Von der Schwelle des größten Salons aus erblickte Angélique den Fürsten Condé, den Madame du Plessis, die Herzogin von Beaufort und die Gräfin de Richeville umgaben. Der Marquis du Plessis und sein Sohn Philippe saßen ebenfalls am Tisch des Fürsten, außerdem einige andere Damen und junge Herren. Die braune Kutte des Italieners Exili brachte eine eigenartige Note in das Bild der Spitzen, der Bänder, der kostbaren, mit Gold und Silber bestickten Stoffe. Wäre Baron de Sancé zur Stelle gewesen, hätte er das Gegenstück zu der mönchischen Kargheit gebildet, aber Angélique sah sich vergeblich nach ihrem Vater um.

Plötzlich erkannte sie einer der Pagen, der mit einer roten Kristallflasche vorbeikam. Es war derselbe, der sich wegen der Bourrée über sie lustig gemacht hatte.

»Ach, da ist ja die Baronesse Trauerkleid«, scherzte er. »Was wollt Ihr trinken, Nanon? Apfelmost oder gute Sauermilch?«

Sie streckte ihm die Zunge heraus, ließ ihn verdutzt stehen und ging auf den Fürstentisch zu.

»Herr des Himmels, was kommt denn da an?« rief die Herzogin von Beaufort.

Madame du Plessis folgte der Richtung ihres Blicks, entdeckte Angélique und rief abermals ihren Sohn zu Hilfe: »Philippe! Philippe! Seid so gütig und führt Eure Base an den Tisch der Ehrendamen.«

Der Jüngling richtete seinen mürrischen Blick auf Angélique. »Da ist ein Schemel«, sagte er, indem er auf einen leeren Platz neben sich wies.

»Nicht hier, Philippe, nicht hier. Ihr hattet diesen Platz für Mademoiselle de Senlis reserviert.«

»Mademoiselle de Senlis hätte sich etwas mehr beeilen sollen. Wenn sie kommt, wird sie feststellen, daß sie ersetzt worden ist . vorteilhaft«, schloß er mit einem kurzen ironischen Lächeln. Seine Nachbarn lachten laut.

Indessen setzte sich Angélique. Sie war schon zu weit gegangen, um noch ausweichen zu können. Sie wagte nicht, nach ihrem Vater zu fragen, und die funkelnden Gläser, die Karaffen, die Diamanten der Damen blendeten sie so sehr, daß ihr fast schwindlig wurde. Um sich Haltung zu geben, straffte sie sich, wölbte ihre Brust und warf ihr schweres, goldblondes Haar zurück. Es wollte ihr scheinen, als hefteten einige Herren Blicke auf sie, die von einem gewissen Interesse zeugten. Einen Augenblick lang starrte sie das Raubvogelauge des ihr beinahe gegenübersitzenden Fürsten Condé mit arroganter Verblüffung an.

»Beim Teufel, Ihr habt da ja seltsame Verwandte, Monsieur du Plessis. Was ist das für ein graues Entchen?«

»Eine junge Nichte aus der Provinz, Hoheit. Ach, bedauert mich ein wenig: Zwei Stunden lang habe ich heute abend das Gerede ihres freiherrlichen Vaters über mich ergehen lassen müssen. Und wißt Ihr, was er von mir verlangte? Daß ich Steuererlaß für seine Maulesel wie für seine Produktion von - faßt Euch: Blei erwirke, das er, wie er behauptet, in fertigen Barren unter den Beeten seines Gemüsegartens findet. Ich habe noch nie einen solchen Unsinn gehört.«

»Der Teufel soll die Kuhjunker holen!« brummte der Fürst. »Sie machen mit ihren Bauernfaxen unsere Wappen lächerlich.«

Die Damen wußten sich vor Lachen nicht zu fassen.

»Habt ihr die Feder auf seinem Hut gesehen?«

»Und seine Schuhe, an deren Absätzen noch das Stroh klebte .!«

Angéliques Herz klopfte so heftig, daß sie meinte, ihr Nachbar Philippe müsse es hören. »Ich kann nicht zulassen, daß man meinen Vater so beleidigt«, dachte sie. Sie holte tief Atem.

»Es mag sein, daß wir Bettler sind«, sagte sie mit sehr lauter und klarer Stimme, »aber wir sind jedenfalls nicht darauf aus, den König zu vergiften!«

Das Lächeln erstarb auf den Gesichtern, und es trat eine bedrückende Stille ein, die sich allmählich auch den Gästen an den übrigen Tischen mitteilte. Alles schaute in die Richtung des Fürsten Condé.

»Das sind ja seltsame Worte«, sagte endlich der Fürst, der sich mühsam beherrschte. »Diese junge Person weiß nicht, was sie redet. Sie ist noch völlig in ihren Ammenmärchen befangen .«

»Jetzt wird er mich gleich lächerlich machen, man wird mich hinausjagen und mir eine Tracht Prügel versprechen«, dachte Angélique verzweifelt. Sie beugte sich ein wenig vor und warf einen Blick zum Ende des Tisches.

»Man hat mir gesagt, Signor Exili sei der größte Experte des Königreichs in der Kunst des Giftmischern.«

Dieser neue in den Teich geworfene Kieselstein erzeugte heftige Wellen. Ein entsetztes Gemurmel erhob sich.

»Oh! Dieses Mädchen ist vom Teufel besessen!« rief Madame du Plessis aus, indem sie wütend in ihr kleines Spitzentaschentuch biß. »Das ist nun das zweitemal, daß sie mich mit Schande überschüttet. Sie sitzt da wie eine Puppe mit Glasaugen, und dann tut sie mit einem Male den Mund auf und sagt fürchterliche Dinge!«

»Fürchterliche! Weshalb fürchterliche?« protestierte sanft der Fürst, der Angélique nicht aus den Augen ließ. »Sie wären es, wenn sie auf Wahrheit beruhten. Aber es sind nichts als Schwafeleien eines kleinen Mädchens, das den Mund nicht halten kann.«

»Ich werde den Mund halten, wenn es mir paßt«, erklärte Angélique klipp und klar.

»Und wann wird es Euch passen, Mademoiselle?«

»Wenn Ihr aufhört, meinen Vater zu beleidigen, und wenn Ihr ihm den kleinen Gefallen getan habt, um den er Euch bittet.«

Fürst Condé lief plötzlich rot an. Der Skandal war auf seinem Höhepunkt. Im Hintergrund der Galerie stieg man schon auf Stühle.

»Der Teufel hole ... der Teufel hole ...!« stieß der Fürst mit wutschäumender Stimme hervor. Er erhob sich brüsk und streckte den Arm aus, als triebe er seine Truppen zum Sturm auf die spanischen Gräben.

»Folgt mir!« brüllte er.

»Er wird mich umbringen«, sagte sich Angélique. Und der Anblick des zornigen großen Herrn ließ sie vor Angst und Vergnügen erzittern.

Indessen folgte sie ihm, das kleine graue Entchen dem großen, bändergeschmückten Vogel.

»Hier sind wir allein«, sagte Condé unvermittelt, indem er sich umwandte. »Mein Fräulein, ich will nicht mit Euch zanken, aber Ihr müßt mir auf meine Fragen Antwort geben.«

Die süßliche Stimme flößte Angélique mehr Furcht ein als seine Zornesausbrüche. Sie sah sich in einem verlassenen Boudoir allein mit diesem mächtigen Manne, dessen Intrigen sie durchkreuzte, und sie begriff, daß sie sich soeben auf eine ebensolche eingelassen hatte und in ihr gefangen war wie in einem Spinnennetz. Sie trat den Rückzug an, stammelte und spielte ein wenig das bäuerliche Dummchen.

»Ich habe doch nichts Böses sagen wollen.«

»Weshalb habt Ihr eine solche Beleidigung am Tische eines Onkels erfunden, den Ihr achtet?«

Sie begriff, daß er sie zu einem Geständnis veranlassen wollte, zögerte, wog das Für und Wider ab. In Anbetracht dessen, was sie schon gesagt hatte, wäre die Behauptung, sie sei völlig ahnungslos, mehr als unglaubwürdig gewesen.

»Ich habe nicht erfunden ... ich habe nur Dinge wiederholt, die man mir gesagt hat«, murmelte sie. »Signor Exili sei sehr geschickt in der Herstellung von Gift ... Aber was den König betrifft, ist alles frei erfunden. Ich hätte es nicht tun sollen. Ich war zornig.«

Sie spielte verlegen an der Schließe ihres Gürtels.

»Wer hat Euch das gesagt?«

Angéliques Phantasie arbeitete fieberhaft.

»Ein ... ein Page. Ich weiß seinen Namen nicht.«

»Könntet Ihr ihn mir zeigen?«

»Ja.«

Er führte sie zum Eingang der Salons zurück. Sie bezeichnete ihm den Pagen, der sich über sie lustig gemacht hatte.

»Der Teufel hole diese Burschen, die an den Türen lauschen!« knurrte der Fürst. »Wie heißt Ihr, mein Fräulein?«

»Angélique de Sancé.«

»Hört zu, Mademoiselle de Sancé, es ist nicht gut, bedenkenlos Worte zu wiederholen, die ein Mädchen Eures Alters nicht zu verstehen vermag. Das kann Euch und Eurer Familie Schaden bringen. Ich will diesen Zwischenfall vergessen. Ich mache mich sogar anheischig, den Fall Eures Vaters zu prüfen und zu sehen, ob ich etwas für ihn tun kann. Aber welche Garantie bekomme ich für Euer Schweigen?«

Sie hob ihre grünen Augen zu ihm.

»Ich weiß genauso zu schweigen, wenn ich Genugtuung erlangt habe, wie zu reden, wenn man mich beleidigt.«

»Potz Teufel, wenn Ihr erst zur Frau erwachsen seid, wird sich mancher Mann aufhängen, nachdem er Euch begegnet ist«, sagte der Fürst.

Doch der Schein eines Lächelns lief dabei über sein Gesicht. Er schien nicht zu argwöhnen, sie könne mehr wissen, als sie ihm gesagt hatte. Condé war ein impulsiver und überdies unbesonnener Mensch, und es fehlte ihm jeglicher psychologischer Spürsinn. Nachdem sich nun die erste Erregung bei ihm gelegt hatte, kam er zu dem Schluß, daß es sich um nichts anderes als Klatsch handeln konnte.

Beruhigt kehrte er in die Salons zurück und besänftigte den Aufruhr der Gesellschaft. »Eßt, eßt, meine Freunde! Es besteht kein Anlaß zur Verstimmung. Der kleine Frechdachs wird sich entschuldigen.«

Angélique verbeugte sich vor Madame du Plessis.

»Ich bitte Euch um Vergebung, Madame, und um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.«

Man lachte ein wenig über die Geste der Marquise, die, unfähig zu sprechen, auf die Tür wies.

Doch vor dieser Tür entstand ein neuer Auflauf.

»Meine Tochter! Wo ist meine Tochter?« rief Baron Armand.

»Der Herr Baron verlangt nach seiner Tochter«, schrie ein frecher Lakai. Zwischen den eleganten Gästen und den livrierten Dienern wirkte der arme Landedelmann wie eine dicke, schwarze, eingesperrte Hummel. Angélique lief zu ihm.

»Kind«, seufzte er, »du machst mich wahnsinnig. Seit über drei Stunden suche ich dich in der Dunkelheit zwischen Sancé, dem Pavillon von Molines und Plessis. Welch ein Tag, mein Kind! Welch ein Tag!«

»Laß uns gehen, Vater. Laß uns rasch gehen, ich beschwöre dich!« flüsterte sie und zog ihn hinaus.

Sie waren bereits auf der Freitreppe, als die Stimme des Marquis du Plessis sie zurückrief.

»Einen Augenblick, Herr Vetter. Der Fürst möchte sich gerne einen Moment mit Euch unterhalten. Es handelt sich um die Zollabgaben, von denen Ihr mir spracht .«

Der Rest war nicht mehr zu verstehen, da die beiden Männer wieder ins Haus getreten waren.

Angélique setzte sich auf die unterste Stufe der Freitreppe und wartete auf ihren Vater. Mit einem Male kam es ihr vor, als sei sie jeglichen Gedankens, jeglichen Willens beraubt. Ein kleiner weißer Affenpinscher kam heran und beschnüffelte sie. Sie streichelte ihn mechanisch.

Als Baron de Sancé wieder erschien, nahm er seine Tochter beim Handgelenk. »Ich fürchtete schon, du seist wieder fortgelaufen. Du hast wirklich den Teufel im Leib. Fürst Condé hat mir in bezug auf dich so bizarre Komplimente gemacht, daß ich nicht recht wußte, ob ich mich entschuldigen sollte, dich in die Welt gesetzt zu haben.«

Ein wenig später, als ihre Reittiere gemächlich durch die Finsternis trotteten, meinte Baron de Sancé kopfschüttelnd:

»Ich werde aus diesen Leuten nicht klug. Man hört mich hohnlächelnd an. Der Marquis legt mir an Hand von Zahlen dar, wieviel gespannter seine finanzielle Lage ist als die meinige. Man läßt mich gehen, ohne mir auch nur ein Glas Wein anzubieten, und dann holen sie mich plötzlich zurück und sagen mir alles zu, was ich will. Nach den Worten des Fürsten wird mir die Befreiung von den Zollgebühren mit Wirkung

vom nächsten Monat gewährt werden.«

»Um so besser, Vater«, murmelte Angélique.

Sie lauschte dem nächtlichen Gesang der Unken, der die Nähe des Moors und des alten befestigten Schlosses verriet. Plötzlich war es ihr zum Weinen zumute.

»Glaubst du, daß Madame du Plessis dich als Hofdame nehmen wird?« fragte der Baron.

»O nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Angélique aus tiefster Überzeugung.

Die Reise nach Poitiers blieb Angélique in ziemlich unerfreulicher Erinnerung. Man hatte zu diesem Zweck eine uralte Kutsche schlecht und recht zusammengenagelt, in der sie mit Hortense und Madelon Platz nahm. Ein Diener lenkte das Maultiergespann. Raymond und Gontran bestiegen zwei reinrassige Pferde, die ihr Vater ihnen geschenkt hatte. Es hieß, die Jesuiten hätten in ihren neuen Kollegiengebäuden Ställe, die den Reittieren der jungen Edelleute vorbehalten blieben.

Zwei schwere Lastpferde vervollständigten die Karawane. Das eine trug den alten Wilhelm, der mit der Eskortierung seiner jungen Herren beauftragt war. Allzu viele Gerüchte über Unruhen und Kriege gingen im Lande um. Es hieß, La Rochefoucauld wiegle das Poitou zugunsten des Fürsten Condé auf. Er werbe Soldaten und beschlagnahme einen Teil der Ernten, um die Angeworbenen zu ernähren. Wer Soldaten sagt, sagt Plünderer, sagt Hungersnot und Armut, sagt Räuber und Vagabunden an Straßenkreuzungen.

Der alte Wilhelm also war da, die Lanze auf den Steigbügel gestützt, den alten Degen an der Seite.

Doch die Reise verlief ruhig.

Die Nacht wurde in einer Herberge verbracht, an einer finsteren Wegkreuzung, wo man nur das Pfeifen des Windes in den entblätterten Bäumen hörte.

Der Herbergsvater geruhte, ihnen ein klares, Fleischbrühe genanntes Wasser vorzusetzen sowie einige Käse, die sie beim Schein einer kümmerlichen Unschlittkerze verzehrten.

Von Zeit zu Zeit hallte der Galopp eines Pferdes auf der vom Frost gehärteten Straße. Aber selten hielt ein Wagen an. Die vornehmen Reisenden suchten lieber die Schlösser guter Freunde auf, als die Nacht in einer einsamen Herberge zu verbringen, wo man Gefahr lief, zumindest ausgeplündert zu werden. In der Wirtsstube saßen nur zwei oder drei Hausierer, ein jüdischer Kaufmann und vier Postkuriere. Sie rauchten lange Pfeifen und tranken einen fast schwarzen Wein. Madelon wurde es immer beklommener ums Herz.

Als es Zeit zum Schlafengehen wurde, fand man nur ein einziges Bett vor, das jedoch so groß war, daß alle fünf darin Platz fanden; die drei Mädchen am Kopfende, die beiden Jungen am unteren. Der alte Wilhelm legte sich an die Tür, der Diener zu den Pferden im Stall.

Sie hatten noch eine Tagereise vor sich. Da sie auf den ausgefahrenen und hartgefrorenen Wegen wie ein Sack voller Nüsse durchgeschüttelt wurden, fühlten sich die drei Schwestern völlig zerschlagen. Nur ganz selten begegnete man den Resten der römischen Heerstraße mit ihren großen, regelmäßigen Steinplatten. Vor den Brücken mußte man zuweilen stundenlang in der eisigen Kälte warten, da die Zollbeamten meistens träge und geschwätzige Leute waren, für die jeder Passant willkommene Gelegenheit zu einem kleinen Plausch darstellte.

Angélique konnte nicht umhin, einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen, als am Abend des zweiten Tages Poitiers mit seinen blaßrosa gedeckten, einen Hügel emporklimmenden Häusern auftauchte. Es war ein klarer Wintertag, und man konnte sich in die südlichen Provinzen versetzt glauben, deren Schwelle das Poitou darstellt, so zart war der Himmel über den Ziegeldächern. Die Glocken läuteten, einander antwortend, das Angelus.

Diese Glocken sollten von nun an fast fünf Jahre lang Angéliques Tagesablauf bestimmen. Poitiers war eine Stadt der Kirchen, der Klöster, der Kollegien. Die Glocken regelten das Leben dieser ganzen Schar von Soutanen, dieser Armee von Studenten, die im selben Maße lärmten, wie ihre Lehrer flüsterten. Priester und Gymnasiasten begegneten einander an den Kreuzungen der ansteigenden Straßen, im Dämmerlicht der Höfe, auf den Plätzen, die sich in terrassenförmiger Anordnung den zur Stadt Pilgernden darboten.

Die Sancé-Kinder trennten sich auf dem Domplatz. Das Kloster der Ursulinerinnen lag etwas links ab und beherrschte den Fluß Clain. Die Schule der Jesuitenpatres befand sich ganz oben auf der Höhe. In ihrer jugendlichen Unbeholfenheit wußten sie einander nichts zu sagen, und nur die in Tränen aufgelöste Madelon küßte ihre beiden Brüder.

So schloß sich die Klosterpforte hinter Angélique. Sie brauchte lange, bis sie begriff, daß das Gefühl des Erstickens, das sie bedrängte, von der plötzlichen Umweltveränderung herrührte. Mauern und immer wieder Mauern und dazu Gitter an den Fenstern. Ihre Gefährtinnen wirkten nicht sympathisch auf sie: Immer hatte sie mit Knaben gespielt, kleinen Bauernjungen, die sie bewunderten und ihr gehorchten. Hier, zwischen jungen Damen von hoher Abkunft und gesichertem Vermögen, konnte Angéliques Platz nur in den letzten Reihen sein.

Sie mußte sich auch der Tortur des Fischbein-schnürleibs unterziehen, der jedes Mädchen zu einer aufrechten Haltung zwang und es für sein ganzes Leben an das Gehabe einer stolzen Königin gewöhnte. Die kräftige und muskulöse, dabei empfindsame Angélique hätte auf diese Zwangsjacke gern verzichtet. Aber es handelte sich da um eine Vorschrift, die sich keineswegs nur auf das Kloster beschränkte. Nach den Äußerungen der Älteren konnte es keinen Zweifel geben, daß der Schnürleib bei allem, was die Mode betraf, eine große Rolle spielte. Natürlich wurden solche Gespräche im geheimen geführt, obwohl es ausdrücklich zu den Pflichten des Klosters gehörte, die jungen Mädchen auf die Ehe und das gesellschaftliche Leben vorzubereiten.

Man mußte tanzen, grüßen, Laute und Klavichord spielen lernen, man mußte lernen, mit zwei oder drei Mitschülerinnen ein Gespräch über ein gegebenes Thema zu führen, ja man bekam sogar beigebracht, wie man fächelte und wie man sich schminkte. Großer Wert wurde auch auf die hauswirtschaftliche Ausbildung gelegt. Um für etwa eintretende widrige Umstände gewappnet zu sein, mußten sich die Zöglinge den niedrigsten Verrichtungen unterziehen. Sie arbeiteten abwechselnd in den Küchen oder in den Waschhäusern, entzündeten und unterhielten die Lampen, fegten und wischten die Fliesen auf. Schließlich wurden ihnen einige wissenschaftliche Anfangsgründe eingetrichtert: reichlich trocken dargestellte Geschichte und Geographie, Mythologie, ein bißchen Mathematik, Religionslehre. Mehr Zeit wurde auf die Ausbildung des Stils verwandt, da die Kunst des Briefeschreibens eine im wesentlichen weibliche war und die Korrespondenz mit Freunden und Liebhabern eine der absorbierendsten Tätigkeiten einer Frau von Welt darstellte.

Ohne eine ungelehrige Schülerin zu sein, gab Angélique ihren Lehrern wenig Anlaß zur Zufriedenheit. Sie führte aus, was man von ihr verlangte, schien aber nicht zu begreifen, warum man sie zu so vielen stumpfsinnigen Dingen zwang. Bisweilen suchte man sie zur Zeit der Unterrichtsstunden vergeblich, um sie schließlich auf dem Gemüseland zu entdecken, das nichts als ein großer, über muffigen und wenig begangenen Gäßchen hängender Garten war. Auf die strengsten Vorhaltungen pflegte sie zu antworten, sie sei sich nicht bewußt, etwas Böses zu tun, wenn sie dem Wachsen des Kohls zuschaue.

Im darauffolgenden Sommer breitete sich in der Stadt eine recht schlimme Epidemie aus, die als Pest bezeichnet wurde, weil viele Ratten aus ihren Schlupflöchern hervorkamen und in den Straßen und Häusern verendeten.

Die von Condé und Turenne geleitete Fronde der Fürsten brachte Elend und Hungersnot in die westlichen Provinzen, die bisher von den auswärtigen Kriegen verschont geblieben waren. Man wußte nicht mehr, wer für den König war und wer gegen ihn, aber die Bauern der verwüsteten Dörfer strömten nach den Städten und bildeten bald eine ganze Armee von Verarmten, die sich mit ausgestreckter Hand an den Torwegen drängten. Bald gab es deren mehr als Geistliche und Schüler.

Die kleinen Pensionärinnen der Ursulinerinnen teilten an gewissen Tagen zu gewissen Stunden Almosen an die Armen aus, die vor dem Kloster warteten.

Man belehrte sie, daß auch dies zu ihren zukünftigen Pflichten als vollendete große Damen gehören würde.

Zum erstenmal sah Angélique das hoffnungslose Elend vor sich, das Elend in Lumpen, das wirkliche Elend mit dem schamlosen, haßerfüllten Blick. Es rührte sie nicht, es brachte sie nicht außer Fassung, im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen, von denen manche weinten oder angeekelt die Lippen zusammenpreßten. Aber es war ihr, als erkenne sie ein Bild wieder, das sie von jeher in ihrem Innern bewahrte, eine Vorahnung dessen, was ihr ein seltsames Schicksal bescheiden sollte.

Die Pest hatte in den schmutzigen, steilen Gassen, in denen der sengende Juli die Brunnen zum Versiegen brachte, leichtes Spiel. Auch unter den Zöglingen gab es mehrere Fälle. Eines Morgens konnte Angélique in der Pause Madelon nicht auf dem Schulhof finden. Sie erkundigte sich, und man sagte ihr, das erkrankte Mädchen sei ins Spital gebracht worden.

Es gelang ihr, sich bis ans Bett ihrer Schwester zu schleichen. Die Kleine atmete mühsam; ihre Haut fühlte sich glühend an. Der Zustand verschlimmerte sich. Am dritten Tage wurde die ältere Schwester von Angst erfaßt. »Vielleicht stirbt sie?« Dergleichen erschien ihr unmöglich. Viele Menschen um sie herum mochten sterben, aber nichts würde je der unberühr-baren Festung etwas anhaben können, die von den Kindern de Sancé aus dem alten Schlosse Monteloup gebildet wurde. Madelon würde nicht sterben.

Angélique hob den Lockenkopf ihrer Schwester und benetzte ihr die Lippen mit der neben dem Bett stehenden Flüssigkeit. Die Kleine trank gierig.

»Man läßt sie verdursten«, sagte sich Angélique. »Sie wird schlecht gepflegt! Was ist das überhaupt für ein Tee? Lindenblüten? Er ist nicht stark genug. Ich kenne Kräuter, die schweißtreibend wirken und das Übel aus der Haut ziehen: die Holunderblüte, das Blatt der Klette ... Sie müßte davon trinken, einen guten, ganz dunklen Tee, den ich selbst bereite .«

»Angélique«, murmelte Madelon, die gerade die Augen aufgeschlagen hatte.

»Liebling?«

»Erzähl mir was.«

Angélique kramte in ihrem Gedächtnis.

»Was denn? Die Geschichte von Gilles de Retz und .«

»Nein, nein! Das macht mir Angst. Immer, wenn ich die Augen zumache, sehe ich an der Wand aufgehängte Kinder.«

»Was sonst?«

Was Angélique auch einfiel, es waren alles grauliche Geschichten von Räubern, Gespenstern oder mutwilligen Kobolden.

»Das macht nichts«, seufzte Madelon, »wenn du nur redest. Du hast eine so hübsche Stimme. Niemand hat eine Stimme wie deine. Ich möchte sie hören.«

Angélique begann über die Kleinsten in Monteloup zu sprechen, über Marie-Agnès, Albert und den Letztgeborenen, Jean-Marie. Madelon lächelte zuerst, dann zogen sich ihre Lippen zusammen, und sie schien in ihre Erstarrung zurückzufallen. Angélique entfernte sich geräuschlos. Es war die Zeit einer Geschichtsstunde, aber das kümmerte sie nicht.

Eine Viertelstunde später war sie im Gemüsegarten des Klosters. Sie holte eine Leiter, lehnte sie von innen an die Mauer und sprang leichtfüßig auf die Gasse. Die Mauer war ziemlich hoch, aber Angélique hatte ihre Geschmeidigkeit nicht verloren.

Nun rannte sie durch die mit runden Steinen gepflasterten Straßen, über denen glühend heiße Luft lastete. Zu Füßen der Hauswände lagen Körper ausgestreckt, die zu schlafen schienen. Gefräßige Fliegenschwärme umgaben sie. Angélique merkte bald, daß es Leichen waren.

Ihr Instinkt trieb sie bergauf in die reine Luft des hochgelegenen Stadtteils. Sie überquerte belebte Plätze, auf denen die Seminaristen, unbekümmert um die Nachbarschaft des Todes, erregt debattierten, und erreichte schließlich das freie Land. Sie mußte noch lange gehen, bis sie an einem Bach die Holunderblüten fand, die sie suchte. Sie füllte ihr Brusttuch aus schwarzem Taft damit und kehrte in der Dämmerung zurück, die endlich ein wenig Abkühlung brachte. Um das Kloster der Ursulinerinnen wiederzufinden, mußte sie mehrmals nach dem Wege fragen. Man be-gegnete in jenen Tagen des Grauens und des Elends so vielen seltsamen Gestalten in Poitiers, daß niemand sich über das junge Mädchen im grauen Zöglingskleid und mit den wehenden Haaren verwunderte.

Angélique läutete an der Klosterpforte, denn wenn es ihr auch gelungen war, von der hohen Mauer herunterzuspringen, vermochte sie doch nicht, sie auf dem umgekehrten Wege zu überklettern. Die Schwester Pförtnerin sagte ihr, man habe sie gesucht, und die Damen seien höchst ungehalten über ihr Benehmen.

Sie begegnete der Oberin in einem der Flure. Es war eine noch junge Frau, die jüngste Tochter einer herzoglichen Familie.

»Mademoiselle de Sancé«, sagte sie, »Eure Eskapade ist unqualifizierbar.«

»Mutter, ich bin Pflanzen suchen gegangen, um meine Schwester zu versorgen.«

»Gott hat Euch bereits gestraft, meine Tochter.«

»Es ist mir völlig gleichgültig, ob Gott mich bestraft oder nicht«, rief Angélique mit vor Hitze und Ermüdung hochrotem Gesicht aus, »aber ich will selbst diesen Kräutertee bereiten.«

»Meine Tochter, es ist zu spät, um etwas zu wollen. Eure Schwester ist tot.«

Im Angesicht des kleinen, bleichen und wie ausgedörrten Leichnams weinte Angélique nicht. Sie verübelte sogar Hortense deren unaufrichtige Tränen. Warum weinte denn diese siebzehnjährige Hopfenstange? Sie hatte weder Madelon noch sonst jemanden geliebt, nur sich selbst.

»Ja, meine Kleinen«, sagte die alte Ordensschwester zu ihnen, »das ist eben Gottes Wille. Viele Kinder sterben. Man hat mir gesagt, Eure Mutter habe zehn Kinder gehabt und nur ein einziges verloren. Mit diesem hier sind es zwei. Das ist nicht viel. Ich kenne eine Dame, die fünfzehn Kinder hatte und sieben davon verlor. Seht Ihr, so ist das. Gott gibt sie, Gott nimmt sie wieder. Viele Kinder sterben. Das ist Gottes Wille! ...«

Nach Madelons Tod nahm Angéliques Eigensinn krasse Formen an, sie wurde geradezu undiszipliniert. Sie tat, was ihr eben einfiel, verschwand für viele Stunden in abgelegenen Schlupfwinkeln des ausgedehnten Gebäudes. Seit ihrer Eskapade hatte man ihr das Betreten des Gartens und des Gemüselandes untersagt, doch fand sie gleichwohl Mittel, sich dorthin zu schleichen. Man dachte daran, sie nach Hause zu schicken, aber Baron de Sancé bezahlte trotz der Schwierigkeiten, die der Bürgerkrieg ihm verursachte, regelmäßig das Pensionsgeld für seine beiden Töchter, was nicht auf alle Zöglinge zutraf. Überdies versprach Hortense, als eine der besten Schülerinnen in die nächste Klasse versetzt zu werden. Der Älteren zuliebe behielt man die Jüngere. Aber man gab es auf, sich um sie zu kümmern.

An einem Januartag des Jahres 1652 hockte Angélique, die eben fünfzehn geworden war, wieder einmal auf der Mauer des Gemüsegartens und vergnügte sich damit, das Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten und sich in der lauen Wintersonne zu wärmen.

Es ging in diesen ersten Tagen des Jahres hoch her zu Poitiers, denn die Königin, der König und ihre Anhänger hatten sich gerade in der Stadt niedergelassen. Arme Königin, armer junger König, von einer Revolte nach der andern geschüttelt! Eben begaben sie sich nach Guyenne, um gegen den Fürsten Condé zu kämpfen. Auf dem Rückweg halten sie sich im Poitou auf und versuchen, mit Turenne zu verhandeln, der diese Provinz von Fontenay-le-Comte bis zum Meer in der Hand hat. Châtellerault und Luçon, die alten protestantischen Festungen, haben sich dem hugenottischen General angeschlossen, doch Poitiers, das nicht vergißt, daß hundert Jahre zuvor die Ketzer seine Kirchen plünderten und seinen Bürgermeister hängten, hat dem Monarchen seine Tore geöffnet.

Heute sieht man neben dem königlichen Jüngling nur noch die schwarze Robe der spanischen Mutter. Das Volk, ganz Frankreich haben so oft geschrien: »Keinen Mazarin! Keinen Mazarin!«, daß der Mann in der roten Robe sich endlich gebeugt hat. Er hat die Königin verlassen, die er liebte, und ist nach Deutschland gegangen. Doch sein Verschwinden genügt noch nicht, um die Gemüter zu beruhigen .

Von der Mauer ihres Klosters lauschte Angélique dem Summen der in Bewegung geratenen Stadt, deren Erregung sich sogar diesem abgelegenen Viertel mitteilte.

Plötzlich kam am Fuß der Mauer, einem Vogelschwarm gleich, eine lustige Schar von Pagen in ihren rötlichgelben Gewändern aus Atlas und Seide vorbeigezogen. Einer von ihnen blieb stehen, um sein Schuhband festzuknüpfen. Als er sich wieder aufrichtete, hob er den Kopf und entdeckte Angélique, die ihn von der Mauer herab musterte.

Der Page schwenkte galant seinen Hut.

»Seid gegrüßt, Demoiselle! Ihr seht nicht aus, als ob Ihr Euch da droben amüsiertet!«

Er glich jenen Pagen, die sie auf Schloß Plessis gesehen hatte, da er wie sie die bauschige kleine Hose trug, die »Pluderhose«, Erbstück des 16. Jahrhunderts, in der seine Beine unendlich lang wirkten. Davon abgesehen war er sympathisch mit seinem sonnengebräunten, lachenden Gesicht und den schönen, braunen, gelockten Haaren.

Sie fragte ihn nach seinem Alter, und er erwiderte, er sei sechzehn. »Aber beruhigt Euch, Demoiselle«, fügte er hinzu, »ich weiß den Damen den Hof zu machen.«

Er warf ihr schmeichelnde Blicke zu, und plötzlich streckte er ihr die Arme entgegen. »Kommt doch zu mir herunter!«

Eine wohlige Empfindung überkam sie. Es schien ihr, als öffne sich das graue, trübselige Gefängnis, in dem ihr Herz verkümmerte. Dieses hübsche, ihr zugewandte Lachen versprach - sie wußte nicht was an Süßem und Köstlichem, nach dem sie hungerte.

»Kommt«, flüsterte er. »Wenn Ihr wollt, führe ich Euch zum Palast der Herzöge von Aquitanien, wo der Hof abgestiegen ist, und zeige Euch den König.«

Sie zögerte nur einen Augenblick, dann raffte sie ihren schwarzwollenen Mantel mit der Kapuze zusammen.

»Gebt acht, ich springe!« rief sie.

Er fing sie fast in seinen Armen auf. Sie mußte lachen. Lebhaft faßte er sie um die Taille und zog sie mit sich fort.

»Was werden die Nonnen Eures Klosters sagen?«

»Sie sind an meine Streiche gewöhnt.«

»Und wie kommt Ihr wieder heim?«

»Ich werde an der Pforte läuten und um ein Almosen bitten.«

Er lachte hell auf.

Diese Eskapade erinnerte Angélique an jene andere, so schmerzliche, aber sie bemühte sich, den Gedanken zu verjagen, und berauschte sich an dem bunten Treiben, das sie plötzlich umgab. Zwischen den vornehmen Herren und Damen, über deren schöne Kleidung die Provinzbewohner sich verwunderten, strichen Händler umher. Bei einem von ihnen kaufte der Page zwei Stäbchen, auf denen Stücke von gebratenen Fröschen aufgereiht waren. Da er immer nur in Paris gelebt hatte, fand er dieses Gericht spaßig. Sie aßen mit großem Appetit. Der Page erzählte, er heiße Henri de Roguier und sei dem Gefolge des Königs zugeteilt. Dieser, ein lustiger Kamerad, verlasse gelegentlich die ernsten Herren seines Kronrats, um mit seinen Freunden zusammen ein bißchen auf der Gitarre zu klimpern. Die reizenden italienischen Püppchen, Nichten des Kardinals Mazarin, seien immer noch am Hofe, trotz des erzwungenen Abgangs ihres Onkels.

Immer weiterplaudernd, zog der Junge Angélique hinterlistig mit sich in weniger belebte Viertel. Sie merkte es, sagte jedoch nichts. Ihr plötzlich erwachter Körper wartete auf etwas, was die Hand des Pagen an ihrer Hüfte verhieß.

Er blieb stehen und drängte sie sanft in den Winkel einer Tür. Dann begann er, sie glühend zu küssen. Er sagte banale und amüsante Dinge.

»Du bist hübsch . Du hast Wangen wie Maßliebchen und grüne Augen wie die Frösche . die Frösche deiner Gegend . Bleib ruhig. Ich will deinen Schnürleib öffnen ... Wehr dich nicht. Ich weiß schon, was ich tue ... Oh! Ich habe noch nie so weiße und so süße Brüste gesehen ... Und fest wie Äpfel ... Du gefällst mir, mein Herzchen .«

Sie ließ ihn tasten, streicheln. Sie bog ein wenig den Kopf zurück, lehnte ihn an den bemoosten Stein, und ihre Augen fixierten mechanisch ein Stück blauen Himmels, durch das sich die Kante eines geschweiften Daches zog.

Nun schwieg der Page; sein Atem keuchte. Erregt schaute er sich mehrmals ärgerlich um. Die Straße war ziemlich still, aber es kamen immer wieder Leute vorüber. Sogar ein Schwarm Seminaristen erschien, die »Huh! Huh!« machten, als sie das junge Paar im Schatten der Mauer entdeckten.

Der Junge trat zurück und stampfte auf.

»Ach, das ist gräßlich! Die Häuser sind zum Bersten voll in dieser verdammten Provinzstadt. Sogar die großen Herren müssen ihre Mätressen in den Vorzimmern empfangen. Wo kann man da einigermaßen ungestört sein, möchte ich wissen?«

»Es ist doch ganz schön hier«, flüsterte sie.

Aber er war nicht zufrieden. Er warf einen Blick in die kleine Geldbörse, die er am Gürtel trug, und sein Gesicht hellte sich wieder auf.

»Komm! Ich hab’ einen Gedanken! Wir werden ein Kämmerchen nach unserem Geschmack finden.«

Er nahm sie bei der Hand und rannte mit ihr los. Sie eilten vergnügt die Straßen bis zum Platz von Notre-Dame-la-Grande hinunter. Obwohl sie nun schon über zwei Jahre in Poitiers war, kannte sie die Stadt noch nicht. Sie betrachtete staunend die Fassade der Kirche, die wie ein indisches Kästchen gearbeitet und von kleinen Glockentürmen in Tannenzapfenform flankiert war. Man hätte meinen können, der Stein selbst sei unter dem Zaubermeißel der Steinmetze aufgeblüht.

Der junge Henri hieß sie unter dem Portal auf ihn warten. Gleich darauf kam er höchst befriedigt zurück, einen Schlüssel in der Hand.

»Der Vikar hat mir die Kanzel für eine Weile vermietet.«

»Die Kanzel?« wiederholte Angélique verblüfft.

»Pah! Es ist nicht das erstemal, daß er armen Liebespaaren diesen Dienst erweist. Die Beichtstühle sind billiger, aber nicht so bequem.«

Er hatte sie wieder um die Hüfte gefaßt und stieg die Stufen zum Kirchenraum hinunter.

Angélique war tief beeindruckt vom Dämmerlicht und von der Kühle der Gewölbe. Die Kirchen des Poitou sind die dunkelsten von ganz Frankreich, festgefügte Gebäude, die auf mächtigen Pfeilern ruhen, und sie bergen in ihrer Dämmerung alte Fresken, deren lebhafte Farben ganz allmählich dem überraschten Auge erkennbar werden. Die beiden jungen Menschen schritten schweigend durch den Raum.

»Mich fröstelt«, murmelte Angélique und zog ihren Mantel enger zusammen.

»Komm, komm«, flüsterte er. »Ich werde dich wärmen.«

Aber die frohe Erregung des Mädchens legte sich. Diese Kirche, dieses tiefe, vom Flimmern der Kerzen durchleuchtete Dunkel und plötzlich auch dieser fremde Junge flößten ihr Angst ein.

Indessen öffnete der mit dem Ort vertraute Page die erste Tür der monumentalen Kanzel, stieg die Stufen empor und drang in die dem Priester vorbehaltene Rotunde ein. Ein wenig mechanisch folgte ihm Angélique. Sie wußte noch nicht recht, was sie eigentlich wollte. Brüsk umzukehren, kam ihr lächerlich vor. Und dann machte sie der Gedanke an die Hände des Jungen auf ihren Brüsten schlaff. Vielleicht brauchte man sich nur aufs neue seinen Liebkosungen zu überlassen, um wieder das Gefühl des Träumens, der wolkenlosen Bläue zu haben.

Er ließ sich auf dem mit einem Samtteppich belegten Boden nieder, zog sie ziemlich brutal zu sich herab und zwang sie, sich auszustrecken. Sie glaubte, er werde sie von neuem küssen, doch als er gewalttätig ihren Rock hochriß, setzte sie sich wieder auf und stieß ihn zurück. Sie kämpften eine Weile im weihrauchgeschwängerten Dämmerlicht.

»Warum stellst du dich denn so an?« knurrte der Page endlich. »Was willst du?«

»Ich weiß nicht«, stammelte Angélique. »Ich hätte lieber ... Ich weiß nicht ... ein großes, weißes Bett mit Spitzen .«

»Bist du dumm! Auf dem harten Boden ist es doch am schönsten. Ich versichere dir, wir Pagen, die wir die Gelegenheiten ergreifen müssen, die sich uns gerade bieten, haben viel mehr Spaß an der Sache als so manche große Herren, die in ihren Federbetten versinken und viel Schweiß für das halbe Vergnügen lassen. Also sei kein Frosch«, drängte er, »ich hab’ keine Zeit, lange Faxen zu machen. Ich hab’ nur für eine halbe Stunde gemietet.«

Sie war nahe daran nachzugeben, dann lehnte sie sich innerlich auf und wehrte sich wieder. Ihr Kopf schlug an die Balustrade aus massivem Holz, und der Anprall rührte unter den Gewölben ein mächtiges Echo auf.

Sie hielten verblüfft und ein wenig ängstlich inne.

»Ich glaube, es kommt jemand«, flüsterte Angélique.

Der Junge gestand mit verdrossener Miene: »Ich hab’ vergessen, die Kanzeltür unten an der Treppe abzuschließen.«

Dann schwiegen sie und horchten auf die sich nähernden Schritte. Jemand stieg die Stufen zu ihrem Unterschlupf herauf, und der von einem schwarzen Käppchen bedeckte Kopf eines alten Priesters erschien über ihnen.

»Was tut ihr hier, meine Kinder?« fragte er.

Der schlagfertige Page hatte schon seine Geschichte bereit.

»Ich wollte meine Schwester sehen, die in Poitiers in einem Internat ist, aber ich wußte nicht, wo ich mich mit ihr treffen sollte. Unsere Eltern .«

»Sprich nicht so laut im Hause Gottes«, sagte der Priester. »Steht beide auf und folgt mir.«

Er führte sie in die Sakristei und setzte sich auf einen Schemel. Dann stützte er die Hände auf die Knie und schaute sie abwechselnd an. Das unter dem Priesterkäppchen hervorquellende weiße Haar umgab sein Gesicht, das trotz des Alters kräftige bäuerliche Farben bewahrte, wie mit einem Heiligenschein. Er hatte eine dicke Nase, kleine, lebhafte und klare Augen, einen kurzen, weißen Bart. Henri de Roguier schien mit einem Male verstört und schwieg in einer Verlegenheit, die nicht geheuchelt war.

»Ist er dein Liebhaber?« fragte der Priester plötzlich Angélique, indem er mit dem Kinn nach dem Jungen wies.

Das Mädchen errötete. »Nein! Ich . ich habe nicht gewollt.«

»Um so besser, meine Tochter. Hättest du, wenn du ein schönes Perlenhalsband besäßest, Spaß daran, es in einen Hof voller Dünger zu werfen, wo die Schweine es mit ihren rotzigen Rüsseln raffen würden? Nun? Antworte mir, Kleine! Würdest du das tun?«

»Nein, ich würde es nicht tun.«

»Du sollst die Perlen nicht vor die Säue werfen. Du sollst den Schatz deiner Jungfräulichkeit nicht vergeuden, der bis zur Heirat gehütet werden muß. Und du«, fuhr er sanft fort, indem er sich dem Jungen zuwandte, »wer hat dir den schändlichen Gedanken eingegeben, deine Freundin in eine Kirche zu führen, um sie zu entehren?«

»Wohin sollte ich sie führen?« begehrte der Junge verdrossen auf. »Ich schlafe auf dem blanken Boden im Vorzimmer des Königs. Da vermietet uns der Herr Vikar von Notre-Dame-la-Grande zuweilen die Kanzel für dreißig Livres und die Beichtstühle für zwanzig. Das bedeutet viel für meine Börse, glaubt mir, Monsieur Vincent.«

»Ich glaube es dir gern«, sagte Monsieur Vincent, »aber es bedeutet noch mehr auf der Waage, mit der der Teufel und der Engel in der Vorhalle von Notre-Dame-la-Grande die Sünden wiegen.«

Sein Gesicht, das bis dahin einen heiteren Ausdruck bewahrt hatte, war hart geworden. Er streckte die Hand aus.

»Gib mir den Schlüssel, den man dir anvertraut hat.«

Und nachdem der Junge ihn übergeben hatte: »Du wirst beichten, nicht wahr? Ich erwarte dich morgen in dieser Kirche. Ich werde dir Absolution erteilen. Ich weiß nur zu gut, in welcher Umgebung du lebst, armer kleiner Page! Und du versuchst lieber, bei einem Mädchen deines Alters den Mann zu spielen, als reifen Damen zum Spielzeug zu dienen, die dich in ihre Alkoven zerren, um dich zu verführen ... Ja, ich sehe dich erröten. Du schämst dich deiner unsauberen Liebeleien vor diesem unberührten Mädchen.«

Der Jüngling senkte den Kopf, seine Überlegenheit war geschwunden. Endlich stammelte er:

»Monsieur Vincent de Paul, ich bitte Euch inständig, erzählt diese Geschichte nicht der Königin. Wenn sie mich zu meinem Vater zurückschickt, wird der nicht mehr wissen, wo er mich unterbringen soll. Ich muß sechs Schwestern versorgen und bin der dritt-jüngste der Familie. Ich habe diese außerordentliche Vergünstigung, in den Dienst des Königs zu treten, nur dank Monsieur de Lorraine erlangen können, der mich ... dem ich gefiel«, vollendete er verlegen. »Er hat den Posten für mich gekauft. Wenn ich davongejagt werde, wird er bestimmt verlangen, daß mein Vater ihm die Summe zurückbezahlt, und das ist unmöglich.«

Der alte Priester schaute ihn ernst an.

»Ich werde deinen Namen nicht nennen, aber es wird gut sein, wenn ich der Königin wieder einmal die Schändlichkeiten ins Bewußtsein rufe, von denen sie umgeben ist. Ach, diese Frau ist gottesfürchtig und gewissenhaft in ihren Andachtsübungen, aber was vermag sie gegen soviel Fäulnis! Man kann die Seelen nicht durch Dekrete verwandeln .«

Er stand auf, legte seine Arme um die Schultern der beiden und führte sie hinaus. Der Abend senkte sich über den Platz vor der Kirche, deren steinerne Blumen vom fahlen Winterlicht belebt wurden.

»Meine Lämmlein«, sagte Monsieur Vincent, »ihr Kinder des lieben Gottes, ihr habt versucht, die grüne Frucht der Liebe zu naschen. Deshalb sind eure Zähne stumpf und eure Herzen voller Traurigkeit. So laßt an der Sonne des Lebens reifen, was zu seiner Zeit sich entfalten wird. Man darf keine Irrwege gehen, wenn man die Liebe sucht, denn dann findet man sie womöglich nie. Welch grausame Strafe für die Ungeduld und die Schwäche, sein Leben lang dazu verdammt zu sein, nur in bittere und saftlose Früchte zu beißen! Ihr werdet jeder in seine Richtung zurückkehren. Du, Knabe, zu deinem Dienst, den du gewissenhaft verrichten sollst. Du, Mädchen, zu deinen Schwestern und deiner Arbeit. Und wenn der Tag anbricht, so vergeßt nicht, zu Gott zu beten, der unser aller Vater ist.« Er entließ sie. Sein Blick folgte ihren anmutigen Silhouetten, bis sie sich an der Ecke des Platzes trennten.

Angélique schaute starr vor sich hin, bis sie die Pforte des Klosters erreichte. Ein großer Friede erfüllte sie. Seltsam, sie hatte den Pagen vergessen und jenen enttäuschenden Vorgeschmack fleischlicher Lust. Doch ihre Schulter bewahrte die Erinnerung an eine alte, warme Hand.

»Monsieur Vincent«, dachte sie. »Ob das der große Monsieur Vincent ist? Der, den der Marquis du Plessis das Gewissen des Königreichs nennt? Der die Vornehmen zwingt, die Armen zu bedienen? Der täglich der Königin und dem König begegnet? Wie schlicht und milde er aussieht!«

Bevor sie den Türklopfer hob, warf sie noch einen Blick über die Stadt, die sich in Dunkel hüllte. »Monsieur Vincent, segnet mich!« flüsterte sie.

Ohne Überlegung noch Widerrede nahm Angélique die Strafe an, die ihr für diesen neuerlichen Ausbruch auferlegt wurde. Von jenem Tage an verwandelte sich ihr ungezügeltes Benehmen. Sie gab sich mit Eifer ihren Studien hin, zeigte sich ihren Kameradinnen gegenüber aufgeschlossen. Sie schien sich endlich dem strengen Geist des Klosters angepaßt zu haben.

Im September verließ ihre Schwester Hortense das Kloster. Eine entfernte Tante rief sie als Gesellschafterin zu sich nach Niort. In Wirklichkeit zielte besagte Dame, die von sehr niederem Adel war und einen reichen Beamten von dunkler Herkunft geheiratet hatte, darauf ab, ihren Sohn mit irgendeinem großen Namen zu verbinden und damit ihrem Wappenschild wieder etwas Glanz zu verleihen. Der Vater hatte gerade für den jungen Mann die Stelle eines Staatsanwalts in Paris gekauft, und dieser sollte sich nun zwischen den übrigen Adelsvertretern zeigen können. Für beide Teile war dies eine unverhoffte Gelegenheit. Die Hochzeit fand alsbald statt.

Zu gleicher Zeit kehrte der junge König Ludwig XIV. in seine Hauptstadt zurück.

Frankreich ging ausgeblutet aus einem Bürgerkrieg hervor, in dessen Verlauf sechs Armeen kreuz und quer über seinen Boden gezogen waren, einander suchend und nicht immer einander findend: Da hatte es die des Fürsten Condé gegeben, die des Königs, von Turenne geführt, der sich plötzlich entschlossen hatte, keinen Verrat zu begehen, die des Gaston d’Orléans, mit den Engländern verbündet und mit den französischen Fürsten überwerfen, die des Herzogs von Beaufort, die mit allen entzweit war, die die Spanier jedoch unterstützten, die des Herzogs von Lothringen, die auf eigene Rechnung operierte, und schließlich die Mazarins, der der Königin aus Deutschland hatte Verstärkung schicken wollen. Beinahe wäre Mademoiselle de Montpensier zum Armeegeneral ernannt worden - dank ihrem Entschluß, die Kanonen der Bastille auf die Truppen ihres eigenen Vetters, des Königs, feuern zu lassen. Eine Geste, die die Grande Mademoiselle teuer bezahlen mußte, denn sie wirkte auf gar viele fürstliche Bewerber um ihre Hand recht abschreckend.

»Mademoiselle hat soeben ihren Gatten >getötet<«, hatte in seinem weichen Abruzzendialekt der Kardinal Mazarin gemurmelt, als man ihm die Sache mitteilte.

Dieser letztere blieb der große Sieger in dieser schlimmen und grotesken Krise. Nach knapp einem Jahr sah man in den Gängen des Louvre wieder seine rote Robe, aber es gab keine »Mazarinaden« mehr. Alle Welt war am Ende der Kräfte.

Angélique wußte, daß das Dorf Monteloup fast völlig dem Erdboden gleichgemacht worden war. Es hatten sogar Offiziere im Schloß kampiert, aber eine Empfehlung des Fürsten Condé hatte sie veranlaßt, sich dem Baron und seiner Familie gegenüber höflich zu verhalten, und man behielt sie in nicht allzu schlechter Erinnerung. Hingegen war die Hälfte der Maultiere kurzerhand von den Truppen mitgenommen worden. Dennoch wurde das Pensionsgeld für Angélique weiterhin pünktlich übersandt, was bewies, daß der alte Molines sich zu helfen gewußt hatte, allen Ereignissen zum Trotz.

Angélique hatte eben ihr siebzehntes Lebensjahr erreicht, als sie den Tod ihrer Mutter erfuhr. Sie betete viel in der Kapelle, weinte jedoch nicht. Sie konnte es nicht fassen, daß sie jene schmale Gestalt im grauen Kleid mit dem schwarzen Kopftuch, über dem im Sommer ein altmodischer Strohhut saß, nie mehr sehen würde. Als Hüterin des Obst- und Gemüsegartens hatte Madame de Sancé vielleicht an ihre Birnbäume und Kohlköpfe mehr Sorge und Zärtlichkeit verschwendet als an ihre zahlreichen Kinder. Da sie es sich nicht wie die Damen des wohlhabenden Adels leisten konnte, in ihrem Park Labyrinthe und Wasserspiele zu schaffen, hatte sie ihren Ehrgeiz auf einem mehr bäuerlichen Gebiet befriedigt. Ihre Früchte und Gemüse waren die schönsten der Gegend, und dank ihrer war Angélique zusamt ihren Brüdern und Schwestern, statt mit Mehlbrei und Wildbret gestopft zu werden, nach einem reichhaltigen und abwechslungsreichen, Salate und Kompotte enthaltenden Speisezettel großgezogen worden, was allen eine frische Gesichtsfarbe und eine eiserne Gesundheit eingebracht hatte.

Das sind Segnungen, die man mit siebzehn Jahren kaum zu schätzen weiß. Madame de Sancé hatte eine sanfte Stimme gehabt, aber ihre Worte waren allzu spärlich gewesen. Sie hatte ihre Kinder durch unermüdliches Wirken am Leben erhalten, aber sie hatten sie wenig gesehen.

Doch als Angélique am Abend ausgestreckt in ihrem schmalen Bett lag, kam es ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß es eben diese schweigsame und immer heimlich seufzende Frau gewesen war, die sie unterm Herzen getragen hatte. Sie fühlte sich bewegt, und sie strich mit der Hand ganz sacht über ihren jungen Leib, der fest und fleischig war. War es denn möglich, daß man ein richtiges, lebendiges Kind in einem so engen, so wohlverschlossenen Raum tragen konnte, zehnmal hintereinander und noch mehr? Und die Kinder entschwanden, zuerst in die Arme der Ammen, dann in die Welt hinaus, nach Amerika oder in die Arme des Gatten oder auch, um zu sterben. Sie mußte plötzlich an das seltsame blasse Wesen denken, das ihre kleine Schwester Madelon gewesen war. Vom Mutterleib gelöst, hatte sie nur Entsetzen und Bangigkeit gekannt. Die Geschichten der Amme machten sie schaudern. Sie hatte in einer imaginären Welt gelebt, die grausiger gewesen war als die wirkliche, und niemand hatte ihr beigestanden.

»Wenn ich einmal Kinder habe«, sagte sich Angélique, »dann werde ich sie nicht fern von mir sterben lassen. Ich werde sie liebhaben, ach, wie werde ich sie liebhaben und den ganzen Tag in meinen Armen halten!«

Es geschah gelegentlich des Todes ihrer Mutter, daß Angélique ihre beiden Brüder Raymond und Denis wiedersah, denn sie kamen, um sie von ihm in Kenntnis zu setzen. Das Mädchen empfing sie im Sprechzimmer, hinter dem kalten Gitter, wie die Klosterregel der Ursulinerinnen es verlangte.

Denis war jetzt auf dem Gymnasium. Mit den Jahren kam er immer mehr aufJosselin heraus, so daß sie im ersten Augenblick glaubte, ihren ältesten Bruder vor sich zu haben, wie sie ihn in der Erinnerung trug: in seiner schwarzen Schülertracht und mit dem Tintenbehälter aus Horn an seinem Gürtel. Sie war dermaßen betroffen über diese Ähnlichkeit, daß sie den Geistlichen, der ihren Bruder begleitete, nach flüchtiger Begrüßung nicht weiter beachtete, so daß er seinen Namen nennen mußte.

»Ich bin Raymond, Angélique, erkennst du mich nicht mehr?«

Sie war geradezu verschüchtert. In ihrem im Vergleich zu so vielen anderen ungemein strengen Kloster kamen die Nonnen den Priestern mit einer frömmlerischen Unterwürfigkeit entgegen, die von der weiblichen Ergebenheit gegenüber dem männlichen Wesen nicht frei war. Von einem von ihnen geduzt zu werden, verwirrte sie. Und nun war sie es, die den Blick senkte, während Raymond sie anlächelte. Mit viel Zartgefühl setzte er sie von dem Unglück in Kenntnis, das die Familie betroffen hatte, und sprach in schlichten Worten von der Ergebung, die man Gott schulde. Es lag etwas Neues, ihr Unbekanntes in seinem länglichen Gesicht mit dem matten Teint und den klaren, feurigen Augen.

Er berichtete außerdem, ihr Vater sei sehr enttäuscht gewesen, daß seine, Raymonds, religiösen Neigungen während dieser letzten Jahre, die er bei den Jesuiten verbracht hatte, nicht geschwunden waren. Da Josselin fortgegangen war, hoffte man natürlich, Raymond werde die Rolle des Stammhalters übernehmen. Doch der junge Mann hatte zugunsten seiner anderen Brüder auf das Erbe verzichtet und das Ordensgelübde abgelegt. Auch Gontran enttäuschte den armen Baron Armand. Weit davon entfernt, zur Armee zu gehen, war er nach Paris gereist, um dort, man wußte nicht recht was, zu studieren. So blieb nur der jetzt dreizehnjährige Denis, um die militärische Tradition der Familie fortzusetzen.

Während des Gesprächs betrachtete der Jesuitenpater seine Schwester, dieses junge Mädchen, das, um ihn zu verstehen, sein Gesicht mit dem rosigen Teint an die Gitterstangen lehnte und dessen merkwürdige Augen im Dämmerlicht des Sprechraums klar wie das Seewasser wirkten. Es lag etwas wie Mitleid in seiner Stimme, als er fragte:

»Und du, Angélique, was wirst du tun?«

Sie schüttelte ihr schweres, goldglänzendes Haar und antwortete gleichgültig, sie wisse es nicht.

Ein Jahr darauf wurde Angélique wiederum ins Sprechzimmer gerufen. Es war der kaum weißer gewordene alte Wilhelm, den sie dort vorfand. Seine unvermeidliche Lanze hatte er behutsam an die Wand der Zelle gelehnt.

Er sagte ihr, er sei gekommen, um sie abzuholen und nach Monteloup zurückzubringen. Sie hatte ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie war ein fertiges junges Mädchen, und man hatte einen Mann für sie gefunden.

Baron de Sancé betrachtete seine Tochter Angélique mit unverhohlenem Wohlgefallen.

»Diese Nonnen haben aus dir eine vollkommene junge Dame gemacht, mein Wildfang.«

»Oh, vollkommen? Das muß sich erst noch zeigen«, protestierte Angélique, indem sie in ihre frühere Gewohnheit zurückverfiel und die jetzt wohlfrisierte Mähne schüttelte. In der frischen, von den süßlichen Düften des Moors erfüllten Luft von Monteloup richtete sie sich auf wie eine verkümmerte Blume unter einem milden Regen.

Aber der väterliche Stolz des Barons Armand ließ sich nicht dämpfen.

»Jedenfalls bist du noch hübscher, als ich es erhofft habe. Dein Teint ist nach meiner Ansicht dunkler, als deine Augen und deine Haare es verlangen. Aber der Kontrast ist nicht ohne Reiz. Ich habe übrigens festgestellt, daß die meisten meiner Kinder den gleichen Farbton haben. Ich fürchte, das ist der letzte Rest eines Tropfens arabischen Bluts, den die Leute aus dem Poitou im allgemeinen bewahrt haben. Hast du deinen kleinen Bruder Jean-Marie gesehen? Man könnte ihn für einen richtigen Neger halten!«

Er fügte unvermittelt hinzu: »Der Graf Peyrac de Morens möchte dich zur Frau haben.«

»Mich?« sagte Angélique. »Aber er kennt mich ja gar nicht.«

»Das tut nichts. Molines kennt ihn, und das ist die Hauptsache. Er schwört, ich könne mir keine schmeichelhaftere Verbindung für eine meiner Töchter erträumen.«

Baron Armand strahlte geradezu. Mit seinem Stock mähte er ein paar Schlüsselblumen am Rande des Weges ab, auf dem er sich an diesem lauen Aprilmorgen mit seiner Tochter erging.

Angélique war am Abend des Vortages in Begleitung Wilhelms und ihres Bruders Denis in Monteloup angekommen. Als sie den Gymnasiasten verwundert fragte, wieso er jetzt Ferien habe, erklärte er, er sei beurlaubt worden, um ihrer Hochzeit beizuwohnen.

»Was soll das eigentlich mit dieser Heiratsgeschichte? dachte das Mädchen. Sie hatte die Sache bisher nicht ernst genommen, aber jetzt begann sie der bestimmte Ton des Barons zu beunruhigen.

Er hatte sich im Lauf der letzten Jahre nicht viel verändert. Kaum daß sich ein paar graue Fäden in den Schnurrbart und in das kleine Haarbüschel mischten, das er nach der Mode der Regierungszeit Ludwigs XIII. unter der Lippe trug. Angélique, die ihn nach dem Tode seiner Frau niedergeschlagen und hilflos vorzufinden erwartet hatte, wunderte sich beinahe, ihn einigermaßen aufgeräumt und heiter zu sehen.

Als sie zu einem Wiesenhang kamen, der das eingetrocknete Moor beherrschte, bemühte sie sich, das Thema der Unterhaltung zu wechseln, die zwischen ihnen einen Konflikt heraufzubeschwören drohte, nachdem sie sich eben erst wiedergefunden hatten.

»Ihr habt mir geschrieben, Vater, daß Ihr durch die Requisitionen und Plünderungen während der Jahre dieser schrecklichen Fronde Verluste an Vieh erlitten habt?«

»Gewiß, Molines und ich selbst haben nahezu die Hälfte der Tiere verloren, und wäre er nicht, so säße ich jetzt wegen Schulden im Gefängnis, nachdem ich vermutlich unsern gesamten Landbesitz hätte verkaufen müssen.«

»Schuldet Ihr ihm denn noch viel?« fragte sie beunruhigt.

»Ach, von den vierzigtausend Livres, die er mir damals geliehen hat, habe ich ihm in fünf Jahren mühseliger Arbeit nur fünftausend zurückgeben können, und selbst die hat Molines zurückgewiesen, indem er behauptete, er habe sie mir überlassen, und das sei mein Anteil am Geschäft. Ich habe alle Mühe gehabt, daß er sie annahm.«

Angélique wandte bescheiden ein, da der Verwalter keinen Wert auf die Rückzahlung gelegt habe, sei es von ihrem Vater töricht gewesen, sich in eine falsche Großzügigkeit zu verbohren.

»Wenn Molines Euch dieses Geschäft vorgeschlagen hat, wußte er, daß er dabei verdienen würde. Er ist kein Mann, der Geschenke macht. Aber er besitzt eine gewisse Rechtschaffenheit, und wenn er Euch diese vierzigtausend Livres überläßt, findet er eben, daß die Mühe, die Ihr Euch gegeben, und die Dienste, die Ihr ihm geleistet habt, sie aufwiegen.«

Er warf ihr einen verblüfften Blick zu.

»Wie unumwunden du redest, Tochter! Ich frage mich, ob sich eine so direkte und geradezu anstößige Sprache für ein kaum aus dem Kloster entlassenes junges Mädchen schickt?«

Angélique mußte lachen.

»In Paris sind es anscheinend die Frauen, die alles dirigieren: die Politik, die Religion, die Literatur, ja sogar die Wissenschaften. Man nennt sie die Preziösen. Sie kommen täglich bei einer von ihnen mit Schöngeistern und Gelehrten zusammen. Die Herrin des Hauses liegt auf ihrem Bett, ihre Gäste lassen sich im freien Raum des Alkovens nieder, und man diskutiert. Ich frage mich, ob ich, wenn ich nach Paris gehe, nicht auch einen solchen >Alkoven< gründen soll, wo man über Handel und Geschäfte spricht.«

»Das ist ja fürchterlich!« rief der Baron ehrlich entsetzt aus. »Angélique, es können doch nicht die Ursulinerinnen von Poitiers sein, die dir solche Ideen in den Kopf gesetzt haben?«

»Sie behaupteten, ich sei sehr begabt für Rechnen und Logik. Zu sehr sogar ... Dagegen bedauerten sie lebhaft, daß sie aus mir keine vorbildliche fromme Seele machen konnten - und keine heuchlerische wie meine Schwester Hortense. Auf die hatten sie große Hoffnungen gesetzt, sie werde in ihren Orden eintreten. Aber offenbar war die Anziehungskraft des Staatsanwalts größer.«

»Mein Kind, du hast keinen Grund zur Eifersucht, denn Molines hat einen Ehemann für dich gefunden, der dem Hortenses zweifellos weit überlegen ist.«

Das Mädchen stampfte ungeduldig auf. »Dieser Molines übertreibt wirklich. Wenn man Euch reden hört, könnte man meinen, ich sei seine Tochter und nicht die Eurige, da er so besorgt um meine Zukunft ist.«

»Es wäre mehr als töricht, wenn du dich beklagen würdest, kleines Mauleselchen«, sagte ihr Vater lächelnd. »Hör mir nur einen Augenblick geduldig zu. Graf Joffrey de Peyrac ist ein Abkomme der alten Grafen von Toulouse, deren Ahnen man weiter zurückverfolgen kann als die unseres Königs Ludwig XIV. Außerdem ist er der wohlhabendste und einflußreichste Mann des Languedoc.«

»Das mag schon sein, Vater, aber schließlich kann ich nicht einfach mir nichts, dir nichts einen Mann heiraten, den ich nicht kenne, den Ihr selbst nie gesehen habt.«

»Weshalb nicht?« verwunderte sich der Baron. »Alle jungen Mädchen von Stand heiraten auf diese Weise. Nicht ihnen und nicht dem Zufall bleibt es überlassen, über Verbindungen zu bestimmen, die für ihre Familien günstig sind, und über eine Versorgung, bei der nicht nur ihre Zukunft auf dem Spiel steht, sondern auch ihr Name.«

»Ist er ... ist er jung?« fragte das Mädchen zögernd.

»Jung? Jung?« brummte der Baron ärgerlich. »Das ist mir eine recht törichte Frage für einen Menschen mit praktischem Sinn. Nun ja, dein zukünftiger Gatte ist zwölf Jahre älter als du, aber dreißig ist bei einem Mann das Alter der Kraft und der Verführung. Der Himmel kann dir zahlreiche Kinder schenken. Du wirst ein Palais in Toulouse haben, Schlösser in Albi und Béarn, Equipagen, Kleider .«

Monsieur de Sancé hielt inne, da er mit seiner Phantasie am Ende war.

»Ich für mein Teil meine«, schloß er, »daß die Werbung eines Mannes, der dich seinerseits nie gesehen hat, einen unverhofften, ungewöhnlichen Glücksfall darstellt .«

Sie schwiegen eine Weile.

»Eben das ist es«, murmelte Angélique. »Ich finde diesen Glücksfall allzu ungewöhnlich. Weshalb sucht sich dieser Graf, der alles Nötige besitzt, um eine reiche Erbin zur Frau wählen zu können, ausgerechnet im hintersten Poitou ein Mädchen ohne Mitgift aus?«

»Ohne Mitgift?« wiederholte Armand de Sancé, dessen Gesicht sich aufhellte. »Komm mit mir heim ins Schloß, Angélique, und zieh dich um. Wir werden unsere Pferde nehmen. Ich will dir etwas zeigen.«

Auf Geheiß des Barons sattelte ein Stallknecht im Hof eilig die beiden Pferde. Obwohl das vorausgegangene Gespräch sie beschäftigte, stellte Angélique keine weiteren Fragen. Während sie sich im Sattel zurechtsetzte, sagte sie sich, daß es ja ihre Bestimmung sei, zu heiraten, und daß tatsächlich die meisten ihrer Gefährtinnen sich auf diese Weise mit Bewerbern verheirateten, die ihnen ihre Eltern präsentierten.

Warum widerstrebte ihr eigentlich dieses Projekt so sehr? Der Mann, den man ihr bestimmte, war kein Greis. Sie würde reich sein ...

Angélique verspürte plötzlich eine wohlige körperliche Empfindung, ohne sich gleich deren Ursprungs bewußt zu sein. Die Hand des Reitknechts, die ihr behilflich gewesen war, sich wie eine Amazone auf das Tier zu setzen, glitt jetzt über ihren Fußknöchel und streichelte sie leise, mit einer Bewegung, die der gutwilligste Mensch der Welt nicht als ungewollt hätte bezeichnen können.

Der Baron war im Schloß verschwunden, um das Schuhwerk zu wechseln und einen sauberen Spitzenkragen umzulegen, so daß sie mit dem Knecht allein war.

Sie zuckte zusammen, und das Pferd tat einige erschreckte Schritte.

»Was kommt dich an, Bauernlümmel?«

Sie errötete und ärgerte sich über sich selbst, denn sie mußte sich eingestehen, daß ein köstlicher Schauer sie unter dieser kurzen Liebkosung durchbebt hatte. Der Knecht, ein Herkules mit breiten Schultern, hob den Kopf. Braune Locken fielen über seine dunklen Augen, die in vertrauter Schelmerei glänzten.

»Nicolas!« rief Angélique aus, während das Vergnügen, ihn wiederzusehen, und die Verlegenheit über die Vertraulichkeit, die er sich erlaubt hatte, in ihr miteinander stritten.

»Aha, du hast Nicolas erkannt«, sagte Baron de Sancé, der mit großen Schritten herankam. »Das ist der schlimmste Teufel in der ganzen Umgegend, und niemand wird mit ihm fertig. Weder die Feldarbeit noch die Maultiere interessieren ihn. Ein Faulpelz und ein Schürzenjäger, da hast du deinen einstigen Kameraden, Angélique.«

Der junge Mann schien sich angesichts solcher Würdigung nicht zu schämen. Er schaute Angélique unverwandt mit einem Lächeln, das seine weißen Zähne entblößte, und einer fast herausfordernden Kühnheit an.

»He, Bursche! Hol ein Maultier und folge uns«, sagte der Baron, der nichts merkte.

»Jawohl, Herr.«

Die drei Reittiere trotteten über die Zugbrücke und schlugen den Weg links von Monteloup ein.

»Wohin reiten wir, Vater?«

»Nach der alten Bleigrube.«

»Den eingestürzten Schächten in der Nähe der Abtei von Nieul .?«

»Eben denen.«

»Ich verstehe nicht, wieso dieses Fleckchen unfruchtbaren Landes .«

»Dieses Fleckchen Landes, das nicht mehr unfruchtbar ist und jetzt >Silbermine< heißt, stellt, kurz gesagt, deine Mitgift dar. Du erinnerst dich, daß Molines mich aufgefordert hatte, die Erneuerung des Ausbeutungsrechts meiner Familie wie auch die Steuerbefreiung für ein Viertel der Produktion zu beantragen. Nachdem dies erreicht war, ließ er sächsische Facharbeiter kommen. Da ich sah, welche Bedeutung er diesem bis dahin vernachlässigten Grunde beimaß, sagte ich ihm eines Tages, daß ich ihn dir als Mitgift geben würde. Ich glaube, damals ist in seinem fruchtbaren Kopf der Gedanke an eine Heirat mit dem Grafen Peyrac aufgekeimt, denn tatsächlich möchte dieser Edelmann das Gebiet erwerben. Ich habe die Art der Transaktion nicht recht verstanden, die er mit Molines abgesprochen hat; ich glaube, er ist mehr oder weniger der Mittelsmann für die Maultiere und Metalle, die wir auf dem Seeweg nach Spanien schik-ken. Das beweist, daß es viel mehr Edelleute gibt, als man glaubt, die sich für den Handel interessieren. Ich würde freilich meinen, Graf Peyrac habe es angesichts seines ausgedehnten Grundbesitzes nicht nötig, sich mit solch bürgerlichen Geschäften abzugeben. Aber vielleicht tut er es zu seiner Zerstreuung. Er soll ein Original sein.«

»Wenn ich recht begriffen habe«, sagte Angélique ruhig, »wußtet Ihr, daß man diese Mine haben wollte, und gabt zu verstehen, daß man die Tochter dazunehmen müsse.«

»Wie bizarr du die Dinge immer darstellst, Angélique! Ich finde, die Lösung, dir die Mine als Mitgift zu geben, war ausgezeichnet. Meine Töchter gut untergebracht zu sehen war mein und auch deiner armen Mutter vordringlichster Wunsch. Nun, bei uns verkauft man sein Land nicht; trotz aller bösen Schwierigkeiten ist es uns geglückt, unser elterliches Erbgut unangetastet zu erhalten. Und meine Tochter nicht nur standesgemäß, sondern auch reich zu verheiraten, das ist es, wonach ich trachte. Das Land bleibt in der Familie. Es geht nicht an einen Fremden, sondern an einen neuen Zweig, an eine neue Verbindung.«

Angélique ritt eine halbe Pferdelänge hinter ihrem Vater; so konnte er den Ausdruck ihres Gesichts nicht sehen. Die kleinen, weißen Zähne des Mädchens bissen in ohnmächtigem Zorn auf die Lippen. Sie konnte um so weniger ihrem Vater erklären, wie demütigend ihr die näheren Umstände dieser Werbung vorkamen, als dieser davon überzeugt war, aufs geschickteste für das Glück seiner Tochter gesorgt zu haben. Dennoch gab sie den Kampf nicht auf.

»Wenn ich mich recht erinnere, hattet Ihr die Grube für zehn Jahre an Molines verpachtet. Es bleiben also noch ungefähr vier Pachtjahre. Wie kann man ein Gelände, das verpachtet ist, als Mitgift geben?«

»Molines ist nicht nur einverstanden, sondern wird auch weiterhin für die Rechnung des Grafen Peyrac ausbeuten. Im übrigen hat die Arbeit bereits vor drei Jahren begonnen, wie du sehen wirst. Da sind wir!«

Vater und Tochter stiegen ab, und Nicolas trat herzu, um die Zügel der Pferde zu halten.

Der Ort, der einstens einen so trostlosen Anblick geboten hatte, war von Grund aus verändert. Ein Kanalsystem führte Wasser zu, das mehrere Steinmühlen antrieb. Stößer zermalmten Steine unter dumpfem Getöse, während dicke Felsbrocken mit dem Päuschel zerkleinert wurden.

Zwei Schmelzöfen glühten rötlich, und riesige Blasebälge fachten die Flammen an. Schwarze Holzkohlenberge türmten sich zu Seiten der Öfen, und der übrige Teil des Platzes war mit Steinhaufen bedeckt.

In die hölzernen Rinnen, in denen Wasser sprudelte, warfen Arbeiter mit Schaufelnden aus den Mühlen kommenden Gesteinssand. Andere harkten mit Hacken über den Grund der Kanäle gegen die Strömung. An einem ziemlich großen Schuppen weiter im Hintergrund waren die Türen mit Eisenstangen und Gittern, die wiederum mit dicken Hängeschlössern versperrt waren, gesichert. Zwei mit Musketen bewaffnete Männer bewachten die Zugänge.

»Der Vorrat an Silber- und Bleibarren«, erklärte stolz der Baron und fügte hinzu, er werde nächstens Molines bitten, ihr den Vorrat zu zeigen.

Dann führte er sie zum angrenzenden Steinbruch. Riesige Stufen von jeweils vier Meter Höhe bildeten jetzt eine Art römischen Amphitheaters. Da und dort führten Gänge in das Gestein, aus denen man von Eseln gezogene kleine Wagen auftauchen sah.

»Hier sind zehn sächsische Bergmannsfamilien tätig, Gießer und Steinbrecher. Mit ihnen hat Molines die Nutzung in Betrieb genommen.«

»Und wieviel bringt das im Jahr ein?« fragte Angélique.

»Tja, das ist freilich eine Frage, die ich mir noch nie vorgelegt habe ...«, gestand Armand de Sancé einigermaßen verlegen. »Du verstehst: Molines bezahlt mir regelmäßig die Pacht. Er hat die gesamten Unkosten der Einrichtung getragen. Er hat Ofensteine aus England kommen lassen, vermutlich sogar aus Spanien, wahrscheinlich im Austausch gegen Schmuggelwaren aus dem Languedoc.«

»Wahrscheinlich, so wollt Ihr sagen, durch Vermittlung desjenigen, den Ihr mir zum Ehegemahl bestimmt habt?«

»Das ist möglich. Es scheint, daß er sich mit tausend verschiedenen Dingen beschäftigt. Er ist übrigens auch Wissenschaftler, denn er hat die Konstruktionsskizze für diese Dampfmaschine entworfen.«

Der Baron führte seine Tochter zum Eingang eines der Stollen. Er zeigte ihr eine Art riesigen Eisenkessels, unter dem ein Feuer brannte und von dem aus zwei dicke, umwickelte Rohre in einen Brunnen führten. In regelmäßigen Abständen stieg aus ihm ein Wasserstrahl auf.

»Das ist eine der ersten bisher auf der Welt konstruierten Dampfmaschinen. Sie dient dazu, das Wasser aus den Stollen zu pumpen. Es ist eine Erfindung, die Graf Peyrac bei einem seiner Aufenthalte in England vervollkommnet hat. Sieh da, guten Tag, Fritz Hauer!«

Einer der Arbeiter bei der Maschine nahm seine Mütze ab und verbeugte sich tief. Sein Gesicht hatte durch den in seiner Haut verkrusteten Gesteinsstaub eine bläuliche Farbe bekommen - die Folge jahrelanger Bergmannsarbeit. An seiner einen Hand fehlten zwei Finger. Da er untersetzt und bucklig war, wirk-ten seine Arme überlang. Haarsträhnen fielen über seine kleinen, glänzenden Augen.

»Ich finde, er gleicht ein wenig dem italischen Gott Vulcanus«, sagte Monsieur de Sancé. »Kein Mensch kennt die Eingeweide der Erde besser als dieser sächsische Arbeiter. Deshalb sieht er vielleicht auch so seltsam aus. Es wird behauptet, er kenne ein Verfahren, um Blei in Gold zu verwandeln. Jedenfalls arbeitet er seit mehreren Jahren beim Grafen Peyrac, der ihn nach dem Poitou schickte, um die >Silbermine< in Gang zu bringen.«

»Graf Peyrac! Immer wieder Graf Peyrac!« dachte Angélique ein wenig unwillig.

Sie sagte mit fester Stimme:

»Vielleicht ist er deshalb so reich, dieser Graf Peyrac. Er verwandelt das Blei, das ihm sein mißgestalteter Helfershelfer schickt, in Gold. Es würde mich gar nicht wundernehmen, wenn er mich eines Tages in einen Frosch verwandelte.«

»Wirklich, du bekümmerst mich, Tochter. Weshalb dieser spöttische Ton? Du tust ja, als ob ich dein Unglück im Sinne hätte! Nichts an diesem Projekt rechtfertigt dein Mißtrauen und deinen Groll. Ich habe Freudenrufe erwartet und höre nur Sarkasmen.«

»Ihr habt recht, Vater, vergebt mir«, sagte Angélique, bestürzt und bekümmert über die Enttäuschung, die sie auf dem ehrlichen Gesicht des Edelmanns las. »Die Nonnen haben oft gesagt, ich sei nicht wie die andern und hätte eine verwirrende Art zu reagieren. Ich halte nicht damit hinter dem Berge, daß dieser Heiratsantrag mich nicht nur nicht freut, sondern mir überaus peinlich ist. Gebt mir Zeit zum Nachdenken ...«

Während des Gesprächs waren sie zu den Pferden zurückgekehrt. Angélique schwang sich rasch in den Sattel, um der allzu dienstfertigen Hilfe von Nicolas zuvorzukommen, aber sie konnte nicht verhindern, daß die braune Hand des Knechts sie berührte, als er ihr die Zügel übergab.

»Das ist sehr lästig«, sagte sie verärgert zu sich selbst. »Ich muß ihn ernsthaft zurechtweisen.«

An den Wegen blühte der Weißdorn. Der köstliche Duft, der sie an ihre Kindheitstage erinnerte, besänftigte ein wenig die Verstimmung des Mädchens.

»Vater«, sagte sie unvermittelt, »ich habe den Eindruck, es liegt Euch daran, daß ich mich wegen des Grafen Peyrac rasch entscheide. Es kommt mir da gerade ein Gedanke: Erlaubt Ihr mir, daß ich zu Molines gehe? Ich möchte ein ernstes Gespräch mit ihm führen.«

Der Baron schaute nach der Sonne, um die Uhrzeit festzustellen.

»Es ist bald Mittag. Aber ich denke, Molines wird sich ein Vergnügen daraus machen, dich an seinen Tisch zu bitten. Geh, mein Kind. Nicolas wird dich begleiten.«

Angélique war drauf und dran, dieses Geleit abzulehnen, aber sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als messe sie dem Bauern auch nur die geringste Bedeutung bei, und nachdem sie ihrem Vater fröhlich zugewinkt hatte, ritt sie im Galopp davon. Der Knecht, der auf einem Maultier saß, blieb bald zurück.

Ais Angélique eine halbe Stunde später am Parktor von Schloß Plessis vorbeikam, beugte sie sich vor, um einen Blick auf die weiße Erscheinung am Ende der Kastanienallee zu werfen.

»Philippe«, dachte sie. Und sie wunderte sich, daß dieser Name ihr plötzlich in Erinnerung kam wie ein Schlag, der ihre Melancholie steigerte.

Aber die du Plessis waren noch immer in Paris. Obwohl Parteigänger des Fürsten Condé, hatte der Marquis es verstanden, wieder in die Gunst der Königin und des Kardinals Mazarin zu gelangen, während Condé selbst, der Sieger von Rocroi, einer der glorreichsten Generäle Frankreichs, beschämt dem König von Spanien in Flandern diente. Angélique fragte sich, ob wohl das Verschwinden des Giftkästchens beim Schicksal des Fürsten eine Rolle gespielt haben mochte. Jedenfalls waren weder der Kardinal Mazarin noch der König und sein Bruder vergiftet worden. Und es hieß, Fouquet, die Seele des Komplotts gegen seine Majestät, sei von ebendieser Majestät zum Oberintendanten der Finanzen ernannt worden.

Es war belustigend zu denken, daß ein kleines Landmädchen vielleicht den Lauf der Geschichte beeinflußt hatte. Eines Tages wollte sie sich doch überzeugen, ob das Kästchen noch in seinem Versteck war. Und was hatte man wohl mit dem von ihr beschuldigten Pagen gemacht? Pah, das war nicht von Wichtigkeit!

Angélique vernahm den sich nähernden Galopp von Nicolas’ Maultier. Sie ritt weiter und erreichte bald das Haus des Verwalters.

Nach der Mahlzeit führte Molines Angélique in das kleine Arbeitszimmer, in dem er ein paar Jahre zuvor ihren Vater empfangen hatte. Hier hatte die Sache mit den Maultieren begonnen, und das Mädchen erinnerte sich plötzlich der zweideutigen Antwort, die der Verwalter auf ihre typische Kinderfrage gegeben hatte: »Was bekomme ich dafür?«

»Ihr bekommt einen Ehemann.«

Ob er bereits damals an eine Verbindung mit dem absonderlichen Grafen von Toulouse gedacht hatte? Nicht ausgeschlossen, denn Molines war ein weitblickender Mann, der tausend Projekte miteinander verquickte. Tatsächlich war ihr der Verwalter des nachbarlichen Schlosses nicht unsympathisch. Seine etwas verschlagene Art paßte zur Stellung eines Untergebenen. Eines Untergebenen, der sich bewußt war, klüger als seine Herren zu sein.

Für die Familie des verarmten benachbarten Schloßherrn hatte sich seine Initiative als ein wahrer Segen erwiesen, aber Angélique wußte, daß einzig persönliches Interesse die Triebfeder seiner Großzügigkeit und seiner Hilfe gewesen war. Das befriedigte sie, da es sie der Notwendigkeit enthob, sich ihm gegenüber verpflichtet zu fühlen und ihm demütigende Dankbarkeit zu schulden. Gleichwohl wunderte sie sich über die ehrliche Sympathie, die ihr dieser bürgerliche und berechnende Hugenotte einflößte.

»Es kommt daher, weil er im Begriff ist, etwas Neues und vielleicht Solides zu schaffen«, sagte sie sich plötzlich.

Daß sie aber in den Plänen des Verwalters die gleiche Rolle wie eine Eselin oder ein Bleibarren spielte, das ging freilich zu weit.

»Monsieur Molines«, sagte sie unvermittelt, »mein Vater spricht beharrlich von einer Heirat, die Ihr für mich mit einem gewissen Grafen Peyrac abgesprochen habt. Angesichts des starken Einflusses, den Ihr in diesen letzten Jahren über meinen Vater erlangt habt, kann ich nicht daran zweifeln, daß auch Ihr dieser Heirat eine große Bedeutung beimeßt, das heißt, daß ich aufgerufen werde, in Euren geschäftlichen Kombinationen eine Rolle zu spielen. Ich wüßte gern, welche!«

Ein kühles Lächeln kräuselte die Lippen ihres Gesprächspartners.

»Ich danke dem Himmel, daß ich Euch so wiederbegegne, wie Ihr Euch zu entwickeln verspracht, als man Euch in dieser Gegend die kleine Moorfee nannte. Tatsächlich, ich habe dem Grafen Peyrac eine schöne und kluge Frau versprochen.«

»Das war sehr gewagt. Ich hätte häßlich und dumm werden können, und das wäre Eurem Kupplergeschäft abträglich gewesen!«

»Ich verlasse mich nie auf Vermutungen. Zu wie-derholten Malen haben mir Bekannte, die in Poitiers leben, von Euch berichtet, und ich selbst habe Euch im vergangenen Jahr bei einer Prozession gesehen.«

»Ihr ließt mich also überwachen«, rief Angélique wütend aus, »wie eine Melone, die unterm Glassturz reift!«

Im selben Augenblick erschien ihr der Vergleich so komisch, daß sie lachen mußte und ihr Zorn sich legte. Im Grunde kam es ihr nur darauf an, herauszubekommen, woran sie war, und nicht in die Falle zu geraten.

»Wenn ich versuchen wollte, in der Sprache Eurer Welt zu reden«, sagte Molines ernst, »so könnte ich mich hinter den traditionellen Erwägungen verschanzen: Ein junges Mädchen, ein noch sehr junges, braucht nicht zu wissen, weshalb seine Eltern ihm diesen oder jenen Mann ausgesucht haben. Die Dinge, die sich um Blei und Silber, um Geschäft und Zoll drehen, gehören nicht ins Ressort der Frau, zumal nicht der adligen Damen. Die Angelegenheiten der Viehzucht noch weniger. Aber ich glaube Euch zu kennen, Angélique, und ich werde nicht so zu Euch reden.«

Sie stieß sich nicht an dem vertraulicheren Ton.

»Warum glaubt Ihr mit mir anders als mit meinem Vater reden zu können?«

»Das ist schwierig zu erklären, Mademoiselle. Ich bin kein Philosoph, und mein Wissen habe ich vornehmlich aus den Erfahrungen der Arbeit bezogen. Vergebt mir meine Offenheit. Aber ich möchte Euch eines sagen. Die Menschen Eurer Welt werden nie begreifen können, was mich beseelt: Es ist die Arbeit.«

»Die Bauern arbeiten noch viel mehr, will mir scheinen.«

»Sie schuften, das ist nicht dasselbe. Sie sind stumpf und unwissend und nicht auf ihren Vorteil bedacht wie die Leute von Adel, die nichts hervorbringen. Diese letzteren sind nutzlose Wesen, außer was die Führung zerstörerischer Kriege betrifft. Euer Vater beginnt zwar, etwas zu tun, aber - vergebt mir abermals, Mademoiselle - er wird die Arbeit nie begreifen können!«

»Ihr glaubt, er wird nie Erfolg haben?« fragte das Mädchen bestürzt. »Ich dachte doch, sein Geschäft ließe sich gut an, und der Beweis dessen sei, daß Ihr Euch dafür interessiert.«

»Ein Beweis wäre vor allem, wenn wir jährlich mehrere tausend Maultiere erzeugen würden, und der zweite und noch schlagendere Beweis wäre, wenn uns das beträchtliche und wachsende Einnahmen brächte: das ist das echte Zeichen eines gutgehenden Geschäfts.«

»Nun, werden wir nicht eines Tages dahin gelangen?«

»Nein, denn eine Zucht, selbst in großem Maßstab und mit einer Geldreserve für schwierige Zeiten durch Seuchen oder Kriege bleibt doch immer eine Zucht. Es ist wie mit der Bodenkultur, nämlich eine sehr langwierige und wenig einträgliche Sache. Schließlich hat weder der Boden noch das Vieh die Menschen wirklich reich gemacht. Erinnert Euch an das Beispiel der riesigen Herden der Hirten in der Bibel, deren Leben gleichwohl so kümmerlich war.«

»Wenn das Eure Überzeugung ist, verstehe ich nicht, daß Ihr, der Ihr so vorsichtig seid, Euch in eine so langwierige und wenig einträgliche Angelegenheit gestürzt habt.«

»Nun, eben hier liegt der Grund, warum wir, Euer Herr Vater und ich, Eurer bedürfen.«

»Aber ich kann schließlich doch nichts dazu tun, daß Eure Eselinnen doppelt so oft werfen.«

»Ihr könnt uns dazu verhelfen, den Ertrag zu verdoppeln.«

»Ich verstehe absolut nicht, auf welche Weise.«

»Ihr werdet meinen Gedanken leicht erfassen. Das, worauf es bei einem rentablen Geschäft ankommt, ist die Geschwindigkeit, aber da wir Gottes Gesetze nicht ändern können, bleibt uns nur übrig, die Geistesschwäche der Menschen auszunützen. So stellen also die Maultiere die Fassade des Geschäfts dar. Sie decken die laufenden Kosten, bringen uns auf guten Fuß mit der Militärintendanz, der wir Leder und Tiere verkaufen. Sie erlauben uns vor allem einen ungehinderten Warenversand bei wesentlichen Steuer- und Zollerleichterungen, und wir können schwerbeladene Wagenzüge auf die Reise schik-ken. So befördern wir mit unserem Kontingent an Maultieren Blei und Silber, das für England bestimmt ist. Auf dem Rückweg bringen die Tiere Säcke mit Glasschaum mit, die wir >Schmelzmittel< taufen, für die Grubenarbeit benötigte Produkte, in Wirklichkeit aber Gold und Silber, das auf dem Umweg über London aus dem mit uns im Krieg befindlichen Spanien kommt.«

»Ich vermag Euch nicht mehr zu folgen, Molines. Weshalb schickt Ihr Silber nach London, um dann wieder welches zurückzubringen?«

»Ich bringe die doppelte oder dreifache Menge zurück. Was das Gold betrifft, so besitzt Graf Peyrac im Languedoc ein Goldvorkommen. Wenn er Eure Silbermine besitzen wird, können die Tauschgeschäfte, die ich für ihn in diesen beiden Edelmetallen machen werde, in keiner Weise mehr verdächtig erscheinen; dann kommen eben offiziell Gold und Silber aus den beiden ihm gehörigen Minen. Hierauf beruht unser eigentliches Geschäft. Denn das Gold und Silber, das in Frankreich gewonnen werden kann, ist geringfügig. Aber im Schutze dieser winzigen nationalen Produktion können wir, wenn die hiesige Mine und die im Languedoc unter einem einzigen Namen vereinigt sind, aus den Edelmetallen Spaniens rasch Gewinn ziehen. Denn dieses Land fließt über von Gold und Silber, das aus Amerika gekommen ist; es hat die Lust an jeglicher Arbeit verloren und lebt nur noch vom Tausch seiner Rohstoffe mit anderen Ländern. Die Banken Londons dienen ihm als Vermittler. Spanien ist zugleich das reichste und ärmste Land der Welt. Was Frankreich angeht, so werden seine Handelsbeziehungen, die sich infolge einer schlechten wirtschaftlichen Führung im geheimen vollziehen, es fast gegen seinen Willen bereichern. Und uns selbst zuvor, denn die investierten Summen werden rascher zurückfließen als durch den Verkauf einer Eselin, die zehn Monate trägt und höchstens zehn Prozent des investierten Kapitals einbringen kann.«

Angélique konnte nicht umhin, sich für diese genialen Berechnungen höchlichst zu interessieren.

»Und was gedenkt Ihr mit dem Blei zu machen? Dient es lediglich als Deckmantel, oder kann es handelsmäßig ausgewertet werden?«

»Das Blei ist ein sehr gutes Geschäft. Man braucht es für den Krieg und für die Jagd. Es ist in diesen letzten Jahren noch im Wert gestiegen, seitdem die KöniginMutter florentinische Ingenieure hat kommen lassen, die in all ihren Schlössern Badeeinrichtungen schaffen, wie es bereits ihre Schwiegermutter Katharina von Medici getan hatte. Ihr habt wohl einen solchen Baderaum auf Schloß Plessis gesehen, mit seiner römischen Wanne und all den Bleirohren.«

»Und der Marquis, Euer Herr, weiß er von diesen Plänen?«

»Nein«, erklärte Molines mit einem nachsichtigen Lächeln. »Er würde nichts davon verstehen, und das mindeste, was er tun könnte, wäre, mir mein Verwalteramt zu nehmen, das ich gleichwohl zu seiner Zufriedenheit versehe.«

»Und mein Vater, was weiß er von Euerm Gold-und Silberhandel?«

»Ich habe mir gesagt, daß ihm allein schon das Wissen um die Tatsache unangenehm sein dürfte, daß spanische Metalle seinen Grund passieren. Läßt man ihn nicht besser bei dem Glauben, daß die kleinen Einkünfte, die ihm zu leben erlauben, Früchte einer ehrbaren und überkommenen Betätigung sind?«

Angélique fühlte sich verletzt durch die ein wenig geringschätzige Ironie, die aus der Stimme des Verwalters klang.

Sie bemerkte trocken:

»Und wie komme gerade ich dazu, daß Ihr mir Berechnungen enthüllt, die zehn Meilen gegen den Wind nach der Galeere riechen?«

»Von der Galeere kann gar keine Rede sein, und sollte es einmal mit einem Beamten Schwierigkeiten geben, so würden ein paar Silberstücke die Sache in die Reihe bringen. Sind nicht Mazarin und Fouquet Persönlichkeiten, die mehr Kredit haben als die Fürsten von Geblüt und der König selbst? Aus dem einfachen Grunde, weil sie Besitzer riesiger Vermögen sind. Was Euch betrifft, so weiß ich, daß Ihr Euch gegen die Sänfte sträubt, solange Ihr nicht begriffen habt, weshalb man Euch auffordert, in ihr Platz zu nehmen.«

»Und wenn ich mich weigere zu begreifen?«

»Ihr wollt doch nicht, daß Euer Vater den Schuldturm kennenlernt«, sagte der Verwalter gelassen. »Es braucht gar nicht viel, und Eure Familie fiele in größeres Elend zurück als je zuvor. Und wie sähe Eure eigene Zukunft aus? Ihr würdet wie Eure Tanten in Armut altern. Eure Brüder und Eure kleine Schwester könnten keine Schule besuchen, sie müßten später ins Ausland gehen ...«

Da er sah, daß die Augen des Mädchens zornig blitzten, fügte er in süßlichem Ton hinzu:

»Aber warum zwingt Ihr mich, dieses düstere Bild auszumalen? Ich habe mir gesagt, daß Ihr aus einem andern Stoff gebildet seid als jene Edelleute, die sich in jeder Lebenslage auf ihr Wappen berufen und von den Almosen des Königs leben ... Man überwindet Schwierigkeiten nicht, ohne sie mit beiden Händen anzupacken und ohne ein wenig mit der eigenen Person zu bezahlen. Das heißt, man muß handeln. Ich habe nichts vor Euch verborgen, damit Ihr wißt, in welche Richtung Ihr Eure Anstrengungen lenken müßt.«

Keine anderen Argumente hätten Angélique tiefer treffen können. Sie zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Sie sah das heruntergekommene Schloß Monteloup von einst, ihre im Schmutz spielenden kleinen Brüder und Schwestern, ihre Mutter mit frosterstarrten Fingern, ihren Vater an seinem kleinen Arbeitstisch sitzend und angestrengt eine Bittschrift an den König schreibend, der nie geantwortet hatte.

Der Verwalter hatte sie aus dem Elend gezogen. Nun hieß es bezahlen.

»Es ist abgemacht, Monsieur Molines«, sagte sie mit leerer Stimme, »ich werde den Grafen Peyrac heiraten.«

Nun ritt sie auf dufterfüllten Wegen zurück, aber sie war völlig in ihre Gedanken versunken und sah nichts.

Nicolas folgte ihr auf seinem Maultier. Sie achtete nicht mehr auf den jungen Knecht. Sie bemühte sich indessen, nicht nach dem Grunde der Beklemmung zu forschen, die sie noch immer empfand. Ihr Entschluß war gefaßt. Was auch kommen mochte, sie würde nicht mehr umkehren. Da war es am vernünftigsten, vorwärts zu schauen und unbarmherzig alles von sich zu weisen, was sie bei der Durchführung jenes so raffiniert aufgestellten Programms wankelmütig machen könnte.

Plötzlich rief eine Männerstimme: »Mademoiselle Angélique!«

Mechanisch zog sie die Zügel an, und das Pferd, das seit ein paar Minuten langsam dahinschritt, blieb stehen. Als sie sich umwandte, sah sie, daß Nicolas abgestiegen war und ihr ein Zeichen gab, zu ihm zu kommen.

»Was gibt es?« fragte sie.

Geheimnistuerisch flüsterte er:

»Steigt ab, ich möchte Euch etwas zeigen.«

Sie gehorchte, und nachdem der Knecht die Zügel der beiden Tiere um den Stamm einer jungen Birke geschlungen hatte, trat er unter das Laubdach eines kleinen Gehölzes. Sie folgte ihm. Ein Buchfink sang unbekümmert im dichten Gebüsch.

Mit gesenkter Stirn schritt Nicolas dahin, während er aufmerksam umherschaute. Dann kniete er nieder, und als er sich wieder erhob, reichte er Angélique in den geöffneten Händen rote, duftende Früchte.

»Die ersten Erdbeeren«, murmelte er, und der Spott seines Lächelns entzündete eine Flamme in seinen dunkelbraunen Augen.

»O Nicolas, das ist nicht recht«, protestierte Angélique.

Aber in plötzlicher Rührung füllten sich ihre Augen mit Tränen, denn in dieser Geste lag der ganze Zauber ihrer Kindheit beschlossen, die er ihr zurückgab, der Zauber von Monteloup, die Streifzüge durch die Wälder, die Kühle der Wassergräben, zu denen Valentin sie mitnahm, die Bäche, in denen man Krebse fing, Monteloup, das keiner Stätte auf Erden glich, weil sich in ihm das süßduftende Mysterium des Moors mit dem herben der Wälder vereinigte .

»Du bist töricht«, sagte sie mit weicher Stimme. »Das solltest du nicht, Nicolas .«

Aber schon pickte sie auf altgewohnte Art die zarten und köstlichen Früchte aus seinen Händen. Er stand wie in alten Zeiten ganz dicht neben ihr, aber jetzt überragte sie der früher so hagere und behende Junge mit dem Eichhörnchengesicht um Haupteslänge, und sie spürte den bäuerlichen Geruch dieser sonnengebräunten und schwarzbehaarten Männerbrust, der aus seinem offenen Hemd drang. Sie sah diese kräftige Brust in langsamen Zügen atmen, und das verwirrte sie in solchem Maße, daß sie nicht mehr den Kopf zu heben wagte, denn sie war des kühnen und heißen Blicks allzu sicher, dem sie dann begegnen würde.

Sie kostete weiter die Erdbeeren, indem sie sich ganz dem Genuß hingab, und sie bedeuteten ihr unendlich viel.

»Das letztemal Monteloup«, sagte sie sich. »Das letztemal, daß ich es schmecke. Was es an Schönem für mich gegeben hat, liegt in diesen Händen beschlossen, in den braunen Händen von Nicolas.«

Als sie die letzte Frucht verzehrt hatte, schloß sie die Augen und lehnte ihren Kopf gegen den Stamm einer Eiche.

»Hör zu, Nicolas .«

»Ich höre dir zu«, erwiderte er.

Und sie spürte seinen heißen Atem, der nach Apfelmost roch, auf ihrer Wange. Er stand so nah, fast an sie gedrängt, daß er sie in seine massive Gegenwart einhüllte. Gleichwohl berührte er sie nicht, und plötzlich merkte sie, daß er die Hände hinter dem Rücken hielt, wie um der Versuchung aus dem Wege zu gehen, sie zu ergreifen, sie an sich zu pressen. Sie empfing den beängstigenden, jeden Lächelns baren und von einer Bitte verdüsterten Blick, die nur eine einzige Deutung zuließ. Nie hatte Angélique so die Begierde eines männlichen Wesens geweckt, nie hatte sie ein klareres Geständnis der Wünsche empfangen, die ihre Schönheit weckte. Die Liebelei des Pagen in Poitiers war nur ein Spiel gewesen, der Versuch eines jungen Raubtiers, das seine Krallen erproben will.

Dies hier war etwas anderes, es war machtvoll und hart, alt wie die Welt, wie die Erde, wie das Gewitter.

Das junge Mädchen in ihr erschauerte. Wäre sie erfahrener gewesen, so hätte sie einem solchen Ruf nicht widerstehen können. Ihre Beine zitterten, aber sie schrak zurück wie die Hündin vor dem Jäger. Das Ungekannte, das sie erwartete, und das verhaltene Ungestüm des Bauern flößten ihr Furcht ein. »Schau mich nicht so an, Nicolas«, sagte sie mit bemüht fester Stimme, »ich will dir sagen .«

»Ich weiß, was du mir sagen willst«, unterbrach er in dumpfem Ton. »Ich lese es von deinen Augen und von der Art ab, wie du den Kopf hochreißt. Du bist Baronesse Sancé, und ich bin ein Knecht ... Und nun sind die Zeiten vorüber, in denen wir einander ins Gesicht sahen. Mir geziemt es, den Kopf zu senken und >Sehr wohl, gnädiges Fräulein, jawohl, gnädiges Fräulein< zu sagen, während deine Augen über mich hinweggehen, ohne mich zu sehen . Nicht mehr als ein Stück Holz, weniger als ein Hund. So manche Marquise in ihrem Schloß läßt sich von ihrem Lakaien waschen, weil ja nichts dabei ist, wenn man sich vor einem Lakaien nackt zeigt ... Ein Lakai ist kein Mann, sondern ein Möbelstück, dessen man sich bedient. Ist das die Art, in der du mich jetzt behandeln wirst?«

»Schweig, Nicolas!«

»Jawohl, ich werde schweigen.«

Er atmete heftig, aber mit geschlossenem Mund wie ein krankes Tier.

»Ich will dir ein Letztes sagen, bevor ich schweige«, begann er von neuem, »nämlich, daß es nur dich in meinem Leben gab. Ich habe es erst begriffen, als du fortgingst, und ein paar Tage lang war ich wie irre. Es ist richtig, daß ich faul, daß ich ein Schürzenjäger bin und daß ich einen Widerwillen vor der Landarbeit und dem Vieh habe. Ich bin wie etwas, das nirgends daheim ist und ewig unschlüssig in der Welt herumirren wird. Mein einziges Daheim warst du. Als du zurückkamst, habe ich kaum erwarten können zu erfahren, ob du noch immer mir gehörst, ob ich dich verloren habe. Ja, ich bin dreist und hemmungslos, ja, wenn du nur willig gewesen wärst, hätte ich dich genommen, hier auf dem Moos, in diesem kleinen Gehölz, das uns gehört, auf dieser Erde von Monteloup, die uns gehört, uns beiden ganz allein wie einstmals«, schrie er.

Die verängstigten Vögel im Laubwerk waren verstummt.

»Du faselst, mein guter Nicolas«, sagte Angélique sanft.

»Keineswegs«, erwiderte der Mann, der unter seiner Sonnenbräune erblaßte.

Sie schüttelte ihr langes Haar, das sie noch offen trug, und eine Spur von Zorn stieg in ihr auf.

»Wie soll ich denn mit dir reden?« sagte sie. »Ob es mir paßt oder nicht, es steht mir nicht mehr an, den galanten Reden eines Hirten zuzuhören. Ich muß bald den Grafen Peyrac heiraten.«

»Den Grafen Peyrac!« wiederholte Nicolas verblüfft.

Er wich ein paar Schritte zurück und schaute sie schweigend an.

»Es ist also wahr, was man sich in der Gegend erzählt?« hauchte er. »Den Grafen Peyrac? Ihr! ... Ihr! Ihr werdet diesen Mann heiraten?«

»Ja.« Sie wollte keine Fragen stellen; sie hatte ja gesagt, das genügte. Sie würde bis zum Ende blind ja sagen.

Sie schlug den kleinen Pfad ein, der sie auf die Landstraße zurückbrachte, und ihre Reitpeitsche hieb ein wenig nervös die zarten Triebe am Wegrand ab. Das Pferd und das Maultier grasten einträchtig am Waldrand. Nicolas machte sie los. Mit gesenkten Augen half er Angélique in den Sattel. Plötzlich hielt sie die rauhe Hand des Knechtes fest.

»Nicolas ... sag mir, kennst du ihn?«

Er hob die Augen zu ihr auf, und sie sah eine böse Ironie in ihnen blitzen.

»Ja ... ich habe ihn gesehen ... Er ist oft in die Gegend gekommen. Er ist ein so häßlicher Mann, daß die Mädchen davonlaufen, wenn er auf seinem schwarzen Pferd vorbeireitet. Er hinkt wie der Leibhaftige und ist böse wie er . Man sagt, er ziehe die Frauen durch Liebestränke und seltsame Lieder in sein Schloß ... Diejenigen, die ihm folgen, sieht man nie wieder, oder sie werden verrückt ... Ha! Ha! Ha! Ein hübscher Gatte, Mademoiselle de Sancé!«

»Du sagst, er hinkt?« wiederholte Angélique, deren Hände erstarrten.

»Ja, er hinkt, er hinkt! Fragt, wen Ihr wollt, man wird Euch zur Antwort geben: das ist der Große Hinkefuß des Languedoc.«

Er lachte und ging zu seinem Maultier, wobei er das Hinken imitierte.

Angélique gab ihrem Pferd die Sporen und galoppierte davon. Zwischen den Weißdornhecken hindurch flüchtete sie vor der hohnlachenden Stimme, die immer wieder rief: »Er hinkt! Er hinkt!«

Sie erreichte den Schloßhof von Monteloup fast gleichzeitig mit einem Reiter, der hinter ihr über die alte Zugbrücke ritt. An seinem schweiß- und staubbedeckten Gesicht und seinen lederverstärkten Kniehosen erkannte man sofort, daß er ein Bote war.

Zuerst begriff niemand, was er wollte, denn sein Akzent war so ungewöhnlich, daß es einer gewissen Zeit bedurfte, bis man merkte, daß er Französisch sprach. Dem herbeieilenden Baron de Sancé übergab er ein Schreiben, das er einem kleinen eisernen Behälter entnommen hatte.

»Mein Gott, morgen kommt Monsieur d’Andijos«, rief der Baron höchst aufgeregt aus.

»Wer ist denn dieser Herr?« fragte Angélique.

»Ein Freund des Grafen. Monsieur d’Andijos soll dich ehelichen .«

»Was, der auch?«

». in Stellvertretung, Angélique. Laß mich meine Sätze vollenden, Kind. Potz Sakerment, wie dein Großvater zu sagen pflegte, ich möchte wissen, was die Nonnen dich gelehrt haben, wenn sie dir nicht einmal den Respekt beibrachten, den du mir schuldest. Graf Peyrac schickt seinen besten Freund, um sich von ihm bei der ersten Eheschließungszeremonie vertreten zu lassen, die hier in der Kapelle von Monteloup stattfinden wird. Die zweite Trauung wird in Toulouse erfolgen. Dieser wird deine Familie leider nicht beiwohnen können. Der Marquis de Valérac wird dir bis ins Languedoc das Geleit geben. Diese Leute aus dem Süden sind eilfertig. Ich wußte sie unterwegs, habe sie aber nicht so früh erwartet.«

»Ich sehe, es war höchste Zeit, daß ich ja gesagt habe«, murmelte Angélique bitter.

Am Tage darauf, kurz vor Mittag, füllte sich der Hof mit dem Lärm knarrender Kutschenräder, Pferdege-wieher, durchdringenden Rufen und lebhaftem Stimmengewirr.

Der Süden landete in Monteloup. Der Marquis d’Andijos, sehr braun, mit »Dolchspitzen«-Schnurr-bart und feurigen Augen, trug eine weite Kniehose aus gelber und orangefarbener Seide, die mit Grazie sein Lebemanns-Embonpoint verbarg.

Er stellte seine Gefährten vor, die Trauzeugen sein würden: den Grafen Carbon-Dorgerac und den kleinen Baron Cerbaland.

Man führte sie in den Speisesaal, wo die Familie de Sancé auf Bocktischen ihre besten Schätze ausgebreitet hatte: Wabenhonig, Obst, gestockte Milch, gebratene Gänse, Weine von Chaillé.

Die Ankömmlinge kamen vor Durst um. Doch nach dem ersten Schluck wandte sich der Marquis d’Andijos um und spuckte wohlgezielt auf die Fliesen.

»Beim heiligen Pankratius, Baron, Eure PoitouWeine ziehen mir den Mund zusammen. Was Ihr mir da eingeschenkt habt, ist ja ein teuflischer Krätzer. Heda, Gaskogner, bringt die Fäßchen!«

Seine ungeschminkte Art, sein singender Akzent, sein Knoblauchatem belustigten Baron de Sancé aufs höchste. All das weckte die Erinnerung an eine Zeit, in der selbst bei Hofe unter Edelleuten derbe Umgangsformen üblich gewesen waren. So hatte er in Poitiers mit eigenen Augen gesehen, wie der über das unschickliche Dekolleté einer jungen Dame schok-kierte König Ludwig XIII. ein ganzes Glas Rotwein über den Tisch hinweg in das »Weihwassergefäß des Teufels« spie. Während das arme überschwemmte Mädchen sich erhob, um in einem anstoßenden Raum in Ohnmacht zu sinken, hatte der Pater Vassaut, dieser verdammte Hofjesuit, mit ernster Miene erklärt, seiner Ansicht nach sei »dieser Busen diesen Schluck wert«[1]!

»Diese Geschichte kennen wir auswendig«, flüsterte die kleine Marie-Agnès, wobei sie Angélique mit dem Ellbogen anstieß. Aber das Mädchen hatte nicht die Kraft zu lächeln. Seit dem vorhergehenden Abend hatte sie sich mit Tante Pulchérie und der Amme dermaßen abgemüht, das alte Schloß in einen präsentablen Zustand zu versetzen, daß sie sich lahm und wie zerbrochen fühlte. So war es am besten: keine Kraft mehr zum Denken zu haben. Sie hatte ihr elegantestes, in Poitiers verfertigtes Kleid angetan, das wiederum grau, aber immerhin mit einigen kleinen blauen Schleifen auf dem Mieder versehen war: das graue Entchen unter den von bunten Bändern schillernden Edelleuten. Sie wußte nicht, daß ihr warmes Gesicht, fest und zart wie eine eben reif gewordene Frucht, das aus einem großen, steifen Spitzenkragen hervorblühte, allein schon ein blendender Schmuck war. Die Blicke der drei vornehmen Herren kehrten immer wieder zu ihr zurück - in einer Bewunderung, die ihr Temperament ihnen kaum zu verbergen gestattete. Sie begannen ihr zahlreiche Komplimente zu machen, die sie infolge ihrer raschen Sprechweise und wegen jenes unwahrscheinlichen Akzents, der auch das plumpste Wort adelte, nur zur Hälfte verstand.

»Werde ich mein ganzes Leben lang solche Reden anhören müssen?« fragte sie sich verdrossen.

Währenddessen rollten die Lakaien große Fässer in den Saal, die auf Schemel gehoben und alsbald angestochen wurden.

»Saint-Emilion«, sagte Graf Carbon-Dorgerac, der aus Bordeaux stammte, »Sauternes, Médoc .«

An Apfelmost und Krätzer gewöhnt, kosteten die Bewohner von Schloß Monteloup nun mit Bedacht die angekündigten Sorten. Aber bald wurden Denis und die drei Kleinsten allzu vergnügt. Der berauschende Duft stieg ihnen in den Kopf. Angélique fühlte sich immer aufgeräumter werden. Sie sah ihren Vater lachen und nach alter Sitte und unbekümmert um seine abgetragene Leibwäsche den Rock öffnen. Doch schon knöpften auch die Edelleute ihre kurzen, ärmellosen Wämser auf; einer von ihnen nahm sogar seine Perücke ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und setzte sie danach ein wenig schief wieder auf.

Marie-Agnès packte ihre Schwester am Arm und schrie ihr gellend ins Ohr:

»Angélique, komm doch schnell! Schau dir nur die märchenhaften Dinge in deinem Zimmer an .!«

Sie ließ sich mitschleppen.

In den großen Raum, in dem sie so lange mit Hortense und Madelon geschlafen hatte, waren mächtige Laden aus Eisen und gegerbten Fellen gebracht worden, die man damals »Garderobe« nannte. Diener und Mägde hatten sie geöffnet und breiteten ihren Inhalt auf dem Boden und auf einigen beinlahmen Sesseln aus. Auf dem monumentalen Bett erblickte Angélique ein Kleid aus grünem Taft, der die gleiche Farbe wie ihre Augen hatte. Eine Spitze von ungewöhnlicher Feinheit garnierte das mit Fischbein verstärkte Mieder, und der Brusteinsatz war gänzlich mit Diamanten und Smaragden in blumenförmiger Anordnung bestickt. Das gleiche Blumenmuster wies auch der schwarze Samt der Mantille auf. Diamantenagraffen rafften ihn an den Seiten des Rockes hoch.

»Euer Hochzeitskleid«, sagte der Marquis d’Andijos, der ihnen gefolgt war. »Graf Peyrac hat unter den Stoffen, die er aus Lyon kommen ließ, lange nach einer zu Euern Augen passenden Farbe gesucht.«

»Er hat sie nie gesehen«, protestierte sie.

»Molines hat sie ihm genauestens beschrieben: >Das Meer<, hat er gesagt, >wie man es vom Ufer aus erblickt, wenn die Sonne bis zum Sand in seine Tiefen taucht.«

»Dieser Sapperments-Molines!« rief der Baron aus. »Ihr wollt mir doch nicht glauben machen, daß er ein solcher Poet ist! Ich habe Euch im Verdacht, Marquis, daß Ihr die Wahrheit verbrämt, um die Augen einer jungen Braut strahlen zu sehen, die sich über eine solche Aufmerksamkeit ihres Verlobten geschmeichelt fühlt.«

»Und dies hier! Und das! Schau doch, Angélique!« rief Marie-Agnès, deren Gesichtchen vor Aufregung glühte, immer wieder aus.

Mit ihren kleinen Brüdern Albert und Jean-Marie hob sie die feine Wäsche hoch, öffnete die Schachteln, in denen Bänder und Spitzenzeug ruhten, oder Fächer aus Pergament und Federn. Da gab es weitere schlichte, aber höchst elegante Kleider, Handschuhe, Gürtel, eine kleine goldene Uhr und tausend andere Dinge, von denen Angélique nicht einmal ahnte, wozu sie dienten, wie etwa eine kleine Perlmutterdose, in der sich eine Auswahl »Fliegen« aus schwarzem Samt auf gummierter Unterlage befanden.

»Es gehört zum guten Ton«, erklärte Graf Carbon-Dorgerac, »daß Ihr diese kleinen Schönheitspflästerchen an irgendeiner Stelle Eures Gesichts anbringt.«

»Mein Teint ist nicht so weiß, daß ich Anlaß hätte, ihn noch zu betonen«, sagte sie, indem sie die Dose wieder schloß.

Angesichts einer solchen Überfülle zögerte sie, sich dem instinktiven Entzücken einer jungen Frau hinzugeben, die sich zum erstenmal ihrer Freude an Schmuck und schönen Dingen bewußt wird.

»Und was dies hier betrifft«, fragte der Marquis d’Andijos, »sträubt sich dagegen auch Euer Teint?«

Er öffnete ein flaches Kästchen, und in dem Raum, in dem sich Mägde, Lakaien und Knechte drängten, erhoben sich Ausrufe der Bewunderung, die in ein allgemeines Gemurmel übergingen.

Auf dem weißen Atlas schimmerte eine dreifache Reihe von Perlen reinsten, ein wenig golden glänzenden Lichts. Nichts konnte besser zu einer jungen Braut passen. Ohrringe vervollständigten das Ganze, wie auch zwei Reihen kleinerer Perlen, die Angélique zuerst für Armbänder hielt.

»Das ist ein Haarschmuck«, erklärte der Marquis d’Andijos, der trotz seines Wanstes und seiner Kriegerallüren über die Nuancen der Eleganz völlig im Bilde zu sein schien. »Ihr richtet damit Eure Haarkrone auf. Allerdings kann ich Euch nicht genau sagen, auf welche Weise.«

»Ich werde Euch den Kopf putzen, Madame«, mischte sich eine große und kräftige Magd ein, indem sie herantrat.

Wenn auch jünger, glich sie doch auffallend der Amme Fantine Lozier. Dieselbe von weit zurückliegenden Invasionen herrührende sarazenische Flamme hatte der einen wie der andern die Haut verbrannt. Schon warfen sie einander aus ihren gleichfalls dunklen Augen feindselige Blicke zu.

»Das ist Marguerite, die Milchschwester des Grafen Peyrac. Diese Frau hat in den Diensten der großen Damen von Toulouse gestanden und ist ihren Herrinnen oftmals nach Paris gefolgt. Sie wird künftig Eure Kammerfrau sein.«

Geschickt nahm die Magd das schwere, goldkäfer-farbene Haar hoch und schloß es in das Perlengeflecht ein. Dann löste sie mit unbarmherziger Hand die kleinen, bescheidenen Steine von Angéliques Ohr, die Baron de Sancé seiner Tochter zu ihrer Erstkommunion geschenkt hatte, und brachte den prächtigen Schmuck an. Sodann kam das Halsband an die Reihe.

»Eigentlich müßte der Busen weiter entblößt sein«, rief der kleine Baron Cerbaland, dessen Augen, schwarz wie Brombeeren nach dem Regen, die anmutigen Formen des Mädchens zu erraten suchten.

Der Marquis d’Andijos versetzte ihm ohne Umstände einen Stockhieb auf den Kopf.

Endlich kam ein Page mit einem Spiegel hereingestürzt, und Angélique erblickte sich in ihrem neuen Glanz. Alles an ihr schien zu leuchten, selbst ihre glatte, an den Backenknochen schwach rosig gefärbte Haut. Ein plötzliches Glücksgefühl keimte in ihr auf

und teilte sich ihren Lippen mit, die sich zu einem reizenden Lächeln öffneten.

»Ich bin schön«, sagte sie zu sich.

Doch schon trübte sich alles wieder, und aus der Tiefe des Spiegels glaubte sie das furchtbare Hohngelächter aufsteigen zu hören.

»Er hinkt! Er hinkt! Er ist häßlicher als der Teufel. Oh, welch schönen Gatten Ihr da haben werdet, Mademoiselle de Sancé!«

Die Trauung mit dem Stellvertreter des Bräutigams fand eine Woche darauf statt, und die Lustbarkeiten dauerten drei Tage. Man tanzte in allen Nachbardörfern, und am Abend der Hochzeit wurden Böller und Feuerwerkskörper abgeschossen.

Im Schloßhof und bis zu den nahe gelegenen Wiesen waren große Tische aufgebaut, auf denen Humpen mit Wein und Most und alle Arten Fleisch und Obst standen, an denen sich die Bauern gütlich taten, während sie sich über die lärmenden Gaskogner und Toulousaner lustig machten, deren baskische Trommler, Lautenspieler, Geiger und Zimbelisten über den Dorfspielmann und den Schalmeienbläser die Nase rümpften.

Am Abend vor der Abreise der Braut nach dem fernen Lande Languedoc gab es ein großes Festessen im Schloßhof, das alle Honoratioren und die Schloßherren der Umgebung vereinigte. In dem großen Schlafzimmer, wo Angélique des Nachts so manches Mal dem Knarren der riesigen Wetterfahnen des alten Schlosses gelauscht hatte, half ihr die Amme beim Ankleiden. Nachdem sie liebevoll das prachtvolle Haar gebürstet hatte, reichte sie ihr das türkis-farbene Mieder und befestigte dann den juwelenbesetzten Gürtel.

»Wie schön du bist! Ach, wie schön du bist, mein Schätzchen!« seufzte sie mit verzückter Miene. »Deine Brust ist so fest, daß sie all dieser Verschnürungen gar nicht bedarf.«

»Bin ich nicht zu tief dekolletiert, Nounou?«

»Eine große Dame soll ihre Brüste zeigen. Nein, wie schön du bist - und für wen, großer Gott?« seufzte sie mit erstickter Stimme.

Angélique sah, daß über das Gesicht der alten Frau Tränen rannen.

»Weine nicht, Nounou«, sagte sie, »du nimmst mir ja allen Mut!«

»Ach, du wirst ihn brauchen, mein Kind ... Neig den Kopf, damit ich deine Halskette festmache. Was die Haarperlen angeht, so überlasse ich Margot das Feld. Ich verstehe mich nicht auf diese Schlangengebilde!«

Sie ließ sich auf die Knie nieder, um auf dem Boden die Schleppe zu ordnen, und Angélique hörte sie schluchzen.

»Vergib mir, daß ich dich nicht zu bewahren vermocht habe, mein Kind, ich, die ich dich mit meiner Milch genährt habe. Aber seitdem ich von jenem Manne reden höre, kann ich kein Auge mehr zutun.«

»Was sagt man von ihm?«

Die Amme richtete sich auf; wieder einmal bekam sie ihren starren, prophetischen Blick.

»Voller Gold! Voller lauteren Goldes ist sein Schloß ...«

»Es ist doch keine Sünde, Gold zu besitzen, Amme. Schau dir all die Geschenke an, die er mir gemacht hat. Ich bin ganz beglückt.«

»Laß dich nicht täuschen, Kind. Auf diesem Gold liegt ein Fluch. Er macht es mit seinen Retorten und Zaubersprüchen. Einer von den Pagen, der, der so gut Tamburin spielt, Henrico, hat mir gesagt, daß es in seinem Palast in Toulouse eine ganze Zimmerflucht gibt, die niemand betreten darf. Derjenige, der den Zugang bewacht, ist ein vollkommen schwarzer Mann, so schwarz wie der Grund meiner Kochkessel. Eines Tages, als der Wächter sich entfernt hatte, hat Henrico durch eine Türspalte einen großen Saal voller Glaskugeln, Retorten und Röhren gesehen. Und das pfiff und brodelte! Und plötzlich gab es eine Flamme und ein donnerähnliches Geräusch. Henrico ist davongelaufen.«

»Dieser Bursche hat eine blühende Phantasie wie alle Leute aus dem Süden.«

»Ach, es lag ein Ton von Aufrichtigkeit und Entsetzen in seiner Stimme, der einen nicht täuscht. Dieser Graf Peyrac ist ein Mann, der Macht und Reichtum vom Teufel erworben hat. Und auch die Frauen lockt er durch seltsame Zauberkünste an«, flüsterte die Amme weiter. »In seinem Palais finden Orgien statt. Der Erzbischof von Toulouse soll ihn von der Kanzel herab bloßgestellt und verdammt haben. Und der gottlose Diener, der mir die Geschichte gestern in meiner Küche unter unbändigem Gelächter erzählte, hat gesagt, auf die Predigt hin habe Graf Peyrac seinen Leuten befohlen, die Pagen und Sänftenträger des Erzbischofs zu verprügeln, und es sei bis in die Kathedrale hinein zu Schlägereien gekommen. Glaubst du, so etwas wäre bei uns möglich? Und all das Gold, das er besitzt - woher bekommt er es? Seine Eltern haben ihm nichts als Schulden und überbelasteten Grundbesitz hinterlassen. Er ist ein Edelmann, der weder beim König noch bei den Großen seine Aufwartung macht. Man erzählt, der Graf habe, als Monsieur d’Orléans, der Statthalter des Languedoc, nach Toulouse gekommen sei, sich geweigert, das Knie vor ihm zu beugen, unter dem Vorwand, es strenge ihn zu sehr an, und als Monsieur ihn ganz gelassen darauf aufmerksam machte, daß er an höchster Stelle große Vorteile für ihn erwirken könne, soll Graf Peyrac geantwortet haben .«

Die alte Fantine hielt inne und heftete hier und dort einige Nadeln an den gleichwohl gutsitzenden Rock.

»Was soll er geantwortet haben?«

»Daß ... daß, wenn jener auch einen langen Arm habe, er selber dadurch kein längeres Bein bekäme. Das ist eine Unverfrorenheit!«

»Es stimmt also, was man sich erzählt, daß er hinkt?« fragte sie, um einen gleichgültigen Ton bemüht.

»Es stimmt leider Gottes, mein Herzchen. Ach, und du bist so schön!«

»Schweig, Amme. Ich habe genug von deinem Geseufze. Ruf Margot, damit sie mich frisiert, und hör mir mit diesen Geschichten über den Grafen Peyrac auf. Vergiß nicht, daß er von nun an mein Gatte ist.«

Als es dunkel geworden war, hatte man im Hof Fackeln angezündet. Die auf der Freitreppe installierten Musiker bildeten ein kleines, aus zwei Viellen, einer Laute, einer Flöte und einer Hoboe bestehendes Orchester, das gedämpft die lärmenden Unterhaltungen begleitete. Angélique verlangte plötzlich, man möge den Dorfmusikanten holen, der sonst den Bauern auf der großen Wiese zu Füßen des Schlosses zum Tanz aufspielte. Ihr Ohr war an diese andere, ein wenig gezierte, für den Hof und die Feste der Adligen geschaffene Musik nicht gewöhnt. Ein letztes Mal wollte sie die sanften Dudelsackweisen und den kecken Klang der Schalmei hören, den das dumpfe Stampfen der bäuerlichen Holzschuhe skandierte.

Der Himmel war mit Sternen geschmückt, aber von einem leichten Dunst überzogen, der einen goldenen Hof um den Mond legte. Die Schüsseln und die guten Weine zogen unaufhörlich vorbei. Ein Korb mit runden, noch warmen Semmeln wurde vor Angélique gestellt und blieb dort stehen, bis die junge Frau den Blick zu dem erhob, der ihn ihr darreichte. Sie sah einen großen Mann, der mit einem jener weiten, hellgrauen Gewänder bekleidet war, wie sie die Müller tragen. Da ihn das Mehl wenig kostete,

waren seine Haare ebenso reichlich gepudert wie die der Schloßherrn.

»Hier ist Valentin, der Sohn des Müllers, der der Braut sein Angebinde überbringen möchte«, rief Baron Armand aus.

»Valentin«, lächelte Angélique, »ich habe dich seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen. Fährst du immer noch mit deinem Kahn durch die Kanäle, um für die Mönche von Nieul Angelika zu pflücken?«

Der junge Mann verbeugte sich sehr tief, ohne zu antworten. Er wartete, bis sie sich bedient hatte, dann nahm er seinen Korb und bot ihn reihum an. Er verlor sich in der Menge und in der Nacht.

»Wenn all diese Leute schweigen würden, könnte ich zu dieser Stunde die Unken im Moor hören«, dachte Angélique. »Wenn ich nach Jahren wiederkommen werde, höre ich sie vielleicht nicht mehr, denn dann wird das Moor trockengelegt sein.«

»Ihr müßt unbedingt von diesem hier kosten«, sagte an ihrem Ohr die Stimme des Marquis d’Andijos.

Er bot ihr ein Gericht von wenig einladendem Aussehen an, dessen Geruch jedoch köstlich war.

»Es ist ein Ragout aus grünen Trüffeln, Madame, die ganz frisch aus dem Périgord gekommen sind. Ihr müßt wissen, daß die Trüffel magische Kräfte besitzt. Es gibt kein begehrteres Gericht, um den Körper einer jungen Braut auf den Empfang der Huldigungen ihres Gatten vorzubereiten. Die Trüffel macht das Herz warm, das Blut feurig und die Haut für Liebkosungen empfindlich.«

»Nun, ich sehe keinen Anlaß, heute abend davon zu essen«, sagte Angélique kühl, indem sie die silberne Schüssel wegschob, »da ich meinem Gatten erst in einigen Wochen begegnen werde .«

»Aber Ihr müßt Euch darauf vorbereiten, Madame. Glaubt mir, die Trüffel ist die beste Freundin der Ehe. Bei solch auserlesener Kost werdet Ihr am Abend Eurer Hochzeit die Zärtlichkeit selbst sein.«

»In unserer Gegend«, sagte Angélique, während sie ihm mit einem feinen Lächeln ins Gesicht blickte, »stopft man die Gänse vor Weihnachten mit Fenchel, damit ihr Fleisch in der Nacht, da man sie gebraten verspeist, schmackhafter ist!«

Der angetrunkene Marquis brach in Lachen aus.

»Ach, wie gern wäre ich derjenige, der diese kleine Gans knabbert, die Ihr seid«, erklärte er, während er so nahe heranrückte, daß sein Schnurrbart ihre Wange berührte. »Gott soll mich verdammen«, fügte er hinzu, indem er sich, die Hand auf dem Herzen, aufrichtete, »wenn ich mich zu weiteren unschicklichen Worten hinreißen lasse. Ach, ich bin ja nicht allein schuldig, denn man hat mich getäuscht! Als mein Freund Joffrey de Peyrac mich bat, bei Euch die Rolle des Ehemanns zu spielen und die Formalitäten zu erledigen, ohne zugleich die entsprechenden reizvollen Rechte zu haben, da ließ ich ihn schwören, daß Ihr bucklig seid und schielt, aber ich sehe, daß es ihm wieder einmal gar nichts ausmacht, mich in schlimme Gewissenskonflikte zu stürzen. Ihr wollt wirklich nichts von diesen Trüffeln?«

»Nein, danke.«

»Dann werde ich sie eben essen«, erklärte er mit einer jämmerlichen Grimasse, die die junge Frau unter anderen Umständen belustigt hätte, »wenn ich auch ein falscher Ehemann bin und Junggeselle obendrein. Und die Natur möge es gut mit mir meinen, indem sie mir in dieser Festnacht eine weniger grausame Dame zuführt, als Ihr es seid.«

Sie zwang sich ein Lächeln über diese leichtfertigen Reden ab. Die Fackeln und die Leuchter verbreiteten eine unerträgliche Hitze. Kein Lüftchen regte sich. Man sang, man trank. Der Geruch der Weine und der Saucen war bedrückend. Angélique fuhr sich mit dem Finger über die Schläfen und fand sie feucht.

»Was habe ich nur«, dachte sie. »Es ist mir, als könnte ich nicht mehr an mich halten, als müßte ich ihnen haßerfüllte Worte zuschreien. Weshalb? Vater ist glücklich. Er verheiratet mich geradezu fürstlich. Die Tanten jubilieren. Graf Peyrac hat ihnen große Halsketten aus Pyrenäensteinen geschickt und allen möglichen Flitterkram. Meine Brüder und Schwestern werden eine gute Ausbildung genießen. Und ich selbst, warum beklage ich mich? Man hat uns im Kloster immer vor romantischen Träumereien gewarnt. Ein reicher Ehemann von hohem Stand, ist das nicht das höchste Ziel einer vornehmen Frau?«

Ein Zittern überkam sie, dem der ermatteten Pferde vergleichbar. Doch war sie keineswegs erschöpft. Es war eine nervöse Reaktion, eine physische Auflehnung ihres ganzen Wesens, das sich in einem Augenblick überwältigen ließ, in dem sie es am wenigsten erwartete.

»Ist es Angst? Weder Molines noch mein Vater haben mir verheimlicht, daß dieser Graf Peyrac ein Forscher ist. Von da bis zu ich weiß nicht was für teuflischen Orgien ist ein allzu weiter Weg. Nein, ich fürchte mich nicht davor. Ich glaube nicht daran.«

Neben ihr hob der Marquis de Valérac, die Serviette unter dem Kinn, mit der einen Hand eine saftige Trüffel, mit der andern sein Bordeauxglas. Er deklamierte mit leicht unsicherer Stimme, wobei ihn gelegentlich ein Schluckauf unterbrach: »O göttliche Trüffel, Segnung der Liebenden! Flöße meinen Adern den frohen Schwung der Liebe ein! Ich werde mein Schätzchen bis zum Frührot liebkosen .!«

»Das ist es«, dachte Angélique, »eben das ist es, was ich ablehne, was ich niemals ertragen werde.«

Sie sah den grausigen und mißgestalteten Edelmann vor sich, dessen Beute sie sein würde. In den stillen Nächten jenes fernen Languedoc würde der fremde Mann jedes Recht über sie haben. Mochte sie rufen, schreien, beschwören - niemand würde kommen. Er hatte sie gekauft; man hatte sie verkauft. Und so würde es sein bis ans Ende ihres Lebens!

»Das ist es, was sie alle denken und was man einander nicht sagt, was man sich vielleicht nur in den Küchen, unter Knechten und Mägden zuflüstert. Deshalb liegt etwas wie Mitleid mit mir in den Augen der Musiker aus dem Süden, in den Augen dieses hübschen Henrico mit den Kräuselhaaren zum Beispiel, der so geschickt das Tamburin schlägt. Aber die Heuchelei ist stärker als das Mitleid. Ein einziger geopferter Mensch und so viele zufriedene Leute! Das Gold und der Wein fließen in Strömen. Ist das denn schon von Wichtigkeit, was zwischen ihrem Herrn und mir vorgehen wird? Oh, ich schwöre es, nie wird er mich mit seinen Händen betasten .!«

Sie stand auf, denn sie war von einem furchtbaren Zorn erfüllt, und die Anstrengung, die sie aufwandte, um sich zu beherrschen, machte sie fast krank. Im allgemeinen Lärm blieb ihr Verschwinden unbemerkt.

Als sie den Haushofmeister bemerkte, den ihr Vater in Niort engagiert hatte, fragte sie ihn, wo der Knecht Nicolas sei.

»Er ist in der Scheune und füllt die Flaschen, Madame.«

Die junge Frau setzte ihren Weg fort. Sie schritt wie ein Automat dahin. Sie wußte nicht, weshalb sie Nicolas suchte, aber sie wollte ihn sehen. Seit der Szene in dem kleinen Gehölz hatte Nicolas nie mehr die Augen zu ihr erhoben und sich darauf beschränkt, seinen Lakaiendienst in einer mit Gleichgültigkeit vermischten Gewissenhaftigkeit zu versehen.

Sie traf ihn in der Vorratskammer an, wo er den Wein aus den Fässern in die Krüge und Karaffen umfüllte, die ihm Bediente und Pagen unaufhörlich brachten. Er war in eine gelbe Hauslivree mit goldenen Knöpfen und galonierten Aufschlägen gekleidet, die Baron Sancé für diese Gelegenheit ausgeliehen hatte. Er wirkte in diesem abgetragenen Kleidungsstück keineswegs linkisch, gab vielmehr eine recht gute Figur ab. Er richtete sich auf, als er Angélique erblickte, und machte einen tiefen Diener, wie ihn der Haushofmeister achtundvierzig Stunden lang allen Leuten des Schlosses beigebracht hatte.

»Ich habe dich gesucht, Nicolas.«

»Frau Gräfin?« Er warf einen Blick auf die Diener, die mit ihren Kannen in der Hand wartend dastanden.

»Laß dich für ein paar Augenblicke von jemandem vertreten und folge mir.«

Draußen führte sie abermals ihre Hand an die Stirn. Nein, sie wußte absolut nicht, was sie zu tun im Begriff war; die wachsende Erregung und der starke Geruch der Weinlachen auf dem Boden lähmten ihr Denkvermögen. Sie stieß das Tor einer benachbarten Scheune auf. Auch hier, wo man am frühen Abend die Flaschen gefüllt hatte, war die Luft von Weindunst erfüllt. Es war dunkel und heiß in der Scheune.

Angélique legte ihre Hände auf Nicolas’ kräftige Brust. Und plötzlich drängte sie sich an ihn, von trockenem Schluchzen geschüttelt.

»Nicolas«, stöhnte sie, »mein Kamerad, sag mir, daß es nicht wahr ist. Sie werden mich nicht fortführen, sie werden mich ihm nicht ausliefern. Ich habe Angst, Nicolas. Nimm mich in deine Arme, nimm mich fest in deine Arme!«

»Frau Gräfin ...«

»Sei still«, schrie sie, »ach, sei du nicht auch herzlos.«

Mit einer hohlen, heiseren Stimme, die ihr völlig fremd vorkam, fügte sie hinzu: »Drück mich an dich, drück mich fest an dich! Das ist alles, worum ich dich bitte.«

Er schien zu zögern, dann schlang er seine muskulösen Bauernarme um sie. Es war finster in der Scheune. Die Wärme des aufgeschichteten Strohs erzeugte etwas wie eine bebende Spannung, die derjenigen des Gewitters glich. Angélique, trunken, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, ließ die Stirn auf Nicolas’ Schultern sinken. Abermals fühlte sie sich von wildem Verlangen nach dem Manne erfaßt, doch diesmal gab sie sich ihm hin.

»Ach, du bist gut«, seufzte sie. »Du, du bist mein Freund. Ich möchte, daß du mich lieb hast ... Ein einziges Mal. Ein einziges Mal möchte ich von einem jungen und schönen Manne geliebt werden. Begreifst du?«

Sie schlang ihre Arme um den festen Nacken, zwang ihn, sein Gesicht an ihres zu lehnen. Er hatte getrunken, und sie spürte seinen heißen Weinatem.

»Lieb mich«, flüsterte sie, die Lippen an seinen Lippen. »Ein einziges Mal. Dann gehe ich fort . Willst du nicht? Liebst du mich nicht mehr?«

Er antwortete mit einem dumpfen Laut, riß sie in seine Arme, strauchelte und ließ sich mit ihr auf einen Strohhaufen fallen.

Angélique fühlte sich auf seltsame Weise hellwach und zugleich wie losgelöst von allen menschlichen Bindungen. Sie war in eine andere Welt versetzt, sie schwebte über dem, was bis dahin ihr Leben gewesen war. Benommen von der vollkommenen Finsternis der Scheune, von der Hitze und dem stickigen Geruch, von der Ungewohntheit dieser zugleich brutalen und raffinierten Liebkosungen, bemühte sie sich vor allem, ihr Schamgefühl zu bewahren, das sich wider ihren Willen verflüchtigte. Ihr ganzes Wollen war darauf gerichtet, daß es geschehen möge und rasch, denn sie konnten überrascht werden. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte sie sich immer wieder, daß es nicht der andere sein würde, der sie zum erstenmal nahm. Das würde ihre Rache sein, die Antwort an das Gold, das alles kaufen zu können glaubte.

Sie gehorchte den Weisungen des Mannes, dessen Atem immer heftiger ging, überließ sich ihm und teilte sich fügsam unter dem Gewicht dieses Körpers, der sich jetzt über sie senkte ...

Jäh leuchtete das Licht einer Laterne in der Scheune auf, und vom Tor her erhob sich der Entsetzensschrei einer Frau. Nicolas war mit einem Satz zur Seite geglitten, und Angélique sah, wie eine massige Gestalt über den Knecht herfiel. Sie erkannte den alten Wilhelm und klammerte sich mit ganzer Kraft an ihm fest. Blitzartig hatte Nicolas das Dachgebälk erklettert und oben eine Luke geöffnet. Man hörte ihn hinausspringen und davonlaufen.

Die Frau auf der Schwelle stieß noch immer Schreie aus. Es war Tante Jeanne, die in der einen Hand eine Karaffe hielt, während sie die andere an ihren bebenden Busen preßte.

Angélique ließ Wilhelm los, stürzte sich auf sie und bohrte ihre Nägel wie Krallen in den Arm der Tante.

»Werdet Ihr still sein, alte Närrin? Wollt Ihr denn, daß es zu einem Skandal kommt, daß der Marquis de Valérac mit Geschenken und Versprechungen wieder abzieht? Dann ist es aus mit Euren Pyrenäensteinen und Euren kleinen Leckereien. Schweigt still oder ich bohre meine Faust in Euren alten, zahnlosen Mund!«

Aus den benachbarten Scheunen liefen Bauern und Knechte neugierig herzu. Angélique sah ihre Amme kommen, dann ihren Vater, der trotz eifrigen Zechens und unsicheren Ganges als guter Hausherr den Verlauf des Gastgelages überwachte.

»Seid Ihr das, Jeanne, die diese Schreie ausstößt wie eine vom Teufel gekitzelte Jungfer?«

»Gekitzelt!« rief die alte Dame, der der Atem wegblieb, »Ach, Armand, ich vergehe.«

»Und weshalb, meine Teure?«

»Ich bin hierhergekommen, um ein wenig Wein zu holen. Und in dieser Scheune habe ich gesehen . habe ich gesehen .«

»Tante Jeanne hat ein Tier gesehen«, unterbrach Angélique. »Sie weiß nicht, ob es eine Schlange oder ein Marder war. Aber wirklich, Tante, Ihr solltet Euch nicht so erregen. Geht lieber zu Eurem Tisch zurück, man wird Euch den Wein bringen.«

»Natürlich, natürlich«, stimmte der Baron mit lallender Stimme zu. »Wenn Ihr schon einmal versucht, Euch nützlich zu machen, bringt Ihr die ganze Welt durcheinander.«

»Sie hat nicht versucht, sich nützlich zu machen«, dachte Angélique. »Sie hat mich belauert, sie ist mir nachgegangen. Seitdem sie im Schloß lebt und vor ihrer Stickerei sitzt wie eine Spinne in ihrem Netz, kennt sie uns alle besser, als wir selbst uns kennen. Sie ist mir nachgegangen. Und sie hat den alten Wilhelm gebeten, ihr zu leuchten.«

Ihre Finger bohrten sich noch immer in die gallertartigen Unterarme der dicken Frau.

»Ihr habt mich genau verstanden?« flüsterte sie. »Kein Wort zu irgend jemandem vor meiner Abreise, sonst, das schwöre ich Euch, werde ich Euch mit gewissen Kräutern vergiften, die ich kenne.«

Tante Jeanne gluckste ein letztes Mal und verdrehte die Augen. Aber mehr noch als die Drohung hatte die Anspielung auf ihre Halskette sie mürbe gemacht. Mit zusammengekniffenen Lippen, aber schweigend, folgte sie ihrem Bruder.

Eine rauhe Hand hielt Angélique zurück. Unsanft las der alte Wilhelm von ihren Haaren und ihrem Kleid die Strohhalme ab, die dort noch klebten.

Sie hob die Augen zu ihm auf und versuchte, den Ausdruck seines bärtigen Gesichts zu erraten.

»Wilhelm«, murmelte sie, »ich möchte, daß du begreifst ...«

»Ich brauche nichts zu begreifen, Madame«, erwiderte er auf deutsch in geringschätzigem Ton, der wie eine Ohrfeige wirkte. »Was ich gesehen habe, genügt mir.«

Er drohte mit der Faust in die Nacht und brummte einen Fluch. Erhobenen Kopfes kehrte sie an die Stätte des Festgelages zurück. Während sie sich setzte, suchte sie mit dem Blick den Marquis d’Andijos und entdeckte ihn, seelenruhig unter seinem Schemel schlafend. Die Tafel sah aus wie eine Platte mit heruntergebrannten Kirchenkerzen. Ein Teil der Gäste war aufgebrochen oder eingeschlafen. Doch auf den Wiesen wurde noch getanzt.

Wie erstarrt und ohne ein Lächeln präsidierte Angélique nun wieder ihrem Hochzeitsmahl. Daß jener Akt, der eine Rache darstellen sollte, unvollendet geblieben war, peinigte sie und erfüllte sie mit einem quälenden Gefühl der Enttäuschung. In ihrem Herzen stritten sich Zorn und Schamgefühl. Sie hatte den alten Wilhelm verloren. Monteloup verwarf sie. Nun blieb nur noch der hinkende Gatte.

Am nächsten Morgen bogen vier Kutschen und zwei schwere Gepäckwagen in die Landstraße nach Niort ein. Angélique hatte Mühe zu glauben, daß dieses Aufgebot an Pferden und Kutschern, an Geschrei und Achsengeknarr zu ihren Ehren erfolgte. Ein solcher Wirbel um Mademoiselle de Sancé, die nie ein anderes Geleit als einen alten, mit einer Lanze bewaffneten Söldner gekannt hatte, war unvorstellbar.

Die Diener, Mägde und Musikanten saßen enggedrängt in den Gepäckwagen. Auf den sonnenbeschienenen Straßen, zwischen blühenden Obstgärten, sah man diesen Geleitzug brauner Gesichter unter Gelächter, Gesang und Gitarrengeklimper in froher Unbekümmertheit dahinziehen. Die Kinder des Südens kehrten in ihr strahlendes, nach Knoblauch und Wein duftendes, mittägliches Land zurück.

Einzig Meister Clément Tonnel trug inmitten der fröhlichen Gesellschaft ein steifes Wesen zur Schau. Als Aushilfe für die Woche der Hochzeitsfestlichkeiten engagiert, hatte er gebeten, ihn zwecks Ersparung der Reisekosten bis Niort mitzunehmen. Aber schon am Abend dieser ersten Etappe suchte er Angélique auf. Er erbot sich, in ihrem Dienst zu bleiben, sei es als Haushofmeister, sei es als Kammerdiener. Er erklärte, er sei in Paris bei verschiedenen Herrschaften, deren Namen er nannte, in Stellung gewesen. Aber während er sich zur Regelung der Hinterlassenschaft seines Vaters in seiner Heimatstadt Niort aufgehalten habe, sei seine letzte Stelle von einem intriganten Diener besetzt worden. Seitdem suche er ein ehrbares Haus von Rang, um dort aufs neue ein Amt zu bekleiden.

Da er von diskretem und umsichtigem Wesen war, hatte er die Gunst der Zofe Marguerite erobert, die versicherte, ein so versierter neuer Diener werde im Palais von Toulouse höchst willkommen sein. Der Herr Graf umgebe sich mit allzu verschiedenartigen Leuten von allen Hautfarben, die nicht viel taugten. Jeder aale sich in der Sonne, und der faulste von allen sei zweifellos der mit der Oberaufsicht betraute Alphonso.

So engagierte Angélique Meister Clément. Der flößte ihr ein gewisses Unbehagen ein, ohne daß sie zu sagen wußte, weshalb, aber sie war ihm dankbar, daß er wie alle Welt redete, ohne jenen unerträglichen Akzent, der sie allmählich zur Verzweiflung brachte. Schließlich würde dieser kühle, geschmeidige, in seinen Ehrfurchtsbezeigungen fast zu servile Mann, dieser gestern noch unbekannte Diener für sie die Heimat verkörpern.

Nachdem man Niort, den verödeten Hauptort des Moorgebiets mit seinem düsteren Burgturm, passiert hatte, schaukelte die Kutsche der Gräfin Peyrac allmählich der Helligkeit entgegen. Fast unmerklich fand sich Angélique in eine ungewohnte, schattenlose, allüberall von Weingärten durchzogene Landschaft versetzt. Man fuhr nicht weit von Bordeaux vorbei. Mais und Reben wechselten miteinander ab. An der Grenze des Béarn wurden die Reisenden im Schloß Antonins de Caumont, Marquis von Péguillin, Grafen von Lauzun aufgenommen. Angélique betrachtete verwundert und zugleich belustigt diesen kleinen Mann, dessen Grazie und Geist ihn, wie Valérac versicherte, zum »größten Schmeichler bei Hofe« machten. Der König selbst, der als Jüngling ein gesetztes Benehmen an den Tag zu legen pflegte, konnte den Einfällen Péguillins nicht widerstehen, die ihn mitten in den Sitzungen des Kronrats hellauf lachen machten. Péguillin befand sich gerade auf seiner Besitzung, um einige allzu kühne Freiheiten abzubüßen, die er sich Mazarin gegenüber herausgenommen hatte. Er schien darüber nicht eben betrübt zu sein und gab tausend Geschichten zum besten.

Angélique, die sich in der damals an den Höfen üblichen galanten Sprache nicht auskannte, verstand nur die Hälfte davon, aber die Reiseetappe war lustig und anregend und entspannte sie. Der Herzog von Lauzun geriet in Begeisterung über ihre Schönheit und machte ihr Komplimente in Versen, die er stehenden Fußes improvisierte.

»O meine Freunde«, rief er aus, »ich frage mich, ob die Goldene Stimme des Königreichs darüber nicht ihren höchsten Ton verlieren wird.«

Auf diese Weise hörte Angélique zum erstenmal von der Goldenen Stimme des Königreichs reden.

»Das ist der größte Sänger von Toulouse«, erklärte man ihr. »Seit den großen Troubadours früherer Zeiten hat das Languedoc seinesgleichen nicht gekannt! Ihr werdet ihn hören, Madame, und nicht umhin können, seinem Reiz zu erliegen.«

Angélique war eifrig bemüht, ihre Gastgeber nicht durch eine verschlossene Miene zu enttäuschen. All diese Leute waren sympathisch, zuweilen ein wenig trivial, aber immer auf witzige Art. Die überhitzte Luft, die Ziegeldächer, die Blätter der Platanen hatten die Farbe des weißen Weins, und der Witz war von dessen Leichtigkeit.

Doch je mehr man sich dem Ziel näherte, desto schwerer wurde es Angélique ums Herz.

Am Abend vor dem Einzug in Toulouse bezogen sie auf einer der Besitzungen des Grafen Peyrac Quartier. Es war ein Schloß aus hellem Stein im Renaissancestil. Angélique genoß den Komfort des Baderaums mit seinem Mosaikbecken und seinem Marmor. Die lange Margot bemühte sich um sie. Sie fürchtete, der Staub und die Hitze der Landstraße könnten den Teint ihrer Herrin, dessen Stumpfheit sie insgeheim mißbilligte, noch dunkler gefärbt haben.

Sie behandelte sie mit den verschiedensten Salben und befahl ihr, auf dem Ruhebett liegenzubleiben, während sie sie mit großem Kraftaufwand massierte und ihr sodann sorgfältig die Körperhaare auszog. Angélique war diese Prozedur nicht zuwider, die im Mittelalter, als es noch in allen Städten römische Bäder gegeben hatte, selbst vom Volke ausgeübt worden war. Jetzt unterzogen sich ihr nur noch die jungen Mädchen der Gesellschaft. Es galt für höchst unschicklich, daß eine große Dame auch nur den geringsten überflüssigen Flaum an sich duldete. Indessen empfand Angélique etwas wie ein Grauen darüber, daß man sich so angelegentlich bemühte, ihren Körper zu vervollkommnen.

»Er soll mich nicht berühren«, sagte sie immer wieder zu sich. »Lieber stürze ich mich aus dem Fenster.«

Aber nichts hielt den Strudel auf, in den sie hineingerissen worden war.

Am nächsten Morgen stieg sie, krank vor Bangigkeit, ein letztes Mal in die Kutsche, die sie in ein paar Stunden nach Toulouse bringen sollte. Der Marquis d’Andijos nahm an ihrer Seite Platz. Er jubilierte und sang vor sich hin. Sein Schnurrbart war wie mit chinesischer Tinte gezogen, so gründlich hatte er ihn mit parfümierter Bartwichse behandelt.

Angélique griff unvermittelt nach seiner Hand.

»Ach, Monsieur d’Andijos, ich wollte, Ihr wäret mein richtiger Gatte! Warum seid Ihr es nicht? Ich kenne Euch jetzt. Ich mag Euch gern.«

»Madame«, erwiderte der Marquis, indem er ihr galant die Hand küßte, »Ihr ehrt mich. Aber laßt es Euch nicht verdrießen und macht Euch wegen meiner Bänder keine Illusionen, wenn mein Wanst Euch gefallen hat. Ihr müßt wissen, daß ich ärmer als ein Bettler bin und daß ich ohne den Grafen Peyrac im bloßen Hemd auf meinem baufälligen Edelhof leben müßte, neben einem Taubenschlag ohne Tauben. Alles, was ich habe, verdanke ich dem Grafen Peyrac. Ich sage es Euch, damit Ihr nichts bedauert. Er ist es, der Gold und schöne Diamanten besitzt.«

»Ich verzichte auf Gold und Diamanten. Ach, Ihr begreift nicht! Ich habe Angst!«

»Ihr habt Angst?« wiederholte er. »Und wovor fürchtet Ihr Euch, mein Herz?«

Sie gab keine Antwort, sondern wandte sich ab und lehnte die Stirn an die staubbeschmutzte Scheibe. Um nicht in Tränen auszubrechen, biß sie sich auf die Lippen.

Perplex und voll guten Willens, glaubte er das Entsetzen ihres beleidigten Schamgefühls zu begreifen.

»Ängstigt Euch nicht, mein Vögelchen«, rief er in jovialem Ton. »Alle Frauen aller Zeiten haben das durchmachen müssen. Nun ja, die Sache geht nicht ohne einen kleinen Schrei vor sich, aber bald ertönt eine andere Melodie. Und der Graf, Euer Gatte, ist ein Meister der Wollust. Glaubt mir, in der Grafschaft Toulouse werden heute viele schöne schwarze Augen weinen und andere Euch mit eifersüchtigen Blicken peitschen ...«

Aber sie hörte ihm nicht mehr zu. Seit einigen Augenblicken sah sie den Kutscher die Zügel anziehen. In kurzer Entfernung versperrte eine Ansammlung von Leuten zu Fuß und zu Pferd die Straße. Als die Kutsche mit einem letzten Ächzen der Achsen stehenblieb, vernahm man deutlich Gesang und Rufe, zu denen Tamburine den Takt schlugen.

»Beim heiligen Severin«, rief der Marquis aus, »ich glaube gar, da kommt Euer Gatte uns entgegen.«

»Schon!«

Angélique fühlte sich erbleichen. Die Pagen öffneten den Wagenschlag. Sie mußte in den Sand der Straße hinabsteigen, in die sengende Sonne. Der Himmel war von azurnem Blau. Ein heißer Brodem stieg von den reifenden Maisfeldern zu beiden Seiten des Weges auf. In übermütigem Tanzschritt kam eine Schar von Kindern daher, die in seltsamen Kostümen mit großen roten und grünen Rautenmustern steckten. Sie schlugen wilde Purzelbäume und stolperten gegen die Pferde der Reiter, die ihrerseits in ungewöhnliche Livreen aus rosa Seide mit weißen Federn gekleidet waren.

»Die Fürsten der Liebe! Die Komödianten aus Italien!« jubelte der Marquis und breitete die Arme zu einer begeisterten, seine Nachbarn gefährdenden Geste aus. »Ah! Toulouse! Toulouse!«

Nun wich die Menge zur Seite, und eine große, schlottrige und schwankende Gestalt in purpurnem Samt erschien, die sich auf einen Stock aus Ebenholz stützte. Im Rahmen einer umfänglichen schwarzen Perücke war ein Gesicht zu erkennen, das einen nicht weniger unerfreulichen Anblick bot wie die ganze Gestalt. Zwei tiefe Narben saßen an der linken Schläfe und Wange und zogen sich noch über das halbe Augenlid. Die Lippen waren kräftig und vollkommen rasiert, was gegen die herrschende Mode verstieß und das Aussehen dieser Vogelscheuche noch unheimlicher machte.

»Das kann er nicht sein«, betete Angélique. »Lieber Gott, mach, daß er es nicht ist!«

»Euer Ehegemahl, der Graf Peyrac, Madame«, sagte neben ihr der Marquis d’Andijos.

Sie neigte sich zur einstudierten Reverenz. Ihr verzweifelter Geist notierte lächerliche Einzelheiten: die Diamantenschleifen auf den Schuhen des Grafen; den höheren Absatz an einem von ihnen, der das Hinken mildern sollte; aber auch die Seidenstrümpfe, das prächtige Gewand, den Degen, den riesigen weißen Spitzenkragen.

Man redete sie an. Sie wußte nicht, was sie antwortete. Das mit wilden Trompetenstößen vermischte Tamburingetrommel betäubte sie.

Als sie wieder in ihrer Kutsche Platz nahm, landeten ein Rosengebinde und Veilchensträuße auf ihren Knien.

»Die Blumen oder vernehmlichsten Freuden<«, sagte eine Stimme. »Sie herrschen über Toulouse.«

Angélique merkte, daß nicht mehr der Marquis d’Andijos neben ihr saß, sondern der andere. Um das grausige Gesicht nicht sehen zu müssen, beugte sie sich über die Blumen.

Bald darauf tauchte die Stadt auf, bespickt mit roten Tor- und Glockentürmen.

Im Palais des Grafen Peyrac wurde Angélique eilends in ein wundervolles Kleid aus weißem Samt mit weißen Seideneinsätzen gehüllt. Die Schleifen und Knöpfe waren mit Diamanten besetzt. Während ihre Mädchen sie ankleideten, reichten sie ihr eisgekühlte Getränke, denn sie kam vor Durst um. Gegen Mittag begab sich der Zug unter Glockengeläut zur Kathedrale, wo der Erzbischof das Hochzeitspaar am Portal erwartete.

Nach Erteilung des Segens durchschritt Angélique, der Sitte gemäß, allein das Kirchenschiff. Der hinkende Edelmann schritt voraus, und die lange, rote und schwankende Gestalt kam ihr unter den von Weihrauch erfüllten Gewölben so unheimlich vor, als sei sie der Leibhaftige selbst. Draußen herrschte festlicher Trubel. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß er dem so privaten Ereignis galt, das ihre Vermählung mit dem Grafen Peyrac darstellte. Aber aller Augen waren auf sie gerichtet. Vor ihr verneigten sich feurig blickende Edelleute und prächtig geschmückte Damen.

Danach kehrte der Festzug zu Fuß von der Kathedrale zum Palais zurück. Der Weg, der dem Ufer der Garonne folgte, war mit Blumen besät, und Kavaliere in rosafarbenen Gewändern, die der Marquis d’Andijos die »Fürsten der Liebe« genannt hatte, streuten immer noch ganze Körbe voller Blütenblätter aus.

Der tiefblaue Himmel und der Duft der zertretenen Blumen machten Angélique trunken. Unversehens bemerkte sie, daß ihre goldbestickte weiße Brokatschleppe von drei kleinen Pagen mit pechschwarzen Gesichtern gehalten wurde. Sie glaubte, sie trügen Masken, dann erkannte sie, daß es wirklich Mohrenknaben waren, und hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen. Sie hatte sie bis dahin nicht bemerkt.

Und noch immer humpelte vor ihr in der Sonne die groteske Silhouette jenes Mannes, den man ihren Gatten nannte und dem man zujubelte.

Was sie da erlebte, war unwirklich und verrückt! Sie war einsam, unsagbar einsam einem wirren Traum ausgeliefert, dessen sie sich beim Erwachen vielleicht nur mit größter Mühe entsinnen würde.

Im Garten des Palais waren unter den Bäumen lange weiße Tafeln aufgebaut. Wein floß aus den Springbrunnen vor den Toren, und die Leute von der Straße durften ihn trinken. Adlige und hochgestellte Bürger hatten Zutritt zum Innern.

Angélique, die zwischen dem Erzbischof und dem roten Manne saß und nicht fähig war, etwas zu sich zu nehmen, sah eine Unmenge von Gerichten vorüberziehen. Erstarrt in Beklemmung und Groll, fühlte sie sich von all dem Lärm und Überfluß erschöpft. Ihr angeborener Stolz verbot ihr, es zu zeigen, und sie lächelte und fand für jeden ein liebenswürdiges Wort. Nur war sie unfähig, sich dem Grafen Peyrac zuzuwenden, und obwohl sie sich ihres bizarren Verhaltens bewußt war, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren andern Nachbarn, den Erzbischof. Dieser war ein sehr schöner Mann in der Blüte der Vierzigerjahre. Er besaß viel Salbung, weltliche Grazie und sehr kalte blaue Augen. Als einziger der Versammelten schien er an der allgemeinen Munterkeit nicht teilzunehmen.

»Welche Verschwendung! Welche Verschwendung!« seufzte er, indem er um sich blickte. »Wenn ich an all die Armen denke, die sich täglich am Tor des erzbischöflichen Palastes drängen, an die Kranken ohne Pflege, an die Kinder in den Ketzerdörfern, die man mangels Geld nicht ihrem Unglauben entreißen kann, dann zieht sich mir das Herz zusammen. Seid Ihr den frommen Werken zugetan, meine Tochter?«

»Ich komme eben erst aus dem Kloster, Eminenz. Aber ich wäre glücklich, wenn ich mich unter Eurer Leitung meiner Parochie widmen dürfte.«

Er senkte seinen klaren Blick auf sie und verzog sein Gesicht zu einem winzigen Lächeln.

»Ich danke Euch für Eure Fügsamkeit, meine Tochter. Aber ich weiß, wie sehr das Leben einer jungen Hausherrin von Neuartigem erfüllt ist, das ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Ich werde Euch ihm daher nicht entziehen, solange Ihr nicht den Wunsch danach äußert. Liegt nicht die größte Leistung einer Frau in dem Einfluß, den sie auf den Geist ihres Gatten nehmen soll? Eine liebende, geschickte Frau vermag heutigentags alles über ihren Gatten.«

Er neigte sich ihr zu, und die Edelsteine seines Bischofskreuzes leuchteten auf.

»Eine Frau vermag alles«, wiederholte er, »aber unter uns gesagt, Madame, Ihr habt Euch einen recht merkwürdigen Gatten erwählt .«

»Ich habe erwählt«, dachte Angélique ironisch. »Hat mein Vater ein einziges Mal diesen gräßlichen Hampelmann gesehen? Ich bezweifle es. Vater hat mich auf richtig geliebt. Um nichts in der Welt hätte er mein Unglück verursachen wollen. Aber seine Augen sahen mich reich; ich selbst sah mich geliebt. Schwester Sainte-Anne würde wieder einmal predigen, man dürfe nicht romantisch sein ... Ich werde die ganze Nacht tanzen, aber auf gar keinen Fall bleibe ich auch nur einen Augenblick mit ihm allein .«

Nervös warf sie einen Blick auf ihren Gatten. Jedesmal, wenn sie ihn anschaute, wurde ihr vor dem narbigen Gesicht, in dem zwei kohlschwarze Augäpfel glänzten, übel. Das linke Lid, das infolge der Narbe halbgeschlossen war, gab ihm einen ironischbösen Ausdruck.

In seinen Polstersessel zurückgelehnt, hatte der Graf Peyrac eben einen kleinen, braunen Stab zum Munde geführt. Ein Diener eilte herbei und hielt eine Zange mit einer glühenden Kohle an das Ende des Stäbchens.

»Ach, Graf, Ihr gebt ein beklagenswertes Beispiel!« rief der Erzbischof mit gerunzelter Stirn aus. »Ich finde, der Tabak ist die Nachspeise der Hölle. Daß man ihn in Pulverform zur Pflege der Hirnflüssigkeit und auf Rat der Ärzte gebraucht, kann ich bereits nur unwillig billigen, denn die Schnupfer scheinen mir daran ein ungesundes Vergnügen zu finden und berufen sich allzu häufig auf ihre Gesundheit, um bei jeder Gelegenheit Tabak zu reiben. Doch die Pfeifenraucher sind der Abschaum unserer Schenken, in denen sie beim Qualm dieser unseligen Pflanze stundenlang vor sich hin dösen. Bis heute habe ich noch nicht gewußt, daß auch ein Edelmann Tabak in dieser groben Form genießt.«

»Ich habe keine Pfeife, und ich schnupfe nicht. Ich rauche das gerollte Blatt, wie ich es gewisse Eingeborene in Amerika habe tun sehen. Niemand kann mir vorwerfen, ich sei gewöhnlich wie ein Musketier oder geziert wie ein Stutzer bei Hof .«

»Wenn man eine Sache auf zwei Arten machen kann, müßt Ihr immer noch eine dritte finden«, sagte der Erzbischof aufgeräumt. »So stelle ich im Augenblick bei Euch eine weitere besondere Gewohnheit fest. Ihr tut in Euer Glas weder Krötenstein noch ein Stück Horn vom Einhorn. Dabei weiß jeder, daß dies die beiden besten Mittel sind, um dem Gift zu entgehen, das eine übelgesinnte Hand jederzeit in Euren Wein gießen kann. Selbst Eure junge Frau hat diesem klugen Brauch gehuldigt. Der Krötenstein und das Horn des Einhorns verändern nämlich ihre Farbe, wenn sie in Berührung mit gefährlichen Getränken kommen. Nun, Ihr gebraucht sie nie. Glaubt Ihr, unverwundbar zu sein ... oder ohne Feinde?« fügte er mit einem Blick hinzu, dessen Funkeln Angélique beeindruckte.

»Nein, Eminenz«, erwiderte Graf Peyrac, »ich finde nur, man schützt sich am besten vor Gift, indem man nichts in sein Glas und alles in seinen Körper tut.«

»Was meint Ihr damit?«

»Dieses: Nehmt tagtäglich eine winzige Dosis irgendeines gefährlichen Giftes zu Euch.«

»Ihr tut das?« rief der Erzbischof entsetzt aus.

»Seit frühester Jugend, Eminenz. Ihr wißt wohl, daß mein Vater das Opfer eines gewissen florentinischen Tranks wurde, und gleichwohl war der Krötenstein, den er in sein Glas tat, so groß wie ein Taubenei. Meine Mutter, eine vorurteilsfreie Frau, suchte nach dem wirklichen verläßlichen Mittel, um mich zu schützen. Von einem nach Narbonne verschlagenen maurischen Sklaven lernte sie die Methode, wie man sich durch Gift vor dem Gift schützt.«

»Wozu sich einer Methode bedienen, für deren Wirksamkeit Ihr keine Gewähr habt, während die andern sich als brauchbar erwiesen haben? Natürlich muß man echten Krötenstein und echtes Horn vom Einhorn besitzen. Allzu viele Scharlatane handeln mit diesen Gegenständen und verkaufen ich weiß nicht was an ihrer Stelle.«

Graf Peyrac beugte sich ein wenig vor, um den Erzbischof anzusehen, und bei dieser Bewegung streiften seine üppigen schwarzen Locken Angéliques Hand, die zurückwich. In diesem Augenblick erkannte sie, daß ihr Gatte keine Perücke trug und daß dieses Haargebilde echt war.

»Ich möchte zu gern wissen«, sagte der Edelmann, »wie man sie sich selbst verschaffen kann. Als Kind habe ich unzählige Kröten getötet. Nie fand ich in ihrem Hirn den berühmten Schutzstein, den man Krötenstein nennt, und den man angeblich dort finden soll. Was das Horn des Einhorns betrifft, so will ich Euch verraten, daß ich die ganze Welt durchreist habe und dabei zu einem Schluß gekommen bin. Das Einhorn ist ein Fabeltier, ein Phantasiegebilde, kurz, ein Tier, das es nicht gibt.«

»Diese Dinge lassen sich nicht beweisen. Man soll die Rätsel auf sich beruhen lassen und nicht vorgeben, alles zu wissen.«

»Was mir ein Rätsel bedeutet«, sagte der Graf ruhig, »das ist, wie ein Mann von Eurer Intelligenz solchen Unsinn reden kann.«

»Mein Gott«, dachte Angélique, »ich habe noch nie erlebt, daß ein hoher Geistlicher so grob behandelt worden wäre!«

Sie starrte abwechselnd die beiden Männer an, deren Blicke einander herausfordernd begegneten.

Ihr Gatte schien ihre Erregung zu bemerken.

»Vergebt uns, Madame, daß wir in Eurer Gegenwart auf solche Weise streiten. Seine Eminenz und ich sind intime Feinde!«

»Kein Mensch ist mein Feind!« rief der Erzbischof empört aus. »Wo bliebe sonst die christliche Nächstenliebe, die im Herzen eines Dieners Gottes leben soll? Wenn Ihr mich haßt, so hasse ich Euch jedenfalls nicht. Aber ich empfinde für Euch den Kummer des Hirten um das verirrte Schaf. Und wenn Ihr nicht auf meine Worte hört, so werde ich die Spreu vom Weizen zu scheiden wissen.«

»Aha!« rief der Graf mit einem beängstigenden Lachen. »Da spricht der Nachfahre jenes Bischofs Foulques de Neuilly, der rechten Hand des schrecklichen Simon de Montfort, der die Scheiterhaufen der Albigenser errichtete und die köstliche Kultur Aquitaniens in Asche verwandelte. Das Languedoc jammert heute noch, nach vier Jahrhunderten, um seine im Namen Christi zerstörten Herrlichkeiten und zittert beim Anhören der beschriebenen Greuel. Mich, der ich aus ältestem toulousanischem Geschlecht bin, der ich ligurisches und westgotisches Blut in meinen Adern habe, mich durchschauert es, wenn mein Blick Euren nordischen blauen Augen begegnet. Nachfahre des Foulques, Nachfahre der rauhen Barbaren, die uns das Sektierertum und die Intoleranz gebracht haben, das ist es, was ich in Euern Augen lese.«

»Meine Familie ist eine der ältesten des Languedoc«, dröhnte der Bischof, indem er sich halb erhob. Und in diesem Augenblick machte ihn sein südlicher Dialekt für Angéliques Ohren fast unverständlich. »Ihr wißt genau, Ihr schamloses Ungeheuer, daß die Hälfte von Toulouse mein Erbeigentum ist. Seit Jahrhunderten sind unsere Lehnsrechte toulousanisch.«

»Seit vier Jahrhunderten! Seit knapp vier Jahrhunderten!« berichtigte Joffrey de Peyrac, der ebenfalls aufgesprungen war. »Ihr seid in den Troßwagen des Simon de Montfort mit den vermaledeiten Kreuzfahrern gekommen. Ihr seid der Eindringling! Nordmann! Nordmann! Was tut Ihr an meinem Tisch?«

Die entsetzte Angélique begann schon zu fürchten, das Wortgefecht werde in einen allgemeinen Tumult ausarten, als die übrigen Gäste bei den letzten Worten des Grafen plötzlich in schallendes Gelächter ausbrachen. Das Lächeln des Bischofs war weniger ehrlich. Als sich jedoch der mächtige Körper Joffrey de Peyracs mit Vergebung heischender Geste schwerfällig vor dem Kirchenfürsten verneigte, bot dieser den Gästen huldvoll seinen Bischofsring zum Kusse dar.

Angélique war zu bestürzt, um in den lösenden Überschwang einstimmen zu können. Die Worte, die sich die beiden Männer gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, waren keineswegs harmlos gewesen, aber tatsächlich ist für die Leute aus dem Süden das Lachen häufig der Auftakt zu den finstersten Tragödien. Mit einem Male fühlte sich Angélique in den Zustand leidenschaftlicher Gespanntheit zurückversetzt, in dem sie dank der Amme Fantine ihre Jugend verbracht hatte. So würde sie sich in dieser impulsiven Gesellschaft nicht fremd fühlen.

»Stört Euch der Tabakrauch, Madame?« fragte unvermittelt der Graf, indem er sich ihr zuwandte und ihrem Blick zu begegnen versuchte.

Sie schüttelte verneinend den Kopf. Der scharfe Geruch des Tabaks verstärkte ihre Melancholie und beschwor das Bild des alten Wilhelm im Herdwinkel und der großen Küche von Monteloup.

Auf den Rasenflächen begannen Violinen zu spielen. Obwohl sie sterbensmüde war, nahm Angélique bereitwillig die Aufforderung des Marquis d’Andijos an. Die Tänzer hatten sich auf einem großen, gepflasterten Hof versammelt, wo ein Springbrunnen Kühle verbreitete. Im Kloster hatte Angélique genügend modische Schritte erlernt, um zwischen den vornehmen Herren und Damen, von denen die meisten häufig zu längerem Aufenthalt nach Paris reisten, nicht in Verlegenheit zu geraten. Es war das erstemal, daß sie auf einem richtigen Fest tanzte, und sie begann eben Geschmack daran zu finden, als am Rande des Hofes eine Bewegung entstand. Die Paare mußten einer Menge Platz machen, die zur Stätte des Banketts drängte. Die Tänzer protestierten, doch jemand rief: »Er wird singen!« Andere wiederholten: »Die Goldene Stimme! Die Goldene Stimme des Königreichs ...!«

In diesem Augenblick legte sich leise eine Hand auf Angéliques Arm.

»Madame«, flüsterte die Kammerfrau Margot, »dies ist für Euch der Augenblick, zu verschwinden. Der Herr Graf hat mich beauftragt, Euch in das Lusthaus an der Garonne zu geleiten, wo Ihr die Nacht verbringen sollt.«

»Aber ich will nicht gehen«, protestierte Angélique. »Ich möchte diesen Sänger hören, von dem soviel geredet wird. Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Er wird für Euch singen, Madame, er wird eigens für Euch singen, der Herr Graf hat es zugesagt«, versicherte die Kammerfrau. »Aber die Sänfte erwartet Euch.«

Noch während des Redens hatte sie über die Schultern ihrer Herrin einen Kapuzenmantel geworfen. Nun reichte sie ihr eine Maske aus schwarzem Samt.

»Tut das über Euer Gesicht«, flüsterte sie. »So wird man Euch nicht erkennen. Sonst sind die jungen Leute imstande und laufen zum Lusthaus, um Eure Hochzeitsnacht mit dem Getöse ihrer Kochtöpfe zu stören.«

Die Kammerfrau prustete in die vorgehaltene Hand.

»So ist das üblich in Toulouse. Die Neuvermählten, die nicht wie Diebe davonschleichen können, müssen sich mit einer tüchtigen Summe loskaufen oder den Spektakel der bösen Geister ertragen. Der Herr Erzbischof und die Polizei bemühen sich vergeblich, diese Sitte abzuschaffen ... Da ist es am besten, man verläßt die Stadt.«

Sie drängte Angélique in das Innere einer Sänfte, die zwei kräftige Diener alsbald auf ihre Schultern nahmen. Einige Reiter tauchten aus dem Dunkel auf und bildeten das Geleit. Langsam bewegte sich die Schar durch das Labyrinth der Gassen und erreichte schließlich das freie Land.

Das Lusthaus war ein bescheidenes Gebäude, von Gärten umgeben, die sich bis zum Fluß hinunter erstreckten. Als Angélique ausstieg, war sie über die tiefe Stille verwundert, die nur durch das Zirpen der Grillen gestört wurde.

Marguerite, die bei einem der Reiter hinten aufgesessen war, glitt zur Erde und führte sie in das Innere des verlassenen Hauses. Leuchtenden Auges, ein Lächeln auf den Lippen, genoß die Zofe offensichtlich die geheimnisvolle Atmosphäre dieses Liebesnestes.

Angélique fand sich in einem Zimmer, dessen Fußboden mit Mosaiken ausgelegt war. Eine Nachtlampe brannte neben dem Alkoven, doch ihr Licht war überflüssig, denn der Mond schien so tief in den Raum, daß er den mit Spitzen besetzten Leintüchern des großen Bettes einen schneeigen Glanz verlieh.

Marguerite warf einen letzten kritischen Blick auf die junge Frau, dann kramte sie in ihrer Tasche nach einer Essenz, um deren Haut abzureiben. »Laßt mich!« protestierte Angélique ungeduldig.

»Euer Gatte wird kommen, Madame. Ihr müßt .«

»Ich muß nichts. Laßt mich.«

»Sehr wohl, Madame.« Die Zofe tauchte in einen Knicks.

»Ich wünsche der gnädigen Frau eine angenehme Nacht.«

»Laßt mich!« schrie Angélique zum drittenmal zornig.

Sie blieb allein, wütend, weil sie ihren Verdruß in Anwesenheit eines Dienstboten nicht hatte beherrschen können. Aber Marguerite war ihr unsympathisch. Ihre überlegene Art schüchterte sie ein, und sie fürchtete sich vor dem Spott ihrer schwarzen Augen.

Die junge Frau rührte sich eine gute Weile nicht von der Stelle, bis die allzu große Stille des Zimmers ihr unerträglich wurde. Die Angst, die der Lärm, der Tanz, die Unterhaltungen um sie herum eingeschläfert hatten, erwachte von neuem. Sie biß die Zähne zusammen.

»Ich habe keine Angst«, sagte sie sich, »ich weiß, was ich zu tun habe. Ich werde sterben, aber er soll mich nicht berühren.«

Sie trat zur Fenstertür, die auf die Terrasse führte. Angélique hatte nur auf Plessis solche eleganten Vorbauten gesehen, die die Architektur der Renaissance in Mode gebracht hatte.

Ein mit grünem Samt bezogenes Ruhebett lud zum Niederlegen und zum Betrachten der majestätischen Landschaft ein. Von dieser Stelle aus sah man Toulouse nicht mehr, da es von einer Flußschleife verdeckt wurde. Man genoß nur den Blick über die Gärten und den blinkenden Wasserlauf und jenseits über die Maisfelder und Weinberge.

Angélique setzte sich auf den Rand des Diwans und ließ ihren Kopf auf die Balustrade sinken. Ihre kunstvolle, von Diamanten- und Perlennadeln zusammengehaltene Frisur störte sie. Sie mühte sich, sie zu lösen.

»Warum hat diese Person mich nicht ausgekleidet und mir mein Haar gelöst?« dachte sie. »Bildet sie sich ein, mein Mann wird es tun?«

Sie lachte spöttisch und wehmütig vor sich hin.

»Mutter Sainte-Anne würde nicht versäumen, mir eine kleine Rede über die Fügsamkeit zu halten, der man sich allen Wünschen seines Ehegatten gegenüber befleißigen soll. Und wenn sie >allen< sagte, rollten ihre Augen wie Billardkugeln, und wir kicherten los, weil wir genau wußten, woran sie dachte. Aber mir liegt die Fügsamkeit nicht. Molines hatte recht, als er sagte, daß ich mich nicht vor etwas beuge, das ich nicht verstehe. Ich habe gehorcht, um Monteloup zu retten. Was kann man noch von mir verlangen? Die Silbermine gehört dem Grafen Peyrac. Er und Molines werden ihre Geschäfte weiterbetreiben, und mein Vater wird weiterhin Maultiere züchten können, die das spanische Gold transportieren ... Wenn ich sterbe, indem ich mich von diesem Balkon hinunterstürze, wird sich nichts ändern. Jeder hat bekommen, was er haben wollte .«

Endlich war es ihr geglückt, ihr Haar zu lösen. Es breitete sich seidig über ihre bloßen Schultern, und sie schüttelte es mit der etwas verwegenen Bewegung ihrer Kindheit. Da glaubte sie ein leises Geräusch zu hören. Sie wandte sich um und mußte einen Ausruf des Erschreckens unterdrücken. An den Rahmen der Fenstertür gelehnt, betrachtete sie der Hinkende. Er trug nicht mehr sein rotes Gewand, sondern war mit einer Kniehose und einem Wams aus schwarzem Samt bekleidet, das die Taille und die Ärmel eines feinen Leinenhemds unbedeckt ließ.

Er trat näher und verneigte sich tief.

»Erlaubt Ihr, daß ich mich neben Euch setze, Madame?«

Sie nickte wortlos. Er setzte sich, stützte den Ellbogen auf die Steinlehne und schaute gleichmütig vor sich hin.

»Vor mehreren Jahrhunderten«, sagte er, »stiegen unter eben diesen Sternen Edelfrauen und Troubadours auf die Wehrgänge der Burgen, und dort fanden die Minnehöfe statt. Habt Ihr je von den Troubadours des Languedoc reden hören, Madame?«

Angélique war auf eine solche Art von Unterhaltung nicht gefaßt gewesen. Sie hatte sich auf Abwehr eingerichtet und stammelte mit einiger Mühe: »Ja, ich glaube ... So nannte man die Dichter vergangener Jahrhunderte.«

»Die Dichter der Liebe. Langue d’ocl Die weiche Sprache - so verschieden von der rohen Redeweise des Nordens, der langue d’oil[2]. In Aquitanien lernte man die Kunst des Liebens, denn wenn die Ovid gesagt hat, lange vor den Troubadours selbst, ist >die Liebe eine Kunst, die man erlernen und in der man sich vervollkommnen kann, indem man ihre Gesetze erforscht<. Habt Ihr Euch schon einmal für diese Kunst interessiert, Madame?«

Sie wußte nicht, was antworten; sie war zu feinfühlig, um nicht den leicht ironischen Ton in seiner Stimme zu hören. So wie die Frage gestellt war, wäre ein Ja oder ein Nein gleichermaßen lächerlich gewesen. Sie war an Tändelei nicht gewöhnt. Betäubt von allzu vielen Ereignissen, hatte sie ihre gewohnte Schlagfertigkeit im Stich gelassen. Sie konnte nur den Kopf abwenden und mechanisch über die in Schlaf gesunkene Ebene hinwegschauen.

Sie merkte, daß der Mann näher gerückt war, rührte sich aber nicht.

»Seht«, begann er von neuem, »da drunten im Garten jenes kleine Bassin mit dem grünen Wasser, in das der Mond taucht wie ein Krötenstein in ein Glas Anis - nun, jenes Wasser hat die gleiche Farbe wie Eure Augen, mein Liebchen. Nirgends auf der Welt bin ich weder so seltsamen noch so verführerischen Augäpfeln begegnet. Und seht diese Rosen, die sich als Girlanden an unsern Balkon klammern. Sie haben den gleichen Ton wie Eure Lippen. Nein, wirklich, nie bin ich solch rosigen Lippen begegnet. Was ihre Sanftheit betrifft ... ich werde sie erproben.«

Plötzlich hatten sie zwei Hände um die Hüfte gefaßt. Angélique fühlte sich mit einer Kraft nach rückwärts gebogen, die sie bei diesem großen, mageren Manne nicht vermutet hätte. Das schreckliche Gesicht beugte sich so dicht über sie, daß es sie fast berührte. Sie schrie auf vor Entsetzen, wand sich, von Widerwillen aufgewühlt. Im gleichen Augenblick fand sie sich befreit. Der Graf hatte sie losgelassen und betrachtete sie lachend.

»So ungefähr habe ich mir das vorgestellt. Ich flöße Euch ein fürchterliches Grausen ein. Ihr möchtet Euch lieber von diesem Balkon hinabstürzen als mir angehören. Ist es nicht so?«

Sie starrte ihn klopfenden Herzens an.

Er erhob sich, und seine spinnenhafte Silhouette reckte sich unter dem mondhellen Nachthimmel auf.

»Ich werde Euch nicht zwingen, armes kleines Jungfräulein. Das ist nicht meine Art. Da hat man Euch also ganz unberührt diesem langen Hinkefuß aus dem Languedoc überliefert? Das ist ja schrecklich!«

Er beugte sich herab, und sie fand sein spöttisches Lächeln abscheulich.

»Ihr sollt wissen, daß ich in meinem Leben viele Frauen besessen habe: weiße, schwarze, gelbe und rote, aber ich habe keine mit Gewalt genommen noch mit Geld gelockt. Sie sind gekommen, und Ihr werdet auch eines Tages, eines Abends kommen .«

»Nie!«

Die Entgegnung kam scharf wie ein Peitschenhieb. Das Lächeln auf dem seltsamen Gesicht erlosch nicht.

»Ihr seid eine kleine Wilde, aber das mißfällt mir nicht. Eine leichte Eroberung macht die Liebe wertlos, eine schwierige macht sie unbezahlbar. Adieu, meine Schöne, schlaft wohl in Euerm breiten Bett, allein mit Euern anmutigen Gliedern, Euern köstlichen kleinen Brüsten, die bekümmert sind, weil sie ungestreichelt bleiben. Adieu!«

An den folgenden Tagen konnte Angélique feststellen, daß das Palais des Grafen Peyrac die am meisten aufgesuchte Stätte von Toulouse war. Es herrschte ein ewiges Kommen und Gehen, und der Hausherr nahm tätigen Anteil an all den Lustbarkeiten, die kein Ende zu finden schienen. Er wanderte von einer Gruppe zur andern, und Angélique wunderte sich, wie belebend allein seine Gegenwart wirkte.

Der Widerwille, den er am ersten Tage in ihr erregt hatte, verflog. Zweifellos war der Gedanke an die körperliche Unterwerfung, die sie ihm schuldete, Ursache ihrer heftigen Gefühle gewesen. Jetzt, da sie beruhigt war, mußte sie zugeben, daß sich die feurige Sprache, das heitere und absonderliche Wesen dieses Mannes überall Sympathien erwarben.

Gleichwohl legte er ihr gegenüber ausgesprochene Gleichgültigkeit an den Tag. Er schien sie kaum zu sehen, wenn er ihr auch die ihrem Stande gebührende Achtung erwies. Er begrüßte sie allmorgendlich, und sie präsidierte ihm gegenüber den Mahlzeiten, an denen stets mindestens ein Dutzend Personen teilnahm, unter ihnen natürlich der unvermeidliche Andijos. Die Frauen benahmen sich geziert, wie es in Paris Mode war.

»Laßt Euch nicht durch all die fremden Gesichter verdrießen, die in meinem Palais ein und aus gehen, Angélique«, sagte der Graf eines Tages zu ihr. »Wenn sie Euch lästig sind, so könnt Ihr Euch in das Lusthaus an der Garonne zurückziehen.«

Doch Angélique empfand nicht das Bedürfnis, sich abzusondern. Ganz allmählich ließ sie sich vom Reiz dieses beschwingten Lebens gefangennehmen. Einige Damen, die sie zunächst verächtlich über die Schulter angesehen hatten, mußten ihr schließlich doch Geist und Klugheit zubilligen und nahmen sie in ihre Zirkel auf. Angesichts des Erfolges der Empfänge, die der Graf in diesem Heim veranstaltete, das trotz allem auch das ihrige war, fand die junge Frau allmählich Geschmack daran, deren Gestaltung in die Hand zu nehmen. Man sah sie von den Küchen in die Gärten eilen und vom Dachgeschoß in die Keller, stets gefolgt von ihren drei Negerlein.

Sie hatte sich an ihre lustigen runden und schwarzen Gesichter gewöhnt. Es gab viele Negersklaven in Toulouse. Einzig Kouassi-Ba beeindruckte Angélique einigermaßen. Wenn der dunkle Koloß mit den emailweißen Augen vor ihr auftauchte, mußte sie sich jedesmal zusammennehmen, um nicht ängstlich zurückzuweichen. Indessen schien er sehr sanft zu sein. Er ging dem Grafen Peyrac nicht von der Seite, und er war es auch, der die Tür zu dem geheimnisvollen Raum im Innern des Palastes bewachte, in den sich der Graf jeden Abend und zuweilen sogar am Tage zurückzog. Angélique zweifelte nicht, daß dieser verschlossene Bezirk die Retorten und Fielen barg, von denen Henrico der Amme erzählt hatte. Gar zu gern wäre sie dort eingedrungen, aber sie wagte es nicht. Einem der Gäste des Hauses blieb es vorbehalten, ihr diese neue Seite an dem seltsamen Wesen ihres Gatten zu offenbaren.

Der Gast war mit Staub bedeckt. Er reiste zu Pferd und kam aus Lion über Nîmes.

Es war ein ziemlich hochgewachsener Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Er redete zuerst italienisch, ging dann zum Lateinischen über, das Angélique schlecht verstand, und drückte sich schließlich auf deutsch aus. In dieser Sprache, die Angélique vertraut war, stellte der Graf den Reisenden vor.

»Professor Bernalli aus Genf erweist mir die große Ehre hierherzukommen, um mit mir wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, die seit vielen Jahren Gegenstand eines regen Briefwechsels zwischen uns sind.«

Der Fremde verbeugte sich mit typisch italienischer Galanterie und erging sich in Protesten. Er werde gewiß mit seinen abstrakten Reden und seinen Formeln einer bezaubernden Dame lästig fallen, deren Sorgen vermutlich von weniger gewichtiger Art seien.

Halb aus Trotz, halb aus wirklicher Neugier bat Angélique, ihrer Diskussion beiwohnen zu dürfen. Um sie indessen nicht zu stören, setzte sie sich in die Nische eines hohen, nach dem Hofe geöffneten Fensters.

Es war Winter, aber es herrschte eine trockene Kälte, und die Sonne strahlte noch immer. Aus den Höfen drang der Geruch der kupfernen Kohlenbecken herauf, an denen sich die Diener wärmten.

Angélique, eine Stickerei in der Hand, lauschte dem Gespräch der beiden Männer, die sich am Kamin, in dem ein spärliches Holzfeuer brannte, einander gegenübergesetzt hatten. Ihren Worten entnahm sie, daß der Ankömmling überzeugter Anhänger eines gewissen Descartes war, den ihr Gatte jedoch heftig bekämpfte.

In einer seiner bevorzugten Posen lässig im Polstersessel zurückgelehnt, wirkte Joffrey de Peyrac kaum ernsthafter, als wenn er sich mit den Damen über Reime eines Sonetts unterhielt. Seine ungezwungene Haltung stand im Kontrast zu der seines Gesprächspartners, der, leidenschaftlich erregt durch ihren Dialog, steif auf dem Rande seines Schemels saß.

»Euer Descartes ist zweifellos ein Genie«, sagte der Graf, »aber seine Theorien strotzen von in die Augen springenden Irrtümern. Nehmen wir, wenn Ihr wollt, das Prinzip der Gravitation, das heißt der gegenseitigen Anziehung der Körper, und im speziellen des Falls der Körper auf die Erde. Descartes behauptet, wenn ein Körper an einen andern stoße, setze er ihn nur dann in Bewegung, wenn seine Masse größer sei als die des andern. Eine Kugel aus Kork, die an eine Kugel aus Gußeisen stoße, könne diese also nicht verrücken.«

»Das ist doch vollkommen evident. Und erlaubt mir, die Formulierung von Descartes zu zitieren: >Die arithmetische Summe der in Bewegung befindlichen Quantitäten der verschiedenen Teile des Universums bleibt konstante«

»Nein«, rief Joffrey de Peyrac und stand so brüsk auf, daß Angélique zusammenfuhr. »Nein, das ist eine trügerische Evidenz, und Descartes hat es nicht experimentell bewiesen. Um seinen Irrtum zu gewahren, hätte er nur mit der Pistole eine Bleikugel vom Gewicht einer Unze auf eine mehr als zweipfündige Kugel aus zusammengeballtem Papier abzuschießen brauchen. Die Papierkugel wäre aus ihrer Lage gebracht worden.«

Bernalli schaute den Grafen verblüfft an.

»Ich gestehe, daß Ihr mich verwirrt. Aber ist Euer Beispiel gut gewählt? Vielleicht tritt bei diesem Experiment mit dem Pistolenschuß ein neues Moment hinzu? Wie soll ich es nennen: die Gewalt, die Kraft .«

»Es ist ganz einfach das Moment der Geschwindigkeit. Aber es ist für das Schießen nicht spezifisch. Jedesmal, wenn ein Körper von der Stelle gerückt wird, tritt dieses Moment in Wirksamkeit. Was Descartes die Quantität der Bewegung nennt, ist das Gesetz der Geschwindigkeit und nicht eine arithmetische Summierung der Dinge.«

Bernalli hielt die Faust an die Lippen und dachte nach.

»Ich habe mir das alles bereits überlegt und auch mit Descartes selbst darüber diskutiert, als ich ihn in Den Haag traf, bevor er nach Schweden aufbrach, wo er ja leider gestorben ist. Wißt Ihr, was er mir erwidert hat? Er hat mir erklärt, dieses Gesetz der Anziehung müsse abgelehnt werden, weil >etwas Okkultes< an ihm sei und es a priori ketzerisch und suspekt erscheine.«

Graf Peyrac brach in schallendes Gelächter aus.

»Descartes wollte die Pension nicht verlieren, die Mazarin ihm bewilligt hat. Er erinnerte sich vermutlich des armen Galilei, der unter den Foltern der Inquisition seine hetzerische Theorie von der Bewegung der Erde< widerrufen mußte und später mit dem Seufzer >Und sie bewegt sich doch!< starb. Descartes hat sich zwar in der reinen Mathematik als ein Genie erwiesen, aber auf dem Gebiet der Dynamik und der allgemeinen Physik hat er nichts Entsprechendes geleistet. Seine Experimente im Zusammenhang mit dem Fallgesetz der Körper, falls er überhaupt je ernsthaft welche angestellt hat, sind embryonal. Er hätte, um sie zu vervollständigen, eine erstaunliche, aber nach meinem Dafürhalten nachweisbare Tatsache berücksichtigen müssen: nämlich, daß die Luft nicht leer ist.«

»Was wollt Ihr damit sagen? Eure Paradoxa verblüffen mich!«

»Ich behaupte, daß die Luft, in der wir uns bewegen, in Wirklichkeit nur ein spezifisch schweres Element ist, etwa wie das Wasser, das die Fische einatmen: ein Element von einer gewissen Elastizität, einer gewissen Widerstandskraft, kurz, ein für unsere Augen unsichtbares, aber echtes Element.«

»Ihr erschreckt mich«, wiederholte der Italiener.

Er stand auf und tat einige erregte Schritte durch den Raum. Dann blieb er stehen, schnappte ein paarmal wie ein Fisch nach Luft, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder an den Kamin.

»Ich bin versucht, Euch für einen Narren zu halten, und dennoch ist da etwas in mir, das Euch zustimmt. Eure Theorie könnte der Schlußstein meiner Forschungen auf dem Gebiet der in Bewegung befindlichen Flüssigkeiten sein. Ach, ich bedauere es nicht, diese gefährliche Reise unternommen zu haben, die mir das große Vergnügen verschafft, mich mit einem großen Gelehrten unseres Jahrhunderts unterhalten zu können. Aber seht Euch vor, mein Freund: Wenn man mich, dessen Worte nie die Kühnheit der Eurigen erreichten, als Ketzer bezeichnet und zwingt, in die Schweiz zu flüchten, was wird dann aus Euch werden?«

»Pah!« sagte der Graf. »Ich suche niemanden zu überzeugen, es sei denn, es handle sich um Geister, die mit der Wissenschaft vertraut sind und mich verstehen können. Ich habe nicht einmal den Ehrgeiz, das Ergebnis meiner Arbeiten niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Ich gebe mich ihnen zum Vergnügen hin, so wie es mir Vergnügen macht, mit liebenswürdigen Damen ein paar Verse zu schmieden. Ich lebe friedlich in meinem toulousanischen Palais - wer sollte da mit mir Händel suchen?«

»Das Auge der Macht ist überall«, meinte Bernalli, indem er ernüchtert um sich blickte.

Im gleichen Augenblick nahm Angélique ganz in ihrer Nähe ein sehr schwaches Geräusch wahr, und es kam ihr vor, als habe sich ein Türvorhang bewegt. Eine leichte Beklemmung überkam sie. Von da an folgte sie nur noch zerstreut dem Gespräch der beiden Männer. Ihr Blick war unbewußt auf das Gesicht Joffrey de Peyracs gerichtet. Das Zwielicht der winterlich frühen Dämmerung milderte die verunstalteten Züge des Edelmannes, und nur die dunklen, leidenschaftlich glühenden Augen, die blitzenden Zähne beim Lächeln, mit dem er ungezwungen noch seine ernstesten Worte begleitete, drängten sich auf. Angéliques Herz wurde von Unruhe erfaßt.

Als Bernalli sich zurückgezogen hatte, um sich vor Tisch zurechtzumachen, schloß Angélique das Fenster. Diener stellten Leuchter auf die Tische, während eine Magd das Feuer schürte.

Joffrey de Peyrac stand auf und näherte sich der Fensternische, in der seine Frau sich aufhielt.

»Ihr seid recht schweigsam, Liebste. Freilich ist das Eure Art. Seid Ihr bei unserem Gerede eingeschlafen?«

»Nein, im Gegenteil, ich habe höchst interessiert gelauscht«, sagte Angélique ruhig - und zum erstenmal wich ihr Blick dem ihres Gatten nicht aus. »Ich behaupte nicht, alles verstanden zu haben, aber ich will Euch gestehen, daß mir diese Art von Diskussionen mehr behagt als die Verse jener Damen oder ihrer Pagen.«

Der Mann stellte einen Fuß auf die Stufe der Nische und beugte sich vor, um Angélique forschend anzublicken.

»Ihr seid eine seltsame kleine Frau. Ich glaube, Ihr beginnt zahm zu werden, aber Ihr setzt mich noch immer in Erstaunen. Ich habe gar viele verschiedene Mittel der Verführung angewandt, um die Frau zu erobern, die ich begehrte, aber ich bin noch nie darauf gekommen, es mit der Mathematik zu versuchen.«

Angélique konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, während ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie senkte leicht verschämt die Augen über ihre Handarbeit. Um das Thema zu wechseln, fragte sie:

»Es sind also physikalische Experimente, denen Ihr Euch in jenem mysteriösen Laboratorium widmet, das Kouassi-Ba so eifersüchtig bewacht?«

»Ja und nein. Ich habe wohl einige Meßgeräte, aber mein Laboratorium dient mir vor allem für chemische Untersuchungen von Metallen wie Gold und Silber.«

»Alchimie«, sagte Angélique bewegt, und das Schloß des Gilles de Retz tauchte vor ihren Augen auf. »Weshalb wollt Ihr noch mehr Gold und Silber?« fragte sie plötzlich in leidenschaftlichem Ton. »Man möchte meinen, Ihr sucht es überall, nicht nur in Euerm Laboratorium, sondern in Spanien, in England und selbst in jenem kleinen Bleibergwerk, das meine Familie in Poitou besaß ... Und Molines hat mir gesagt, Ihr hättet auch ein Goldbergwerk in den Pyrenäen. Wozu wollt Ihr soviel Gold?«

»Man braucht viel Gold und Silber, um unabhängig zu sein, Madame. >Wenn man sich der Liebe hingeben will, darf man keine materiellen Sorgen haben<,

sagt Meister André de Chapelain zu Beginn seiner Abhandlung über die Kunst des Liebens.«

»Glaubt nicht, daß Ihr mich mit Geschenken und Reichtümern gewinnen werdet«, sagte Angélique kühl.

»Ich glaube gar nichts, mein Herz. Ich warte auf Euch. Ich seufze. Jeder Liebhaber soll in Gegenwart seiner Geliebten erbleichen.< Ich erbleiche. Findet Ihr, daß ich nicht genügend erbleiche? Ich weiß sehr wohl, daß den Troubadours anempfohlen wird, vor ihrer Dame in die Knie zu sinken, aber das ist eine Bewegung, zu der mein Bein sich nicht entschließen kann. Ich bitte darob um Vergebung. Oh, seid versichert, daß ich wie Bernard de Ventadour, der göttliche Poet, sagen kann: >Die Liebesqualen, die mir diese Schöne verursacht, deren ergebener Sklave ich bin, werden meinen Tod herbeiführen!< Ich sterbe, Madame.«

Angélique schüttelte lachend den Kopf.

»Ich glaube Euch nicht. Ihr seht nicht so aus, als ob Ihr sterben würdet ... Ihr schließt Euch in Euer Laboratorium ein, oder Ihr sucht die Häuser gewisser toulousanischer Damen auf, um ihnen bei ihren poetischen Bemühungen beizustehen!«

»Vermißt Ihr mich etwa, Madame?«

Sie zögerte mit einem Lächeln auf den Lippen, da sie den spielerischen Ton wahren wollte.

»Zerstreut zu werden, das ist es, was ich vermisse, und Ihr seid die personifizierte Zerstreuung und Abwechslung.«

Und sie nahm ihre Arbeit wieder auf. Sie wußte nicht, ob sie den Ausdruck liebte oder haßte, mit dem Joffrey de Peyrac sie zuweilen bei ihren spaßhaften Streitgesprächen anschaute.

Plötzlich verloren seine Worte ihren ironischen Unterton, und in den Pausen des Schweigens hatte sie den Eindruck, unter einem seltsamen Zwang zu stehen, der sie einhüllte, verbrannte. Sie fühlte sich nackt, ihre kleinen Brüste strafften sich unter den Spitzen ihres Mieders. Sie hatte das Bedürfnis, die Augen zu schließen.

»Er nützt es aus, daß mein Mißtrauen eingeschläfert ist, um seine Zaubermittel an mir auszuprobieren«, sagte sie sich an diesem Abend mit einem kleinen Schauder der Bangigkeit und der Lust.

Joffrey de Peyrac zog die Frauen an. Sie konnte es nicht leugnen, und was in den ersten Tagen für sie Anlaß zur Verblüffung gewesen war, wurde ihr allmählich verständlich. Er brauchte nur zu erscheinen, und ein Fieberstrom durchlief die weibliche Versammlung. Er wußte, wie man mit Frauen sprach. Der beißende wie der sanfte Ton stand ihm zur Verfügung, er verstand sich auf die Worte, die in derjenigen, an die sie sich richteten, den Eindruck erwecken, vor allen andern ausgezeichnet zu werden. Angélique bäumte sich wie ein widerspenstiges Pferd unter der einschmeichelnden Stimme. Schwindel erfaßte sie, als ihr die Worte der Amme einfielen: »Er zieht die Frauen durch absonderliche Lieder an .«

Als Bernalli wieder eintrat, erhob sich Angélique, um ihm entgegenzugehen. Sie streifte den Grafen Peyrac und bedauerte plötzlich, daß dessen Hand sich nicht ausgestreckt hatte, um sie um die Hüfte zu fassen.

Ein hysterisches Lachen hallte durch die verlassene Galerie.

Angélique blieb stehen und schaute umher. Das Lachen klang fort, stieg bis zu den spitzesten Tönen hinauf, fiel zu einer Art Schluchzer hinab, um abermals aufzusteigen. Es war eine Frau, die lachte. Angélique sah sie nicht. Dieser Flügel des Palastes, den sie zu mittäglich warmer Stunde aufsuchte, war sehr still. Die erste Hitze des April lag lähmend über dem Haus. Die Pagen schliefen auf den Treppen. Angélique, die keine Mittagsruhe zu halten pflegte, hatte sich vorgenommen, einen Rundgang durch ihr Heim zu machen, dessen Winkel sie noch nicht alle kannte. Der Treppen, Säle, von Loggien unterbrochenen Gänge waren unzählige. Durch die Fenster und Luken erblickte man die Stadt, ihre hohen Kirchtürme mit den von Himmelsblau erfüllten Öffnungen, die breiten, roten Dämme am Ufer der Garonne.

Alles schlief. Angéliques langer Rock verursachte ein Geräusch auf den Fliesen, das wie Blätterrauschen klang.

Mit einem Male war dieses durchdringende Lachen aufgeklungen. Die junge Frau entdeckte am Ende der Galerie eine halbgeöffnete Tür. Es gab ein Geräusch wie von verschüttetem Wasser, und das Lachen brach jäh ab. Eine Männerstimme sagte:

»Jetzt, da Ihr Euch beruhigt habt, werde ich Euch anhören.«

Es war die Stimme Joffrey de Peyracs.

Angélique näherte sich leise der Tür und spähte durch den Spalt. Ihr Gatte saß auf einem Sessel. Sie sah nur die Rückenlehne und eine seiner Hände, die auf der Armstütze ruhte und eins jener Tabakstäbchen hielt, die er Zigarre nannte.

Vor ihm kniete in einer Wasserlache eine sehr schöne Frau, die Angélique nicht kannte. Sie trug ein prächtiges schwarzes Kleid, war aber offensichtlich bis auf die Haut durchnäßt. Neben ihr ließ ein leerer bronzener Kübel eindeutig erkennen, was mit seinem Inhalt geschehen war, der für gewöhnlich zum Kühlen der Weinflaschen diente.

Die Frau, der die langen schwarzen Haare an den Schläfen klebten, schaute verstört auf die aufgeweichten Spitzen an ihren Handgelenken.

»Mich«, rief sie mit erstickter Stimme aus, »mich wagt Ihr so zu behandeln?«

»Es mußte sein, meine Schöne«, erwiderte Joffrey in sanft vorwurfsvollem Ton. »Ich konnte es nicht zulassen, daß Ihr noch länger Eure Würde vor mir verliert. Ihr hättet es mir nie verziehen. Kommt, steht auf, Carmencita. Bei dieser fürchterlichen Hitze werden Eure Kleider rasch trocknen. Setzt Euch in diesen Sessel hier.«

Sie erhob sich widerwillig. Es war eine hochgewachsene Frau von der fülligen Schönheit jenes Typs, den die Maler Rembrandt und Rubens verherrlichten.

Sie ließ sich auf dem ihr angewiesenen Sessel nieder. Ihre großen dunklen Augen starrten mit einem verstörten Ausdruck vor sich hin.

»Was ist denn?« ließ sich der Graf wieder vernehmen - und Angélique erbebte, denn diese von dem unsichtbaren Sprecher losgelöste Stimme hatte einen Reiz, der ihr noch nie bewußt geworden war. »Seht, Carmencita, nun ist über ein Jahr vergangen, seit Ihr Toulouse verlassen habt. Ihr gingt nach Paris mit Eurem Gatten, dessen hohe Stellung Euch ein glänzendes Leben gewährleistete. Ihr habt die Undankbarkeit gegenüber unserer armen, kleinen provinziellen Gesellschaft so weit getrieben, daß Ihr nie ein Lebenszeichen gabt. Und nun werft Ihr Euch mit einem Male hier in diesem Palais vor mir nieder und schreit, fordert ... was denn eigentlich?«

»Liebe!« erwiderte sie mit heiserer und atemloser Stimme. »Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Ach, unterbrich mich nicht. Du ahnst nicht, wie ich in diesem langen Jahr gelitten habe. Ja, ich glaubte, Paris werde meinen Durst nach Genuß und Lustbarkeiten stillen. Aber inmitten der schönsten Hoffeste überkam mich der Überdruß. Ich mußte an Toulouse denken, an dieses rosafarbene Palais. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit leuchtenden Augen von ihm schwärmte, und die Leute machten sich über mich lustig. Ich habe Liebhaber gehabt. Ihre Plumpheit stieß mich ab. Und da begriff ich: Du warst es, der mir fehlte. Nachts lag ich mit offenen Augen da, und ich sah dich. Ich sah diese deine Augen, die so brannten, daß ich fast verging; deine weißen, wissenden Hände .«

»Meinen graziösen Gang«, warf er mit einem kleinen Lächeln ein. Er stand auf und trat zu ihr, wobei er sein Hinken übertrieb.

Sie starrte ihn tragisch an.

»Versuch nicht, dich mir verächtlich zu machen. Dein Lahmen, deine Narben - zählt das in den Augen der Frauen, die du geliebt hast, verglichen mit dem Geschenk, das du ihnen machst?«

Sie streckte die Hände nach ihm aus.

»Du, du schenkst ihnen die Wollust«, flüsterte sie. »Bevor ich dich kannte, war ich kalt. Du hast ein Feuer in mir entzündet, das mich verzehrt.«

Angéliques Herz klopfte zum Zerspringen. Sie fürchtete - sie wußte selbst nicht was, vielleicht daß die Hand ihres Gatten sich auf die schöne, golden schimmernde, schamlos dargebotene Schulter legen würde.

Doch der Graf lehnte sich an einen Tisch und rauchte seelenruhig. Er zeigte sich im Profil, und die Versehrte Seite seines Gesichts war unsichtbar. Plötzlich war es ein anderer Mann, den sie da entdeckte, dessen Züge unter der Fülle des dichten Haars rein wie eine Medaille wirkten.

»Erinnere dich der Leitsätze der höfischen Liebe, die dieses Haus dich gelehrt hat«, sagte er, während er lässig eine blaue Rauchwolke ausstieß. »Kehre nach Paris zurück, Carmencita. Das ist die Zuflucht der Leute deiner Art.«

»Wenn du mich fortjagst, werde ich mich ins Kloster zurückziehen. Mein Mann will mich ohnehin dort einschließen.«

»Vortrefflicher Gedanke, meine Liebe. Ich habe mir sagen lassen, daß in Paris derzeitig unzählige fromme Zufluchtsstätten gegründet werden. Eben erst ist das wunderschöne Kloster Val-de-Grâce vollendet worden, das die Königin Anna von Österreich für die Benediktinerinnen gestiftet hat. Auch das Haus der Heimsuchung Maria in Chaillot ist sehr gefragt.«

Carmencitas Augen flammten auf.

»Das ist also alles, was du zu sagen weißt? Ich bin bereit, mich unter einem Schleier zu begraben, und du bedauerst mich nicht einmal?«

»Wenn in dieser ganzen Angelegenheit jemand zu bedauern ist, kann es nur der Fürst Mérecourt, Euer Gatte, sein, der die Torheit besaß, Euch im Gepäckwagen seiner Botschaft aus Madrid mitzunehmen. Gib endlich den Versuch auf, mich mit deiner vulkanischen Existenz zu verquicken, Carmencita.«

»Ist es jene Frau, deine Frau, deretwegen du so mit mir sprichst? Ich glaubte, du habest sie geheiratet, um deine Habgier zu befriedigen. Eine Grundstück sangelegenheit, sagtest du mir. Hast du sie denn zur Geliebten erwählt? ... Oh, ich zweifle nicht, daß sie unter deinen Händen eine bemerkenswerte Schülerin wird. Wie konntest du dich hinreißen lassen, ein Mädchen aus dem Norden zu lieben?«

»Sie stammt nicht aus dem Norden, sondern aus dem Poitou. Ich kenne das Poitou, ich bin dort gereist; es ist ein liebliches Land, das früher zu Aquitanien gehörte. Die langue d’oc erkennt man noch im Dialekt der Bauern, und Angélique hat die gleiche Hautfarbe wie die Mädchen hierzulande.

»Ich merke wohl, daß du mich nicht mehr liebst«, rief unvermittelt die Frau aus. »Oh, ich durchschaue dich mehr, als du ahnst.«

Sie sank in die Knie und klammerte sich an Joffreys Wams.

»Noch ist es Zeit. Liebe mich! Nimm mich! Nimm mich!«

Angélique konnte es nicht mehr mitanhören. Sie lief durch die Galerie, stieg die Wendeltreppe des Turms hinauf, erreichte ihr Zimmer und warf sich auf das Bett.

»Das ist zuviel«, sagte sie immer wieder zu sich. Aber nach und nach mußte sie sich eingestehen, daß sie nicht wußte, weshalb sie so außer Fassung war. Jedenfalls war es unerträglich. So konnte es nicht weitergehen.

Angélique biß zornig in ihr Spitzentaschentuch und schaute verdüsterten Sinnes um sich. Zuviel Liebe, das war es, was sie zur Verzweiflung brachte. Alle Welt sprach von Liebe, diskutierte über die Liebe in diesem Palais.

Sie zog heftig an der Glocke aus vergoldetem Silber, und als Marguerite erschien, befahl sie ihr, eine Sänfte kommen zu lassen, denn sie wolle sich unverzüglich nach dem Lusthaus an der Garonne begeben.

Nachdem es dunkel geworden war, blieb Angélique lange auf der Terrasse ihres Zimmers.

Allmählich übte die Stille der Landschaft eine beruhigende Wirkung auf ihre Nerven aus.

An diesem Abend wäre sie nicht fähig gewesen, in Toulouse zu bleiben, im Wagen über die Féria spazierenzufahren, um den Sängern zu lauschen, und danach dem großen Diner zu präsidieren, das Graf Peyrac im Garten gab, im Scheine venezianischer Laternen. Sie hatte erwartet, ihr Gatte werde sie mit Gewalt zurückholen, um ihre Gäste zu empfangen, aber kein Bote war aus der Stadt gekommen, den Flüchtling heimzubringen. Damit hatte sie den Beweis, daß er sie nicht brauchte. Niemand brauchte sie hier. Sie war eine Fremde.

Da Marguerite sich enttäuscht gezeigt hatte, dem Fest nicht beiwohnen zu können, hatte sie sie nach Toulouse zurückgeschickt und nur ein junges Kammermädchen und ein paar Wächter zu ihrem Schutz bei sich behalten.

In ihrer Einsamkeit versuchte Angélique sich zu sammeln und in ihrem Innern klar zu sehen.

Ihr Vater hatte ihr oftmals angekündigt, eines Tages werde sie für ihren Mangel an Diskretion bestraft werden. Aber Angélique bereute nichts und empfand nicht einmal Skrupel über ihre Handlungsweise. War es ihre Schuld, wenn sie hinter so manche Dinge kam, die nicht für sie bestimmt waren? Wenn ihr Schritt so leise war, wenn sie jene Gabe besaß, sich unsichtbar zu machen, die einstens die Bauern von Monteloup ihr zugeschrieben hatten?

Jedenfalls war es ihr lieber, gewarnt zu sein.

Gewarnt wovor? Sie mußte Joffrey zubilligen, daß er sie auf keine Weise betrogen hatte. Weshalb war sie dann bis zu Tränen gedemütigt? Ihre Naivität ging nicht so weit, daß sie sich einbildete, der Graf Peyrac habe in mehr als einjähriger Ehezeit nicht an-derswärts ein Glück gesucht, das sie ihm verweigerte. Im übrigen gehörten in Toulouse die hintergangenen Ehemänner und die betrogenen Ehefrauen zur herrschenden Sitte, mit dem einzigen Unterschied, daß man über die hintergangenen Ehemänner lachte und die betrogenen Ehefrauen bedauerte. Aber wie in Paris und am Hof des Königs galt es nicht als schicklich, sich mit ehelicher Treue zu brüsten. Das schmeckte allzu sehr nach Kleinbürgerlichkeit.

Angélique ließ ihre Stirn auf die Balustrade sinken. »Ich für mein Teil werde nie die Liebe kennenlernen«, sagte sie sich melancholisch.

Als sie sich endlich müde in ihr Zimmer zurückziehen wollte, präludierte eine Gitarre unter ihren Fenstern. Angélique beugte sich hinaus, konnte aber zwischen den dunklen Schatten der Gebüsche niemand erkennen.

»Sollte Henrico zu mir herausgekommen sein? Das ist nett von dem Kleinen. Er will mich zerstreuen .«

Doch der unsichtbare Musikant begann zu singen. Seine dunkle, männliche Stimme war nicht die des Pagen.

Schon die ersten Töne griffen der jungen Frau ans Herz. Dieser bald samtene, bald sonore Stimmklang war von einer Vollkommenheit, wie sie die galanten Spielleute, von denen es am Abend in Toulouse wimmelte, nicht oft aufzuweisen hatten. In Languedoc sind die schönen Stimmen nicht selten. Die Melodie springt spontan über die an Lachen und Rezitieren gewöhnten Lippen. Aber dieser Künstler fiel aus dem üblichen Rahmen. Sein Atem war von ungewöhnlicher Kraft. Es schien, als würde der Garten von ihm überflutet, als erbebe der Mond von ihm. Er sang ein altes Klagelied in jener untergegangenen Sprache, deren Feinheit Graf Peyrac so gerne rühmte. Angélique verstand nicht alle Worte, doch eines kehrte immer wieder: Amore! Amore!

Liebe!

Immer mehr wurde es ihr zur Gewißheit: »Er ist es, der letzte der Troubadours, es ist die Goldene Stimme des Königreichs!«

Nie hatte sie so singen hören. Man sagte ihr zuweilen: »Ach, wenn Ihr die Goldene Stimme des Königreichs hören würdet! Er singt nicht mehr. Wann wird er von neuem singen?« Und dabei warf man ihr einen maliziös-mitleidigen Blick zu, weil sie diese Berühmtheit der Provinz noch nicht kannte.

»Er ist es! Er ist es!« sagte sich Angélique immer wieder. »Wie kommt er nur hierher? Um meinetwillen?«

Sie sah ihr Spiegelbild im großen Spiegel ihres Zimmers. Die eine Hand lag auf ihrer Brust, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie machte sich über sich selbst lustig: »Wie albern ich bin! Vielleicht ist es nur Andijos oder irgendein anderer Verehrer, der mir einen bezahlten Musiker schickt, um mir ein Ständchen zu bringen .!«

Dennoch öffnete sie die Tür. Mit über dem Mieder gekreuzten Händen, wie um ihr pochendes Herz im Zaum zu halten, schlich sie sich durch die Vorzimmer, stieg die weiße Marmortreppe hinunter und betrat den Garten. Sollte nun das Leben für Angélique de Sancé de Monteloup, Gräfin Peyrac, beginnen: Denn die Liebe war das Leben!

Die Stimme kam von einer Laube her, die sich am Ufer des Flusses erhob und eine Statue der Göttin Pomona barg. Als die junge Frau sich näherte, verstummte der Sänger, doch er fuhr fort, gedämpft die Saiten seiner Gitarre zu zupfen.

Der Mond war an diesem Abend noch nicht voll. Er hatte die Form einer Mandel. Sein Licht genügte indessen, den Garten zu erhellen, und Angélique glaubte im Innern der Laube eine auf dem Sockel der Statue sitzende Gestalt zu erkennen.

Bei ihrem Erscheinen rührte sich der Unbekannte nicht.

»Es ist ein Neger«, dachte Angélique enttäuscht.

Doch sie erkannte bald ihren Irrtum. Der Mann trug eine samtene Maske, aber die sehr weißen, auf seinem Instrument ruhenden Hände erlaubten keinen Zweifel über seine Rassenzugehörigkeit. Ein schwarzseidenes, auf italienische Art im Nacken zusammengeknüpftes Kopftuch verbarg sein Haar. Soweit sich im Dunkel der Laube erkennen ließ, war sein ein wenig abgetragenes Gewand ein seltsames Mittelding zwischen dem eines Dieners und dem eines Komödianten. Er hatte dicke Kastorschuhe, wie Leute sie tragen, die viel zu Fuß gehen, doch hingen Spitzenbesätze von den Ärmeln seiner Jacke herab.

»Ihr singt wundervoll«, sagte Angélique, da sie sah, daß er keine Bewegung machte, »aber ich wüßte gern den Namen dessen, der Euch geschickt hat.«

»Niemand hat mich geschickt, Madame. Ich bin hierhergekommen, weil ich wußte, daß dieses Lusthaus eine der schönsten Frauen von Toulouse beherbergt.«

Der Mann sprach mit einer tiefen und sehr leisen Stimme, als fürchte er, gehört zu werden.

»Ich kam heute abend in Toulouse an und begab mich in das Palais des Grafen Peyrac, wo ich eine lustige und zahlreiche Gesellschaft versammelt fand, um meine Lieder zum besten zu geben. Doch als ich hörte, daß Ihr nicht anwesend wäret, ging ich wieder fort, um Euch zu treffen, denn der Ruhm Eurer Schönheit ist so groß in unsrer Provinz, daß es mich schon lange verlangt, Euch zu begegnen.«

»Auch Euer Ruhm ist groß. Seid Ihr es nicht, den man die Goldene Stimme des Königreichs nennt?«

»Ich bin es, Madame. Und bin Euer ergebener Diener.«

Angélique setzte sich auf die Marmorbank, die innen an der Wand der Laube entlanglief.

Загрузка...