr durch die Finsternis, und der Büttel, der Angélique festhielt, sackte röchelnd zusammen.
Kaltblütig stieß die Polackin einen Tisch zwischen die Beine der herzueilenden Polizisten, zog Angélique zum Fenster, und beide sprangen auf die Gasse. Eine Pistolenkugel klatschte hinter ihnen aufs Pflaster.
In der Tour de Nesle bettete man Calembredaine auf den Tisch des großen Saals.
Angélique trat zu ihm, riß ihm die widerliche Maske ab und untersuchte seine Wunde. Sie war bestürzt, als sie ihn so regungslos und blutverschmiert daliegen sah. Ihrem Gefühl nach hatte sie nicht so heftig zugeschlagen; seine Perücke hätte ihn schützen müssen. Aber der Fuß der Kanne hatte wohl die Schläfe verletzt. Außerdem hatte er sich beim Sturz die Stirn verbrannt.
»Setzt Wasser auf den Herd«, befahl sie.
Ein paar Burschen beeilten sich, ihr zu gehorchen. Man wußte ja, daß heißes Wasser die Manie der Marquise der Engel war, und der Augenblick war nicht dazu angetan, ihr zu widersprechen. Sie hatte Calembredaine niedergeschlagen, während selbst die Polackin es nicht gewagt hatte, ihre Drohungen auszuführen. Und sie hatte es schweigend getan, im richtigen Moment und fein säuberlich ... Da gab es gar nichts. Man bewunderte sie, und niemand bedauerte Calembredaine, denn man wußte, daß er einen harten Schädel hatte.
Unversehens erschollen draußen Fanfarentöne. Die Tür sprang auf, und der Große Matthieu, der Quacksalber-Zahnarzt vom Pont-Neuf, erschien.
Er hatte es nicht verabsäumt, selbst zu dieser späten Stunde seine berühmte gefaltete Halskrause samt seiner Kette aus Backenzähnen umzulegen und sich von seinen Zimbeln und seiner Trompete begleiten zu lassen.
Wie alle Scharlatane stand auch der Große Matthieu mit einem Fuß in der Gaunerzunft und mit dem andern in den Vorzimmern der Fürstlichkeiten. Er behandelte Dirnen und Spitzbuben aus angeborener Gutmütigkeit und um sich bei ihnen beliebt zu machen und die Großen aus Ehrgeiz und Geldgier. Er hätte bei den vornehmen Damen, die er vertraulich tätschelte und ganz nach Laune einmal als Hoheit, das andere Mal als Dirne oder Gaunerliebchen behandelte, tolle Karriere machen können. Aber nachdem er durch ganz Europa gereist war, hatte er sich vorgenommen, seine Tage auf dem Pont-Neuf zu beschließen, von dem ihn niemand vertreiben sollte. Und auf ihn hatte der Schmutzpoet ein Lied verfaßt, das die Leierkastenmänner an den Straßenecken sangen:
». Für Mensch und Tier, was auch sein Leiden sei, verordnet immer er die gleiche Arzenei .«
Mit unverhohlener Befriedigung betrachtete er den noch immer regungslosen Nicolas. »Ist ja ‘ne hübsche Bescherung. Hast du ihn so zugerichtet?« fragte er Angélique.
Bevor sie noch antworten konnte, hatte er mit fester Hand ihre Kinnbacken gepackt, um ihr Gebiß zu untersuchen.
»Nichts zum Ziehen«, sagte er verdrossen. »Gehen wir ein Stückchen tiefer. Bist du schwanger?«
Angélique entwand sich mit einer jähen Bewegung dieser regelrechten Auskultation.
»Aufgeblasener Salbtopf!« schrie sie wütend. »Man hat Euch nicht hierherkommen lassen, um mich abzufingern, sondern damit Ihr Euch dieses Mannes hier annehmt .«
»Hoho, die Marquise!« rief der Große Matthieu aus. »Hoho ... Hohoho ...!«
Seine »Hohos« steigerten sich zu dröhnendem Gelächter, das in den Gewölben widerhallte, während er sich mit beiden Händen den schütternden Bauch hielt. Er war ein Riese mit hochrotem Gesicht, der stets orangefarbene oder pfauenblaue Überröcke trug. Unter dem ringsum mit Federn geschmückten Hut quoll eine üppige Perücke hervor. Wenn er so in die Gaunerwelt hinabstieg, unter die grauen Lumpen und die widerlichen Geschwüre, strahlte er wie die leibhaftige Sonne.
Als er sich ausgelacht hatte, stellte man fest, daß Nicolas Calembredaine zu sich gekommen war. Er hatte sich aufgerichtet, und der verdrossene Ausdruck seines Gesichts sollte vermutlich über seine Verlegenheit hinwegtäuschen. Er wagte nicht, Angélique anzusehen.
»Was gibt’s denn da zu lachen?« grollte er. »Jactance, du Trottel, hast wieder mal das Fleisch anbrennen lassen. Es stinkt nach geröstetem Schwein in dieser Bude.«
»Pah! Du selbst bist das geröstete Schwein«, brüllte der Große Matthieu, während er sich die Lachtränen mit einem karierten Taschentuch aus den Augen wischte. »Und die Polackin auch! Schau sie dir an! Ihr halber Rücken ist schön durchbraten! Hohoho .!«
Und abermals lachte er aus vollem Halse.
In jener Nacht ging es höchst vergnügt zu bei den Gaunern im »Palais de Nesle« gegenüber dem Louvre.
»Schau dir mal den dort an«, sagte La Pivoine zu Angélique, »der da mit seinem in die Stirn gezogenen Hut und hochgeschlagenem Mantelkragen am Ufer herumspaziert ... Weißt du, wen ich meine? Ja? Nun, das ist einer von der Polente.«
»Polente?«
»Na ja, ein Polizeispion, wenn du lieber willst.«
»Woher weißt du?«
»Ich weiß es nicht, ich spür’s.«
Und der ehemalige Soldat fuhr sich über seine knollige, dunkelrote Säufernase, die ihm den Spitznamen »Pfingstrose« eingetragen hatte.
Angélique lehnte mit aufgestützten Ellbogen an der Brüstung der kleinen, gewölbten Brücke, die über die Gräben vor der Porte de Nesle führte. Eine fahle Sonne löste den Nebel auf, der seit ein paar Tagen über der Stadt lag. Das andere Ufer, das des Louvre, war noch unsichtbar. Zerlumpte Kinder angelten Fische in den Gräben, und ein Knecht wusch zwei Pferde am Flußufer, nachdem er sie hatte trinken lassen.
Der Mann, auf den La Pivoine mit dem Ende seines Pfeifenrohrs gedeutet hatte, wirkte wie ein harmloser Spaziergänger, wie ein kleiner Bürger, der sich vor dem Essen noch ein wenig auf der Uferböschung der Seine ergehen will. Er schaute zu, wie der Knecht seine Tiere abrieb, und von Zeit zu Zeit erhob er den Blick zur Tour de Nesle, als interessiere er sich für dieses verfallende Zeugnis einer weit zurückliegenden Epoche.
»Weißt du, wen er sucht?« begann La Pivoine von neuem und blies Angélique seinen Tabaksrauch ins Gesicht.
Sie trat ein wenig zur Seite.
»Nein.«
»Dich.«
»Mich?«
»Ja, dich, die Marquise der Engel.«
Angélique lächelte unsicher.
»Du phantasierst.«
»Was tu ich?«
»Nichts, ich wollte nur sagen, daß du dir Dinge einredest. Niemand sucht mich. Niemand denkt an mich. Ich existiere nicht mehr.«
»Möglich. Aber im Augenblick ist es vor allem der Büttel Martin, der nicht mehr existiert . Du erinnerst dich, bei Ramez, dem Auvergnaten, hat Gros-Sac dir zugerufen: Tummel dich, Marquise der Engel!< Das ist den Kerlen im Ohr geblieben, als sie den Büttel mit aufgeschlitztem Bauch fanden. Marquise der Engel, haben sie sich gesagt, das ist das Banditenweib, das ihn umgelegt hat. Und man sucht dich. Ich weiß es, weil wir andern, die ehemaligen Soldaten, ab und zu mit den Kriegskameraden, die ins Wachkorps des Châtelet eingetreten sind, einen heben gehen. Dabei erfährt man allerlei.«
»Pah!« machte Calembredaines Stimme hinter ih-nen. »Darüber brauchen wir uns keine grauen Haare wachsen zu lassen. Wenn’s drauf ankäme - den Burschen da drüben hätten wir rasch in die Seine befördert. Was können die gegen uns tun? Sie sind kaum hundert, während wir .«
Er machte eine stolze und herrische Bewegung, als sammle er die ganze Stadt um sich. Flußaufwärts war durch den Nebel der Lärm des Pont-Neuf und seiner Marktschreier zu hören.
Eine Kutsche näherte sich der Brücke, und sie traten zur Seite, um sie vorbeizulassen; doch am Ende der Brücke scheuten die Pferde, denn ein Bettler hatte sich vor ihre Hufe geworfen. Es war Pain-Noir, einer der Gauner Calembredaines, ein weißbärtiger Greis, behängt mit dicken Rosenkränzen und PilgerMuscheln.
»Erbarmen!« leierte er. »Habt Erbarmen mit einem armen Pilger, der auf dem Wege nach San Jago de Compostella ist, um ein Gelübde abzulegen, und der nicht mehr die Mittel hat, seine Reise fortzusetzen. Gebt mir ein paar Sols, und ich werde auf dem Grabe des San Jago für Euch beten.«
Der Kutscher versetzte ihm einen heftigen Peitschenhieb.
»Heb dich hinweg, Muschelträger des Teufels!«
Eine Dame streckte den Kopf zum Kutschenfenster heraus. Unter ihrem halbgeöffneten Umhang schimmerte an ihrem Halse schönes Geschmeide.
»Was gibt’s denn, Lorrain? Treibt Eure Pferde an. Ich will zur Komplete in der Abtei von Saint-Ger-main-des-Pres sein.«
Nicolas trat ein paar Schritte vor und legte die Hand auf den Türgriff.
»Fromme Dame«, sagte er und nahm seinen durchlöcherten Hut ab, »wollt Ihr, die Ihr Euch zur Komplete begebt, diesem armen Pilger Eure Opfergabe verweigern, der bis nach Spanien wandert, um zu Gott zu beten?«
Die Dame musterte die unheimliche Gestalt, die da in der Abenddämmerung vor ihr erschien, das unrasierte Gesicht, die unter den Lumpen sichtbaren muskelbepackten Arme, das Schlächtermesser im Gürtel, und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
»Zu Hilfe! Mörder!«
La Pivoine hatte dem Kutscher bereits seinen Degen auf den Bauch gesetzt. Pain-Noir und Flipot, der eine der Jungen, die in den Gräben geangelt hatten, hielten die Pferde fest. Prudent lief herbei. Calembredaine war ins Innere der Kutsche gesprungen und erstickte die Rufe der Frau mit brutaler Hand.
»Dein Halstuch!« rief er Angélique zu. »Schnell, dein Halstuch!« Er riß es ihr aus den Händen und stopfte es der Überfallenen in die Kehle.
»Tummel dich, Prudent! Reiß ihr den Trödel ab! Hol ihr den Zaster raus!«
Die Frau wehrte sich verzweifelt! Prudent mühte sich schwitzend, den Schmuck zu lösen, eine kleine goldene Kette und eine schöne Brosche mit mehreren großen Brillanten.
»Hilf mir, Marquise der Engel«, stöhnte er. »Ich werd’ mit all dem Kram nicht fertig.«
»Tummel dich«, schimpfte Calembredaine, »wir müssen uns beeilen. Sie entschlüpft mir wie ein Aal.«
Angéliques Hände fanden den Verschluß. Es war ganz einfach. Sie hatte ja selbst dergleichen getragen .
»Fahr zu, Kutscher!« rief die spöttische Stimme La Pivoines.
Die Kutsche rollte knarrend und polternd die Rue du Faubourg Saint-Germain hinunter. Der Kutscher, froh, mit der Angst davongekommen zu sein, ließ die Zügel schleifen. Gleich darauf vernahm man aufs neue die Rufe der Frau, der es gelungen war, sich von ihrem Knebel zu befreien.
Angélique hatte die Hände voller köstlichen Goldes.
»Bring den Leuchter«, rief Calembredaine.
Im Saal des Turms versammelten sie sich um den Tisch und betrachteten den funkelnden Schmuck, den Angélique auf ihm ausgebreitet hatte.
»Ein gelungener Streich!«
»Pain-Noir kriegt seinen Anteil. Er hat’s eingefädelt.«
»Immerhin war’s ’ne riskante Sache«, seufzte Prudent. »Es war ja noch hell.«
»Solche Sachen gehen nicht schief, das wirst du noch lernen, du Dummkopf! Und was du für ein Ausbund an Geschicklichkeit bist! Hätte die Marquise der Engel dir nicht geholfen .«
Nicolas’ Blick glitt zu Angélique hinüber. Sein Gesicht verzog sich zu einem seltsamen Siegerlächeln.
»Du kriegst auch deinen Anteil«, murmelte er und warf ihr die goldene Kette zu. Sie stieß sie mit Abscheu zurück.
»Immerhin, es war riskant«, wiederholte Prudent. »Wo der Spitzel ein paar Schritte entfernt stand, war’s kein Kinderspiel.«
»Bei dem Nebel hat er nichts gesehen, und wenn er was gehört hat, rennt er jetzt noch durch die Gegend. Was hätte er denn tun können, he? Ich hab’ nur vor einem einzigen Angst, aber der hat sich schon lange nicht mehr sehen lassen. Hoffen wir, daß er irgendwo in einem stillen Winkel abgemurkst worden ist. Schade. Ich hätte gern seine Haut gehabt und die von seinem verdammten Hund dazu.«
»Oh, der Hund! Der Hund!« sagte Prudent entsetzt und fuhr sich mit der Hand an die Kehle. »Da hat er mich gepackt .«
»Der Mann mit dem Hund .«, murmelte Calembredaine. »Da fällt mir ein, ich hab’ dich einmal mit ihm gesehen, in der Nähe des Petit Pont. Kennst du ihn?« Er sah Angélique nachdenklich an, um dann abermals auf beängstigende Weise zu lächeln. »Du kennst ihn«, wiederholte er. »Das ist ausgezeichnet. Du wirst uns helfen, ihn zu kriegen, wie? Jetzt, da du zu uns gehörst.«
»Er hat Paris verlassen. Er kommt nicht wieder, ich weiß es«, sagte Angélique mit tonloser Stimme.