»Maître Gabriel hat recht«, sagte sie sich. »Meine Tochter . ich habe sie in mein Leben aufgenommen, aber noch nicht in meine Liebe . Er kann es nicht wissen! . Es wäre unmöglich für mich. Wenn er wüßte, würde er verstehen .«
»Ihr habt Euch meinem Sohn angeschlossen«, sagte Maître Gabriel mit der Andeutung eines Lächelns, »und ich habe mich Eurer Tochter angeschlossen. Ich werde niemals das kleine, verlassene Ding vergessen, das am Fuße des Baumes schlief und mir die Hände entgegenstreckte und seine ganze, traurige Geschichte vorplapperte, als ich es weckte.«
Angéliques Züge erstarrten. Ihr Ausdruck war so fassungslos, daß Maître Gabriel sich verwünschte, überhaupt davon gesprochen zu haben. Mit der Schamhaftigkeit der Männer, die Gefühlsäußerungen in Verlegenheit bringen, räusperte er sich, schien sich plötzlich einer dringlichen Angelegenheit zu erinnern und ging davon. Laurier folgte ihm. Maître Gabriel hatte ihm erlaubt, jeden Abend noch ein wenig zwischen den Waren des Magazins herumzustrolchen.
Angélique blieb mit Honorine allein. Sie durchlebte einen seltsamen Augenblick von höchster Bedeutung, und die Angst erstickte sie, als ob das, was sie nun tun oder nicht tun würde, über ihr künftiges Leben entschiede. Es war merkwürdig, daß die Ursache ihrer Bedrängnis dieses »kleine Ding« war, wie Maître Gabriel gesagt hatte, das mit einem Ausdruck hochmütiger Träumerei vor ihr saß. Sie glaubte, ihre Schwester Hortense vor sich zu sehen. Obwohl häßlich und boshaft, hatte sie sich immer die Haltung einer Prinzessin gegeben. Kerzengrade aufgerichtet auf ihrem hohen Stühlchen, ganz und gar nicht geneigt, sich zu beklagen, ließ Honorine das entschwundene Bild wieder vor ihr erstehen. Dieselbe Haltung des Halses, dieselbe stolze Art, ihren Kopf zu tragen. Selbst als Kind war Hortense mager gewesen. Honorine dagegen war rund, kräftig gebaut, gut in Schuß. Aber in ihren Bewegungen, im Blick der gleichen schwarzen, weit auseinanderstehenden, forschenden Augen war die Verwandtschaft deutlich zu erkennen. Statt unangenehm betroffen darüber zu sein, fühlte sie sich erleichtert. Sie streckte die Arme nach Honorine aus.
»Komm!«
Aus ihren Träumen erwacht, betrachtete Honorine sie mit nachdenklicher Miene, dann verzog ein Lächeln ihren Mund.
»Nein«, sagte sie, während sie von ihrem Stuhl glitt und sich unter dem Tisch versteckte.
»Komm. So komm doch!«
»Nein!«
Angélique mußte sie holen, mußte sie aus ihrem Versteck hervorziehen.
»Du bist schwer wie Blei.«
Mit fast schmerzlicher Intensität sah sie ihrer Tochter ins Gesicht.
»Du bist rothaarig, aber du bist schön . mein Kind! Ob ich’s will oder nicht, ich war’s, die dich zur Welt gebracht hat. Und nun bist du da. Mir verbunden selbst durch das Entsetzen, das ich empfand, als ich dich in mir spürte, durch unseren gemeinsamen Kampf ums nackte Leben, durch das unerbittliche, das blinde Geschick, das aus uns beiden Mutter und Tochter gemacht hat . Mein Herz!«
Angélique drückte ihre Lippen auf Honorines frische Wange. Ihr Duft rief ihr den des Waldes während jener unvergleichlichen Zeit des Aufstands ins Gedächtnis zurück. Er war in sie eingegangen, um die Härte ihres Hasses zu lösen. Neben den Gemetzeln und Hinterhalten hatte es immer Honorine und ihre kleinen weißen Füße gegeben, die sie vor den Flammen der Kamine erwärmte. Honorine, die ihre kühl prüfenden Augen in den Armen des Abbé de Lesdiguière geöffnet, Honorine, die im Winterwald nach Angélique gerufen und sie dem sie bannenden Entsetzen der Lichtung der Gehängten entrissen hatte.
Da war der Zwischenfall in der Grotte gewesen, in der sie ihren ersten Schrei ausstieß, das Knarren der »Drehlade«, die sie in die Finsternis des Waisenhauses entführte. »Oh, alle die verlassenen Kinder auf den Schwellen der Türen, die von Monsieur Vincent aufgelesen wurden! Wie kann man ein Kind verlassen? Ja, ich habe meine eigene Tochter verlassen. Gesegnet sei die Vorsehung, die sie mir zurückgab. Gibt es einen bittereren Schmerz als den um ein verlorenes Kind? Wo bist du, Fleisch meines Fleisches? Wo irrst du, blind, die kleinen Hände tastend ausgestreckt, durch das Unbekannte, in das ich dich stürzte? Wie werde ich dich im Tode wiedererkennen? Werde ich überhaupt das Recht haben, dich in jener anderen Welt zu erkennen, ich, deine Mutter, die dich verstieß?«
Angélique zitterte und erwachte wie aus einem Traum, Sie war in der Küche Maître Gabriels in La Rochelle, sie hockte vor dem erlöschenden Feuer, und Honorine saß auf ihren Knien und drückte sich heftig gegen sie.
»Mein Leben!«
Die lange unterdrückte, fast unbekannte Flut der Liebe sprudelte mit der Kraft einer Quelle, die sich endlich den Finsternissen der Erde entringt, wehte wie gereinigte Luft.
»Ich wußte nicht, daß ich dich so sehr liebte ...
Und warum liebe ich dich?«
Warum? Ihr Verstand suchte und fand keinen Grund. Es blieb ihr nichts aus ihrem vergangenen Leben. Alles war in den Abgrund der Schatten gestürzt. Die unschuldige Anmut Honorines, die strahlende Lebensfreude dieses runden Gesichtchens, die Glückseligkeit ihres Lächelns, als sie sich über sie geneigt hatte, um sie zu küssen, in der sie nun ihre ganze Welt sah, das beinah sinnliche Gefühl des Besitzens, das Angélique für sie empfand - »Du hast nur mich, ich habe nur dich« -, all das ließ die Gründe, die ihr als Vorwand gedient hatten, diese kleine Existenz zu hassen, wie hinter einem undurchdringlichen Vorhang verschwinden.
Wie rasch der Geist vergißt!
Der Körper vergißt weniger schnell. In ihren Alpträumen hörte Angélique zuweilen das Horn Isaac de Cambourgs, auch geschah es ihr, daß sie an den Gelenken ihrer Hände und Füße den Griff brutaler Hände spürte, die sie am Boden festhielten.
Doch wenn sie erwachte, sah sie auf der Mauer den Widerschein der auf der Spitze des Laternenturms brennenden Flamme tanzen, die die Schiffe in den Hafen geleitete. Honorine schlief neben ihr. Angélique betrachtete sie lange, und der Friede zog in sie ein, während sie diesen Schatz bestaunte, der ihr geblieben war und der ihr armseliges, zerstörtes Dasein rechtfertigte.
»Schlaf, kleines Herz, schlaf, mein Kind . du bist bei deiner Mutter. Fürchte nichts .«
Seitdem sie wußte, daß Angélique eine Papistin war, beobachtete Séverine sie mit heiligem Schrecken.
»Dieses Mädchen ist von der Gesellschaft vom Heiligen Sakrament bei uns eingeschmuggelt worden, um zu spionieren, ich bin dessen sicher«, erklärte sie jedem, der ihr zuhörte.
Tante Anna stimmte zu: »Das ist gut möglich, mein armes Kind. Bitten wir den Herrn, uns vor ihren Schlichen zu bewahren.«
»Was für Klatschbasen!« dachte Angélique, deren Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde.
Séverines Augen folgten ihr, um sie bei einer Unvorsichtigkeit zu ertappen. Sie hielt sich steif wie ihre Tante und brach zuweilen in spöttisches Gelächter aus.
»>Der gottlose Mensch, der falsche Mensch trägt die Falschheit im Munde<«, psalmodierte sie.
»>Er zwinkert mit den Augen, spricht mit dem Fuß, macht Zeichen mit den Fingern .<
Nicht wahr, Tante?«
Auf diese Weise erfuhr Angélique, daß diese Damen ihr ein für ihre Lage allzu aufdringliches Wesen vorwarfen.
»Wenn du am Hofe des Königs gewesen wärst, Séverine«, sagte sie ihr eines Tages, »wüßtest du, daß deine stocksteife Haltung und deine Hampelmannbewegungen als Zeichen schlechter Erziehung angesehen würden. Die Ungezwungenheit der Gesten muß gelernt sein.«
»Der Hof ist ein Ort der Verdammnis«, erwiderte Séverine verdrossen. Nun war Angélique an der Reihe, hell aufzulachen. Das Mädchen verließ sie rot vor Zorn.
Séverine war indessen auch verletzlich. Wie alle Mädchen ihres Alters von kleinen Kindern angezogen, brannte sie darauf, von Honorine in Gnaden aufgenommen zu werden. Ungeschickt versuchte sie, sie in ihre Arme zu nehmen, folgte ihr auf Schritt und Tritt, wollte ihr zu essen geben, ihr beim Ankleiden helfen.
»Laß mich! Laß mich!« schrie Honorine mit der Entrüstung einer gekränkten Königin.
Angélique tat es leid, Séverine sich demütig entfernen zu sehen. Es fiel ihr schwer, ihren jähzornigen Sprößling zu liebenswürdigerem Benehmen zu veranlassen. Honorine hatte sehr ausgeprägte Vorlieben und Abneigungen. Im allgemeinen fanden alle Angehörigen des männlichen Geschlechts Gnade vor ihren Augen. Laurier gegenüber beobachtete sie die zärtlichste Ehrerbietung. Maître Gabriel war das Objekt einer respektvollen Bewunderung. Der Pastor Beaucaire erfreute sich auch weiterhin ihrer Gunst, sooft er sich blicken ließ. Aber ihr Idol war Martial. Er hatte ihr mit seinem Messer ein kleines, mit Schnitzereien geschmücktes Kästchen verfertigt, in dem sie ihre Schätze aufbewahrte: Knöpfe, Perlen, Kiesel, Hühnerfedern . Die Kleine hatte eine Manie ihrer Mutter geerbt. Wenn Angélique sie mit dem Kästchen unter dem einen, der kleinen Katze unter dem andern Arm einherspazieren sah, erinnerte sie sich der mit Perlmutt eingelegten kleinen Truhe, in der sie selbst einstmals die im Laufe ihres ruhelosen Lebens gesammelten Erinnerungen verwahrt hatte.
Die Beziehungen Honorines zum weiblichen Geschlecht waren komplizierter. Sobald Frauen das biblische Alter erreicht hatten, flößten sie ihr Gefühle liebevoller Zärtlichkeit ein. Rebecca und sämtliche Großmütter hatten ein Anrecht auf ihr Lächeln. Gegenüber Frauen mittleren Alters bewahrte das Kind betonte Gleichgültigkeit. Mit jungen Mädchen hatte Honorine nicht viel im Sinn, und ihre Altersgenossinnen, die sie unbewußt als Rivalinnen ansah, verfolgte sie mit ihrem Haß. Der kleinen, dreijährigen Ruth, der jüngsten Tochter des Advokaten Carrère, hätte sie fast die Augen ausgekratzt. Alles in allem brachte die rundliche, mit entschlossener Miene auf unsicheren Beinchen in ihren Röcken dahinschwankende Puppe Honorine nicht gerade wenig Leben ins Haus.
Oft stieß sie einen seltsamen Schrei aus, dessen besonderen Akzent Angélique herauszuhören gelernt hatte. Er bedeutete, daß Honorine unter dem sie einschließenden Zwang der Mauern des Hauses litt und das Meer sehen wollte. War sie am Strand, existierte nichts mehr für sie außer dem Spiel der Wellen und des Tangs und dem wundersamen Reich der Muscheln. In geschürzten, vom Wind geblähten Röcken einem Kürbis ähnlich, watete sie versunken durchs flache Wasser. Angélique folgte ihr, hier und da ein paar Worte mit den Miesmuschel-Pflückerinnen wechselnd.
Am Fuß der Wälle ließ die weichende Flut weite, felsige, mit Algen bedeckte Flächen zurück, in deren Tümpeln sich Krabben verbargen. Eine Schar Jungen tummelte sich dort mit den Möwen. Öfter als nötig befand sich unter ihnen der der Schulbank entflohene Martial. Er machte seinem Vater Sorgen. Er zeigte deutliche Befähigung zum Studium, zog es jedoch vor, mit der Bande seiner Freunde herumzustromern, zu der die intelligentesten Burschen des Viertels gehörten, darunter die beiden ältesten Söhne des Advokaten Carrère, Jean und Thomas, und Joseph, der Sohn des Arztes.
Maître Gabriel bedauerte es, daß der Junge nicht die strenge Disziplin einer höheren Schule kennenlernen sollte. Er hatte deshalb beschlossen, ihn nach Holland zu schicken, wo er sich wenigstens auf dem Gebiet des Handels solide Kenntnisse erwerben würde.
Angélique sah seinem Aufbruch betrübt entgegen. So manches an Martial erinnerte sie an ihren Sohn Florimond. Hinter seiner lächelnden Ungezwungenheit erkannte sie die Unruhe des Jünglings wieder, der sich auf Ungewissem Boden voranbewegt und angesichts der Gesellschaft, in der ihm zu leben bestimmt ist, entdeckt, daß sein Platz schon außerhalb ihrer Grenzen ist. Diese schreckliche Entdeckung war es, die Florimond dazu getrieben hatte, seine Mutter zu verlassen, zu fliehen, einen Winkel der Erde zu suchen, wo er er selbst sein konnte und nicht mit dem doppelten Fluch seiner Eltern belastet war.
Auch Martial würde eines Tages fliehen wie alle diese jungen Burschen, die die unglaubliche Verblendung der Erwachsenen noch an diesem verdammten Ufer zurückhielt.
An diesem Tage hockten sie, dicht aneinandergedrängt, zusammen auf einem Felsen, so in Anspruch genommen von irgend etwas, daß sie ihre Annäherung nicht bemerkten. Der Wind spielte in ihren langen Haaren und zerrte an ihren über der Brust offenen Hemden. Angst packte sie bei dem Gedanken, daß die Maschine, die sie zermalmen würde, schon bereit stand, geduckt wie ein Untier im Herzen der Stadt selbst.
Martial las mit beteiligter Stimme:
»>. Niemals ist es kalt auf den Inseln Amerikas. Das Eis ist unbekannt, und es wäre ein Wunder, dort welches zu sehen. Es gibt dort keine vier gleich langen und andererseits unterschiedlichen Jahreszeiten wie in Europa, sondern nur zwei. Die eine, von April bis November, ist die der häufigen Regenfälle, die andere die der Trockenheit ... Doch ist die Erde immer mit angenehmem Grün bewachsen und fast zu jeder Zeit mit Blüten und Früchten geschmückt .<«
»Gibt es dort drüben Weinreben?« unterbrach ein Junge mit strohfarbenem Haar. »Mein Vater ist nämlich ein Flüchtling von der Charente, ein Weinbauer. Und was sollten wir in einem Land tun, in dem es keine Reben gäbe?«
»Ja, es gibt dort Weinreben«, versicherte Martial triumphierend. »Hört zu, wie es weitergeht ... >Die Rebe gedeiht sehr gut auf diesen Inseln, und außer einer Art wilden Weins, der von Natur aus in den Wäldern wächst und schöne, große Trauben trägt, sieht man vielerorts kultivierte Reben wie in Frankreich, die jedoch zweimal jährlich tragen, zuweilen sogar häufiger .<«
Der Geographieunterricht setzte sich mit der Beschreibung der Brotbäume, der Papayas, an deren Ästen melonenähnliche Früchte sprießen, der köstliche Pflanzenmilch enthaltenden Pilze fort. »Der Seifenbaum produziert eine flüssige Seife, die zum Waschen und Bleichen der Wäsche geeignet ist, die Flaschenkürbis-Pflanze erzeugt Gefäße und Utensilien für den Haushalt, die von Handwerkern nicht mehr hergestellt zu werden brauchen.«
»Und von welcher Farbe sind die Bewohner jener warmen Inseln? Rot, mit Federn, wie in NeuFrankreich?«
Martial durchstöberte das kleine Buch und erklärte, daß er darüber keine näheren Angaben finden könne.
Einmütig wandten sie sich Angélique zu, die, mit Honorine auf den Knien, in ihrer Nähe saß.
»Wißt Ihr etwas über die Hautfarbe dieser Inselbewohner, Madame?«
»Ich nehme an, sie sind schwarz«, meinte sie, »da man seit langem Sklaven aus Afrika auf diese Inseln bringt.«
»Aber die Karibier selbst sind keine Schwarzen«, warf der junge Thomas Carrère ein, der gern den Erzählungen der Seeleute am Hafen zuhörte.
Martial setzte der Unterhaltung ein Ende:
»Wir brauchen ja nur diesen Pastor Rochefort zu fragen.«
»Den Pastor Rochefort, sagst du?«
Angélique war zusammengezuckt.
»Sprichst du von dem großen Reisenden, der ein Buch über die Inseln Amerikas geschrieben hat?«
»Das ich eben meinen Kameraden vorlese. Seht!«
Erzeigte ihr die vor kurzem erschienene, sauber gebundene Ausgabe und fügte gedämpft hinzu:
»Man riskiert fünfhundert Livres Strafe und Gefängnis dazu, wenn man sich im Besitz dieses Reiseberichts erwischen läßt, weil er den Protestanten Lust zum Auswandern machen könnte. Wir müssen also sehr aufpassen .«
Angélique wandte die Seiten um, die mit naiven, Bäume oder Tiere jener fernen Landstriche darstellenden Zeichnungen illustriert waren.
Aus dem Nichts ihrer Vergangenheit stieg von neuem eine vergessene Vision auf, für die sie nie eine Erklärung gefunden hatte und die dennoch vom Siegel des Schicksals geprägt schien: der Besuch jenes Pastors Rochefort in Monteloup, als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war.
Jener düstere, einsame Reiter, nach langer Reise vom Ende der Welt während eines Gewittersturms eingetroffen, hatte von unbekannten, seltsamen Dingen gesprochen, von roten Männern mit Federn im Haar, von jungfräulichen Ländern, die von vorzeitlichen Ungeheuern bevölkert waren.
Damals jedoch - mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen - hatte das Befremdende, Merkwürdige dieses Besuchs weder in seinem ungewöhnlichen Erscheinen noch in dem exotischen Charakter seiner Äußerungen gelegen. Nein, sein Besuch war der eines Boten des furchtbaren, fast unbegreiflichen Schicksals gewesen, gleich einem Rufer aus der Ferne. Diesem vom anderen Ende der Welt herüberklingenden Ruf hatte ihr ältester Bruder Josselin alsbald geantwortet. Er hatte seine Familie, sein Land verlassen, und niemand hatte jemals erfahren, was aus ihm geworden war.
»Aber jener Pastor Rochefort muß längst tot sein«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr schwach und unsicher schien.
»O nein! Er ist sehr alt, aber er reist noch immer.«
Der Junge fuhr leiser fort:
»Im Augenblick ist er in La Rochelle. Niemand darf erfahren, wer ihn verbirgt, sonst würde er sofort verhaftet. Interessiert es Euch, ihn zu sehen und zu hören, Madame?«
Und da sie ein bejahendes Zeichen machte, schob er ihr etwas in die Hand. Es war ein rohes Stück Blei, in das eine Taube und darunter ein Kreuz eingedrückt waren.
»Mit dieser >Marke< könnt Ihr zu der Versammlung gehen, die in der Nähe des Dorfs Jouvex stattfinden wird«, erklärte ihr Martial. »Dort werdet Ihr den Pastor Rochefort sehen und hören. Er wird dort sprechen, denn für ihn wird die Versammlung abgehalten. Mehr als zehntausend der Unseren werden kommen .«
Der Junge war über das Ziel hinausgeschossen, als er sich eingebildet hatte, daß die »Versammlung in der Einöde«, zu der sich Angélique begab, zehntausend Gläubige vereinigen würde. Die Furcht hielt viele von ihnen fern, und die ausgetrocknete, von Deichen umschlossene Salzgrube vermochte ohnedies nur einige tausend Pilger zu fassen.
Die außer Betrieb gesetzte Salzgrube war ausgewählt worden, weil sie eine unübersehbare, enge Schlucht bildete, begrenzt von zwei felsigen Kämmen, die sie dem Blick jener entzogen, deren Weg durch die sumpfige Ebene um La Rochelle führte. Das Meer war nahe und übertönte das Gemurmel der Stimmen durch das Geräusch seiner Wellen, Man begrüßte sich beim Eintreffen und wählte sich einen Platz, während man flüchtige Bemerkungen tauschte.
Ein Halbkreis von Kalkfelsen bildete eine Art von Amphitheater um einen kleinen Tisch herum, vor dem der Prediger sprechen sollte.
»Das dort ist die Kanzel, und der andere, den sie eben bringen, ist der Tisch des Abendmahls«, erklärte ihr Martial.
Er hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, stolz darauf, sie angeworben zu haben. Gemeinsam mit ihm hatte sie in der Halbkutsche des Bäckers aus dem Viertel Platz genommen, dessen Sohn Anastase ebenfalls zu den Freunden des jungen Berne gehör-te.
Tante Anna und Séverine, die mit dem Papierhändler, seiner Frau und seiner Tochter in einem anderen Gefährt eintrafen, fuhren erschrocken zusammen, als sie die »Papistin« gewahrten. Erregt sprachen sie auf Maître Gabriel ein, der sie zu Pferd eskortierte, ganz offensichtlich in der Absicht, ihm die in ihrer Anwesenheit liegenden Gefahren klarzumachen. Der Kaufmann zuckte nur mit den Schultern.
Eine Bewegung der Menge verbarg die kleine Gruppe. Man brachte eine mit weißer Leinwand bedeckte Zinnschüssel, in der man die Form eines Brotkuchens erriet, danach zwei Zinnkelche. Am Fuß des Tischs wurde ein gleichfalls durch ein Leintuch geschützter Steinkrug niedergesetzt.
Angélique hatte lange gezögert, bevor sie sich dazu entschlossen hatte, diese Versammlung zu besuchen. Sie riskierte schwere Strafen, wenn eine solche Sache ruchbar wurde. Aber hier riskierte alle Welt irgend etwas; die einen hohe Geldbußen oder Gefängnis, die anderen sogar den Tod wie etwa jene Konvertierten, die sich unglücklich und beschämt zwischen ihren einstigen Glaubensgenossen hindurchwanden, da sie den Gewissensbissen nicht hatten widerstehen können, die sie seit ihrer Abschwö-rung quälten.
Alle diese Verfolgten waren schwarz oder dunkel gekleidet. Nur Monsieur Manigault, einer der bedeutendsten Reeder La Rochelles, erschien sehr würdig in einem Rock aus pflaumenfarbenem Samt, schwarzen Strümpfen und Schuhen mit Silberschnallen, gefolgt von seinem Neger Siriki. Jedermann fand ihn außerordentlich stattlich. Er hielt seinen Sohn Jérémie an der Hand, auf den er sehr stolz war, einen bezaubernden Jungen mit langen blonden Locken, den seine vier Schwestern und seine Mutter wie einen kleinen König umschmeichelten.
Die Familie des Advokaten Carrère war gleichfalls vollzählig zur Stelle. Die Fülle Madame Carrères kündigte eine elfte Mutterschaft an.
Einige echte Edelleute waren an ihren Degen zu erkennen. Sie hielten sich unter sich und plauderten miteinander.
»Platz, Platz für Madame de Rohan!«
Diener schleppten einen mit Gobelinstoff bespannten Sessel in die erste Reihe, in dem eine gebieterische alte Dame Platz nahm, eine der Klaue einer alten Eule ähnelnde Hand auf dem Silberknauf ihres Stockes.
Der Zustrom hatte nun seinen Höhepunkt erreicht, doch alles vollzog sich in größter Ordnung, Junge Leute gingen umher und präsentierten eine Leinwandtasche, in die man den zum Unterhalt der Prediger geforderten Beitrag warf. Der größte Teil der Gläubigen saß zwischen klebrigen Rückständen des Meersalzes auf der Erde. Die reicheren oder mit größerer Voraussicht begabten hatten Kissen, Säcke, einige sogar Holzkohlenwärmer für die Füße mitgebracht, denn es war recht kühl und windig.
Auf der Heide standen, an dürftigen Tamarisken festgebunden oder von dienstwilligen Burschen bewacht, die Pferde, Esel und Maultiere der Anwesenden. Die Burschen dienten auch als Wachtposten für den Fall einer Annäherung der Dragoner des Königs. Die Karren und Kutschen erwarteten mit zum Himmel gerichteten Deichseln das Ende der Zeremonie. Eine Hymne wurde angestimmt und von der Menge in dumpfem, machtvollem Chor aufgenommen.
Drei schwarzgekleidete Gestalten mit großen, runden, gleichfalls schwarzen Hüten traten zu den beiden Tischen in der Mitte der Versammlung.
Eine von ihnen war der Pastor Beaucaire. Doch Angélique musterte gierig den Größten und Ältesten der Gruppe. Trotz des weißen Haars, das das gebräunte, faltige Gesicht umrahmte, erkannte sie den »schwarzen Mann«, den sagenhaften Reisenden ihrer Kindheit. Sein vagabundierendes Leben, die Gefahren, die ihm auf seinen zahlreichen Pilgerfahrten begegnet waren, schienen seinen sehnigen, mageren Körper ungebeugt und kraftvoll erhalten zu haben.
Der dritte war ein stämmiger, untersetzter Geistlicher mit lebhaft gefärbtem Gesicht und lebendigem, gebieterischem Blick. Er war es, der mit kräftiger, weittragender Stimme das Wort nahm:
»Meine Brüder, dem Herrn hat es gefallen, mich aus meinen Ketten zu befreien, und es erfüllt mich mit tiefem Glück, von neuem unter euch meine Stimme erheben zu können. Meine Person hat keinerlei Bedeutung. Ich bin nur ein Diener Gottes, bedrückt von der Sorge um meine kleine Herde, das heißt, um euch alle, euch Reformierte von La Rochelle, die ihr trotz der täglich unnachsichtigeren Nachstellungen die Stimme des Heils zu vernehmen sucht .«
Angélique entnahm seiner Predigt, daß es sich um den Pastor Tavenay handelte, den Verantwortlichen für das Colloquium von La Rochelle, die Gesamtheit der protestantischen Kirchen der Stadt. Auch er war erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden, wo man ihn sechs Monate zurückgehalten hatte.
»Manche unter euch sind zu mir gekommen, um mich zu fragen: >Sollen wir zu den Waffen greifen, wie es unsere Väter einstmals taten?<, eine Frage, die sich vielleicht viele von euch insgeheim stellen, der gefährlichen Versuchung des Hasses erliegend, der selten ein so guter Ratgeber ist wie die Klugheit. Ich werde euch also zunächst meine eigene Meinung darüber sagen: Ich bin gegen die Gewalt. Fern sei es von mir, den Heroismus unserer Väter zu verkleinern, die den Schrecken der Belagerung von 1628 standzuhalten wußten, aber ist unsere Konfession aus dieser machtvollen, stolzen Revolte etwa gestärkt hervorgegangen? Nein! Es hätte nicht viel gefehlt, und kein einziger Hugenotte wäre mehr in La Rochelle gewesen, aus dessen Mauern unser Glaube für immer getilgt geblieben wäre.«
Pastor Tavenay sprach noch lange in dieser Weise. Er erinnerte an die nationale Synode, die im folgenden Jahr in Montelimar zusammentreten sollte und in deren Verlauf ein Memorandum über behördliche und sonstige Schikanen, deren Opfer die französischen Hugenotten waren, verfaßt werden würde, ein Memorandum, das man dem König zu eigenen Händen überreichen wollte. Er schloß mit einer letzten Mahnung, Vertrauen zu haben und Ruhe zu bewahren, indem er seinen eigenen Fall und den des Pastors Beaucaire als Beispiel anführte.
Die alte Herzogin de Rohan hatte während der langen Rede mehrfach ihre Ungeduld erkennen lassen. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf und stieß ihren Stock auf den Boden. Die bürgerlichen Ermahnungen des Pastors schienen ihr nicht recht zu passen. Doch hielt sie sich wohl für zu alt, um noch die Rebellin zu spielen, und beschränkte sich schließlich darauf, ihr Mißfallen durch einen tiefen Seufzer zu äußern.
Beifälliges Gemurmel stieg von der Zuhörerschaft auf. Nur ein Mann erhob sich, ein Bauer mit breiten Schultern, der seinen Hut in beiden Händen drehte.
»Ich«, sagte er, »ich bin aus der Gegend von Jarans in der Gâtine. Die Dragoner des Königs sind in unseren Ort gekommen. Sie haben Feuer an unseren Tempel gelegt. Und dann haben sie mir meine Schinken, meine Brote, meine beiden Kühe, meinen Esel und meine Frau genommen. Deshalb denke ich manchmal, wenn ich eine Hacke nehmen und sie alle umbringen könnte, würde es mich erleichtern .«
Die Reihenfolge, in der der arme Mann seine verlorenen Güter aufzählte, hatte hier und dort schnell ersticktes Gelächter hervorgerufen.
Der Bauer sah sich um. Sein Blick suchte zu verstehen.
»Sie haben meine Frau an den Haaren den Weg entlang geschleift ... Was sie mit ihr gemacht haben; werd’ ich so bald nicht vergessen können ... Hinterher haben sie sie in den Brunnen geworfen .«
Die Stimme verlor sich im ersten Aufbranden eines Psalms, in den die Tausende einfielen.
Danach begann Pastor Rochefort zu sprechen. Er rief den Getreuen den Bericht über den Auszug der Juden aus Ägypten ins Gedächtnis zurück und wie die Juden, als sie sich von den Ägyptern verfolgt sahen, Moses angefleht hatten: »Laß uns den Ägyptern dienen. Denn es wäre uns besser, den Ägyptern zu dienen als in der Wüste zu sterben ...« Aber der Ewige hatte seine Macht dadurch erwiesen, daß er die Heere Pharaos ertränkte, und die Juden hatten schließlich den Boden Kanaans erreicht. Vielmehr: sie hätten ihn erreicht, doch sie zweifelten an der Güte des Ewigen, der sie nur in die Wüste schickte, um sie einer schimpflichen Sklaverei zu entreißen, in der sie fürchten mußten, den Glauben ihrer Väter zu vergessen.
Tapfer stimmte der Pastor Rochefort den Gesang des Moses an:
>»Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt.
Der Herr ist meine Stärke und mein Lobgesang und ist mein Heil .<«
Seine vom Alter leicht gebrochene Stimme war noch immer kräftig. Aber er sang fast allein. Die ermüdeten, fröstelnden Leute nahmen nur zögernd den Psalm auf, den sie übrigens kaum zu kennen schienen.
Aus der Fassung gebracht, hielt der alte Mann inne, warf einen betroffenen Blick auf die Zuhörerschaft und fuhr in drängendem Ton fort:
»Habt ihr den Sinn dieses Berichts nicht verstanden, meine Brüder? Das Licht der Kerze erlischt unter dem Scheffel. Wenn die Juden der Sklaverei anheimgefallen wären, hätten sie schließlich die ägyptischen Götter angebetet. Das ist die Gefahr, die auf uns alle lauert. Man hat euch vor kurzem gefragt, ob ihr zu den Waffen greifen wollt, um euch zu verteidigen, oder ob ihr es vorzieht, euch in Ergebung den Verfolgungen zu unterwerfen, die euch zuteil werden. Ich habe das Wort ergriffen, um euch eine dritte Lösung vorzuschlagen: Auswandern! Neue, riesige Länder tun euch als Refugium ihre jungfräuliche Erde auf, die ihr zum Ruhme des Herrn zum Aufblühen bringen könnt, während sich eure Seelen in der unangefochtenen Ausübung eurer Religion entfalten .«
Seine Worte verloren sich im wachsenden Stimmendurcheinander der sich ausbreitenden Aufbruchsstimmung. Um Angélique herum hatten die Leute halblaut zu plaudern begonnen.
»Nun, wie steht’s mit Eurem Farbengeschäft im Languedoc?«
»Wenn wir die Fische salzten wie in Portugal, könnten wir das Doppelte unseres Fangs verkaufen, glaubt Ihr nicht? ... Aber das ist nun mal durch das Salzsteuergesetz verboten.«
»Für eine so große Versammlung wie diese hättest du schon deinen guten Rock anziehen können, Josias Merlut.«
»Bei diesem Schmutz! .«
Der Vorschlag des Pastors Rochefort schien offensichtlich niemand zu interessieren.
Das Rasseln einer Klapper, die ein junger Pfarr-gehilfe schwenkte, schuf erneut Schweigen. Pastor Tavenay warf seinem Kollegen einen Blick zu, der »Ich hab’s Euch ja gesagt« bedeuten mochte, und nahm das Wort.
Die Versammlung könne sich nicht auflösen, ohne daß man eine Abstimmung mit erhobener Hand vornehme, die klar darüber entscheiden würde, welchen Weg die Gläubigen La Rochelles in Zukunft einzuschlagen hatten.
Wer sei für bewaffneten Widerstand?
Niemand rührte sich.
Wer sei für Auswanderung?
»Ich! ... Ich!« schrie ein Dutzend Jungen aus der ersten Reihe.
»Ich!« brüllte Martial, indem er sich neben Angélique aufrichtete.
Die entrüsteten Proteste der Eltern übertönten die jugendlichen Stimmen, und der Advokat Carrère gab dem ihm zunächst sitzenden seiner Söhne eine Ohrfeige.
Der Sieur Manigault stand auf, eine füllige, kraftvolle Gestalt vor dem schwärzlichen Hintergrund der andern, und hob die Hand, um den Aufruhr zu beschwichtigen.
»Herr Pastor«, sagte er, sich mit Respekt an den alten, berühmten Reisenden wendend, »es ist für uns eine große Ehre gewesen, Euch zu hören, aber verwundert Euch nicht, wenn die Idee der Auswanderung in La Rochelle wenig Anklang findet.«
Er legte die Hand aufs Herz.
»La Rochelle . wir tragen es hier«, sagte er mit Nachdruck. »Es ist unsere Zitadelle, die von unseren Vätern begründete Stadt, für die sie auch gestorben sind. Keiner von uns kann sie verlassen.«
»Wäre es besser, von Eurem Glauben zu lassen?« rief der alte Pastor mit zitternder Stimme.
»Davon ist keine Rede. La Rochelle gehört den Hugenotten. Es wird immer den Hugenotten gehören. Seine Seele ist aus der Reformation geboren. Die Seele einer Stadt laßt sich nicht ändern.«
Beifall klang auf. Manigault hatte vernünftig gesprochen. Er hatte mit seinen Worten mitten ins Herz der Rochelleser getroffen.
»Was vermag man schon gegen uns?« hörte man murmeln. »Wir sind es, die das Geld besitzen.«
»Das ist klar! Ohne uns würde alles zusammenbrechen.«
»Monsieur Colbert soll Reformierte angefordert haben, um seine Fabriken in Schwung zu bringen.«
Den Blick auf ein Stück des grauen, weißgetüpfelten Ozeans gerichtet, das man zwischen den Dünen sah, blieb Angélique nachdenklich sitzen.
Einige Schritte von ihr entfernt betrachtete auch der Pastor Rochefort das Meer. Sie hörte ihn murmeln:
»Sie haben Augen und sehen nicht. Sie haben Ohren und hören nicht .«
Was sah er, der Mann mit dem hellseherischen Blick? Zählte er in der sich entfernenden Herde schon die Märtyrer, die Abtrünnigen? . Alle waren sie verdammt!
Die Furcht, die für kurze Momente gewichen war, schlich sich von neuem in Angéliques Herz. Es gab nur eins: fort. Die Küste war nicht sicher. Die Flut würde weiter steigen und eines Tages auch sie und Honorine erreichen. Allein, würde sie sich aus Überdruß vielleicht erreichen lassen. Aber sie mußte Honorine retten. Schweiß perlte auf ihrer Stirn bei dem bloßen Gedanken, daß die Dragoner des Königs sich Honorines bemächtigen, sie unter unflätigem Gelächter quälen und durchs Fenster auf die Piken werfen könnten.
Eilig machte sie sich auf, um zu ihrer Tochter zurückzukehren.
Regen fiel. Pfützen auf dem Weg spiegelten den weißlich-blassen Himmel. Ein Reiter überholte sie und wandte sich im Sattel halb nach ihr um. Es war Maître Gabriel.
»Wollt Ihr aufsitzen, Dame Angélique?«
Sie verspürte einen seltsamen Schock. Sie sah sich auf einer aufgeweichten Straße in einer ganz ähnlichen Umgebung, ein Reiter wandte sich nach ihr um, sein Lächeln glich dem Maître Gabriels.
»Nein«, hörte sie sich nach einem langen Augenblick sagen. »Ich bin nur Eure Magd, Maître Gabriel. Man würde klatschen.«
»Es ist wahr. Wir sind hier nicht auf der Straße nach Charenton nahe Paris.«
Der Schleier zerriß. Die Polackin war an ihrer Seite. Ihre Füße waren eisig wie heute.
Wie heute trug sie die Angst um ein bedrohtes Kind im Herzen: um den von den Zigeunern entführten Cantor. Reiter hatten haltgemacht. Einer von ihnen hatte sie hinter sich aufs Pferd genommen und nach Paris zurückgebracht. Es war ein junger Protestant gewesen, Sohn eines Kaufmanns aus La Rochelle.
»Erkennt Ihr mich jetzt?« fragte der Kaufmann.
»Ja, Ihr seid der Reiter, der mir vor Jahren an einem Winterabend geholfen hat.«
Wie erstarrt ging sie unter dem Regen dahin. Zwölf Jahre versanken. Die beiden Szenen waren einander gleich wie Zwillinge. Derselbe Hauch von Beklemmung, von unendlicher Einsamkeit haftete ihnen an. In ihre totale Verlassenheit brachten das Gesicht eines fremden Mannes, ein mitfühlendes Lächeln flüchtigen Trost.
Das war es vor allem, was sie zunächst an dieser Entdeckung frappierte: die Ähnlichkeit der beiden Situationen, zwischen denen die schwindelnden Gipfel der Ehre und des Reichtums am Hofe Frankreichs lagen.
»So ist es also notwendig gewesen«, sagte sie sich, »daß du zweimal den höllischen Kreis durchlaufen mußtest, um zu verstehen ... zu verstehen, daß für dich kein Platz in diesem Königreich ist, daß du fortgehen mußt ... fort übers Meer.«
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Demütigung fuhr sie in Gedanken an Maître Gabriel bei sich fort: »Glücklicherweise hat er mich nur in Not gekannt ...« Er mußte die Erinnerung an eine Bettlerin der Vorstädte bewahrt haben und hatte sie nun als Straßenräuberin wiedergefunden. Weder das eine noch das andere war besonders vertrauenerwek-kend. Die Großherzigkeit, mit der er sie in sein Haus aufgenommen hatte, war darum nur noch bewundernswerter. Wie wenig paßte es zu der sonstigen Bedächtigkeit und Vorsicht seines Charakters!
»Warum habt Ihr es getan?« fragte sie plötzlich. »Ich meine, wie konntet Ihr so viel Vertrauen in mich setzen, daß Ihr mir Euer Haus auf tatet?«
Er war ohne Mühe ihrem unausgesprochenen Gedankengang gefolgt und verstand den Sinn ihrer Frage.
»Ich glaube an den Wert gewisser Zeichen«, antwortete er. »Als jenes Gesicht, das eines Winterabends gleichsam als bezauberndes und herzzerreißendes Symbol der großen, grausamen Stadt vor mir auftauchte, mich auch weiterhin durch die Jahre verfolgte, sagte ich mir schließlich, daß es einen anderen Sinn als den einer bloßen Erinnerung haben müsse, daß jene Begegnung so etwas wie eine Ankündigung, eine Warnung gewesen sei . wie der Glockenschlag des Totengeläuts, der in der Ewigkeit des Schicksals erklingt und dessen Echo sich verliert . Doch dann geschieht etwas und man erinnert sich, gewarnt worden zu sein . Als ich Euch im Verlaufe jenes Überfalls wiedererkannte, war ich deshalb nicht allzu erstaunt. Es stand geschrieben. Ich konnte nicht anders, als mich Eurer und Eures Kindes anzunehmen. Ich spürte, daß es meine Pflicht war, alles zu tun, um Euch aus dem Gefängnis herauszuholen, bevor es zu spät war. Ich nutzte die Abwesenheit des katholischen Richters.«
Grübelnd fügte er hinzu:
»Warum habe ich diese Worte gesagt: bevor es zu spät war? . Es ist richtig, ich war überzeugt, daß die Zeit drängte, daß es sich für Euch um Stunden handelte. Mich verfolgte jenes Wort der Bibel: >Befreie die, die man zum Tode führt, rette die, die man morden will.< Ich spüre, daß Eure Gegenwart unter uns von unendlicher Bedeutung ist, aber welcher?«
»Ich glaube es zu wissen«, sagte Angélique, auch sie bewegt und getrieben durch das ungewöhnliche Vertrauen, die kahle, vom Wind gepeitschte und nun verlassene Heide. »Sie bedeutet, daß ich Euch und die Euren eines Tages retten werde, wie Ihr mich gerettet habt .«
Jemand ging an ihr vorbei und sagte: »Die Französin!«
Angélique drehte sich um. Ein Mann war stehengeblieben und starrte sie verblüfft an. Er trug einen Rock mit ausgeblaßten Goldstickereien, Schuhe mit roten Absätzen, deren Leder reichlich rissig schien, einen Hut mit trübselig hängender Feder. Er zwinkerte wie ein Käuzchen in der Sonne.
»Die Französin«, wiederholte er, »die Französin mit den grünen Augen.«
Angélique verspürte gleichzeitig den Wunsch, zu fliehen und doch auch Näheres zu erfahren.
Mechanisch trat sie auf ihn zu. Er machte einen Sprung wie ein Eichhörnchen.
»Es gibt keinen Zweifel! Ihr seid es ... Dieser Blick! Aber ...«
Er musterte ihre bescheidene Kleidung samt der Haube, die ihr Haar verbarg.
»Aber ... seid Ihr denn keine Marquise? Man hat es mir doch in Kandia versichert ... und ich habe es geglaubt ... Zum Teufel, ich habe sogar Eure Papiere gesehen! Was treibt Ihr denn hier in dieser seltsamen Ausstaffierung?«
Endlich erkannte sie ihn, vor allem an seinem schlecht rasierten Kinn.
»Monsieur Rochat ... Ihr? ... Ist es möglich? Es ist Euch also gelungen, die Kolonien der Levante zu ver-lassen, wie Ihr es Euch wünschtet?«
»Und Euch ist es also geglückt, Moulay Ismaël zu entwischen! Das Gerücht ging um, daß er Euch zu Tode gefoltert hätte.«
»Wie Ihr seht, trifft es nicht zu.«
»Ich bin sehr glücklich darüber.«
»Ich auch! . Ah, lieber Monsieur Rochat, welche Freude, Euch wiederzusehen!«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Madame.«
Sie drückten sich wärmstens die Hände. Niemals hätte Angélique geglaubt, daß die Wiederbegegnung mit dem albernen Kolonialbeamten sie in solchem Maße beglücken könnte. Es war, als ob sich die beiden einzigen Überlebenden eines versunkenen magischen Landes plötzlich an einer öden, armseligen Küste gegenüberständen.
Rochat brachte ihre beiderseitigen Gefühle ans Licht, indem er ausrief:
»Ah, endlich jemand von dort unten, mit dem man sprechen kann . in diesem nördlichen Hafen ohne Geist, ohne Farben! Welcher Trost! Ich könnte jauchzen!«
Von neuem drückte er ihr die Hand, als wolle er sie zerbrechen. Dann verdüsterte sich sein Gesicht.
»Ihr seid also keine Marquise?«
»Pst!« machte sie und sah sich um. »Suchen wir uns einen ruhigen Ort, wo wir uns unterhalten können. Ich werde Euch alles erklären.«
Mit verächtlicher Grimasse bemerkte Rochat, daß er unglücklicherweise keinen Ort in La Rochelle kenne, wo man echten türkischen Kaffee trinken könne. Es gebe zwar die »Taverne de la Nouvelle France«, wo man ein Gebräu dieses Namens serviere, aber das sei nur »ihr« Kaffee von den Inseln. Er habe nichts mit den Bohnen der Ebenen Äthiopiens gemein, die man nach unumstößlichen Regeln röste und deren göttlichen Extrakt man im Orient trinke.
Nichtsdestoweniger begaben sie sich zu der fraglichen, recht erbärmlichen Taverne, die um diese Stunde glücklicherweise leer war, und setzten sich in eine Fensternische. Rochat lehnte den vorgeschlagenen Kaffee ab.
»Offen gesagt, ich kann ihn Euch nicht empfehlen. Lakritzensaft mit einem Absud von Eicheln vermischt, das ist es, was sie hier Kaffee nennen .«
Sie einigten sich schließlich auf einen kleinen Charentewein, wie er hier überall in bester Qualität ausgeschenkt wurde, zu dem der Wirt eine reichhaltige Schale mit Meeresfrüchten und Muscheln lieferte.
»Das einzig Annehmbarein diesem trübseligen Land«, meinte Rochat. »Schalentiere, Seeigel, Austern ... ich stopfe mich voll damit.«
Er warf einen enttäuschten Blick auf das Gewirr der Rahen und Taue, das den leuchtenden Himmel verdunkelte.
»Wie traurig das ist! Wo sind die Galeeren Maltas und ihre Banner, die Fahnen der christlichen Piraten, die kleinen Esel und ihre Orangenkörbe ... wo ist Simon Dausat und sein roter Bart!«
Angélique war versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß der Hafen weder so nördlich gelegen noch so farblos sei, wie er zu glauben schien.
»Habt Ihr Euch früher nicht darüber beklagt, im Orient festgehalten zu werden? Ihr träumtet nur von der Rückkehr in die Hauptstadt.«
»Ihr habt recht. Ich habe alles nur mögliche angestellt, um nach Frankreich zurückkehren zu können. Jetzt stelle ich alles nur mögliche an, um wieder nach dort unten zu kommen . In Paris habe ich mich nur gelangweilt. Immerhin gab es in der Nähe des Vieux Temple eine kleine Kneipe, in der man anständigen Kaffee bekam und gelegentlich ein paar Malteserritter, ein paar Türken treffen konnte . Man hat mich hierhergeschickt, um den Protestanten das Versicherungsmonopol zu entziehen. Ich habe die Gelegenheit genützt, um mit gewissen Kaufleuten in Kontakt zu kommen . Diese Rochelleser haben überall ihre Beziehungen. Einer von ihnen schickt mich jetzt nach Kandia. Dienstag reise ich ab«, schloß er strahlend.
»Und die königliche Verwaltung?«
Rochat zuckte die Schultern. Er war Fatalist.
»Was wollt Ihr? Im Dasein jedes intelligenten Menschen kommt ein Augenblick, in dem er zu begreifen beginnt, daß man sich zum Narren macht, wenn man anderen dient, in diesem Fall dem Staat. Ich habe immer Begabung für Geschäfte gehabt. Die Stunde ist gekommen, mich ihrer zu bedienen. Wenn ich reich geworden bin, werde ich meine Familie nachkom-men lassen.«
Ihn kurz vor der Abreise zu wissen, beruhigte die junge Frau sehr. Sie konnte offener sprechen.
»Versprecht mir, Monsieur, das, was ich Euch anvertrauen werde, geheimzuhalten.«
Sie bestätigte ihm, daß sie wirklich die Marquise du Plessis-Bellière sei. Bei ihrer Rückkehr nach Frankreich habe sie beim König Anstoß erregt, der ihr grolle, weil sie trotz seines Verbots abgereist sei. In Ungnade gefallen, habe sie sich dem Ruin gegenübergesehen und sei nun gezwungen, ein sehr bescheidenes Leben zu führen.
»Schade! Schade!« murmelte Rochat. »Im Orient würde man so glänzende, aus dem Rahmen fallende Qualitäten wie die Euren nicht ungenützt verkommen lassen .«
Plötzlich beugte er sich vor.
»Wißt Ihr, daß er das Mittelmeer verlassen hat?«
»Wer?«
»Fragt man: Wer?, wenn man sich wie Ihr dort unten herumgetrieben hat? Der Rescator, natürlich!«
Und da sie ihn, ohne zu reagieren, nur anstarrte, fuhr er gereizt fort:
»Der Rescator! Jener maskierte Pirat, der Euch für fünfunddreißigtausend Piaster im Batistan von Kandia kaufte und dem Ihr den übelsten Streich gespielt habt, von dem man jemals in der Geschichte der Sklaverei hörte ... Man möchte meinen, daß Ihr völlig vergessen habt, was Euch geschehen ist!«
Ihr Gesicht bekam wieder Farbe. Es war absurd, sich um eines Namens willen so zu erregen.
»Das Mittelmeer verlassen?« fragte sie. »War er nicht allmächtig dort? Weiß man wenigstens, warum?«
»Man erzählt sich, Euretwegen.«
»Meinetwegen!?«
Sie geriet von neuem in Verwirrung, und ihr Herz schlug unregelmäßig.
»Glaubte er, meine Flucht habe ihn in solchem Maße lächerlich gemacht, daß er sich den Spöttereien seiner Piratenkumpane nicht aussetzen wollte?«
»Nein, das ist es nicht . Obwohl seine marokkanischen Wachen, als er von Eurem Ausbruch erfuhr, einen verdammt schlechten Augenblick durchgemacht haben. Um ein Haar hätte er alle gehängt. Aber das liegt nun mal nicht in seiner Art. Schließlich hat er sich damit zufriedengegeben, sie als unfähige Schurken Moulay Ismaël zurückzuschicken. Ich möchte wetten, daß die armen Teufel es vorgezogen hätten, gehängt zu werden. Ah, Ihr könnt Euch rühmen, der Anlaß zu allerlei Tränen und Blut im Mittelmeer gewesen zu sein, Madame! Um dann in La Rochelle zu landen!«
»Aber warum meinetwegen?« beharrte Angélique.
»Das hat etwas mit Mezzo Morte, seinem schlimmsten Feind, zu tun. Erinnert Ihr Euch wenigstens Mezzo Mortes, des Admirals von Algier?«
»Es fiele mir schwer, ihn zu vergessen, da er mich ebenfalls gefangengehalten hat.«
»Nun, Mezzo Morte rühmte sich, mit Euch das Mittel in der Hand zu halten, mit dem er den Resca-tor für immer aus dem Mittelmeer vertreiben könne. Sobald er Euch in seinem Besitz hatte, schickte er einen Boten nach Kandia ... Aber zuvor muß ich Euch noch von etwas anderem erzählen. Gleich nach Eurer Flucht - zwei oder drei Tage später, glaube ich - ließ mich der Rescator kommen.«
»Euch?«
»Ja, mich. Bin ich etwa eine so jämmerliche Persönlichkeit, daß ich nicht mit den großen Piratenfürsten verkehren könnte? Ob es Euch gefallt oder nicht, ich bin Seiner Herrlichkeit schon früher begegnet ... Er war einer der angenehmsten Menschen, mit denen man im Laufe seines Lebens zu tun haben kann, aber ich muß gestehen, daß seine seelische Verfassung diesmal recht gut mit seinem düsteren Äußeren in Einklang stand. Schon die Maske ist für seinen Gesprächspartner einigermaßen unerfreulich, aber wenn Euch durch ihre beiden schmalen Lederschlitze durchdringende, wütende Blicke treffen, würdet Ihr es vorziehen, woanders zu sein. Er hatte sich in sein Palais auf Mylos zurückgezogen. Was für eine prächtige Behausung, angefüllt mit seltenen Kostbarkeiten! Seine Schebecke war durch den Brand allzu hart mitgenommen worden, als daß er hätte daran denken können, Euch zu verfolgen. Übrigens herrschte auch ein heftiger Sturm, wenn ich mich recht erinnere. Kein einziges Schiff konnte die Reede verlassen ... Der Rescator hatte erfahren, daß ich Euch kannte. Er hat mich lange nach Euch ausgefragt .«
»Nach mir?«
»Kein Wunder! Schließlich ist es nicht zum Lachen, wenn einem eine Sklavin entwischt, für die man fünfunddreißigtausend Piaster geblecht hat. Ich sagte ihm, was ich über Euch wußte. Daß Ihr eine große französische Dame seid und bei König Ludwig XIV, in Gunst steht, dazu unwahrscheinlich reich und Inhaberin des Amtes eines Konsuls von Kandia. Und daß ich Euch in den Händen d’Escrainvilles, meines alten Kumpans aus der Schule der orientalischen Sprachen in Konstantinopel, entdeckte. Ich erzählte ihm sogar, wie ich mich bemühte, die Malteserritter dazu zu bringen, Euch zu kaufen . Ihr seid Zeugin, Madame, daß ich mein Bestes getan habe. Übrigens habe ich wirklich die fünfhundert Livres erhalten, die Ihr mir von Malta aus habt schicken lassen. Auf diese Weise hat man in Kandia erfahren, daß Ihr nicht im Sturm umgekommen seid, wie man allgemein vermutete.«
Rochat genehmigte sich einen Schluck Wein.
»Hm! Ich nehme an, Ihr werdet mir heute nicht mehr allzu böse sein, wenn Ihr erfahrt, daß ich es für richtig hielt, Monseigneur Le Rescator über diesen Punkt ins Bild zu setzen . Schließlich hatte ich ihm gegenüber trotz allem Verpflichtungen. Er ist überaus großzügig, da ihn das Geld nichts kostet. Und überdies war er immerhin Euer Herr, und es ist durchaus normal, daß man einem Besitzer beisteht, seinen Besitz wiederzuerlangen . Warum lächelt Ihr? . Weil Ihr mich orientalischer als die Orientalen findet? Nun ja, ich habe ihn also orientiert. Als er sich jedoch nach Malta einschiffen wollte, erschien der Bote Mezzo Mortes . Warum scheint Ihr plötzlich so niedergeschlagen?«
»Wenn Ihr den Ruf Mezzo Mortes kennt, müßte Euch klar sein, daß sein Name nicht eben angenehme Erinnerungen in mir weckt«, antwortete Angélique, die immer mehr aus der Fassung geriet, ohne es hindern zu können.
»Der Rescator brach also nach Algier auf. Was sich dort tat, erfuhren wir nicht. Wenn ich sage >wir<, spreche ich von allem, was sich dort unten handelnd und räubernd herumtreibt - vom ganzen Mittelmeer sozusagen. Allmählich sickerten jedoch Einzelheiten durch. Es hat den Anschein, als ob Mezzo Morte eine Art von Erpressung spielt: entweder den Rescator niemals erfahren lassen, was aus Euch geworden sei, ihm Euren Aufenthaltsort im Austausch gegen den Schwur verraten, für immer aus dem Mittelmeer zu verschwinden und ihn, den Admiral von Algier, allein über dieses Gewässer regieren zu lassen ... Viele sagten, es sei völlig unsinnig anzunehmen, daß der Rescator seine unermeßliche Macht, sein noch unermeßlicheres Vermögen, seine einzigartige Situation als Geldhändler für eine einfache Sklavin, und sei sie noch so schön, aufs Spiel setzen würde ... Aber man darf überzeugt sein, daß Mezzo Morte wußte, was er tat, denn der Rescator, der stolze, unbesiegbare Rescator, hat diese ungeheuerliche Demütigung auf sich genommen.«
»Er hat eingewilligt?« flüsterte Angélique atemlos.
»Ja!«
Die ein wenig kurzsichtigen Augen des einstigen Kolonialbeamten nahmen einen träumerischen Ausdruck an.
»Eine unverzeihliche Torheit . Kein Mensch ist daraus schlau geworden. Ihr müßt ihm mehr als Verlangen, Ihr müßt ihm Liebe eingeflößt haben. Kann man’s wissen?«
Angélique hatte mit stockendem Atem zugehört.
»Und dann?«
»Dann? . Was soll ich Euch sagen? Zweifellos hat Mezzo Morte ihm gesagt, daß er Euch an den Sultan von Marokko verkauft habe, und vermutlich erfuhr der Rescator, dieser habe Euch umgebracht . Andere erzählten auch, daß es Euch gelungen sei, ihm zu entkommen, daß Ihr aber unterwegs gestorben seid. Ich sehe nun, daß weder die eine noch die andere Version zutrifft, da Ihr Euch recht lebendig im Königreich Frankreich aufhaltet.«
In seinen Augen glitzerte es auf.
»Was für eine hübsche Geschichte kann ich erzählen, wenn ich erst in Kandia bin! Niemand hat mit einer solchen Pointe gerechnet. Eine Frau entflieht dem Harem Moulay Ismaëls . eine Gefangene, die wieder den Boden Frankreichs erreicht! Ich werde der einzige sein, der davon berichten kann . ich habe Euch gesehen!«
»Habt Ihr mir nicht versprochen, unsere Begegnung geheimzuhalten, Monsieur?«
»Allerdings«, murmelte Rochat enttäuscht.
Er verlor sich für einen Moment in mißmutige Überlegungen, während er sein Glas leerte. Er würde schon einen Weg finden, ohne La Rochelle zu nennen noch sonst irgendwelche Details anzugeben.
»Der Rescator«, schloß er, »hat also das Mittelmeer verlassen. Obwohl er Euch nicht zurückbekommen hat, war er es sich schuldig, das Mezzo Morte gegebene Versprechen zu erfüllen, da dieser das seine gehalten hatte. Wölfe unter sich halten auf Anstand. Aber zuvor hat er noch Mezzo Morte zum Duell gefordert. Der Admiral von Algier ist bis in eine Oase der Sahara geflüchtet, um ihm zu entgehen und das Lichten seiner Anker abzuwarten. Und der Rescator passierte die Meerenge von Gibraltar. Er ist auf den Atlantik entschwunden, und niemand weiß, was aus ihm geworden ist«, endete Rochat mit Trauerstimme. »Was für eine düstere Geschichte! Es ist zum Verzweifeln!«
Angélique erhob sich.
»Ich muß gehen, Monsieur. Kann ich sicher sein, daß Ihr mich nicht verraten und zu niemand über unsere Begegnung sprechen werdet, wenigstens solange Ihr in Frankreich und in La Rochelle seid?«
»Ihr könnt dessen sicher sein«, versprach er. »Mit wem sollte ich hier auch schon sprechen? Die Ro-chelleser sind kalt wie Marmor .«
Auf der Schwelle küßte er ihr die Hand. Er war kein Beamter mehr. Er begann ein neues Leben. Und seine bisher in eine zu enge Hülle gezwängte, unsichere, doch auf noch unbestimmte Weise poetische, abenteuerliche Persönlichkeit begann sich sacht zu entfalten.
»Schöne Gefangene mit den grünen Augen, möge der Gott der Winde Euer Schifflein weit von einem so trübseligen Geschick wie dem, das Ihr gegenwärtig erduldet, fortführen. Obwohl Eure Reize, die einstmals ganz Kandia blendeten, heute im verborgenen blühen, läßt sich dennoch erkennen, daß sie solche Verdunkelung nicht verdienen. Wißt Ihr, was ich Euch wünsche? Daß der Rescator vor La Rochelle Anker wirft und Euch von neuem entführt.«
Sie hätte ihn für diese Worte umarmen mögen. Statt dessen protestierte sie schwach.
»Großer Gott, nein! Ich müßte fürchten, daß er mich den Verdruß allzu teuer bezahlen ließe, den ich ihm verursacht habe. Er muß mich verfluchen bis zum heutigen Tag .«
Um Zeit zu gewinnen, schlug sie den Weg über die Wälle ein. Man würde sich über ihre lange Abwesenheit bereits wundern. Die Abendsuppe würde nicht rechtzeitig fertig werden. Die Sonne war schon untergegangen, und der kalte Wind schnitt in ihre halbnackten Arme, denn sie war an diesem milden Herbstnachmittag ohne Mantel ausgegangen. Unter dem gelben, klaren Himmel hatte das Meer eine graue, stumpfe Tönung. Friedlich verliefen sich die Wogen auf dem mit Tang bedeckten Strand. Von Zeit zu Zeit brach sich eine stärkere Welle am Fuß der Mauern, und der Wind zerstäubte die Gischt.
Die Augen zum Horizont gerichtet, glaubte Angé-lique dort ein Schiff auftauchen zu sehen, wie schon so viele andere erschienen waren. »Er ist auf den Atlantik entschwunden .«
War es närrisch, wie ein junges Mädchen zu träumen, dessen Herz zu schlagen beginnt, weil ein mysteriöser Fürst der Meere sie erwählt hatte und bereit war, alles für sie zu opfern?
War sie denn keine um ihre Illusionen gebrachte Frau, hatte sie nicht schon genug gelebt? Hatte die Brutalität der Männer sie nicht für immer verwundet?
Wann wohl hörte die Phantasie der Frauen auf, in Herzensdingen sich ins Uferlose zu schwingen? Ihr Träumen vom Wunder, vom Unerreichbaren schien erst mit ihnen zu sterben.
»Es ist der Zauber dieser Geschichte, der mich fasziniert«, dachte sie.
Wie sollte sie die Sanftheit jenes schweren Mantels aus schwarzem Samt vergessen, der sie eingehüllt hatte, die tiefe, ein wenig geborstene Stimme?
». Bei mir gibt es Rosen ... Bei mir werdet Ihr schlafen .«
Sie war so in Gedanken versunken, daß sie gegen den Soldaten Anselme Camisot stieß, der ihr mit seiner Hellebarde den Weg versperrte.
»Da Ihr Euch auf meinem Territorium befindet, schöne Dame, schuldet Ihr mir einen Kuß.«
»Ich bitte Euch, Monsieur Camisot!« rief Angélique freundlich, doch entschieden.
»Ah, wie könnt’ ich mich nicht beugen, ich, ein armer Wachtposten, wenn die Königin mich darum bittet?«
Er trat beiseite, um sie passieren zu lassen. Auf seine Hellebarde gestützt, folgte er mit dem melancholischen Blick eines traurigen Hundes ihrer trotz des armseligen Kleides in fürstlicher Haltung sich entfernenden Erscheinung, aus tiefster Seele ihre runde Taille, die sanfte Linie der Schultern, den geraden Nacken und das dem Meer zugewandte weiße Profil bewundernd.
Eines Morgens fand man Onkel Lazare friedlich entschlafen in seinem Bett. Madame Anna und Abigaël kleideten ihn in ein Totenhemd und betteten ihn in weiße, prunkende Laken. Der Pastor Beaucaire war bereits mit seinem Neffen erschienen. Wenig später traf der Papierhändler ein, danach die Nachbarn in immer größerer Zahl. Um die Mitte des Vormittags wurde am Portal geläutet. Angélique lief hinunter, um zu Öffnen, und ließ einen Herrn den Hof betreten, dessen strenges Äußere - schwarzer Überrock, weißer Spitzenkragen - ihr zunächst keinerlei Mißtrauen einflößte und der sich als Sieur Baumier, Präsident der königlichen Kommission für religiöse Angelegenheiten und Beigeordneter des Monsieur Nicolas de Bardagne, vorstellte.
Angélique hatte bereits von dieser Persönlichkeit sprechen hören. Sie biß sich auf die Lippen und wunderte sich nicht, hinter dem Besucher vier Bewaffnete zu entdecken, die nun gleichfalls in der unbekümmerten, selbstbewußten Art von Leuten eintraten, die sich auf der Seite des Stärkeren wissen, gefolgt von einem Individuum mit wenig einnehmender Miene, dessen Kasacke mit dem Wappen der Stadt geschmückt war: dem Schiff, auf dessen Segeln die königlichen Lilien prangten.
In einer den Umständen angepaßten Trauerhaltung wandte sich Baumier der Treppe zu, von dem Kommis und den vier beunruhigenden Gestalten in respektvollem Abstand gefolgt.
Bei ihrem Anblick erhob sich die kniende Versammlung, und in der dumpfen Luft des Zimmers wurde jähe Spannung spürbar.
Der Sieur Baumier entrollte ein Pergament und verlas es mit mürrischer Stimme:
»In Ansehung, daß der Sieur Berne Lazare, am Tage des 16. Mai konvertiert, in seine schuldhaften Irrtümer zurückfiel, sein ewiges Heil vernachlässigte, ein gefährliches Beispiel gab .«, wurde er des Verbrechens der Rückfälligkeit beschuldigt und überführt, zu dessen Sühnung sein Leichnam vom Henker auf einer Leiter durch die Bezirke und Straßen der Stadt geschleift und auf den Schindanger geworfen würde. Überdies sei er dazu verurteilt, dreitausend Livres Buße an den König und hundert Livres Almosen zugunsten der armen Gefangenen des Gerichtsgefängnisses zu zahlen .
Maître Gabriel unterbrach ihn. Er war sehr bleich. Er hatte sich zwischen Baumier und das Bett gestellt, in dem als einziger der Versammlung der Tote einen heiteren, fast ein wenig ironischen Ausdruck bewahrte.
»Monsieur de Bardagne kann unmöglich eine solche Entscheidung getroffen haben. Er selbst ist Zeuge der Weigerung meines Onkels gewesen, und ich schlage vor, ihn zu holen.«
Baumier verzog sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse, während er das Pergament zusammenroll-te.
»Gut«, sagte er selbstsicher, »laßt ihn nur holen. Aber ich bleibe. Ich habe Zeit. Ich stehe im Dienst einer heiligen Sache, die es sich angelegen sein läßt, die Stadt von gefährlichen Verschwörern zu säubern. Denn es gibt eine Verschwörung der bösen Engel gegen die guten, wie es eine Verschwörung der schlechten Untertanen des Königs gegen seine Getreuen gibt, und in La Rochelle fällt manchmal beides zusammen.«
»Wollt Ihr uns etwa als Verräter am Königreich bezeichnen?« fragte der Schöffe Legoult, indem er sich mit verkniffenen Lippen und kampfeslustig hochgezogenen Augenbrauen näherte.
Maître Gabriel trat dazwischen.
»Wer wird Monsieur de Bardagne holen?« fragte er.
»Ich bleibe hier und meine Leute desgleichen«, rief Baumier mit sardonischem Lächeln.
»Dann gehe ich«, sagte Angélique.
Sie hatte schon ihren Mantel über die Schultern geworfen und hastete die Treppe hinunter.
»Lauft, lauft nur!« spottete Baumier.
Angélique durchquerte in höchster Eile die Stadt, durch die mit den runden Steinen gepflasterten, engen Gassen huschend. Im Wohnsitz Monsieur de Bardagnes sagte man ihr: »Im Justizpalast!« Im Justizpalast vermochte ihr ein Gerichtsdiener erst nach vielen vergeblichen Fragen Auskunft zu geben. Monsieur de Bardagne befinde sich auf Besuch bei dem großen Reeder Jean Manigault.
Wie von Flügeln des Windes getragen, machte sich Angélique von neuem auf den Weg. Was konnte sich während dieser Zeit nicht alles im Haus am Wall ereignen, das sie wie ein Pulverfaß mit mörderischen Leidenschaften geladen hinter sich gelassen hatte? Aus dem Zusammenprall der Spöttereien Baumiers, der Frechheit der Soldaten und des zornigen Unwillens der Protestanten mußten über kurz oder lang Funken sprühen. Und sie hatte Honorine dort vergessen! Welche Unvorsichtigkeit! Sie sah sich schon vor dem verlassenen, versiegelten Haus, dessen Bewohner man ins Gefängnis geschleppt hatte, niemand wußte, wohin .
Halbtot vor Angst, gelangte sie endlich vor das prächtige Haus der Manigaults.
Monsieur de Bardagne speiste mit der Familie unter den nachgedunkelten Porträts einer ganzen Dynastie von Reedern aus La Rochelle. Im Zimmer duftete es nach gepfefferter Schokolade, die der Sklave Siriki aus einer silbernen Kanne einschenkte. Auf einer Porzellanschüssel in der Mitte des Tisches erhob sich ein wahres Gebirge exotischer Früchte - Ananas und Pampelmusen -, vermischt mit Trauben der Gegend. Angélique verschwendete an alle diese Herrlichkeiten keinen Blick. Atemlos stürzte sie zum Statthalter des Königs.
»Monsieur, ich bitte Euch, kommt schnell! Maître Gabriel Berne ruft Euch zu Hilfe. Ihr seid seine einzige Hoffnung.«
Monsieur de Bardagne erhob sich galant und sichtlich von der so jäh vor ihm aufgetauchten Erscheinung beeindruckt. Ohne ihr Wissen sprang von Angélique, die mit vom Lauf geröteten Wangen, glänzenden Augen und bebender Brust unter der schwarzen Korsage vor ihm stand, verwirrendes Fieber auf ihn über. Ihre Erregung, ihr flehender Ausdruck verbunden mit dem strahlendsten Blick der Welt konnten einen glühenden Anbeter des schwachen Geschlechts - und Nicolas de Bardagne war ein solcher - nicht ungerührt lassen.
»Beruhigt Euch, Madame, und erklärt Euch ohne Furcht«, sagte er, den harten Glanz seiner grauen Augen mildernd und seine Stimme angenehm dämpfend. »Ihr seid mir zwar unbekannt, aber ich werde Euch darum nicht weniger wohlwollend anhören.«
Noch zur rechten Zeit fiel Angélique ihre Unterlassungssünde gegenüber Monsieur Manigault und seiner fülligen Gattin ein, und sie grüßte mit hastiger Reverenz. Dann berichtete sie mit abgehackten Worten von den letzten Ereignissen im Hause Maître Gabriel Bernes. Schreckliche Dinge bereiteten sich dort vor, hatten sich vielleicht gar schon ereignet ...
Mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen.
»Nun, nun, beruhigt Euch«, wiederholte Monsieur de Bardagne. Und die Manigaults zu Zeugen nehmend, fuhr er fort: »Warum gerät diese Frau nur in einen solchen Zustand? Die ganze Geschichte scheint mir so wenig auf sich zu haben, daß man keinen Hund damit hinterm Ofen herlocken könnte.«
»Es ist nun einmal die Art Maître Bernes, sich in schlechtes Licht zu setzen«, bemerkte Madame Mani-gault säuerlich.
»Er kann doch seinen Onkel nicht auf einer Leiter durch die Straßen schleifen lassen, meine gute Jeanne!« protestierte der Reeder.
»Ich weiß nur, daß einzig und allein ihm derartige Ungelegenheiten passieren«, antwortete die dicke Frau geziert.
Sie klatschte in die Hände.
»Meine Töchter, hüllt Euch in Eure Kapuzen aus schwarzem Samt und sorgt dafür, daß man Jérémie in seinen Tuchanzug steckt. Wir müssen uns zum armen Lazare begeben, um seinen Heimgang in die ewigen Gefilde mit unseren Gebeten zu begleiten.«
»Es stimmt allerdings, daß man mich nicht über seinen Tod unterrichtet hat«, sagte Manigault, plötzlich wie verwandelt.
»Ich eile Euch voraus«, erklärte Monsieur de Bar-dagne jovial. »Diese Dame ist zu ungeduldig, sich meiner Gegenwart zu versichern, als daß ich noch länger zögern könnte.«
Er ließ Angélique in seine Kutsche steigen, die ihn, von zwei Polizisten flankiert, erwartete.
»Mein Gott, hoffentlich kommen wir nicht zu spät«, murmelte Angélique. »Weist den Kutscher an, schnell zu fahren, Monsieur.«
»Wie ungeduldig Ihr seid, mein liebes Kind. Ich möchte wetten, daß Ihr nicht aus La Rochelle stammt.«
»Ihr habt recht. Warum?«
»Weil Ihr Euch sonst schon an Geschichten dieser Art gewöhnt hättet, die, was auch immer Dame Jeanne sagt, in unserer Stadt recht häufig sind. Leider bin ich zuweilen zur Strenge gezwungen. Allzuviel Verstocktheit im Bösen verdient Strafe. Indessen gebe ich zu, daß Lazare Berne seinem durch vierundachtzig Jahre geheiligten Starrsinn die unverzeihliche Sünde der Verleugnung nicht hinzugefügt hat.«
»Ihr werdet also nicht zulassen, daß ihn dieser schreckliche, kleine Biedermann durch den Schmutz zerren läßt?«
Der Statthalter des Königs lachte und zeigte dabei seine weißen, wohlgestalten Zähne unter dem kasta-nienfarbenen Schnurrbart.
»Ist es Baumier, den Ihr so beschreibt? Das paßt nicht schlecht auf ihn, muß ich gestehen.«
Ein leichter Schatten breitete sich über sein Gesicht.
»Ich bin mit ihm nicht immer über die Methoden einig ... Aber, verzeiht, mir scheint einerseits, daß ich Euch zum erstenmal entdecke, und andererseits kommt es mir vor, als habe ich Euch schon einmal gesehen. Wie konnte ich, wenn es so ist, nur den Namen einer so charmanten Dame vergessen!«
»Ich bin die Magd Maître Gabriel Bernes.«
Plötzlich erinnerte er sich:
»Ich hab’s. Ich habe Euch an jenem berühmten Abend bei Maître Berne bemerkt, an dem mich die Kapuziner des Paulinerklosters am Kragen zum Lager des armen, angeblich im Sterben liegenden Lazare schleppten, um ihnen bei der Bekehrung beizustehen. Maître Gabriel kehrte eben von einer Reise zurück, und Ihr begleitetet ihn .«
Er fügte streng hinzu:
»Ihr habt ein Kind, das nach dem Gesetz in der katholischen Religion erzogen werden muß.«
»Ich erinnere mich, daß Ihr sagtet, meine Tochter sei sicher ein Bastard«, erklärte Angélique, die sich entschlossen hatte, lieber mit offenen Karten zu spielen, um Nachforschungen über ihre Person zu vermeiden. »Nun ja, Ihr hattet recht. Sie ist einer.«
Monsieur de Bardagne zuckte bei dieser Anwandlung von Offenheit zusammen.
»Verzeiht mir, wenn ich Euch verletzt habe, aber mein schwieriges Metier in dieser Stadt verpflichtet mich, mich vom Religionsstand des Geringsten ihrer Bewohner zu überzeugen, und .«
»So ist es eben«, unterbrach ihn Angélique mit einem Achselzucken.
»Wenn man so schön ist wie Ihr«, meinte der königliche Beamte mit nachsichtigem Lächeln, »versteht man, daß die Liebe .«
Angélique schnitt ihm erneut das Wort ab.
»Ich möchte Euch nur davon in Kenntnis setzen, daß Ihr es weder nötig habt, Euch um die Taufe meines Kindes noch um seinen Katechismus zu kümmern, da es katholisch ist wie ich.«
Monsieur de Bardagne war bereits mit dem Gedanken umgegangen, daß diese junge Frau eine Konvertierte oder zumindest in einem katholischen Kloster erzogen worden sein müsse. Entzückt über seine feine Nase, gratulierte er sich.
»Damit erklärt sich alles, denn ich ahnte schon ... aber wie habt Ihr es wagen können, bei Calvinisten eine Stellung anzunehmen. Das ist sehr ernst.«
Angélique hatte schon eine Antwort parat. Ein Gedanke war ihr gekommen, den sie indirekt den feindseligen Äußerungen Séverines verdankte.
»Monsieur«, sagte sie, die Lider senkend, »mein Leben ist nicht immer sehr musterhaft gewesen. Ihr müßt es schon den Geständnissen entnommen haben, die ich Euch machte. Aber ich hatte das Glück, einer Person von großer Frömmigkeit zu begegnen, die ich Euch nicht nennen kann, obwohl sie hier lebt, und die mich von der Notwendigkeit überzeugte, meine Fehler wiedergutzumachen, und mir auch einen Weg dazu wies. So bin ich denn in den Dienst jener Familie Berne getreten, die alle Glaubenseifrigen eines Tages unter den Konvertierten La Rochelles sehen möchten.«
»Aber, natürlich, Ihr könnt auf mich rechnen!«
Er fragte sich bereits, welche der Damen der Gesellschaft vom Heiligen Sakrament dieses Mädchen in frommer Spionagemission bei den Bernes eingeschmuggelt haben mochte. Madame de Berteville? ... Madame d’Armentières? ... Was lag daran? Seine Neugier würde unbefriedigt bleiben. Die Gesetze der Gesellschaft sorgten für strengste Verschwiegenheit. Er wußte einiges davon, da er selbst zu ihr gehörte.
Schon hatte Angélique ihren Blick aus dem Fenster gewandt. Der Anblick der Straße am Wall erfüllte sie mit Unruhe.
»Es wäre furchtbar, Monsieur, wenn diese Leute sich während unserer Abwesenheit gegenseitig umgebracht hätten! Und ich habe meine kleine Tochter dort gelassen .«
»Nun, nun, dramatisieren wir nicht.«
Sie war charmant, wenn sie so erblaßte, wenn ihre klaren Augen sich in der Erregung weiteten und einen rührenden, herzbewegenden Ausdruck bekamen. Man verlangte danach, sie in die Arme zu nehmen und ihr Beistand für immer zu schwören.
Er half ihr beim Aussteigen aus der Kutsche, indem er ihr ritterlich die Hand reichte.
Ludwig XIV. hatte seine Pairs gelehrt, sich zuvorkommend gegen die geringste Kammerfrau zu verhalten, und die untergeordnete Stellung dieser hier vergaß man gern.
Monsieur de Bardagne jubilierte innerlich. Seitdem er wußte, daß sie eine Dienstmagd war, fiel es ihm schwer, seine Freude zu unterdrücken.
Sie konnte gar nicht anders als von dem Umstand geschmeichelt sein, daß eine so mächtige Persönlichkeit wie der Generalstatthalter, der persönliche Vertreter des Königs in La Rochelle, ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte. Endlich würde er nicht mehr gegen die gleichsam angeborene Prüderie der reformierten Frauen zu kämpfen haben, deren Zurückhaltung zu überwinden er vergebens versucht hatte. In dieser Beziehung hatte er jede Hoffnung aufgegeben, selbst die auf die ein wenig säuerliche, pikante Jenny, die älteste Tochter Maître Manigaults.
Beim Anblick dieser prachtvollen Frau konnte man kaum glauben, daß die Fehler, die sie bereute, zu denen gehörten, die er, Nicolas de Bardagne, mit Vergnügen zu vergeben bereit war, vor allem dann, wenn man sie zu seinen Gunsten beging.
Und dazu kam, daß die Gegenwart ihrer kleinen Bastardtochter sie in eine Lage brachte, von der er nur profitieren konnte.
Ein ausgezeichneter Handel, ein festlicher Tag für ihn!
Beim Betreten des Hofs stützte er ihren Arm. Angélique bemerkte es kaum. Übrigens hatte sie es nötig. Ihre Beine trugen sie nicht mehr.
»Seht«, sagte Monsieur de Bardagne beruhigend, »alles hat sich beruhigt.«
Von der alten Rebecca bedient, tranken die vier Soldaten, der Kommis und der Sieur Baumier im Vestibül des Erdgeschosses Wein. Als Mann von Stand, der sich mit seinen Untergebenen nicht gemein machen kann, hielt sich Baumier ein wenig abseits.
Als er seines Vorgesetzten ansichtig wurde, erhob er sich und verneigte sich tief, schien aber durchaus nicht in Verlegenheit zu geraten.
»Hört Ihr?« fragte er mit einem resignierten Blick zur Decke.
Ein monotoner, düsterer Psalm, der aus dem Zimmer Lazare Bernes drang, besang den Tod und die Angst der Seele. Die Protestanten wachten um den bedrohten Leichnam, aus ihrer Gemeinsamkeit Trost und Stärkung schöpfend.
»Ihr seht«, wiederholte Monsieur de Bardagne, zu Angélique gewandt, »habe ich’s Euch nicht gesagt? In La Rochelle sind wir unter Leuten mit angenehmen Umgangsformen. Alles erledigt sich von selbst.«
Sie konnte den fernen Chor nicht ohne leises Erbeben hören. Sie würde nie aufhören, diese Melodien von den Lippen ihrer Diener und der um ihre Mutter gedrängten Cambourg-Kinder zu vernehmen, damals, als die Dragoner mit gezogenen Säbeln ins Schloß gedrungen waren .
Der Statthalter des Königs unterhielt sich halblaut mit dem Präsidenten der königlichen Kommission für religiöse Angelegenheiten.
»Ich fürchte sehr, daß Ihr bei diesem Unternehmen einem Mißverständnis erlegen seid, Monsieur Bau-mier. Es wird recht schwierig sein, den besagten Lazare Berne des Verbrechens der Rückfälligkeit zu beschuldigen, da er sich nie bekehrt hat.«
»Ihr habt mir versichert, daß Ihr mir freie Hand laßt, dergleichen Angelegenheiten nach meinem Dafürhalten zu behandeln und durchzuführen«, protestierte Baumier steif.
»Gewiß, aber ich setzte auch das Vertrauen in Euch, daß Ihr Eure Anklagen auf das genaueste fundiert. Der geringste Irrtum in diesen delikaten Fragen bringt uns die schlimmsten Schwierigkeiten auf den Hals. Die Reformierten sind sehr empfindlich und neigen nur allzusehr dazu, uns bösen Willen vorzuwerfen .«
Der Gesichtsausdruck des mit der Bekehrung der Protestanten betrauten Beamten ließ erkennen, daß ihm diese Bedenken absolut übertrieben schienen.
»Ihr macht zuviel Aufhebens von diesen Elenden, die nichts anderes als Deserteure des wahren Glaubens sind, Herr Generalstatthalter. Sie müssen mit der gleichen Härte behandelt werden wie auf dem Schlachtfeld dieses Verbrechens schuldig gewordene Soldaten.«
In diesem Augenblick erschien Monsieur Mani-gault, seinen Sohn Jérémie an der Hand führend und von seiner ganzen Frauenschar gefolgt.
Der Statthalter des Königs begleitete ihn nach oben. Ein Märtyrerlächeln um die messerschmalen Lippen, schloß Baumier sich ihnen an. Er war es gewohnt, allen Ärger hinunterzuschlucken. Die Gewißheit, daß er nichtsdestoweniger geistig und dienstlich auf dem rechten Wege war, half ihm, derlei Demütigungen zu ertragen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hörte er zu, wie Nicolas de Bardagne sich vor der Versammlung zerknirscht über das »Mißverständnis« verbreitete und Maître Gabriel sogar versicherte, daß ihn keine Schwierigkeiten wegen der Öffnung der Stadttore im Augenblick der Beerdigung gemacht würden.
Der Zwischenfall war also abgeschlossen.
Er wäre um ein Haar wieder aufgeflammt, als eine kleine, runde Gestalt mit einem apfelgrünen Mütz-chen sich dem Sieur Baumier näherte, drohend einen Stock schwang und rief: »Du bist schlimm ... sehr schlimm. Ich mach’ dich tot!«
Es war Honorine, die, von allen vergessen, entschlossen war, sich wieder in den Vordergrund zu spielen. Sie steuerte geradewegs auf den Verantwortlichen für die Störung des Familienlebens zu. Er war der Unruhestifter, der böse Geist in dieser verstört zusammengedrängten Menge. Ihn mußte man strafen. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um ihren Knüppel aus dem Holzstoß zu ziehen. Baumier vermied mit knapper Not die Schläge, die sie mit ihren kleinen, kräftigen Armen austeilte. Monsieur de Bardagne erkannte Angéliques Töchterchen wieder und lachte.
»Da ist ja das charmante Kind!«
»Ah, findet Ihr?« knirschte der Präsident der königlichen Kommission. »Und Ihr laßt es zu, daß dieses Ketzerbalg mich beleidigt?«
»Wieder einer Eurer Irrtümer, mein Lieber. Diese Kleine ist durch unsere Heilige Mutter Kirche getauft, wie es sich gehört.«
Mit einem vertraulichen Zwinkern raunte er ihm zu:
»Kommt, Maître Baumier, ich werde Euch über das ins Bild setzen, was Eurer Kurzsichtigkeit entgeht .«
Angélique hatte ihre Tochter am Arm erwischt und sich, von Laurier unterstützt, mit ihr in die Küche geflüchtet. Honorine war krebsrot und von blindwütigem Zorn erfüllt. Sie glaubte, im Verlaufe dieses Tages, an dem sich die Erwachsenen um sie nicht mehr gekümmert hatten als um die kleinen Katzen des Hauses, allzu lange Geduld geübt zu haben. Sie hatte ungestraft mit einem ganzen Zuber Wasser spielen, bei dem Versuch, ihre ausgehungerte Katze zu tränken, eine Schale Milch umstoßen und schließlich einen Marmeladentopf zur Hälfte ausschlecken können ... Die Großen fuhren fort, sich mit starren Gesichtern zu betrachten und dumpf klingende Worte miteinander zu wechseln. Zuweilen hatten sie gesungen ... Da ihre Mutter spurlos verschwunden war, hatte sie sich nach und nach immer beklommener gefühlt und sich schließlich den Erwachsenen genähert, um sie aus der Nähe zu beobachten. Sie war sofort gegen Baumier eingenommen gewesen, weil sie gesehen hatte, wie er eine Tabatiere aus seinem Rockschoß zog, sich zwei oder drei Prisen in die Nase stopfte und alsbald kräftig nieste. Dieses unpassende Verhalten war ihr im höchsten Maße abscheulich erschienen. Sie hatte sich entschlossen, diesem widerlichen Mann den Garaus zu machen.
»Ich will ihn tot machen«, wiederholte sie energisch.
Angélique versuchte, sie festzuhalten, während sie ihr Augenmerk auf die Tatsache richtete, daß ihre Tochter bis zu den Haaren mit Marmelade beschmiert war. In diesem Moment begann der kleine Laurier sich zu übergeben. Es war die Aufregung. Er hatte um seinen Vater gezittert, ohne recht zu wissen, wer oder was ihn eigentlich bedrohte. Die Angst ließ ihn wieder so elend aussehen wie in den ersten Tagen. Angélique füllte den eisernen Kessel mit sauberem Wasser und hängte ihn über die Glut. Dann fachte sie das Feuer an. Sie würde die beiden waschen müssen.
Séverine trat in Begleitung Madame Annas in die Küche. Sie wiederholte aufgeregt:
»Und dann, Tante Anna? . Hätte man ihn durch die Straßen geschleift?«
»Ja, meine Tochter. Der Pöbel hätte das Recht gehabt, ihn zu beschimpfen, ihn anzuspucken und mit Unrat zu bewerfen.«
»Findet Ihr es richtig, dieses Schauspiel zu beschreiben, obwohl es nicht stattgefunden hat?« fragte Angélique unvermittelt.
Plötzlich wurde Séverine noch weißer und glitt von ihrem Stuhl. Angélique hatte eben noch Zeit, das Mädchen in ihren Armen aufzufangen und in ihr Zimmer zu tragen.
Nachdem sie ihr die Schuhe ausgezogen hatte, legte sie sie aufs Bett. Séverines Hände waren eisig.
Angélique kehrte in die Küche zurück, ergriff einen Behälter, in den sie etwas von dem Wasser goß, das eben zu kochen begann. Gleichzeitig bereitete sie einen Bettwärmer vor.
Tante Anna bemerkte in verkniffenem Ton, sie sei verwundert, Séverine so wenig tapfer zu sehen, da sie sich sonst doch so energisch widerstandsfähig und ohne falsche Empfindlichkeit zeige.
»Und ich bin verwundert, daß Ihr Euch wundert«, erwiderte Angélique. »Denn Ihr seid doch eine Frau, wie mir scheint, und es kann Euch nicht entgangen sein, daß Séverine zwölf Jahre alt ist und daß ein Mädchen in diesem Alter der Schonung bedarf.«
Madame Anna schien durch die Anspielung höchst unangenehm berührt; da sah man es wieder: den papistischen Frauen fehlte es von Grund auf an Schamgefühl.
Angélique richtete Séverine mit Hilfe eines zweiten Kopfkissens ein wenig auf und riet ihr, die Hände so lange in das warme Wasser zu tauchen, bis sie sich wieder besser fühle.
Sie verließ sie, um den Bettwärmer, ein Fläschchen Parfüm und die kirschroten Samtbänder zu holen, die sie in der Rue des Merciers gekauft hatte.
Auf dem Bettrand sitzend, flocht sie mit geschickten Fingern das lange Haar des Kindes, das sie zuvor geteilt hatte, in zwei braune, mit den roten Bändern durchwirkte Zöpfe.
»So, jetzt wirst du dich besser ausruhen können.«
Sie tat ein paar Tropfen Parfüm in das Wasser des Behälters und rieb Séverines Stirn und Schläfen mit der flachen Hand. Das Mädchen ließ alles mit sich geschehen, hin und her gerissen zwischen den Gewissensbissen über ihre Schwäche und dem Wohlsein, das sie nach ihrem peinlichen Unbehagen empfand.
»Tante Anna wird unzufrieden mit mir sein«, murmelte sie.
»Warum?«
»Sie ist niemals krank. Sie sagt, daß man seinen Körper abtöten müsse.«
»Bah! Unser Körper übernimmt es schon selbst, uns abzutöten, ohne daß wir ihn dazu erziehen müßten«, bemerkte Angélique lachend.
Das Gesicht Séverines auf dem Kopfkissen schien ihr plötzlich verändert. Die bläulichen Lider machten ihren Blick weich, und unter ihren unhübschen, noch kindlichen Zügen zeichnete sich das Gesicht einer Frau ab. In ihren Augen würden nächtliche Tiefen schlummern, und schon jetzt ließ sich erkennen, daß ihr zu großer Mund einen Ausdruck unbewußter Sinnlichkeit bekommen würde.
Séverine war hart, viel härter als ihre Brüder, aber auch sie würde dem Erbe der Frauen nicht entgehen. Auch sie würde eines Tages mit diesem Ausdruck der Unterwerfung in den Armen eines Mannes liegen. Auch sie würde sich vor der Liebe beugen.
Angélique sprach sanft zu ihr, um sie zu beruhigen, wie es einstmals ihre Mutter getan hatte. Doch Séverine gewann nach und nach ihre Farben wieder, und ihre Augen begannen zu blitzen. Sie hatte immer darunter gelitten, ein Mädchen zwischen ihren beiden Brüdern zu sein, Martial, den sie bewunderte, und Laurier, den sie beneidete, weil er ein Junge war.
»Ich will keine Frau sein«, erklärte sie heftig. »Es ist ein schrecklicher, demütigender Zustand.«
»Was für eine Idee! Ich bin auch eine Frau! Sehe ich unglücklich aus?«
»Oh, Ihr . das ist nicht dasselbe«, erklärte Séverine. »Erstens lacht Ihr immer . und dann seid Ihr schön.«
»Auch du wirst einmal sehr hübsch sein.«
»Ach, ich lege keinen Wert darauf. Tante Anna sagt, die Schönheit der Frauen führe die Männer in Versuchung und verleite sie zu Sünden, die dem Herrn ein Greuel sind.«
Auch diesmal konnte Angélique ihr Lachen nicht unterdrücken.
»Die Männer begehen ohnehin alle Sünden, die sie begehen wollen, glaube mir. Warum sollte die Schönheit der Frauen eine Falle sein statt einer Huldigung für den Schöpfer?«
»Eure Worte sind gefährlich«, bemerkte Séverine im Tonfall Madame Annas.
Aber sie gähnte schon, und ihre Lider schlossen sich.
Angélique deckte sie zu und verließ sie, zufrieden über das glückliche Kinderlächeln, das, wie einstmals bei Laurier, im Schlaf um ihre Lippen spielte.
Ein paar Tage später schlich sich Martial bei Nacht auf ein holländisches Schiff. Doch das Schiff wurde auf der Höhe der Ile de Ré von Fahrzeugen der königlichen Marine angehalten. Der junge Passagier wurde verhaftet, zum Land zurückgeschafft und im Fort Louis eingesperrt.
Die Neuigkeit schlug in La Rochelle wie ein Blitz ein.
Der Sohn Maître Bernes im Gefängnis! Eine der ehrenwertesten Familien der Stadt in unvorstellbarer Weise erniedrigt!
Maître Berne erbat sofort eine Audienz bei Monsieur de Bardagne, der ihn während des Vormittags nicht empfangen konnte. Doch gelang es ihm immerhin, den spottenden, unnachgiebigen Baumier zu sehen, von dem er sich zu Manigault begab, um den Fall mit ihm durchzusprechen. Der Tag verstrich mit allerlei Vorstößen, von denen man sich jedesmal eine günstige Entscheidung erhoffte. Abends kehrte Gabriel Berne bleich und so erschöpft zurück, daß Angélique es nicht wagte, ihn von einem Besuch des Unterdelegierten des königlichen Finanzpacht-Amts für das Gebiet der Charente zu unterrichten, der am Nachmittag gekommen war, um die zweite, dem Kaufmann in seiner Eigenschaft als Reformierter auferlegte Steuerrate einzutreiben. Ein Unglück kommt selten allein.
Maître Berne berichtete, daß er schließlich doch bei Nicolas de Bardagne gewesen sei, der sich jedoch zu seiner Enttäuschung sehr zurückhaltend gezeigt habe. Er versicherte, daß das Delikt der Flucht drakonisch bestraft werde. Hatte man nicht auf der Straße nach Genf verhaftete protestantische Reisende kurzerhand aufgeknüpft? Die Richtung nach Holland war nicht viel weniger verdächtig, Monsieur de Bardagne hatte in Anbetracht der besonderen gesellschaftlichen Stellung des Jungen um Zeit zum Überlegen gebeten. Er habe mehrfach wiederholt, daß er sehr, sehr ärgerlich sei.
Das Unheil warf seinen kalten Schatten über den Abend der Protestanten.
Der Empörung, der Scham folgte die Furcht. Der Advokat Carrère sprach mit Trauermiene davon, daß unter ähnlichen Umständen arretierte protestantische Kinder mit unbekanntem Ziel verschleppt worden seien und daß es heiße, man verwende sie auf den Galeeren des Königs. Selbst die Kräftigsten hielten es höchstens ein Jahr aus .
Während zweier Tage vernachlässigte Maître Gabriel völlig sein Geschäft, um von einer Stelle zur anderen zu laufen und zu versuchen, seinen Sohn freizubekommen oder wenigstens sehen zu können.
Am dritten Tage kehrte Séverine, die zu einem alten Fräulein des Viertels gegangen war, bei der sie Lautenunterricht nahm, nicht zum Mittagessen zurück. Sie erhielten die Nachricht, daß die Tochter Maître Bernes wegen »profanierender Handlungen« festgenommen und ins Kloster der Ursulinerinnen gebracht worden sei.
Im Haus verbreitete sich eine Alptraum-Atmosphäre.
Angélique konnte während der Nacht nicht schlafen.
Als der Morgen anbrach, überließ sie Laurier und Honorine der Aufsicht der alten Rebecca und begab sich zum Justizpalast, wo sie in festem Ton den Statthalter des Königs, den Grafen de Bardagne, zu sehen verlangte.
Das Gesicht des Statthalters hellte sich auf, als er sie eintreten sah. Er hatte bereits heimlich auf ihren Besuch gehofft. Er sagte es ihr.
»Hat Euch Euer Herr geschickt? Dann müßt Ihr wissen, daß der Fall sehr ernst ist und daß überhaupt keine Möglichkeit besteht, etwas zu ändern.«
»Keineswegs, ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.«
»Ich bin entzückt darüber. Ich habe von Eurer Intelligenz nichts anderes erwartet. Da sich die Ereignisse überstürzen, ist es unumgänglich, daß Ihr mir Eure Beobachtungen berichtet. Glaubt Ihr, daß Maître Berne nachgeben wird?«
»Nachgeben?«
»Ich meine, sich bekehren wird. Ich gestehe, daß es mich bei diesem Gedanken nicht mehr an meinem Platz halt. Ich habe hier einige Namen aufgeschrieben, die ich im Laufe eines ganzen Jahres geduldiger Beobachtung ausgewählt habe. Nicht mehr als zehn, aber ich weiß, daß die Pfeiler des Hugenotten-tums in La Rochelle von selbst einstürzen werden, wenn ich mit diesen zu einer Übereinkunft im Guten gelange .«
Es war sehr warm im Zimmer. In dem von heraldischen Greifen und verzierten Bogenrippen eingerahmten Kamin bullerte ein vom stürmischen Wind angefachtes Feuer. Angéliques Wangen nahmen rasch die Tönung reifender Pfirsiche an und lenkten die Gedanken Monsieur de Bardagnes in eine galantere Bahn.
»Zieht doch Euren Mantel aus ... Wir sind hier vor den Unbilden des Wetters geschützt.«
Er selbst nahm den schweren Tuchmantel von Angéliques Schultern. Sie ließ es mechanisch geschehen, ganz und gar vom Umformulieren der Verteidigungsrede in Anspruch genommen, die sie in Gedanken vorbereitet hatte. Sie war als Bittstellerin hierhergekommen, entschlossen, wenn es nötig sein sollte, sich dem Statthalter des Königs zu Füßen zu werfen. Nun merkte sie, daß es ein schrecklicher Irrtum gewesen wäre. Denn er empfing sie als Mitarbeiterin, als Komplizin, als Helferin der Zwangsbekehrung.
»Bitte, setzt Euch«, sagte der Vertreter des Königs.
Sie gehorchte, setzte sich mit der Zwanglosigkeit, die von langer gesellschaftlicher Übung herrührte. Sie war noch immer in ihre Gedanken verloren und bemerkte nicht, daß Bardagne sie mit den Augen ver-schlang.
»Sie ist entschieden sehr schön«, sagte er sich. Wenn sie eintrat, wenn man sie in ihrer weißen Haube und strengen Kleidung erscheinen sah, hielt man sie zuerst für das, was sie war: eine Magd. Doch schon nach einigen Augenblicken konnte man nicht anders als sie als Dame behandeln. Eine ruhige Sicherheit strahlte von ihr aus, eine Freiheit der Bewegungen und Worte, eine gediegene Zurückhaltung verbunden mit einer sympathischen Einfachheit, die ihre Gesprächspartner aus ihrer Reserve lockten. Sie besaß wirklich faszinierenden Charme. Zweifellos hatte es etwas mit ihrer außerordentlichen Schönheit zu tun, oder .
War diese Frau nicht von einem Mysterium umgeben? . Der Graf blieb vor ihr stehen. Er konnte auf diese Weise im Ausschnitt des weißleinenen Busentuchs den Ansatz einer marmornen Brust betrachten, deren Rundungen die grobe Barchentkorsage nicht völlig zu verbergen vermochte.
Diese Brust und der runde, feste, wie mit einem Goldschimmer bestäubte Hals verliehen ihr strahlende Gesundheit, eine Art bäuerlicher Robustheit, die mit dem feinen Schnitt ihrer Züge, ihrer noblen und, wenn sie nachsann, zuweilen ein wenig von Tragik überschatteten Modellierung kontrastierte.
Monsieur de Bardagne fühlte sich von diesem geschmeidigen Hals, von der sanften Kurve zur Schulter, deren weiche Glätte er ahnte, unwiderstehlich angezogen. Er brannte darauf, seine Lippen dort ruhen zu lassen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, und seine Hände fühlten sich feucht an.
Des lastenden Schweigens bewußt werdend, hob Angélique die Augen zu ihm, wandte sie aber vor dem unverhüllten Geständnis des auf ihr ruhenden männlichen Blicks schnell wieder ab.
»Nein«, flehte er, »ich bitte Euch, senkt nicht die Lider. Welch seltene Farbe, dies lichte Grün, das man nur mit dem Smaragd vergleichen kann! Es zu verschleiern, ist eine Sünde!«
»Ich würde es gern gegen eine andere Farbe tauschen«, meinte Angélique gut gelaunt. »Es schafft mir zuviel Verdruß.«
»Mögt Ihr keine Komplimente? Man möchte meinen, daß Ihr Huldigungen fürchtet. Dabei sind sie von allen Frauen begehrt.«
»Von mir nicht, muß ich gestehen. Und ich bin Euch dankbar, Monsieur de Bardagne, daß Ihr es erraten habt.«
Der Statthalter des Königs nahm die Lektion mit zusammengepreßten Lippen hin. Er würde nichts erreichen, wenn er die Dinge überstürzte. Von neuem nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz und bemühte sich um einen scherzhaften Ton.
»Hat Euch die tägliche Berührung mit der Reform in solchem Maße angesteckt, daß Ihr die aufrichtige Bewunderung, die Eure Schönheit mir abnötigt, nur mit Kummer entgegennehmt? Ist es nicht ganz natürlich, entzückt vor einer Blume, diesem Meisterwerk der Natur, anzuhalten, dessen leuchtende Farben zur Freude unserer Augen geschaffen sind?«
»Wir wissen nicht, was die Blumen darüber denken«, erwiderte Angélique mit blassem Lächeln, »und ob unsere Bewunderung sie nicht zuweilen belästigt. Was habt Ihr mit den Kindern Maître Bernes vor, Herr Graf?«
»Ah, richtig! Wo waren wir stehengeblieben?« murmelte Bardagne, indem er sich über die Stirn strich.
Der Fall der Kinder Berne, der ihn seit drei Tagen am Schlafen hinderte, schien sich plötzlich aus seinem Gedächtnis verflüchtigt zu haben. Es war ein seltsames Phänomen. Niemals, nein, niemals noch hatte eine Frau die Macht besessen, durch ihren bloßen Anblick so jäh sinnliche Schwingungen bei ihm auszulösen, deren Heftigkeit ihn genierte. Als er sie damals in der Kutsche nach Hause begleitet hatte, war es ihm ganz ähnlich ergangen. Dann hatte sich die Erinnerung daran verwischt. Er hatte weiter mit einer Art träge-glücklicher Nachsicht an sie gedacht. Eines Tages, sehr bald, sagte er sich, sobald die Fülle der Geschäfte ihm ein wenig mehr Zeit ließe, würde er sich mit dieser schönen Dienstmagd befassen müssen. Aber nun, da sie kaum wieder aufgetaucht war, spürte er von neuem das Fieber und fühlte sich unpassenden Begierden ausgesetzt, ein Umstand, der ihn verwirrte, beunruhigte, ja fast demütigte . In jedem Fall war es sehr aufregend. Diesmal würde Monsieur de Bardagne seinen Vorteil zu nützen wissen! Er hatte begriffen, daß man nicht zweimal in seinem Leben das Glück hatte, einer so anziehenden Frau zu begegnen. Unglücklicherweise war er gerade jetzt mit allerlei dringlichen Angelegenheiten überhäuft, waren diese zähen Reformierten zu bändigen, gab es eifersüchtige Kollegen, die mit Wonne jede Gelegenheit ergriffen, ihn der Schwäche zu beschuldigen, hohe Kirchenbeamte, denen die Listen der Bekehrten niemals lang genug waren . Wie sollte man inmitten solcher Unannehmlichkeiten auch noch Zeit finden, der Venus zu opfern? Ah, niemand verstand es heute mehr zu leben! ... Als gewissenhafter und ehrgeiziger Mann bemühte er sich, wieder Fuß zu fassen.
»Wo waren wir stehengeblieben?« wiederholte er.
»Gehört mein Herr zu jenen Personen, die Ihr als Pfeiler des hugenottischen Widerstands betrachtet?«
»Und ob er dazu gehört!« rief Bardagne empört aus und hob die Arme gen Himmel. »Er ist einer der schlimmsten! Er wirkt im Schatten, aber auf schädlichere An, als wenn er sich öffentlich zu predigen unterfinge. Er unterstützt die mit dem Interdikt belegten Pastoren, Flüchtlinge, was weiß ich. Ihr habt gewiß verdächtiges Kommen und Gehen beobachten können .«
»Ich sehe Maître Gabriel über seinen Rechnungsbüchern sitzen und die Bibel lesen«, meinte Angélique. »Er hat nichts von einem Verschwörer.«
Doch während sie noch sprach, stieg aus ihrem Gedächtnis eine ganze Reihe von Eindrücken auf, fremde Gesichter, heimliche Zusammenkünfte, die aus dem Hause Maître Bernes in das des Papierhändlers oder des Pastors Beaucaire hinüberwechselten, geflü-sterte Gespräche, verstohlene Schritte in der Nacht . Zum Glück schien ihre Unbefangenheit den Vertreter des Königs verwirrt zu haben.
»Das wundert mich . oder paßt Ihr nicht genügend auf?«
Er schlug mit der Hand auf ein dickes Aktenstück.
»Denn ich habe hier Berichte, die keinen Zweifel an seinen gefährlichen und schädlichen Umtrieben lassen. Mehrmals habe ich ihn schon gewarnt. Er schien zu verstehen und hörte mir freundschaftlich zu. Er kam mir aufrichtig vor, aber die Flucht seines Sohns hat mich grausam enttäuscht.«
»Derjunge Martial reiste ab, um das Seilerhandwerk in Holland zu studieren.«
»Wie naiv Ihr seid! Sein Vater schickte ihn fort, weil er spürte, daß der junge Mann bereit war, sich zu bekehren, und er diese Bekehrung verhindern wollte.«
»Man hat es mir so gesagt«, antwortete Angélique, die sich von Minute zu Minute bedrängter fühlte. »Und ich glaube, daß Ihr Euch vom Anschein täuschen laßt. Ich, die ich seit langen Monaten in dieser Familie lebe, kann Euch versichern, daß Monsieur Berne nur daran gelegen war, die Ausbildung seines Sohnes zu vervollkommnen. Ihr wißt ja, daß die Reformierten viel zu reisen pflegen.«
»Viel zuviel«, sagte Monsieur de Bardagne trok-ken. »Es ist eine Gewohnheit, die sie lieber aufgeben sollten. Im übrigen sind die Anordnungen in diesem Punkt absolut eindeutig.«
»Ihr seid mir bisher viel liebenswürdiger und großzügiger vorgekommen.«
Der königliche Beamte geriet in Erregung.
»Was wollt Ihr damit sagen? ... Ich mißbillige die Gewalt und .«
»Ich will damit sagen, daß mir diese inquisitorische Tätigkeit recht wenig in Einklang mit Eurem Charakter zu stehen scheint. Ich habe in Euch mehr einen den irdischen Befriedigungen zugewandten Menschen gesehen.«
Er lachte herzlich, im Grunde geschmeichelt. Sie war nicht so gleichgültig und kühl, wie sie sich den Anschein zu geben suchte.
»Verstehen wir uns recht«, begann er wieder. »Wie jeder gute Christ versuche ich, mir meinen Himmel zu verdienen, aber ich gebe zu, daß mich die in Frage stehende Aufgabe vor allen Dingen ihrer weltlichen Seite wegen interessiert. Sich mit religiösen Angelegenheiten zu beschäftigen, ist im Augenblick die schnellste Möglichkeit für einen Beamten, voranzukommen. Andererseits habe ich die größte Hochachtung vor Monsieur Berne. Ich möchte ihm gern helfen, aber er beharrt auf seinen Irrtümern, er will nicht begreifen .«
»Was soll er begreifen?«
»Daß wir die Erziehung seiner beiden Kinder nur einer katholischen Familie anvertrauen können. Das Übel sitzt schon zu tief in diesen jungen Seelen.«
»Warum hat man seine Tochter Séverine verhaftet?«
»Weil es Zeit wird, daß sie sich für die Religion ihrer Wahl entscheidet.«
»Solche Maßnahmen zerstören die Autorität des Familienvaters, die Grundlage unserer Gesellschaft und des Landes.«
»Was tut das, wenn diese Autorität schädlich ist. Ich habe hier einen Bericht, der .«
Er zog ein zweites Aktenstück heran, stockte jedoch mitten in der Bewegung. »Aber ... Ihr verteidigt sie ja!« rief er, indem er sie mißtrauisch betrachtete.
Angélique machte sich heftige Vorwürfe. Sie hatte sich ungeschickt verhalten. Sie hatte ihre persönliche Meinung allzusehr durchschimmern lassen. Sie fühlte sich nicht imstande, ihre Rolle so zu spielen, wie sie es früher getan hatte. Früher hätte sie Listen gebraucht und mit größter Leichtigkeit gelogen. Vielleicht lag es daran, daß sie sich damals die Dinge weniger zu Herzen genommen hatte.
Sie mußte um jeden Preis die Situation wieder in die Hand bekommen.
»Ich verteidige sie nicht. Ich möchte Euch nur beweisen, daß ich weiß, was in dieser Familie vorgeht. Und ich sehe, daß Ihr aufgrund irgendwelcher alberner Geschichten Eurer Dunkelmänner handelt, die sie pompös als >Berichte< ausgeben, während ich nicht einmal gefragt werde.«
»Ihr werdet nicht gefragt, weil Ihr nichts sagt. Gerade durch Euch hoffte ich zahlreiche und genaue Auskünfte zu erhalten. Aber ich wartete vergeblich.«
»Es gab nichts Interessantes mitzuteilen.«
»Dennoch habt Ihr Martial Berne fliehen lassen, ohne mich über sein Vorhaben, das Euch nicht entgangen sein kann, zu unterrichten.«
»Es handelte sich um keine Flucht, sondern um eine Reise.«
»Man hat Euch an der Nase herumgeführt.«
»Sagt nur noch, daß ich eine dumme Gans bin!«
Sie aufstehen und sich zum Verlassen des Zimmers anschicken zu sehen, schmetterte Monsieur de Bardagne nieder. Eilends umschritt er seinen Schreibtisch, um sie zurückzuhalten.
»Nun, wir werden uns doch nicht wegen solcher Kleinigkeiten streiten. Ihr habt meine Worte mißverstanden. Ich bin tief betrübt .«
Unter dem Vorwand, sie aufzuhalten, legte er seine Hände auf ihre Schultern und ließ sie die Arme entlanggleiten. Unter der Leinwand der Ärmel fühlte er das feste, sanfte Fleisch. Der leise Duft nach gesunder Weiblichkeit berauschte ihn. Angélique gab sich über die Natur ihrer Macht keinen Illusionen hin. Es war ihr unangenehm, aber sie sagte sich, daß es ihre Pflicht sei, daraus Nutzen zu ziehen, und löste sich von ihm mit aller nur möglichen Diplomatie.
»Ihr habt mich in der Tat verletzt.«
»Ich bin bekümmert und bereue.«
»Weil ich glaube, Euch sagen zu können, daß Ihr so, wie Ihr Maître Berne behandelt, niemals zum Ziel kommen werdet. Ich habe ihn recht gut kennengelernt. Er wird sich sträuben und nur noch starrköpfiger werden. Während Eure Nachsicht und das hilfsbereite Entgegenkommen, das Ihr ihm bezeigt, ihn Euren Argumenten zugänglich machen wird.«
»Wirklich?«
»Vielleicht.«
Der Statthalter des Königs geriet von neuem in Verwirrung. Diesem faszinierenden Hals, über den sein Blick glitt, so nahe, konnte es nicht anders mit ihm geschehen. Er verlangte danach, ihr Glauben, ihr blindes Vertrauen schenken zu können.
»Aber ich kann ihm schließlich doch nicht seine Kinder zurückgeben«, ächzte er. »Das ist ganz unmöglich ... Übrigens gestehe ich Euch gern ein, daß nur dieser verdammte Baumier dahintersteckt. Aber da die Prozedur nun einmal in Gang gesetzt, das Fluchtdelikt ans Licht gekommen und die Tochter verhaftet ist, kann ich nicht mehr zurück.«
»Was wollt Ihr mit ihnen machen?«
»Der Junge wird den Jesuiten anvertraut, das Mädchen den Nonnen.«
Und wir werden sie niemals wiedersehen, dachte Angélique bedrückt.
»Eben deshalb bin ich zu Euch gekommen, Herr Graf, um eine andere Lösung vorzuschlagen. Selbst Maître Berne könnte nichts dagegen einzuwenden haben. Er hat eine konvertierte Schwester, die mit einem Offizier der königlichen Marine verheiratet ist und auf der Ile de Ré wohnt.«
»Ich weiß. Madame Demuris.«
»Die Kinder könnten doch ihr anvertraut werden. Man hat mir versichert, daß derlei üblich ist. Wenn sich die Notwendigkeit ergibt, ein reformiertes Kind seinen Eltern zu entziehen, sucht man nach der nächsten katholischen Verwandtschaft, um ihr die Erziehung zu übertragen. Es ist zugleich ein Akt der Menschlichkeit und der Vernunft.«
»Warum habe ich nur nicht schon selbst daran gedacht!« rief der Statthalter des Königs begeistert. »Das ist wirklich die vollkommene Lösung. Selbst Baumier wird nichts dagegen haben können, und Maître Berne wird mir, denke ich, dankbar sein. Ihr seid wundervoll. Eure Intelligenz kommt Eurer Schönheit gleich.«
»Dennoch, scheint mir, habt Ihr an ihr gezweifelt.«
»Was muß ich tun, um Eure Verzeihung zu erlangen?«
Vor Freude außer sich, erleichtert, entzückt über die Schätze, die er unaufhörlich in diesem erstaunlichen Geschöpf entdeckte, konnte Bardagne seinem Elan nicht widerstehen. Er nahm Angélique um die Taille und drückte seine Lippen auf ihren glatten Hals, dessen zarte Linien und graziöse Bewegungen ihn während der ganzen Unterhaltung immer von neuem berauscht hatten.
Angélique zuckte zusammen, als habe man sie verbrannt. Sie entzog sich so jäh seiner Umarmung, daß der arme Mann sie verdutzt anstarrte.
»Ist es möglich«, stammelte er, »daß ich Euch in solchem Maße zuwider bin?«
Seine Augen drückten Bestürzung aus, seine Lippen zitterten. Obwohl nur kurz, hatte die Berührung genügt, um alle seine Hoffnungen zu bestätigen. Diese Frau war erregender als alle, die er jemals kennengelernt hatte. »Tod und Teufel!« dachte er. »Sollte sie ebenso prüde wie die übrigen calvinistischen Jungfern sein? Das wäre mein Pech!«
Angélique stützte sich auf den mit Mosaiken eingelegten Tisch und wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Er mißfiel ihr durchaus nicht. Er war galant. Er hatte schöne Augen, schöne Hände, erfahrene Lippen. Wer mochte wissen, ob sie nicht früher - in jenem »Früher«, von dem sie, wie es ihr schien, nun durch ein schwarzes, unüberwindliches Gitter getrennt war - in Versuchung geraten wäre? Sie konnte nicht vergessen, daß sie nur eine einfache Dienstmagd und er der Vertreter des Königs in La Rochelle war, in der hierarchischen Ordnung also der mächtigste Mann der Stadt.
Glücklicherweise war er nicht dünkelhaft. Im Augenblick empfand er Angéliques Zurückweichen weniger als Beleidigung denn als schmerzlichen Schlag. Sie spürte, daß sie ihn trösten müsse.
»Ihr seid mir nicht zuwider«, sagte sie. »Im Gegenteil. Ich gebe zu, daß ich Euch sehr liebenswert finde. Aber . wie soll ich’s Euch erklären . ich habe meiner hochgestellten Beschützerin . jener Person, die ich nicht nennen kann . versprochen, ein sittsames Leben zu führen, um meine vergangenen Irrtümer zu büßen.«
»Die Pest soll diese Betschwestern holen!« schrie Nicolas de Bardagne. »Ich wette, sie ist häßlicher als die sieben Todsünden zusammen. Sie begreift nicht, daß eine so schöne Frau wie Ihr nicht das Leben einer Nonne führen kann.«
»Und wenn ich selbst den Wunsch hätte, tugendhaft zu bleiben, Herr Graf? ... Gehört es zu Euren Aufgaben, mich in Versuchung zu führen?«
Monsieur de Bardagne seufzte tief auf. Das Abenteuer ließ sich viel schwieriger an, als er zunächst geglaubt hatte. Er beschloß, mit offenen Karten zu spielen.
»Meiner Ansicht nach ist dies die Aufgabe jedes normalen Mannes, wenn er sich in Eurer Gegenwart befindet«, sagte er heiter. »Ich bin sicher, Ihr verfügt über genug Geist und ... Erfahrung, um mich zu verstehen und mir zu verzeihen.«
Er streckte ihr beide Hände entgegen.
»Vergessen wir all das, Dame Angélique, und schließen wir Frieden.«
Es hätte ihr schlecht angestanden, die Versöhnung nicht anzunehmen.
Er küßte leicht ihre Fingerspitzen, und sie verspürte eine recht weibliche Aufwallung von Widerstand und Scham bei dem Gedanken, daß die Hausarbeit ihre Hände verdorben und aufgerauht hatte.
Sie gestattete, daß er ihr den Mantel um die Schultern legte und sie zur Tür geleitete. Er neigte sich mit respektvoller Zärtlichkeit zu ihr.
»Erinnert Euch immer, Dame Angélique, daß Ihr einen Freund in mir habt, der bereit ist, Euch in allen Umständen zu helfen .«
Er umhüllte sie mit seinem Charme, und so lange hatte sich kein Mann ihr gegenüber so verhalten, daß sie sich in einen Aufruhr von Erinnerungen hineingezogen fühlte. So viele Männer hatten sich mit jenem glühenden Blick vor ihr geneigt. Sie erkannte ihr Verlangen, das immer dasselbe war, demütigend und gebieterisch zugleich.
Jenes anrührende Bitten der verschleierten Augen, der gebrochenen Stimme, jene zuvorkommende Sanftheit, hinter der sich wie in einem samtenen Handschuh die grausame Waffe der Besitzergreifung verbarg, die, wenn die Stunde gekommen war, den Bittenden zum Herrn, die unerreichbare Göttin zur Besiegten machte.
Angélique hätte nicht geglaubt, daß sie noch für die Feinheiten des ewigen Spiels empfänglich sein könnte. Es quälte sie und zog sie wiederum auch an wie ein durch besondere Umstände heraufbeschworenes vertrautes Klima.
Die Wangen brannten ihr, und ihre Stimme zitterte fast vor innerer Unruhe, während sie, durch sein Verhalten gleichzeitig aus der Fassung gebracht und bezaubert, sich von ihm verabschiedete.
Sie entfloh verwirrt, gleichgültig gegen die mörderischen Blicke der auf später vertrösteten anderen Besucher. Die Bänke im Vorzimmer hatten sich geleert. Manche waren, des Wartens müde, zum Mittagessen gegangen. Zwölf Uhr war längst vorüber. Von Windstößen geschüttelt, hatte Angélique auf der Straße alle Mühe, ihren Mantel zusammenzuhalten, und kam kaum voran. Der Himmel war erstaunlich blau. Der Sturm zerfetzte das winterliche Licht zu feinen Flämmchen, die knisternd aus der Tiefe der engen Gassen aufzuflackern schienen.
Angélique suchte sich ihren Weg, ohne des Kampfes gegen den entfesselten Sturm recht gewahr zu werden, so sehr war ihr Geist mit der hinter ihr liegenden Begegnung beschäftigt. Ein brodelndes Gefühl der Verwirrung überkam sie bei dem Gedanken an ihre Ungeschicklichkeit, an ihr linkisches Benehmen.
Ach, die Zeit war fern, in der sie den persischen Gesandten Bachtiari Bey meisterlich umstrickt hatte, um ihn gefesselt, wie einen Bären, Ludwig XIV zu Füßen zu legen. Das war damals hohe weibliche Strategie gewesen. Noch dazu, ohne im geringsten ihre Tugend antasten zu lassen! . Während sie sich heute jämmerlich benommen hatte. Es gab kein anderes Wort dafür. Anstatt sich zu freuen, diesen Mann, von dem sie vieles erlangen konnte, vom Fieber ergriffen und in fünf Minuten blökend wie einen Ziegenbock zu sehen, hatte sie sich verkrampft . Indem sie seine ein wenig zu dreisten Erklärungen mit der prüden Widerborstigkeit einer eben erst dem Kloster entsprungenen Jungfer aufnahm, hätte sie sich ihn für immer entfremden können. In ihrem Alter war das beinahe lächerlich! Damals hätte sie ihn durch ein Lächeln, ein pikantes Wortspiel zurechtgewiesen ...
Angélique, namenlose Dienstmagd, in Leinen und Barchent gekleidet, verloren in den Straßen La Ro-chelles, widmete der glanzvollen Frau, die sie noch vor einigen Jahren gewesen war und die so geschickt die Waffen ihres Geschlechts zu führen gewußt hatte, einen Augenblick achtungsvollen Gedenkens. Zwischen jenen Zeiten und der Gegenwart hatte es die Nacht von Plessis gegeben. Nach und nach hatte sie wieder Boden unter die Füße bekommen, war sie wieder aufgelebt. Das Dasein hatte sie von neuem vorangestoßen. Doch von der schwersten Verletzung würde sie, dessen war sie gewiß, niemals genesen. Es gab keinen Mann, der dieses Wunder in ihr zuwege bringen würde: die einstige Heiterkeit des Liebens neu zu beleben, das heiße Drängen ihres Körpers zu einem anderen Körper, das mysteriöse Aufblühen der Lust, die Verzückung des Erliegens.
»Er müßte schon ein Magier sein«, dachte sie. Und mechanisch wandte sich ihr Blick dem schwarzen, aufgewühlten Meer zu, auf dem kein Segel zu erblik-ken war.
Monsieur de Bardagne hielt Wort. Und es war wie Balsam für Angéliques wundes Selbstbewußtsein, daß er sich trotz der Ungeschicklichkeiten, die sie sich vorwarf, beeilte, ihrem Rat zu folgen und ihr Genugtuung zu verschaffen. Schon am folgenden Tage wurden Martial und Séverine zu ihrer Tante auf die Ile de Ré gebracht.
Angélique fehlte es nicht an Arbeit in ihrer kleinen Welt. Die Haushaltsgeschäfte ließen ihr kaum Zeit zur Überlegung.
Um die Wäsche zu spülen, ging sie zu einem Brunnen der Stadt, der größer war als der im Hof, und nahm auf diese Wege Honorine mit. Als sie eines Morgens eben die gewaschenen Wäschestücke in dem geflochtenen Korb aufgehäuft hatte, sah sie zu ihrer Überraschung ihre Tochter mit einem blinkenden Gegenstand spielen.
»Zeig mir das«, sagte sie.
Durch Erfahrung mißtrauisch, verbarg Honorine den Gegenstand hinter ihrem Rücken, doch nicht schnell genug, um ihrer Mutter den Anblick einer sehr hübschen Kinderklapper aus ziseliertem Gold mit Elfenbeingriff, eines wahren Kleinods, zu entziehen.
»Wo hast du diese Klapper gefunden? Honorine, du darfst nichts behalten, was dir nicht gehört.«
Die Kleine ließ das Spielzeug nicht los.
»Der nette Herr da hat es mir gegeben.«
»Welcher nette Herr?«
»Da hinten«, erwiderte Honorine mit einer unbestimmten Geste zum Hintergrund des Platzes.
Um eine Szene zu vermeiden, da die durchdringenden Schreie des Kindes die Schar der waschenden Gevatterinnen auf den Plan rufen mußte, ließ sie es dabei bewenden und nahm sich vor, die Angelegenheit ans Licht zu ziehen, sobald sie zu Hause sein würden. Sie griff nach dem Korb, nahm ihre Tochter bei der Hand und machte sich auf den Rückweg.
In einer engen, wenig begangenen Gasse trat ein Mann auf sie zu, den Mantelzipfel fallen lassend, mit dem er bis dahin sein Gesicht verborgen hatte. Sie stieß einen leisen Schrei aus, beruhigte sich aber, als sie den Statthalter des Königs, Nicolas de Bardagne, erkannte.
»Oh, Ihr habt mir Angst eingejagt!«
»Das tut mir leid.«
Seine galante Eskapade schien ihn zu erregen.
»Ich habe mich ohne Begleitung in dieses feindselige Viertel gewagt und möchte aus guten Gründen nicht erkannt werden.«
»Das ist der nette Herr«, warf Honorine ein.
»Ja, ich habe mich durch ein Geschenk für dieses charmante Kind ankündigen wollen.«
Honorine betrachtete ihn mit bewundernden Augen. Wie sehr sie schon Frau war, durch eine goldene Kinderklapper erobert! ...
»Ich kann es nicht annehmen«, sagte Angélique. »Es ist zu wertvoll. Ich muß es Euch zurückgeben.«
»Ah, es ist nicht leicht, Euer Herz zu rühren«, seufzte er. »Ich habe Tag und Nacht von Euch geträumt und versucht, mir Euch mit einem Ausdruck der Sanftheit und Hingabe vorzustellen. Aber kaum stehe ich vor Euch, richtet Ihr die Schranke Eures Blicks gegen mich auf . Darf ich Euch begleiten? Ich habe mein Pferd hier in der Nähe angepflockt.«
Sie machten sich langsamen Schritts auf den Weg. Einmal mehr stellte Monsieur de Bardagne verzweifelt bei sich fest, daß diese Frau ihn durch einen unbekannten Zauber gefesselt hatte. Ein geduldiger Anbeter, solange er fern von ihr war, verlor er die Kontrolle über sich, sobald er sich in ihrer Nähe befand. Vielleicht war es ein anomales Phänomen, aber es war Tatsache. Er erkannte es an. Er nahm es hin. Er ergab sich . Er fühlte sich imstande, bittend vor ihr in die Knie zu sinken.
Sie hatte schöne Arme, nun durch die Kälte des Wassers gerötet, in das sie sie getaucht hatte, kindliche Wimpern, einen königlichen Mund, dem das kaum merkliche Zittern und der besorgte Ausdruck nichts von seinem Adel nahm.
»Verzeiht mir, Herr Graf. Ihr seid eine bedeutende Persönlichkeit, und ich bin nur eine arme, alleinstehende Frau, für die niemand einsteht.
Nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch sage, daß Ihr nichts von mir erwarten dürft. Ich . Es ist mir einfach unmöglich.«
»Aber warum?« ächzte er. »Habt Ihr nicht durchblicken lassen, daß ich Euch nicht unangenehm bin? Zweifelt Ihr an meiner Großzügigkeit? Es versteht sich von selbst, daß Ihr Eure untergeordnete Stellung aufgeben werdet. Ihr werdet die Behaglichkeit eines Hauses genießen, in dem ihr allein Herrin sein werdet, Dienstboten werden Euch zur Verfügung stehen, eine Equipage, wenn Ihr es wünscht. Für alle Eure Bedürfnisse und die Eures Kindes wird gesorgt werden.«
»Schweigt«, sagte sie hart. »Diese Fragen sind ohne Bedeutung.«
Er zwang sie zum Stehenbleiben, indem er sie gegen die Einfassung einer Tür drängte, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
»Ihr werdet mich vielleicht für einen Narren halten. Aber ich muß Euch die Wahrheit sagen. Niemals hat mir eine Frau eine so verzehrende Leidenschaft eingeflößt wie die, die Euer Anblick in mir hat wachsen lassen. Ich bin achtunddreißig Jahre alt, und mein Leben, ich gestehe es Euch, ist nicht immer von beispielhafter Ehrsamkeit gewesen. Es war reich an Abenteuern, deren ich mich nicht rühmen kann. Aber seitdem ich Euch kenne, weiß ich, daß mir das widerfuhr, was jeder Mann zugleich fürchtet und wünscht: die Begegnung mit jener Frau, die die Macht hat, ihn zu fesseln, ihn durch ihre Zurückweisungen leiden zu lassen, durch ihre Bereitwilligkeit zu beglücken, deren Joch, deren Launen er zu ertragen bereit ist, um sie nicht zu verlieren ... Ich begreife nicht, was Euch diese besondere Macht über mich verleiht, aber es scheint mir nun, als habe ich vor Euch nichts gekannt. Alles war abgeschmackter, armseliger Zeitvertreib. Nur durch Euch kann ich erfahren, was Liebe bedeutet .«
»Wenn er wüßte, welche anderen Lippen mir schon vor ihm ähnliche Worte sagten!« dachte sie. »Die des Königs .«
»Könnt Ihr mir das verweigern?« beharrte er. »Es wäre das Leben, das Ihr mir verweigert.«
Die liebenswürdige, glatte Physiognomie des Gesellschaftsmenschen verhärtete sich. Die Augen, die einen finsteren Ausdruck angenommen hatten, musterten sie gierig. Er fragte sich, welche Farbe ihr Haar haben mochte, das sie unter einer strengen Leinenhaube verbarg: blond, kastanienfarben, rot wie das ihrer Tochter, braun vielleicht, wie der warme Schimmer ihres Teints vermuten ließ?
Ihre Lippen waren wie mit Perlmuttglanz überzogen. Sie erinnerten an die unaufdringliche Pracht der Muscheln.
In dem Zustand, in dem er sich befand, hätte er sie ohne Honorines Gegenwart, die ihn mit in die Luft gehobener Nase aufmerksam beobachtete, in seine Arme gezwungen und versucht, ihre Begierde zu wecken.
»Gehen wir«, sagte sie, ihn artig zurückdrängend. »Ihr seid ein Narr, Herr Graf, und ich glaube nicht ein Wort von dem, was Ihr mir da erzählt. Gewiß habt Ihr viel glänzendere Frauen als mich gekannt, und es kommt mir fast so vor, als wolltet Ihr meine Naivität mißbrauchen.«
Nicolas de Bardagne folgte ihr, Leere im Herzen, sich all dessen bewußt, was in seiner Erklärung verrückt klingen mußte. Er selbst verwunderte sich darüber, aber er wiederholte es sich, daß an der Tatsache nicht zu rütteln war. Er liebte sie so, daß er den Kopf darüber verlor, daß er bereit war, sich zu kompromittieren, seine Karriere zu ruinieren. Sein Blick fiel auf das kleine Mädchen, das an der Hand seiner Mutter dahinstolperte, und ein anderer Gedanke kam ihm.
»Ich schwöre Euch«, versicherte er, »falls Ihr ein Kind von mir haben werdet, es anzuerkennen und für seine Erziehung zu sorgen.«
Angélique zuckte zusammen. Kein Versprechen konnte sie stärker abkühlen als dieses. Es entging ihm nicht.
»Ich bin ein Tölpel«, seufzte er.
Als sie vor dem Haus der Bernes anlangten, setzte Angélique ihren Korb ab und löste von ihrem Gürtel den Schlüssel, der die Seitenpforte öffnete. Der Statthalter des Königs folgte jede ihrer Bewegungen mit einem Gefühl geschärften Schmerzes, in den sich melancholisches Entzücken mischte. Sie war die Grazie selbst. Sie würde der Schmuck jedes Hauses sein.
»Eure Zurückhaltung macht mich närrisch. Wenn sie gespielt wäre, würde ich es gern auf mich nehmen, Euch davon zu kurieren. Aber sie scheint leider recht wirklich zu sein ... Hört mich an, ich glaube .ja, ich glaube, daß ich so weit gehen werde, Euch zu heiraten.«
»Aber Ihr seid doch gewiß verheiratet!« rief sie aus.
»Nun, das ist es eben, worin Ihr Euch täuscht. Ich verheimliche Euch nicht, daß man mir seit meinem fünfzehnten Jahr alle möglichen Erbinnen in die Arme geworfen hat, aber es glückte mir immer, mich rechtzeitig zu retten, und ich war fest entschlossen, mein Leben in der Haut eines Junggesellen zu beschließen . Für Euch jedoch fühle ich mich fähig, die ehelichen Ketten auf mich zu nehmen. Wenn die Vorstellung eines Lebens außerhalb der göttlichen Gesetze der einzige Grund ist, der Euch von mir trennt, werde ich dieses Hindernis niederreißen.«
Er vollführte einen zeremoniellen Gruß, indem er sich leicht verbeugte.
»Dame Angélique, werdet Ihr mir die Ehre geben, mich als Euren Gatten anzunehmen?«
Wahrhaftig, er war entwaffnend.
Sie durfte sein Angebot nicht leicht nehmen, wenn sie es nicht riskieren wollte, ihn ernstlich zu beleidigen. So versicherte sie, daß sie fassungslos sei, daß sie niemals eine solche Ehre erhofft, aber keinen Zweifel daran habe, daß er, kaum in sein luxuriöses Palais zurückgekehrt, seinen wahnwitzigen Vorschlag bedauern werde, weshalb sie selbst ihn nicht annehmen könne. Das Hemmnis, daß sie von ihm trenne, gehöre nicht zu denen, die man leicht beiseite schiebe, selbst dann nicht, wenn man den Preis dafür zu zahlen bereit sei.
»Versteht mich, Monsieur de Bardagne . es fällt mir schwer, Euch die Gründe für das zu erklären, was Ihr meine Fühllosigkeit nennt. Ich habe viel in meinem Leben gelitten ... durch die Männer. Ihre Brutalität hat mich tief verletzt und mir für immer die Freude an der Liebe ausgetrieben . Ich fürchte sie und finde keinen Geschmack mehr an ihr.«
»Wenn es nur das ist!« rief er, wieder heiterer. »Was habt Ihr von mir zu fürchten? Ich kenne die Frauen und verstehe es, sie galant zu behandeln . Ich bin kein Schiffer vom Hafen ... Ein Edelmann bittet Euch ihn zu lieben, schöne Dame. Vertraut mir. Ich werde Euch schon besänftigen und das Meinige dazu tun, Eure Ansichten über die Liebe und ihre Vergnüglichkeiten zu ändern.«
Angélique war es geglückt, die Pforte zu öffnen, Honorine hineinzuschieben und den Korb in den Hof zu stellen. Sie wünschte die Unterhaltung zu beenden.
»Versprecht mir, daß Ihr über meine Vorschläge nachdenken werdet«, beharrte der Statthalter des Königs, sie am Arm zurückhaltend. »Ich stehe zu allen. Ihr werdet den auswählen, der Euch am besten gefällt .«
»Ich danke Euch, Herr Graf. Ich werde es mir überlegen.«
»Sagt mir wenigstens, von welcher Farbe Euer Haar ist!« bat er noch.
»Weiß«, sagte sie und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Angélique war von Maître Gabriel beauftragt worden, dem Reeder Jean Manigault eine Botschaft zu überbringen. Sie befand sich schon auf dem Rückweg durch ein an den Wällen entlangführendes Gäßchen, als sie zwei Männer bemerkte, die ihr folgten.
In ihre Gedanken versunken, hatte sie bis dahin nicht auf sie geachtet. Aber die verlassene Gasse, in die sie eingebogen war, ließ das Geräusch der sich immer im gleichen Abstand hinter ihr haltenden Schritte zu ihren Ohren dringen.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter und bemerkte zwei Individuen, deren Aussehen ihr nicht gefiel. Es waren weder umherstreifende Matrosen noch Schiffer aus dem Hafen. Ihre bürgerliche Kleidung schien fast elegant, stach aber auffallend gegen die unrasierten, verschlagenen Physiognomien ab. Sie wirkten wie verkleidet.
Ein aus früheren Erfahrungen gewonnener Spürsinn ließ sie denken:
»Polizisten«, und sie beschleunigte ihren Gang.
Alsbald näherten sich die Schritte, und einer der beiden Männer rief sie an:
»He, Hübsche . lauft uns nicht davon!«
Sie ging noch schneller, doch sie hatten sie schon erreicht und rahmten sie auf beiden Seiten ein. Einer von ihnen packte ihren Arm.
»Ich bitte Euch, Messieurs, laßt mich!« sagte sie, sich losreißend.
»He, warum denn? Ihr seht nicht allzu lustig aus. Man könnte Euch doch ein wenig Gesellschaft leisten.«
Ihr tückisches Lächeln ließ sie das Schlimmste befürchten. Wenn sie genötigt war, die aufdringlichen Burschen zu ohrfeigen, machte sie sich auffälliger, als ihr lieb sein konnte. Waren es reiche Bürgersöhne, würden sie ihr Mißgeschick vielleicht hinnehmen. Aber ohne recht zu wissen, warum, fürchtete sie, daß sich hinter ihrer eleganten Außenseite etwas Verhängnisvolles verstecken könnte.
Ihre Augen suchten längs der verschlossenen Häuserfronten nach Hilfe. Aber es war die Stunde nach der Mittagsmahlzeit, und La Rochelle pflegte nach der Gewohnheit der Mittelmeerländer die Fenster mit Läden zu verdunkeln. Die Sonne schien strahlend und warm für die Jahreszeit und lud zur Mittagsruhe ein. Niemand am Fenster, niemand auf der Türschwelle. Zum Glück befand sich Angélique nicht weit von den Lagerhäusern Maître Bernes.
Es war besser, sich in ihren Schutz zu flüchten, als den Versuch zu wagen, das noch ferne Haus zu erreichen, und auf dem Wege dorthin diese reichlich unerfreuliche Begleitung dulden zu müssen. Sie wußte, daß Maître Gabriel sich dort aufhielt, und war überzeugt, daß er die Burschen in ihre Schranken verweisen würde.
Sie fuhren fort, ihr Komplimente und abgeschmackte Albernheiten zu sagen. Vielleicht waren es doch nur leicht angetrunkene Müßiggänger auf der Suche nach irgendwelchen Vergnügungen.
Sie überquerte die Gasse und entdeckte zu ihrer Erleichterung am Ende einer langen, blinden Mauer die Einfahrt, vor der am Abend ihrer Ankunft in La Rochelle Maître Gabriel zum erstenmal angehalten hatte, um seine Kornkarren in den Hof zu dirigieren. Sie war nur noch wenige Schritte davon entfernt, als einer der Männer, der größere, der unter dem Tuch seines taubenblauen Rocks recht muskulös schien, ihre Hand ergriff und einen Arm um ihre Taille legte.
»Genug, meine Hübsche! Ihr werdet zwei netten Jungs wie uns, die nichts weiter möchten als ein Lächeln und ein schnuckliches Schmätzchen, doch kein schiefes Maul ziehen. Man hat uns erzählt, daß die Mädchen von La Rochelle den Fremden freundlich entgegenkämen. Beweist uns das!«
Während er sprach, beugte er sich über sie und versuchte, seinen Mund auf ihre Lippen zu pressen.
Sie warf sich zurück und gab ihm mit aller Kraft eine schallende Ohrfeige. Er ließ sie los und hielt seine schmerzende Wange. Sie machte einen Satz zur Tür, aber schon hatte sie der andere umschlungen. Ein böses, triumphierendes Lächeln verzog die Lippen des Geohrfeigten.
»Gib’s ihr, Jeannot!« rief er. »Halt sie fest. Wir werden ihr ein bißchen die Röcke lüpfen . Was für ein Happen! Ein wahrer Glückstag ist das für uns!«
Gemeinsam gelang es ihnen, sie zu bändigen. Ein brutaler Fußtritt in die Kniekehlen ließ sie taumeln. Sie schrie auf. Schläge trafen ihren Mund. Grobe Hände rissen an den Schnürbändern ihrer Korsage.
Sie glaubte, ohnmächtig zu werden, doch sie faßte sich wieder und wehrte sich wie eine Rasende mit Fäusten und Zähnen.
Von neuem gelang es ihr zu entkommen, und verzweifelt lief sie der Einfahrt zu. Ein Stein ließ sie stolpern, sie stürzte auf die Knie, schleppte sich weiter. Sie schrie:
»Zu Hilfe, Maître Gabriel! ... Zu Hilfe!«
Schon wieder waren sie über ihr. Sie schlug um sich wie in einem Alptraum, wie sie gegen die Dragoner Montadours gekämpft hatte, mit dem gleichen Gefühl der Ohnmacht, dem gleichen lähmenden Entsetzen.
Plötzlich schienen ihre Widersacher davonzufliegen. Einer von ihnen prallte gegen die Mauer, von einer schier unmenschlichen Kraft geschleudert. Seine Augen wurden glasig. Er schwankte und fiel, schlaff wie ein Hampelmann, über Angélique. Rotes Blut schoß stoßweise aus einer Schläfenwunde. Erschrocken bemühte sie sich, die Last von sich zu stoßen. Das Blut sprudelte wie eine Quelle. Es gelang ihr nicht, sich von dem Körper zu befreien, der mit der zähen Trägheit eines Leblosen über ihr lag, obwohl sie wie wahnwitzig gegen ihn ankämpfte. Endlich brachte sie es fertig, ihn beiseite zu schieben. Vor ihr hatte es der Mann im blauen Rock mit Maître Gabriel zu tun. Der Kaufmann war seinem Gegner an Kraft und Körperbau weit überlegen. Seine Fäuste schlugen hart auf ihn ein. Der Mann bat schon um Gnade. Zweimal war er zu Boden gegangen. Seine Kleidung war zerknittert und staubbedeckt, sein Gesicht bekam einen verstörten Ausdruck. Die Perücke war in den Rinnstein gefallen, und das zum Vorschein gekommene fettige, schmutzige Haar fiel ihm über die Augen.
»Genug!« stammelte er atemlos. »Hört auf! .«
Ein schwerer Schlag in den Magen ließ ihn taumeln. Mit schwindelndem Kopf lehnte er sich gegen die Mauer.
»Hört auf, sage ich . Laßt mich .«
Maître Gabriel näherte sich ihm langsam. Der andere schien in seinen Zügen etwas Furchtbares zu lesen, denn plötzlich weiteten sich seine Augen.
»Nein«, sagte er mit erstickter Stimme. »Nein . Habt Mitleid!«
Ein weiterer Schlag schleuderte ihn auf die Knie.
»Nein . das dürft Ihr nicht! . Erbarmen!«
Der Kaufmann beugte sich unerbittlich über ihn. Er schlug noch einmal zu, dann umspannte er mit beiden Händen des anderen Kehle.
»Nein .«, röchelte der Mann.
Seine fahlen, kraftlosen Hände versuchten sich zu heben und die knotigen, eisenharten Arme abzuwehren, die sich seiner bemächtigt hatten. Sie zuckten krampfhaft und fielen zurück. Unartikulierte Laute entquollen dem weit aufgerissenen Mund des Blau-berockten.
Die Daumen Maître Gabriels bohrten sich in dieses Fleisch wie in Ton. Es schien, als ob sie sich nie mehr losen würden.
Versteinert vor Schrecken starrte Angélique auf die Hände des Kaufmanns, deren Muskeln spielten, während sie den Hals gleich einer Zange immer enger umschlossen. Ein Röcheln stieg in die grausige Stille.
Angélique biß sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien. Es mußte ein Ende nehmen, und zwar schnell. Das Gesicht des Mannes färbte sich violett. Doch es nahm kein Ende .
Endlich verstummte das Röcheln. Mit zurückgebogenem Kopf und vorquellenden Augen lag der Elende auf den runden Steinen des Pflasters, Maître Bernemusterte ihn aufmerksam, bevor er ihn losließ und sich langsam aufrichtete.
Seine klaren Augen wirkten seltsam durchsichtig in dem von der Anstrengung geröteten Gesicht. Er trat zu dem anderen Individuum, drehte es um, schüttelte es und ließ es wieder in die Blutlache zurückfallen. Dabei murmelte er:
»Er ist tot. Er muß gegen diesen Mauerhaken gefallen sein. Um so besser! Das erspart es mir, mit ihm Schluß zu machen ... Dame Angélique .«
Er hob die Augen und hielt in der Bewegung inne, die ihn zu ihr geführt hätte. Eine unerklärliche Verwirrung überwältigte ihn. Die junge Frau hatte sich erhoben und stützte sich, am Ende ihrer Kräfte angelangt, gegen die Mauer, in der gleichen ergebenen Haltung, die vor kurzem der Mann im blauen Rock eingenommen hatte, als er blitzartig begriff, daß der Kaufmann ihn töten würde. Er erkannte sie nicht ...
Nicht ganz.
Angéliques entsetzte Augen glitten von einem der beiden leblosen Körper zum anderen. Angesichts der Tragödie, die sich soeben hier abgespielt hatte und deren Ursache sie gewesen war, stieg die panische Angst der Verfolgten wieder in ihr auf und durchdrang sie ganz, verwandelte den Ausdruck ihrer sonst ruhigen und stolzen Züge. Ihre Miene war die eines zu Tode erschreckten Kindes ...
Ganz an ihr Entsetzen verloren, bemerkte sie den Zustand nicht, in den sie die beiden Elenden versetzt hatten. Ihre Korsage war geöffnet, ihr Hemd zerrissen. Aus der verschobenen Haube lief das Haar auf ihre Schultern und halbnackten Brüste. Von einem Streifen Sonnenlicht getroffen, gewannen die langen, blaßgoldenen Locken einen kostbaren Glanz, den ihre weiße Haut noch betonte, auf der das Blut Spuren zurückgelassen hatte. Blut, das nun schwarz zu werden begann, befleckte auch ihren Barchentrock ...
»Seid Ihr verletzt?«
Die Stimme des Kaufmanns klang leise und wie abwesend. Er sah nicht nur die Blutspuren auf ihrer Haut ... Gierige Finger hatten auf diesem perlmuttern, jäh enthüllten Fleisch ihre Eindrücke zurückgelassen. Hatten es vielleicht auch gemeine Lippen berührt? Bei diesem Gedanken fühlte der Kaufmann von neuem eine Woge mörderischen Wahnsinns in sich aufsteigen. Dieser Körper, an den zu denken er sich untersagte, wenn diese Frau mit ungezwungenen, graziösen Bewegungen in seinem Haus umherging, dieser Körper, der sich unter den schweren Falten der Röcke bewegte und dessen erregende Reize die starre Korsage umschloß, ihn hatten diese Schweine beschmutzen wollen.
Was er selbst nie gewagt hatte, nicht einmal in Gedanken, sie hatten es getan. Sie hatten sie entblößt, hatten ihre schönen, edel geformten Beine enthüllt, Beine, wie man sie nur an den Statuen der Göttinnen sah.
Niemals würde er den Anblick von der Schwelle der Einfahrt aus vergessen, als er auf dieses Bild der Gewalt und der Wollust gestoßen war: eine von zwei Strolchen überwältigte, schamlos zurechtgelegte Frau. Und sie war es gewesen! .
»Ihr seid verletzt?«
So hart war seine Stimme, daß sie Angélique aus ihrer Benommenheit riß. Die kraftvolle, schwarzgekleidete Silhouette Maître Bernes schob sich zwischen sie und die blendende Sonne, zwischen sie und das Schreckensbild.
Sie drängte sich an ihn, ihr Gesicht verbergend, in der Dunkelheit der Schulter Schutz und Vergessen suchend.
»Oh, Maître Gabriel! . Ihr habt getötet . Ihr habt zwei Menschen getötet . meinetwegen . Was wird geschehen? Was wird aus uns werden?«
Er schloß seine Arme um sie und preßte sie an sich.
»Weint nicht, Dame Angélique.«
»Ich weine nicht . Ich fürchte mich vorm Weinen .«
Aber die Tränen quollen ihr aus den Augen, ohne daß sie ihrer bewußt wurde, und feuchteten den Spitzenkragen ihres Beschützers. Mit ihren Händen, ihren Nägeln klammerte sie sich an ihn. Er beharrte:
»Ihr habt mir nicht geantwortet ... Ihr habt mir nicht gesagt, ob Ihr verletzt seid.«
»Nein ... ich glaube nicht.«
»Dieses Blut?«
»Es ist nicht das meine ... es ist ... von dem an-dern.«
Ihre Zähne begannen aufeinanderzuschlagen.
Die Hand des Kaufmanns streichelte das weiche Haar mit den Goldreflexen.
»Beruhigt Euch . meine Freundin, meine liebste Freundin .«
Er besänftigte sie wie ein Kind, und sie ergab sich seiner geduldigen Stimme und dem vergessenen, köstlichen Gefühl, von einem Mann beschützt zu werden.
Jemand hatte sich zwischen sie und die Gefahr gestellt, hatte sie verteidigt, hatte für sie getötet. Sie löste sich weinend aus ihrer Erstarrung, gegen den unverletzlichen Schutzwall gedrückt, der ihr - sie wußte es nicht, warum - die Schulter des Polizisten Desgray ins Gedächtnis zurückrief. Das schreckliche Erlebnis, durch das sie eben gegangen war, verwischte sich. Die Wellen von Abscheu und Angst, die sie durchliefen, ließen nach, Ihr überstürztes Atmen erstickte sie nicht mehr und begann, einen normalen Rhythmus anzunehmen.
Plötzlich dachte sie: »Ich bin in den Armen eines Mannes, und ich fürchte mich nicht.« Es war wie die Ankündigung einer Genesung, die sie nicht mehr erhofft hatte.
Zu gleicher Zeit verspürte sie Scham. Sie fühlte die Nacktheit ihrer Haut unter den warmen Händen und wurde sich der Unordnung ihrer Kleidung bewußt.
Ihre feuchten Augen hoben sich verstohlen und be-gegneten dem Blick Maître Gabriels. Sein Ausdruck ließ sie erröten, und sie entwand sich ihm. »Verzeiht«, murmelte sie. »Ich war wie von Sinnen.«
Er ließ es zu, daß sie sich löste.
Mit fiebrigen Händen versuchte Angélique, Brust und Schultern mit den Fetzen ihrer Korsage zu bedecken. Durch ihre Verwirrung behindert, gelang es ihr nicht. Er war es, der ihr helfen mußte und den herabgeglittenen Träger, das abgerissene Bändchen fand. Sie errötete noch mehr.
»Regt Euch nicht auf. Diese Tiere haben Euch schrecklich zugerichtet«, sagte er. »Mit diesen Fetzen werden wir zu keinem befriedigenden Ergebnis kommen. Es wird das beste sein, dieses Mieder in die Brennesseln zu werfen . Aber jetzt müssen wir uns beeilen .«
Seine Stimme wurde förmlich, und Angélique, die der Richtung seines Blicks folgte, entdeckte den Soldaten Anselme, den Wächter vom Laternenturm, der sie von der Höhe des Walls aus beobachtete.
Während nicht endender Minuten dehnte sich die stumme Spannung an beiden Enden des Gäßchens. Dann schien sich der Soldat entschlossen zu haben. Er setzte sich in Bewegung und stieg mit schweren Schritten die steinernen Stufen hinunter.
Seinen Wildschweinskopf unter dem stählernen Helm wiegend, kam er auf sie zu. Das Hämmern seiner Stiefel und seiner Hellebarde auf den Pflastersteinen hallte laut durch die Gasse. Der Kaufmann betrachtete seine bloßen Hände, als frage er sich, ob sie noch Kraft genug hätten, diesen neuen, bewaffneten Feind niederzuzwingen.
»Gute Arbeit, Freund«, brummelte der Soldat mit seiner rauhen Stimme. »Ich hab’ von da oben aus das Ende mit angesehen. Ohne Euch zu schmeicheln, Maître Berne, Ihr habt tüchtige Fäuste ...«
Mit dem Ende seiner Pike berührte er eine der beiden Leichen.
»Die beiden da kenn’ ich ... Dreckskerle sind’s. Baumier bezahlt sie dafür, daß sie die Frauen und Töchter der Protestanten belästigen. Die Ehemänner oder Väter kommen dazwischen, es gibt Streit, und schon hat er die schönste Gelegenheit, ein paar Hugenotten mehr ins Gefängnis zu sperren ... Mir schmeckt das nicht.«
Auf seine Waffe gestützt, in der Haltung, in der er gewöhnlich seine Gespräche zu führen pflegte, fuhr er fort:
»Was soll man anderes tun als abschwören, wenn man wie ich den Wippgalgen und die Ruten hinter sich hat? Ich bin ein armer Soldat, und man muß leben. Aber das ist noch lange kein Grund, meine Brüder von früher zu verraten. Macht schnell, laßt das Aas da verschwinden . Ich habe nichts gesehen.«
Er wandte ihnen den Rücken und kehrte mit schwerfälligen Schritten zu seinem Posten auf dem Wall zurück.
»Schaut in den Hof«, befahl Maître Berne Angélique. »Ich möchte nicht, daß meine Gehilfen etwas davon erfahren. Wenn Ihr niemand seht, öffnet das Magazin zur Linken.«
Der Hof war glücklicherweise verlassen. Angélique riß die Tür des Schuppens auf, den er ihr angegeben hatte. Der scharfe Geruch der Salzlake benahm ihr den Atem.
Wieder bei Maître Berne angelangt, sah sie, daß er dem Erwürgten das Wams abgestreift und es dem anderen um den Kopf geschlungen hatte, um Blutspuren zu verhindern. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme bemerkten sie beim Transport des Leichnams mit Schrecken, daß ihre bespritzten Schuhe rote Flecke auf dem Pflaster des Hofs hinterließen. Sie legten die Leiche in den Schuppen und hasteten zurück, um die andere zu holen.
»Wir werden sie im Salz vergraben«, murmelte der Kaufmann. »Es ist nicht das erstemal. Es ist ein gutes Versteck. Das Salz konserviert sie, und wir können in Ruhe auf die beste Gelegenheit warten, sie verschwinden zu lassen.«
Er zog seinen schwarzen Tuchrock aus, ergriff eine Schaufel und wandte sich dem hohen, schneeigen Gebirge zu, das im Halbdunkel leuchtete.
Angélique half ihm, mit ihren Händen grabend. Ihre Eile, die beiden verzerrten, in einem scheußlichen Ausdruck erstarrten Gesichter verschwinden zu sehen, war so groß, daß sie die Kratzer der Salzkristalle auf ihrer zerschundenen Haut nicht spürte.
Die beiden Leichen wurden in die ausgeworfene Höhlung geschoben, die sie sorgfältig wieder zuschütteten. Angélique und der Kaufmann arbeiteten schweigend. Während er sich daran machte, die letzten Spuren zu beseitigen, die auf etwas Ungewöhnliches hätten hindeuten können, nahm Angélique einen Eimer, mit dem sie sich zum Brunnen begab. Mit einer Bürste bewaffnet, unternahm sie es, das Pflaster zu reinigen. Zwei Gehilfen, die mit einer Ladung Fässer vom Hafen zurückkehrten, betraten den Hof durch die andere Pforte. Sie bemerkten sie aus der Ferne, ohne daß ihnen an der Tatsache, die Magd Maître Bernes den Hof aufwaschen zu sehen, irgend etwas auffiel. Sie erschien häufig in den Lagerhäusern, und obgleich sie sich im allgemeinen nur mit den Rechnungsbüchern beschäftigte, kam es doch vor, daß sie sich auch gröberen Arbeiten widmete. Zum Glück näherten sich die beiden Jungen nicht, da sie ihren Herrn in der Nähe wußten. Sie wären mit Recht erstaunt gewesen, sie gleichsam in Lumpen und mit aufgelöstem Haar vorzufinden.
Sie verschwanden in dem Schuppen, der dem Wein und Branntwein vorbehalten war.
Angélique kehrte noch einmal zur Gasse zurück. Fliegen begannen um die Blutlache zu summen. Der Rinnstein war bis zu dem zum Meer sich öffnenden Abflußkanal rot.
Glücklicherweise war noch niemand vorbeigekommen. Auf Knien, das Haar wirr in die Augen hängend, rieb sie immer von neuem die Steine ab und ruhte nicht eher, bis der letzte Schwung Wasser nur noch eine unbestimmte, rötliche Färbung aufwies, die keinen Verdacht erregen konnte.
Dann schloß sie aufatmend die Pforte, die Maître Gabriel eine Stunde zuvor fast aus den Angeln gerissen hatte, um ihr zu Hilfe zu eilen.
»Kommt in mein Büro«, sagte der Kaufmann. »Alles ist in Ordnung. Ihr müßt Euch stärken.«
Angélique taumelte. Er legte einen Arm um ihre Taille und stützte sie, während er sie zu dem dämmerigen Raum führte, in dem er außer seinen Rechnungsbüchern und Waagschalen jeder Art und Größe kostbare Pelze aus Kanada, Stahlwaren aus England und Proben von Branntweinen der Charentes verwahrte.
Zur Vorsicht verriegelte er die Tür.
Angélique hatte sich auf eine Bank vor dem Tisch gleiten und den Kopf auf ihre Arme sinken lassen.
Maître Gabriel schob ihr ein Glas mit Branntwein zu.
»Trinkt, Dame Angélique . Ihr habt es nötig.«
Und da sie sich nicht rührte, setzte er sich neben sie, zwang sie, den Kopf zu heben und näherte das Glas ihren Lippen. Sie trank widerwillig ein paar Schlucke, hustete. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück.
»Warum mußte das alles geschehen?« fragte sie, mit verstörter Miene um sich blickend. »Ich ging nach Hause ... sie folgten mir, holten mich schließlich ein ... Ich hoffte, bis hierher zu kommen, um Euch um Hilfe bitten zu können ... Sie wurden immer unverschämter . und dann, plötzlich .«
»Laßt das«, sagte er. »Ihr habt nichts mehr zu fürchten. Sie sind tot.«
Ein heftiger Schauder überlief sie.
»Tot? Ist es nicht furchtbar? ... Überall Tote auf meinem Weg.«
»Es muß Tote geben«, sagte Berne, dessen Augen ihren seltsamen Glanz behielten, barsch. »Der Tod ruft den Tod, das Verbrechen ruft das Verbrechen. In der Bibel steht geschrieben: >Du wirst Leben für Leben geben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß .. .<«
Angélique schob sich aus der Bank. Sie erhob sich und wich vor ihm zurück, als habe sie einen Feind an Ihrer Seite entdeckt.
»Ich hasse die Männer«, sagte sie mit dumpfer Stimme, »ich hasse sie alle, und ich hasse mich selbst. Oh, ich möchte verschwinden. Ihr seht mich an, als ob ich närrisch sei. Ihr möchtet vielleicht, daß ich ruhig bin, aber ich habe genug davon, und ich werde nicht ruhig bleiben.«
»Wie jung und kindlich Ihr plötzlich ausseht! Ihr sprecht ganz und gar nicht mehr wie jene erfahrene Frau, die um mich zu sehen ich gewöhnt bin.«
»Ihr versteht mich nicht, Maître Berne ... Die Dämonen sind in mein Schloß eingedrungen, sie haben es in Brand gesteckt, haben meine Diener niedergemacht, meinen jüngsten Sohn ermordet, und mich, mich haben sie . dieser Nacht wegen ist Honorine geboren worden . versteht Ihr? . Das Kind des Verbrechens und der Notzüchtigung . Und Ihr wundert Euch, daß ich es nicht lieben kann!«
Anfangs schien er zu glauben, sie deliriere, doch jäh begriff er, daß sie auf vergangene Ereignisse anspielte.
»Laßt Eure Erinnerungen ruhen. Ihr habt sie vergessen.«
Auch er erhob sich nun, über die Bank hinwegsteigend. Angstvoll sah sie ihn sich nähern. Und zugleich wünschte sie, ihn bei sich zu haben, ganz dicht bei sich, um sich auf ihn stützen zu können und einmal mehr zu spüren, ob es wahr sei, daß das Wunder stattgefunden habe, ob es ihr von neuem gewährt sei, sich in den Armen eines Mannes glücklich zu fühlen.
»Eben hattet Ihr alles vergessen«, murmelte er sanft, »vor kurzem noch . als Ihr Euch an mich lehntet .«
Er berührte sie. Seine Hände legten sich um ihre Taille, und da sie ihn nicht abwehrte, zog er sie an sich.
Die Spannung, die sie in Bann hielt, ließ beide erzittern, und Angélique leistete keinen Widerstand.
Sie war kalt und gefühllos wie eine Jungfrau, der Gewalt angetan wird, aber die Neugier auf sich selbst blieb stärker. »Eben hatte ich keine Angst«, sagte sie bei sich. »Es ist wahr ... Doch was geschieht, wenn er mich jetzt küssen will?«
Das erregte Gesicht, das sich nun über sie beugte, stieß sie nicht ab. Es mißfiel ihr nicht, die Berührung dieses großen, kräftigen, von Verlangen besessenen Körpers zu spüren. Die Persönlichkeit dessen, der sie so an sich drückte, verschwamm. Sie vergaß seinen Namen und wer er war. Irgendein Mann hielt sie in seinen Armen, dessen ungestüme Forderung sie ohne Erschrecken erkannte.
Unaussprechliche Erleichterung überkam sie und ließ sie, an die breite Brust gepreßt, die Luft in langen, ruhigen Zügen einsaugen wie eine Ertrinkende, die wieder Atem schöpft. Also lebte sie noch!
Ihr Kopf sank weich zurück.
Durstige Lippen, die es noch nicht wagten, die ihren zu berühren, verloren sich in ihrem Haar. Sie begann die Zärtlichkeit der Hand zu spüren, die auf ihrer nackten Haut zitterte. Die Aufmerksamkeit, mit der sie sich von neuem entdeckte, absorbierte alle anderen Regungen.
Ein Wort genügte, dessen gefährliche Bedeutung nur sie verstehen konnten, um sie wieder zu sich kommen zu lassen.
»Salz ... Salz!« schrie draußen die Stimme eines Gehilfen, der an die verschlossene Tür trommelte.
Angélique erstarrte, jäh ihrer Versunkenheit entrissen.
»Hört«, flüsterte sie, »sie sprechen von Salz ... Sie haben irgend etwas entdeckt.«
Sie lauschten reglos in die Stille. »Sollen wir Salz aufladen, Patron?« fragte die Stimme des Gehilfen hinter der Tür.
»Welches Salz?« brüllte Maître Gabriel und ließ sie los.
Er faßte sich rasch, warf einen schnellen Blick auf seine Kleidung und seinen Kragen, um sich ihres korrekten Sitzes zu vergewissern.
Der Kommis erklärte:
»Es ist wegen der Steuer. Sie wollen Salz und Wein mitnehmen.«
»Ich wette, es handelt sich um einen Streich Bau-miers«, knurrte der Kaufmann.
Er öffnete die Tür. Ein von zwei Schreibern und vier bewaffneten Gendarmen begleiteter Beamter der Steuerbehörde hielt sich hinter dem bestürzten Kommis, Im Hintergrund waren zwei leere Karren zu sehen, die sie mitgebracht zu haben schienen, um die ausstehende Steuersumme in Naturalien aufzuladen.
»Ich habe meine Steuern schon bezahlt«, erklärte Maître Gabriel. »Ich kann Euch die Quittung zeigen.«
»Gehört Ihr zur reformierten Religion?«
»In der Tat.«
»Dann habt Ihr nach dem neuen Dekret noch einmal den Gesamtbetrag der bereits gezahlten Steuern zu erlegen. Hier steht es geschrieben, wenn Ihr Euch überzeugen wollt«, fügte er hinzu, ein Pergament vorweisend.
»Eine weitere Ungerechtigkeit, für die es nicht den geringsten Grund gibt.«
»Was wollt Ihr, Maître Berne! Eure bekehrten Glaubensgenossen sind für einJahr von der Kopfsteuer und für drei Jahre von der Gemeindesteuer befreit. Wir müssen den Verlust wohl oder übel woanders wieder ausgleichen. Den Halsstarrigen wie Euch kommt es zu, für die andern zu zahlen. Übrigens beläuft es sich für Euch nur auf zwölf Stückfässer Wein, hundertfünfzig Pfund gesalzenen Speck und zwölf Scheffel Salz. Für einen reichen Kaufmann wie Euch ist das nicht viel.«
Jedesmal, wenn sie das Wort »Salz« vernahm, wurde Angélique bleich.
Der königliche Beamte musterte sie frech.
»Eure Gattin?« erkundigte er sich bei Maître Gabriel.
Der Kaufmann, der dabei war, das Pergament zu studieren, erwiderte nichts.
»Kommt, Messieurs«, sagte er schließlich, indem er auf den Hof hinaustrat und die Richtung zu den Schuppen einschlug.
Angélique hörte, wie der Steuereinnehmer sich höhnisch lächelnd zu seinen Schreibern wandte: »Diese Hugenotten möchten uns Lehren in guten Sitten beibringen ... Das hindert sie nicht, es wie alle Welt mit Konkubinen zu treiben.«
Es folgten schreckliche Stunden, in deren Verlaufe Angélique jeden Augenblick die Katastrophe erwartete.
Sie lauschte angstvoll auf die Geräusche im Hof. Schreie drangen zu ihr herüber.
Dann sah sie Maître Gabriel von zwei Gendarmen flankiert vorbeigehen. Unvermittelt beschloß sie, sich so zerzaust, wie sie war, davonzumachen, Honorine zu holen und irgendwohin zu fliehen, weit fort, immer weiter, bis sie erschöpft zusammenbräche.
Der Abmarsch des Steuereinnehmers und seiner Begleiter bewahrte sie vor diesem unüberlegten Entschluß. Die mit dem fiskalischen Proviant beladenen Karren holperten schwerfällig über das Pflaster. Die Torflügel schlossen sich hinter ihnen.
Staub tanzte in der safranfarbenen Luft der Dämmerung. Maître Berne kam über den Hof auf Angélique zu. Der Ausdruck seines Gesichts verriet seine Sorgen, aber er schien ruhig. Er schenkte sich dennoch ein Glas Branntwein ein. Es war nicht einfach für ihn gewesen, das neugierige Herumschnüffeln der Schreiber zu überwachen, seine Gehilfen zu veranlassen, das geforderte Salz von einer Seite des Haufens zu nehmen und nicht von der anderen und sich zugleich der argwöhnischen Aufmerksamkeit des Steuerbeamten zu entziehen.
»Ich habe Euch nicht helfen können«, sagte Angé-lique. »Ich hätte mich verraten.«
Der Kaufmann machte eine müde Bewegung.
»Das geht auf das Konto Baumiers«, wiederholte er. »Ich bin jetzt sicher, daß er es war, der Euch die beiden Strolche auf die Spur setzte . Der Besuch des Steuerbeamten sollte der Konstatierung des Streits und des Widerstands gegen die königliche Gewalt unmittelbar folgen. In ein paar Stunden werden sie sich zu fragen beginnen, was wir mit diesen beiden Halunken angefangen haben. Deshalb habe ich meine Gehilfen und die Packer fortgeschickt und das Lager für heute geschlossen. Wir können nicht länger damit warten, uns der Leichname zu entledigen.«
Er warf einen Blick zu dem vom Abendlicht erfüllten Ausschnitt der Tür.
»Es wird bald Nacht werden. Dann können wir handeln.«
Sie warteten in der Dämmerung, schweigend und ohne den Versuch zu machen, sich einander zu nähern.
Die unmittelbar drohende Gefahr hielt sie in Spannung und beschäftigte ihre Gedanken. Sie verharrten reglos wie bedrohte Tiere, die mit klopfenden Herzen auf dem Grund ihres Baus, ihrer letzten Zuflucht lauern.
Das kleine Stück Himmel im Türausschnitt färbte sich in den irisierenden Tönungen der Muscheln, und vom Hafen her vernahmen sie fernes Geräusch, den rhythmischen Atem des Meers.
Die Nacht brach kühl, blau und sanft herein.
»Es ist soweit«, sagte der Kaufmann.
Sie betraten den Salzschuppen. Aus einem Nebengelaß zog Maître Berne einen hölzernen Schlitten.
Erneut gruben sie gemeinsam in dem bitteren Salzschnee, der ihre Hände aufriß. Die Leichen wurden herausgehoben, auf den Schlitten gelegt und mit Kornsäcken und Pelzballen bedeckt.
Der Kaufmann ergriff die Deichsel. Sobald sie den Schuppen auf der Rückseite verlassen hatten, drehte er mehrmals den Schlüssel im Schloß.
»Niemand soll ihn betreten, bevor ich ihn noch einmal inspiziert habe.«
Er packte eine der Deichselstangen des Schlittens, Angélique die andere. Die Holzkufen glitten leicht und fast lautlos über die kleinen, runden Kiesel aus Kanada, mit denen die Straßen und Gassen der Stadt gepflastert waren. Dieses besondere Pflaster verdankte man einem sparsamen Bürgermeister, der auf solche Weise die Kieselladungen aus Saint-Laurent in Neufrankreich nutzte, die man einstmals den ohne Fracht zurückreisenden Schiffen als Ballast mitzugeben pflegte. Seitdem war man genötigt, Schlitten zu verwenden. Karren mit eisenbeschlagenen Rädern hätten einen höllischen Lärm verursacht. Angélique und ihr Begleiter hasteten mit ihrer unheimlichen Last wie Schatten dahin.
»Das ist die günstigste Stunde«, raunte Maître Gabriel. »Die Lampen sind noch nicht angezündet, und in unserem Hugenottenviertel läßt man uns noch länger als die anderen warten, um uns zu bestrafen .
Die Bosheit hat manchmal auch ihre Vorteile.«
Die Passanten, deren Weg sie kreuzten, kamen gar nicht auf die Idee, sich zu fragen, was Maître Berne und seine Magd da transportierten, denn man sah nicht weiter als in einem rußigen Ofenloch.
Der Kaufmann schien zu wissen, wohin er wollte. Immer von neuem bog er in schmale Gäßchen ein, deren verwirrendes Kreuz und Quer sie offenbar um belebtere Straßen herumführen sollte.
Angélique schien es, als seinen sie schon seit Stunden unterwegs, und war erstaunt, sich plötzlich nicht allzu weit von ihrem Haus vor der Toreinfahrt eines ihrer Nachbarn, des Papierhändlers Jonas Mercelot, wiederzufinden.
Ihr Herr hob dreimal den bronzenen Türklopfer. Der Papierhändler öffnete ihnen selbst.
Er war ein weißhaariger, liebenswürdiger, sehr gebildeter Mann, dem einstmals so gut wie alle Papiermühlen des Angoumoi gehört hatten.
Durch die Steuern und das Verbot, Spezialhandwerker seines eigenen Glaubens weiterzubeschäftigen, ruiniert, waren ihm nur sein schönes Haus in La Rochelle und ein kleiner Handel mit Kunstpapier geblieben, dessen Herstellungsgeheimnisse nur ihm bekannt waren.
»Ich habe da etwas für deinen Brunnen«, sagte ihm Berne.
»Ausgezeichnet! Tretet ein, meine Freunde!«
Er half ihnen mit größter Bereitwilligkeit, den Schlitten in einen von frischem Apfelduft erfüllten Keller zu ziehen, und hielt, um den Weg zu beleuchten, die Laterne hoch.
Der Kaufmann lud die Pelze und Kornsäcke ab. Die mit Blut und Salz beschmierten Leichen wurden sichtbar, und der sanfte Papierhändler betrachtete sie, ohne Überraschung zu zeigen.
»Würde Dame Angélique uns den Gefallen erweisen, die Laterne zu halten? Ich werde dir beim Tragen helfen«, sagte er nur mit seiner üblichen Höflichkeit.
Berne schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist besser, wenn du uns führst. Sie kennt den Weg nicht.«
»Richtig.«
Einmal mehr mußte Angélique zwei starre Beine aufnehmen, die ihr so schwer wie Stein schienen. Ihre Arme schmerzten sie. Hinter dem Papierhändler stiegen sie drei steinerne Stufen hinunter, die in ein mit Papierstapeln, Lumpenballen und Säurebehältern vollgestopftes Magazin führten. Im Hintergrund rückte Maître Mercelot nicht ohne Mühe eine altmodische Handpresse beiseite, die ein schmales, wurmstichiges Pförtchen verbarg. Der Schlüssel dazu war in einer Vertiefung der Mauer versteckt. Das Pförtchen öffnete sich auf eine glücklicherweise ziemlich kurze Wendeltreppe.
Sie standen nun in einem großen, unterirdischen Saal, dessen niedrige, gewölbte Decke von starken romanischen Pfeilern getragen wurde. In seiner Mitte befand sich ein Brunnen. Jonas Mercelot schob den mit einem Vorhängeschloß versehenen Deckel beiseite, und das brausende Geräusch von anschlagenden und wieder zurückflutenden Wogen drang aus dem Schacht herauf.
»Dieser Brunnen steht mit dem Meer in Verbindung«, erklärte Maître Berne Angélique. Er mußte die Stimme heben, um sich verständlich zu machen: »Was man hineinwirft, wird auf den Felsen zermalmt und von der Strömung fortgerissen.«
Wie aus seinem Gefängnis befreit, grollte und toste der Ozean in lang hinhaltendem Tumult, den das Echo zurückwarf.
In diesem an- und abschwellenden Getöse schienen die Bewegungen einem bösen Traum zu entstammen. Die Leichen, die man packte, die man über die Einfassung hob und in den Schlund der tosenden Finsternis warf, versanken, ohne daß ein Laut ihres Falls zu vernehmen gewesen wäre. Sie verschwanden wie aufgeschluckt, schienen sich spurlos aufzulösen.
Der schwere Deckel wurde wieder an seinen Platz gerückt, und der Lärm war nur noch gedämpft zu hören. Angélique stützte sich auf das Brunnengeländer und schloß die Augen. »Es ist nicht das erstemal«, hatte Maître Gabriel gesagt.
Dieses dumpfe Geräusch, das noch immer heraufdrang, war das heimliche La Rochelle, durchklungen von dem ihm verbündeten Meer und dem Gesang der Psalmen, die sich im 16. Jahrhundert aus seinen unterirdischen Kellern erhoben, in denen sich die ersten Anhänger der calvinistischen Sekte vereinigten.
Es war das Echo des gnadenlosen Kampfes, den sich in diesen Mauern zwei unversöhnliche Widersacher geliefert hatten und der an Tagen der Verfolgung mit derselben Bitterkeit, denselben von beiden Seiten beschönigten Verbrechen wiederauflebte.
Wie konnte man jemals dem Blut, der Furcht entrinnen?
Honorine lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch, die Stirn gegen die kalten Fliesen gedrückt, wie ein kleines Tier, das ohne Hoffnung den Tod erwartet.
»Sie hat Euch den ganzen Tag gesucht«, erklärte Abigaël. »Sie schien uns ängstlicher als gewöhnlich. Sie spähte unter die Möbel. Sie verlangte, daß wir die Fenster und Türen öffneten. Sie rief Euch nicht, aber zuweilen stieß sie einen Schrei aus, der uns weh tat.«
»Wir boten ihr Näschereien an. Sie wollte sie nicht.«
»Ich habe ihr mein Holzpferd gegeben«, erklärte Laurier, »aber sie mochte nicht damit spielen.«
»Vielleicht ist sie krank?«
Mit sorgenvollen Mienen standen sie um das kleine Bündel herum, das ausgestreckt auf dem Boden lag. Ihre Betroffenheit wuchs noch, als sie den Zustand entdeckten, in dem sich Angélique ihnen darbot.
»Aber was ist Euch geschehen?« rief Tante Anna.
»Nichts Ernstliches.«
Sie hob ihre Tochter auf, drückte sie heftig an sich.
»Ich bin ja da, kleines Herz. Ich bin ja da.«
»Honorine hat gefühlt, daß ich mich in Gefahr befand«, dachte sie. »Deshalb war sie unruhig.«
Honorine war in der Gefahr geboren. Ihr Instinkt ließ sie das lautlose Nahen des riesigen, düsteren Tieres erkennen. Sie mußte es immer spüren, geduckt hinter den viereckigen Scheiben der Fenster.
An den Hals ihrer Mutter geklammert, forderte sie gebieterisch, daß man die Holzläden vorlegte, um die Nacht auszuschließen. Jedermann beeilte sich, ihrem Verlangen nachzukommen; erst dann fand sie sich bereit, ihre Umklammerung zu lösen und zu lächeln. Ihre Mutter war da, und aus den Spiegelungen der Scheiben war das schwarze, grausame Antlitz des Unheils verschwunden.
Man setzte sie auf ihren Stuhl und brachte ihr ihren Grießbrei. Angélique entfernte sich, um ihr Kleid zu wechseln, eine Schürze aus gestärkter Leinwand umzubinden und ihr in Unordnung geratenes Haar unter einer neuen Haube zu bergen.
Maître Gabriel plauderte halblaut mit Pastor Beau-caire und dessen Neffen, ebenfalls Pastor und Flüchtling aus den Cevennen. Er war eines Tages aufgetaucht, seinen kleinen, vierjährigen Sohn Nathanaël an der Hand führend.
Auch das Kind war an diesem Abend da, und die beiden Zwillinge der Familie Carrère vervollständigten die häusliche Runde, denn die Nachbarn hatten der Geburt des elften wegen die zehn Kinder des armen Advokaten unter sich aufgeteilt.
Entzückt, der Mittelpunkt eines so zahlreichen Hofes zu sein, wurde Honorine gesprächig.
»Mama«, fragte sie, als Angélique zurückkehrte, »wo ist der schöne Herr, der mir das goldene Spielzeug geschenkt hat?«
»Welcher schöne Herr?« forschte Maître Gabriel.
»Welches goldene Spielzeug?« erkundigte sich Tante Anna argwöhnisch.
Angélique hätte es lächerlich gefunden zu heucheln. »Monsieur de Bardgane war so liebenswürdig, dem Kind ein Geschenk zu machen.«
Inmitten eines eisigen Schweigens beschäftigte sich Honorine damit, in ihren Brei mit dem Löffel Gräben zu ziehen. Sie war in tiefgründige Überlegungen versunken.
»Ich möchte so gern einen Vater haben wie ihn«, sagte sie endlich mit enthusiastischem Lächeln.
Seit einiger Zeit suchte sie verzweifelt nach einem Vater für sich. Zuerst hatte sie ihr Auge auf den Pastor Beaucaire geworfen, aber dieser hatte sie schnöde enttäuscht. »Mein liebes Kind, ich liebe dich wie eine Tochter, aber ohne zu lügen könnte ich dir nicht sagen, daß ich dein Vater bin.«
Der Wasserträger, für den sie eine zarte Neigung empfand, lehnte eine solche Verantwortung gleichfalls rundweg ab.
Nun tastete sie offensichtlich die Möglichkeiten für Monsieur de Bardagne ab, aber der Augenblick schien schlecht gewählt.
Angélique zog es vor, sie in die Küchennische zu schaffen und zu Bett zu bringen.
Doch Honorine verfolgte ihren Gedankengang weiter:
»Ist er nicht mein Vater?«
»Nein, mein Liebstes.«
»Wo ist mein Vater dann?«
»Weit fort, sehr weit fort.«
»Auf dem Meer?«
»Ja, auf dem Meer.«
»Dann werde ich ein Schiff nehmen«, sagte Honorine.
Ihre Lider schlossen sich über der Vision einer wundersamen Reise, und sie schlief ein, von ihren Gefühlsaufwallungen erschöpft.
Angélique beschäftigte sich mit der Abendmahlzeit. Sie mußte dem Einerlei ihrer täglichen Pflichten nachgehen, um ihre Angst beherrschen zu können. Sie hatte Monsieur de Bardagne seit seinem Heiratsantrag nicht wiedergesehen und ihm nur einen Brief geschickt, der ihn zur Geduld mahnte.
Jedermann setzte sich zu Tisch und schickte sich an, die dampfende Miesmuschelsuppe zu löffeln, als die Glocke des Portals anschlug.
Sie sahen sich im Licht der Kerzen mit gespannten Gesichtern an. Die Glocke ertönte ungeduldig von neuem. Maître Gabriel erhob sich.
»Ich werde gehen«, sagte er. »Wenn wir nicht antworten, wird es verdächtig wirken.«
»Nein, ich gehe«, warf Angélique ein.
»Schicken wir Rebecca.«
Aber Rebecca fürchtete sich, ohne zu wissen, warum.
»Laßt mich gehen«, beharrte Angélique, indem sie ihre Hand auf den Arm des Kaufmanns legte. »Daß Eure Magd öffnet, ist durchaus üblich. Ich werde erst durch das Guckloch sehen und Euch dann benachrichtigen.«
Durch das Guckloch erkundigte sich eine Stimme:
»Seid Ihr es, Dame Angélique? Ich möchte Euch sprechen.«
»Wer seid Ihr?«
»Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin Nicolas de Bardagne, der Statthalter des Königs.«
»Ihr?«
Angélique fühlte sich schwach werden.
»Wozu kommt Ihr? ... Um mich zu verhaften?«
»Euch verhaften?« wiederholte die Stimme erstickt. Der arme Mann brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu fassen.
»Glaubt Ihr etwa, daß ich nur zu so etwas tauge? Planlos irgendwelche Leute zu verhaften? ... Schönsten Dank für die Meinung, die Ihr von mir habt. Ich weiß, daß die Starrköpfe, mit denen Ihr umgeht, mich gern als eine Art Werwolf hinstellen, aber immerhin .«
»Ich habe Euch verletzt, Monsieur. Verzeiht mir. Seid Ihr allein?«
»Und ob ich allein bin! Gewiß, mein liebes Kind. Und maskiert noch dazu. Und in einen mauerfarbe-nen Mantel gehüllt. Ein Mann meines Ranges, der die Dummheit begeht, sich in galante Abenteuer einzulassen, zieht es vor, sich allein davonzuschleichen und möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Wenn man mich entdeckt, habe ich mich für alle Zeiten der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber ich muß Euch unbedingt sprechen. Es ist sehr ernst.«
»Was ist geschehen?«
»Wollt Ihr mich etwa reden lassen, ohne mir wenigstens den Schutz einer dunklen Hofecke anzubieten oder in dieses sehr wenig begangene und erfreulich finstere Gäßchen hinauszutreten? Fürwahr, Dame Angélique, Ihr seid aus hartem Holz gemacht! Der Statthalter des Königs, Gouverneur von La Rochelle, begibt sich insgeheim zu Euch, um Euch von Eurem Herd fortzulenken und seine Huldigungen zu Füßen zu legen, und Ihr empfangt ihn wie einen Bettler!«
»Ich bin untröstlich, aber ob Ihr nun Statthalter des Königs seid oder nicht, Euer heimlicher Besuch setzt mich der Gefahr aus, meinen Ruf zu verlieren.«
»Ihr werdet mich mit Eurer Unzugänglichkeit noch rasend machen. In Wirklichkeit legt Ihr nicht den leisesten Wert darauf, mich zu sehen.«
»Unter den gegenwärtigen Umständen fühle ich mich wirklich bedrückt. Ihr wißt doch, wie delikat meine Situation unter diesen Leuten ist, denen ich dienen muß. Wenn man Verdacht schöpfte .«
»Ich bin eben deshalb hierhergekommen, um Euch aus diesem Ketzernest herauszuholen, in dem Ihr ernsthaften Gefahren ausgesetzt seid.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Öffnet diese Tür, und Ihr werdet es erfahren.«
Angélique zögerte.
»Laßt mich zuerst Maître Berne benachrichtigen.«
»Das fehlte mir noch.«
»Ich werde Euch nicht nennen, aber ich muß eine Erklärung finden, um meine Abwesenheit, so kurz sie auch sein mag, zu rechtfertigen.«
»Gut. Aber beeilt Euch. Den Ton Eurer Stimme zu hören und den Duft Eures Atems zu verspüren, genügt schon, um mich vor Entzücken außer mich zu bringen.«
Angélique kehrte im gleichen Augenblick zum Haus zurück, in dem der unruhig gewordene Maître Berne die Stufen herabschritt.
»Wer hat geläutet?«
Sie erklärte ihn rasch über die Anwesenheit und das Anliegen des Statthalters auf. Die Augen des Kaufmanns bekamen den gleichen gefährlichen Ausdruck wie in der Sekunde, in der er sich entschlossen hatte, Baumiers Halunken zu erwürgen.
»Dieser Lump von einem Papisten! Ich werde ein deutliches Wörtchen mit ihm reden. Ich werde ihm beibringen, meine Mägde unter meinem eigenen Dach zu verführen.«
»Nein, mischt Euch nicht ein. Es scheint, daß er mir ernste Neuigkeiten mitteilen will.«
»Und welcher Art, glaubt Ihr, werden diese Neuigkeiten sein? Die Worte Eurer unschuldigen Tochter verraten mehr als genug. Jeder weiß, daß er ein Auge auf Euch geworfen hat und Euch in der Stadt als seine Mätresse installieren möchte. Man erzählt es sich in ganz La Rochelle.«
Mit all ihrer Kraft hielt Angélique Maître Gabriel zurück, der sie wie einen Strohhalm hätte beiseite wischen können.
»Haltet Euch dennoch ruhig«, beschwor sie ihn. »Monsieur de Bardagne hat nun einmal die Macht auf seiner Seite. Wir können es uns nicht erlauben, seine Unterstützung in einem Augenblick zu verschmähen, in dem unsere ohnehin prekäre Situation noch schwieriger geworden ist und ihr den Strang riskiert.«
Mehr als ihre Worte zähmte ihre schmale Hand, die sein Handgelenk umklammerte, Gabriel Bernes Zorn.
»Wer weiß, was Ihr ihm schon zugestanden habt«, grollte er trotzdem. »Bis jetzt habe ich Vertrauen zu Euch gehabt .«
Er unterbrach sich, weil er noch einmal den Augenblick durchlebte, in dem dieses Vertrauen erschüttert worden war. Verwirrt hatte er an die Monate häuslichen Friedens unter der Führung einer fleißigen, geschickten Dienstmagd gedacht, deren Gesten und Worte niemals den Verdacht der Koketterie in ihm hatten aufkommen lassen. Gott allein wußte, daß er sie streng auf ihre Pflichten verwiesen hätte. Aber sein anfangs höchst waches Mißtrauen war schließlich geschwunden.
Und dann war da jene getroffene Eva gewesen, die sich weinend in seine Arme geworfen hatte, jene leblose, in ihren Schmerz gebannte Frau, die er langsam an sich gezogen hatte. Wenn sie ihn damals zurückgestoßen hätte, wäre es ihm gelungen, sich rechtzeitig wieder in die Hand zu bekommen. Er war sich dessen sicher. Aber Angéliques Schwäche hatte in ihm den Dämon des Fleisches entfesselt, den er nicht ohne Mühe seit den qualvollen Tagen seiner Jugend in Schach hielt. Er hatte den Kopf verloren. Er hatte sein Gesicht in eine Flut seidigen Haars getaucht und seine Hand auf eine halbnackte Brust gelegt, deren wollüstige Wärme er noch jetzt auf der Haut zu spüren meinte.
Der Ausdruck seines Blicks veränderte sich.
Angélique lächelte traurig.
»Sagtet Ihr, vorher hättet Ihr mir vertraut? . Und jetzt . jetzt haltet Ihr mich aller Schändlichkeiten für fähig, weil ich mich in einem Moment der Verwirrung habe betören lassen? Von Euch! . Findet Ihr das nicht ungerecht?«
Niemals zuvor war ihm aufgefallen, wie sinnlich und weich ihre Stimme klingen konnte. Nur weil sie ganz leise zu ihm sprach, weil sie ihm nahe war in der Dunkelheit, weil er ihre Augen und Lippen schimmern sah. Ah, es war schmerzlich und mehr als reizvoll, hinter einem Gesicht, das man täglich sah, das Mysterium der Sinnlichkeit zu entdecken. Sprach sie so in ihren Liebesnächten? Haß gegen alle die Männer, die sie geliebt hatte, stieg glühend in ihm auf.
»Sollte ich Euch der schwärzesten Sünden verdächtigen, Maître Gabriel, nur weil auch Ihr es an Kaltblütigkeit habt fehlen lassen?«
Er senkte den Kopf wie ein Schuldbeladener. Und er war glücklich, es zu sein.
»Vergessen wir’s, wenn Ihr wollt«, sagte sie sanft. »Wir müssen es übrigens vergessen. Wir waren nicht wir selbst, weder Ihr noch ich ... Ein furchtbarer Schock hatte uns aufgewühlt. Jetzt müssen wir werden, wie wir vorher waren.«
Aber sie wußte sehr gut, daß es unmöglich war. Zwischen ihnen würde es immer die sie zweifach verbindende Gemeinsamkeit im Verbrechen und im Augenblick der Hingabe geben.
Sie beharrte nichtsdestoweniger:
»Wir müssen all unsere Kräfte für unseren Kampf und unsere Rettung sammeln. Laßt mich mit Monsieur de Bardagne sprechen. Ich kann Euch versichern, daß ich ihm niemals etwas zugestanden habe.«
Er glaubte, sie mit leisem Spott hinzufügen zu hören:
»Weniger als Euch.«
»Es ist gut«, sagte er. »Geht. Aber haltet Euch nicht lange auf.«
Angélique kehrte zu der kleinen Pforte zurück, hinter der Monsieur de Bardagne, Stellvertreter des Königs, vor Ungeduld von einem Fuß auf den andern trat.
Sie öffnete ihm und fühlte sich von zwei besitzgierigen Händen an den Armen gepackt.
»Da seid Ihr endlich! Ihr macht Euch über mich lustig. Was habt Ihr ihm erzählt?«
»Er ist argwöhnisch und .«
»Er ist Euer Liebhaber, nicht wahr? Es gibt keinen Zweifel . Ihr schenkt ihm jede Nacht, die Ihr mir verweigert.«
»Ihr beleidigt mich, Monsieur.«
»Wen wollt Ihr das Gegenteil glauben lassen? Er ist Witwer. Ihr lebt seit mehreren Monaten unter seinem Dach. Er sieht Euch unablässig gehen und kommen, sprechen, lachen, singen, was weiß ich! Es ist unmöglich, daß er nicht in Euch vernarrt ist. Es ist im höchsten Maße unerträglich und schlägt jeder Moral ins Gesicht. Es ist ein Skandal!«
»Meint Ihr, es sei weniger skandalös, hierherzukommen und mir in einer mondlosen Nacht den Hof zu machen?«
»Das ist nicht dasselbe. Ich . ich liebe Euch.«
Und er zog sie in einen Mauerwinkel, versuchte, sie an sich zu drücken. Die Nacht hinderte Angélique daran, seine Züge zu unterscheiden. Sie roch den Fliederduft des Puders, den er für sein Haar benutzte. Seine ganze Person strahlte Kultiviertheit und Sicherheit aus. Er war unter den Gerechten. Er hatte nichts zu fürchten. Er befand sich auf der anderen Seite der Schranke, hinter der die Verurteilten litten.
Bargen die Falten ihrer Kleidung nicht noch immer den bitteren Geruch von Salz und Blut?
Ihre aufgerissenen Hände taten ihr weh, und sie wagte es nicht, sie den seinen zu entziehen.
»Eure Gegenwart macht mich toll«, murmelte Monsieur de Bardagne. »Mir scheint, wenn ich in dieser Finsternis wagemutiger wäre, würdet Ihr weniger grausam sein. Wollt Ihr mir nicht endlich einen Kuß erlauben?«
Seine Stimme klang demütig. Angélique glaubte, sich nachgiebig zeigen zu müssen. Man brachte einen königlichen Beamten nicht in eine solche Lage, ohne wenigstens gelegentlich ein kleines Pflaster auf seine verletzte Eigenliebe zu legen.
Es war ein Tag der Erfahrungen. Zeigte sich die Natur, nachdem sie Angélique ihrer besten Waffen beraubt hatte, dazu bereit, ihr den Gebrauch in gewissem Ausmaß zurückzuerstatten?
»Nun, gut. Ich bin einverstanden. Küßt mich also«, sagte sie in resigniertem, für ihn nicht eben schmeichelhaftem Ton.
Nicolas de Bardagne geriet trotzdem fast außer sich vor Freude.
»Geliebte!« stammelte er. »Endlich werdet Ihr mir gehören.«
»Wir haben von einem Kuß gesprochen, Monsieur.«
»Das Paradies! . Ich verspreche Euch, daß ich mich sehr respektvoll verhalten werde.«
Es kostete ihn Mühe, sein Versprechen zu halten. Der schwer errungene Sieg verlieh ihren Lippen, die er sich weniger verschlossen gewünscht hätte, all seine Süße. Doch er brachte es zuwege, sich taktvoll mit dem Gewährten zufriedenzugeben.
»Ah, wenn Ihr mir ausgeliefert wäret«, seufzte er, während sie sich ihm entzog, »würde es mir schon gelingen, Euch aufzutauen.«
»Seid Ihr mit den Mitteilungen am Ende, die Ihr mir zu machen wünschtet, Monsieur? Ich fürchte, ich werde mich zurückziehen müssen.«
»Nein, ich bin noch nicht am Ende . Leider muß ich zu weniger erfreulichen Perspektiven zurückkehren. Meine Liebe, was mich veranlaßt hat, Euch heute abend aufzusuchen, ist, abgesehen von dem glühenden Wunsch, Euch wiederzusehen, der mit meinen Pflichten ganz und gar nicht in Einklang befindliche Drang, Euch vor dem zu warnen, was sich gegen Eure Person zusammenbraut. Euer weiteres Schicksal flößt mir Besorgnis ein. Ah, warum habt Ihr mich nur so behext! Ich habe die Hoffnung kennengelernt, danach die Angst, und nun wird mir auch noch der Schmerz zuteil. Denn Ihr habt mich belogen, Ihr habt mich wissentlich getäuscht.«
»Ich? . Ich verwahre mich dagegen.«
»Ihr habt mir gesagt, daß Ihr durch die bewußte Gesellschaft in diese Stellung gebracht worden seid. Aber das ist nicht wahr. Baumier hat Euren Fall untersucht und ohne jeden Zweifel festgestellt, daß keine der Damen vom Heiligen Sakrament sich mit Euch abgegeben hat noch Euch überhaupt kennt.«
»Was nur beweist, daß Monsieur Baumier schlecht unterrichtet ist.«
»Nein!«
In der Stimme des Statthalters schwang ein unheilkündender Unterton.
»Es beweist, daß Ihr lügt. Denn die Ratte Baumier ist im Gegenteil sehr gut informiert. Er nimmt einen hohen Rang in der geheimen Gesellschaft ein, einen viel höheren als ich. Aus diesem Grunde sehe ich mich auch häufig gezwungen, ihn mit Vorsicht zu behandeln. Es mißfällt mir, ihn mit Euch beschäftigt zu sehen, aber ich kann es nicht hindern. Durch den Bericht eines meiner Spione erfuhr ich, daß er sich sehr bemüht herauszufinden, wer Ihr eigentlich seid.«
Er näherte sich ihr noch mehr und flüsterte:
»Sagt mir, wer seid Ihr?«
Er versuchte sie wieder in seine Arme zu nehmen, aber sie machte sich steif, niedergeschmettert von dem, was sie gehört hatte.
»Wer ich bin? Eure Frage ist gegenstandslos. Ich bin nur eine einfache .«
»Oh, nein! Ihr fahrt fort zu lügen. Haltet Ihr mich für einen Dummkopf? Im ganzen Königreich Frankreich gibt es keine einfache Dienstmagd, die einen so wohlformulierten, so schnell und sicher verfaßten Brief zu schreiben vermöchte wie den, den Ihr mir kürzlich habt überbringen lassen. Er hat mich zugleich betrübt und mit Freude erfüllt, vor allem aber hat er meinen Eindruck bestätigt, daß Ihr Eure wahre Identität unter einem angenommenen Namen und geborgten Kleidungsstücken verbergt. Vom ersten Augenblick an, in dem er Euch sah, hat Baumier den gleichen Verdacht gehegt ... Ich höre, wie Euer Herz klopft ... Ihr seid erschrocken. Könnte er Euch schaden, wenn er irgend etwas entdeckte? Seht, Ihr antwortet nicht . Warum vertraut Ihr mir nicht, mein Engel? Ich bin zu allem bereit, um Euch zu retten. Als erstes müßt Ihr diese trübseligen Hugenotten verlassen, mit denen zusammenzuleben Euch nachteilig ist. Wenn man sie verhaften wird und Euch bei ihnen findet, werdet Ihr den Nachforschungen der Polizisten nicht entgehen. Ihr dürft also in diesem Augenblick nicht mehr bei ihnen sein. Ich kann Euch und Eure Tochter auf eines meiner Besitztümer im Berry bringen. Später, wenn sich diese ReligionsAuseinandersetzungen erst wieder beruhigt haben und Baumier sich mit anderen Dingen beschäftigt, bringe ich Euch nach La Rochelle zurück . als meine Frau natürlich.«
Da er fürchtete, daß sie das ganze Ausmaß seiner Ergebenheit nicht erfaßt habe, wiederholte er würdig: »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber ich werde Euch trotzdem heiraten!«
Angélique fühlte sich nicht imstande, auch nur ein einziges Wort zu äußern. Die Enthüllungen, mit denen dieser Tag endete, versetzten sie in einen Zustand dumpfer Bestürzung. Er hielt sie noch einmal zurück, als sie sich schweigend zum Gehen wandte.
»Wohin wollt Ihr. Wahrhaftig, Ihr seid eine merkwürdige Frau. Ihr habt mir nicht einmal geantwortet. Werdet Ihr meinen Vorschlag überlegen?«
»Ja, ganz gewiß.«
»Ihr habt es mir schon einmal versprochen. Aber zögert nicht zu lange. Ich muß morgen für einige Tage nach Paris reisen, wohin ich zur Sitzung des königlichen Rats berufen wurde. Wenn Ihr gleich eingewilligt hättet, mir zu folgen, hatte ich Euch auf dem Weg im Berry abgesetzt.«
»Ich kann mich nicht so schnell entschließen.«
»Kann ich mich wenigstens darauf verlassen, daß Ihr mir nach meiner Rückkehr Eure Antwort gebt?«
»Ich werde es versuchen.«
»Sie muß positiv auffallen! Baumier ist geschickt und überaus hartnäckig. Ich fürchte für Euch.«
Er versuchte sie noch einmal zu umarmen, aber sie entwand sich ihm und schloß die Pforte. Einen Augenblick blieb sie unbeweglich in der Dunkelheit des Hofes stehen, dann lief sie wie eine Gehetzte dem Hause zu.
Sie stieß auf Maître Gabriel, der sie am Arm festhielt.
»Was hat er Euch gesagt? Warum seid Ihr so lange geblieben? Er hat Euch überredet, mit ihm zu gehen, nicht wahr?«
Sie riß sich von ihm los, um zur Treppe zu flüchten. Doch er bekam sie wieder zu fassen und zwang sie mit hartem Griff stehenzubleiben.
»Antwortet!«
»Was soll ich Euch antworten? Ah, ihr alle seid verrückt! Ihr seid unvernünftiger als Kinder, ihr Männer. Und dennoch ist der Tod uns nah. Er belauert euch. Morgen schon wird er vielleicht kommen. Eure Feinde stellen schon die Fallen für euch auf. Sie werden über euch zuschnappen. Und woran denkt ihr?
. Einen Rivalen mit eurer Eifersucht zu verfolgen, eine Frau zu umarmen .«
»Er hat Euch umarmt?«
»Und wenn er mich umarmt hätte, was läge daran! Morgen werden wir alle im Gefängnis sein, morgen werden wir weniger als Leichen sein, deren Namen man auf einen Stein über ihre Gruft geschrieben hat. Wir werden lebendig Eingemauerte in einem Gefängnis sein . Ihr wißt nicht, was ein Gefängnis ist. Ich weiß es.«
Sie entkam ihm von neuem.
Er mußte nach ihr greifen, sie mit seinen kräftigen Armen umfangen, um sie zu halten.
Das Öllämpchen auf dem Treppenabsatz warf ihr mattes Licht über sie, und in dem Ungewissen Halbdunkel schien Angéliques Gesicht, dessen Erregung ihre Schönheit noch vervielfachte, wie aus einer übernatürlichen Welt hierher verschlagen zu sein. Er hielt ein irrendes Phantom in seinen Armen, menschlichen Augen nur sichtbar dank den Zauberkräften einer verwünschten Nacht. Schon war sie nicht mehr eine der ihren.
»Wohin lauft Ihr? Ihr werdet alle Welt närrisch machen.«
»Ich will meine Tochter und Laurier holen. Wir müssen fort.«
Er fragte sie nicht, wohin.
Er betrachtete sie, als ob er sie nicht genau sähe mit ihrem angespannten Ausdruck, ihren von Angst geweiteten Augen. Sie ähnelte jener Frau, der er mit seinem Knüppel auf der Straße nach Les Sables d’Olonne zu Leibe gegangen war und deren grüne Augen, bevor sie ihren Glanz verloren, ihn so schmerzlich angeblickt hatten. Sie ähnelte heute jener elenden, auf der schlammigen Straße nach Charenton aus einem Regenvorhang aufgetauchten Frau, die alles das symbolisierte, was es auf der Welt an geschändeter Schönheit, verhöhnter Unschuld, hartherzig verurteilter Ohnmacht gab, jener Frau, die so oft im Laufe der Jahre in seinen Träumen erschienen war, daß er sie schließlich die »Frau des Schicksals« genannt und sich angstvoll gefragt hatte, was sie ihm eines Tages zu sagen hätte, wenn der Klang ihrer Stimme zu ihm dränge. Denn er sah sie die Lippen bewegen, aber er hörte nicht, was sie zu ihm sprach.
Und an diesem Abend nun sprach sie zu ihm. Er hatte die unabänderlichen Worte gehört, die seit Jahren für ihn bestimmt waren: Wir müssen fort.
»Jetzt? Mitten in dieser schwarzen Nacht? Ihr seid es, die von Sinnen ist.«
»Glaubt Ihr, daß ich warten werde, bis die Dragoner des Königs hier eindringen, um uns zu massakrieren? Daß ich warten werde, bis Baumier mich verhaftet und der Justiz des Königs ausliefert? Daß ich warten werde, bis Laurier weinend in einem jener Karren davonfährt, die jeden Tag die Stadt verlassen und die hugenottischen Kinder fortschaffen, man weiß nicht, wohin? Ich habe genug Kinder weinen und schreien und um Hilfe rufen hören. Ich habe genug Gefängnisse und Gefängniswärter und getäuschte Hoffnungen und Ungerechtigkeiten kennengelernt. Es steht Euch frei, die gleichen Erfahrungen zu machen. Ich jedenfalls gehe mit den Kindern fort . Ich gehe aufs Meer.«
»Auf’s Meer?«
»Jenseits des Meers gibt es neue Länder, nicht wahr? Dort werden mich die Leute des Königs nicht erreichen können. Nur dort werde ich die Sonne wieder strahlen und die Blumen sprießen sehen. Selbst wenn ich nichts anderes besäße - das bliebe mir.«
»Ihr faselt, mein armes Kind.«
Weil er sich nicht erregte und seine Stimme voller Zärtlichkeit war, ließ Angéliques Spannung nach.
Sie fühlte sich unendlich müde, wie ausgeleert.
»Die Aufregungen dieses Tages haben Euch übel mitgespielt«, begann er wieder. »Ihr seid am Ende.«
»Ja, ich bin am Ende«, murmelte sie. »Wißt Ihr, daß dieser Zustand hellsichtig macht, Maître Gabriel? Ich bin nicht verrückt. Ich sehe nur, wo ich stehe: am Ende. Hinter mir nähert sich eine Koppel rasender Hunde. Vor mir breitet sich das Meer. Ich muß fort. Ich muß die Kinder retten. Ich muß meine Tochter retten. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, daß sie von mir getrennt wäre, gleichgültigen Menschen überlassen, verzweifelt nach mir rufend, ein von allen verleugnetes, einsames, kleines Bastardkind . Versteht Ihr, warum ich nicht das Recht habe, mich fangen zu lassen? Nicht einmal das Recht zu sterben?«
Sich von neuem von ihm zu lösen versuchend, fügte sie hinzu:
»Laßt mich, laßt mich los. Ich muß zum Hafen.«
»Zum Hafen? Wozu?«
»Um mich einzuschiffen.«
»Glaubt Ihr, daß sei so leicht? Wer wird Euch aufnehmen? Und wie wollt Ihr Eure Passage bezahlen?«
»Wenn es nötig ist, werde ich mich dem Kapitän eines Schiffs verkaufen.«
Er schüttelte sie wütend.
»Wie könnt Ihr es wagen, so skandalöse Worte auszusprechen?!«
»Sähet Ihr es lieber, wenn ich mich Monsieur de Bardagne verkaufte? Wenn ich mich schon einem Mann verkaufe, soll es der sein, der mich so weit wie möglich von hier fortbringt.«
»Ich untersage Euch, dergleichen zu tun, versteht Ihr? Ich untersage es Euch.«
»Ich werde vor nichts zurückscheuen, und ich werde fortgehen!«
Sie schrie, und das Echo ihrer Stimme hallte durch das alte Haus, von dessen gewirkten Tapeten sich die fahlen oder kräftig geröteten Reeder- und Kaufmannsgesichter in ihren hölzernen Rahmen abhoben. Niemals hatten diese Generationen jemand so schreien und so unziemliche Worte aussprechen hören.
Von oben war das Geräusch hastiger Schritte zu vernehmen, und der Pastor, Abigaël und Tante Anna beugten sich mit Kerzen über das Geländer.
»Einverstanden«, sagte Maître Gabriel. »Ihr geht fort . aber wir gehen alle.«
»Alle?« wiederholte Angélique, die ihren Ohren nicht traute.
Der harte Gesichtsausdruck des Kaufmanns verriet seinen Schmerz und seine Entschlossenheit.
»Ja, wir gehen fort . Wir werden das Haus unserer Väter, die Früchte unserer Arbeit, unsere Stadt verlassen . Wir werden uns das Recht erobern, auf einer fremden Erde zu leben . Zittert nicht, Dame Angélique, meine Liebe, meine Schöne . Ihr habt recht. Der Boden versinkt unter unseren Schritten, und wir sind feige genug, unsere Kinder, die erst zu leben beginnen, in unseren Untergang hineinzuziehen. Vergeblich versuchen wir, uns blind zu machen. Heute habe ich in den Abgrund gesehen . und ich wußte, daß ich Euch nicht verlieren wollte . Wir gehen fort.«
Zwanzigmal am Tag blickte sie auf das Meer hinaus. Über den Wall hinweg sah sie bis in die Ferne seine grauen Wogen tanzen.
»Entführe mich! Entführe mich!« flüsterte sie.
Aber sie mußte warten. Sie hatte die Notwendigkeit dafür eingesehen. Zwei Tage waren verstrichen, seitdem Angélique gemeinsam mit Maître Berne die Leichen in den Brunnen des Papierhändlers Mercelot geworfen hatte.
Das Leben nahm nach außen hin seinen üblichen Lauf. Weder am Portal noch bei den Lagerhäusern hatte sich ein Polizist gezeigt. Man war versucht zu glauben, daß nichts geschehen würde und daß es genügte, sich einzureden, daß auch nichts geschehen war. Daß das Dasein friedlich war, daß es nichts anderes zu tun gab, als den Fleischtopf über die Flamme zu hängen und an einem sonnigen Nachmittag nach Majoran duftendes Leinen zu bügeln.
Vergeblich bestand Honorine jeden Abend darauf, die hölzernen Läden vor den Fenstern zu schließen. Das Haus war deswegen nicht weniger bedroht. Man spürte, daß es ebenso wie seine Bewohner mit einem unsichtbaren Mal gezeichnet war. Die Stadt umschloß sie wie eine Falle. Denn der Hafen, das Vorzimmer der Freiheit, war der Tummelplatz einer kleinlichen Polizei. Die Schiffe wurden einer peinlich genauen Kontrolle unterworfen. Und um frei atmen zu können, genügte es nicht, mit entfalteten Segeln die Schwelle des Hafens zwischen dem Kettenturm und dem Saint-Nicolas-Turm zu überqueren, Richelieus Deich zu umsegeln und das Rund der weißen Klippen hinter sich zu lassen. Die Schiffe der königlichen Marine kreuzten vor der Ile de Ré. Sie kreuzten dort, um die Flucht der Verdammten zu verhindern.
Die Kinder tanzten um den Palmbaum. Ihre schrillen Stimmen drangen bis zu Angélique, zusammen mit dem rhythmischen Klappern ihrer kleinen Holzschuhe auf dem Pflaster des Hofs.
»Zum Miesmuschelfang
will ich nicht mehr gehn, Mama.
Die Jungs aus Marennes nehmen mir meinen Korb, Mama.«
Eine ganze Schar kleiner Nachbarkinder war es, die ihre zum Rat der Alten berufenen Eltern mitgebracht hatten.
Die gestickten Häubchen der kleinen Mädchen, die bunten Schürzen über den dicken, runden Röcken waren wie Blumen, die die Reihe der dunkelgekleideten Jungen unterbrachen.
Auf allen Schultern hüpften blonde, braune oder rote Locken, die Wangen waren rosig, die erhobenen Augen glänzten wie Sterne.
Alle Augenblicke ließ Angélique ihr Bügeleisen im Stich, um sich aus dem Fenster zu beugen und nach ihnen zu schauen.
»Jeden Augenblick«, dachte sie, »kann die Einfahrt sich öffnen, können schwarzgekleidete Männer eintreten oder bewaffnete Soldaten, die die Kinder an den Händen nehmen und für immer fortbringen.«
Die Herren des Konsistoriums traten auf den Treppenabsatz hinaus. Ihre Frauen, die sich solange bei Tante Anna aufgehalten hatten, gesellten sich zu ihnen. Langsam stiegen sie die Treppe hinunter. Sie sprachen gedämpft wie im Hause eines Toten.
Bald darauf erschien Maître Gabriel in der Küche. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. Doch diesmal griff er nicht wie sonst nach seiner langen holländischen Pfeife, die ihm für gewöhnlich die Mußestunden verschönte.
Während er sprach, vermied er Angéliques Blick.
»Wir haben soeben entschieden, nach Santo Domingo zu gehen«, sagte er. »Unsere Gruppe besteht aus etwa zehn Familien, von zwei Pastoren
- Beaucaire und seinem Neffen - begleitet. Sie alle sind entschlossen, das Abenteuer zu wagen und ihr Glück auf fremder Erde zu suchen. Für einige wird es nicht eben leicht sein: der Papierhändler Mercelot, der Advokat Carrère wollen mit ihrer ganzen Brut die Reise mitmachen. Wie kann man sie auf den Inseln verwenden? Sogar bei den Fischern wie Gasserton und Malire habe ich Bedenken, ob sie dort drüben ihren Beruf wieder ausüben können. Denn man lebt dort vor allem von den Pflanzungen: Zuckerrohr, Tabak, Kakao.«
»Der Kakao interessiert mich«, rief Angélique lebhaft. »Früher habe ich mich einmal mit der Schokoladenfabrikation beschäftigt, und ich verstehe etwas von der Auswahl der Stauden.«
Sie träumte bereits. Sie sah sich frei, mit einem großen Strohhut, wie ihn einstmals ihre Mutter getragen hatte, eine smaragdene Pflanzung durcheilen, gefolgt von Laurier und Honorine, die saphir- und goldfarbene Schmetterlinge fingen.
Das Licht füllte ihre grünen Augen, als überfluteten sie schon die magischen Reflexe des Karibischen Meers und der Palmen.
Maître Gabriel betrachtete sie heimlich mit melancholischem Blick. In nur wenigen Tagen hatte er gelernt, alle Nuancen einer Schönheit zu genießen, die zu würdigen er sich bisher untersagt hatte. Er machte sich heftige Vorwürfe, kehrte jedoch unaufhörlich zu diesem Gesicht zurück, auf dem das intensivste und dennoch geheimste Leben blühte. »Sie ist wie eine Fackel unter uns erschienen«, sagte er sich. Sie erleuchtete, aber niemand wußte etwas von ihr. Heute bügelte sie mit Sorgfalt gestärkte Hauben. Die heißen Dampfe, die von dem feuchten Linnen aufstiegen, röteten ihre Wangen. Flink und geschickt erledigte sie ihre Aufgabe, doch ihre großen Augen waren unergründliche Tiefen, und es war weniger das Verlangen als das Rätsel ihrer mysteriösen Vergangenheit, das ihn beunruhigte und dazu trieb, sie mit geschärfter Aufmerksamkeit zu studieren.
Die Äußerungen, die ihr zuweilen entschlüpften, machten im Geiste des Kaufmanns ihren Weg, und er bemühte sich, die einzelnen Bruchstücke, so verschieden sie auch waren, zusammenzusetzen. Hatte sie nicht gesagt, sie habe sich mit Kakaogeschäften befaßt? Unter welchen Umständen? Ihre kommerzielle Tüchtigkeit, besonders in allem, was das Meer betraf, war ihm nicht entgangen. Aber wo gab es eine Verbindung zwischen der, die er wie einen Engel des Elends im grauen Schlamm des Weges nach Charenton hatte auftauchen sehen, und jener anderen, die ihm mit verstörter Miene zugerufen hatte: »Sie sind in mein Schloß eingedrungen, sie haben meine Diener umgebracht .«?
»Eine Abenteuerin!« sagte Madame Manigault kategorisch, indem sie den Finger an ihre Nasenspitze legte. »Meine Witterung hat mich noch niemals getäuscht.«
Angélique begegnete dem durchdringenden Blick ihres Beschützers und lächelte ihm ein wenig bedrückt zu. In stummem Einverständnis hatten sie beschlossen, zu »vergessen« und den Anschein ihrer ungestörten guten Beziehungen bis zur Abreise aufrechtzuerhalten. Sie war ihm dankbar dafür, daß es gelang. Die harte hugenottische Erziehung hatte Maître Gabriel daran gewöhnt, seine Leidenschaften zu beherrschen. Von Natur aus aufbrausend und sinnlich, war es ihm gelungen, sich durch Gebet und Willenskraft zu jener umsichtigen, ruhigen und einer asketischen Lebensweise fähigen Persönlichkeit zu entwickeln, die alle Welt in La Rochelle schätzte und sogar ein wenig fürchtete. Das Resultat dieser Umformung war dauerhaft. Er würde die Konsequenzen der Krise, die ihn erschütterte, in der Stunde der Gefahr nicht auf die anderen abwälzen. Er war vernünftig genug zu erkennen, daß sie, falls man den Dingen ihren Lauf ließ, sich wie eine von Panik ergriffene Schafsherde ins Unglück stürzen würde.
Dank ihm und seinem beherrschten Gesicht war wieder so etwas wie Friede ins Haus gekommen. Angéliques Nerven beruhigten sich. Die moralische Kraft des Kaufmanns strahlte auf sie über und ließ sie ihre Angst ertragen. Doch zuweilen breitete sich auch zwischen ihnen lastendes Schweigen.
»Wie werden wir fortgehen?« fragte sie.
Die Züge des Kaufmanns hellten sich auf.
»Stellt Euch vor, es grenzt an ein Wunder, wie ihr Papisten sagt. Der Reeder Jean Manigault, bisher ein Feind aller Pläne, La Rochelle zu verlassen, hat sich plötzlich dazu entschlossen, zu uns zu stoßen. Ein kürzliches Mißgeschick hat ihn seine Meinung an-dern lassen: sein Sohn Jérémie wurde ihm entführt, als er die Unvorsichtigkeit beging, einer vorbeiziehenden Prozession zuzusehen. >Man< hat darin den Wunsch nach Bekehrung gesehen, und da der Kleine das siebente Jahr schon überschritten hat, brachte man ihn ins Haus der Pauliner. Es hat Manigault ein Vermögen gekostet, ihn dort wieder herauszuholen. Doch diese Befreiung ist nur vorübergehend. So reich er ist, zittert Manigault dennoch um sein Kind. Also will er fort. Sein Entschluß wird unser Unternehmen erleichtern. In Santo Domingo besitzt er schon zahlreiche Faktoreien, und wir werden deshalb mit einem seiner eigenen Schiffe reisen können. Sein Plan, der mir gut scheint, läuft darauf hinaus, eins seiner Handelsschiffe abzuwarten, das bald aus Afrika eintreffen wird. Vor Antritt ihrer neuen Fahrt zu den Inseln werden die Sklaven, die es mit sich führt, vorübergehend in den Lagerhäusern am Kai untergebracht. Manigault wird sie auf der für die Behörden bestimmten Passagierliste eintragen lassen. Aber im letzten Moment werden wir den Platz der Sklaven einnehmen. Wenn zwischen dem Augenblick, in dem wir vom Kai ablegen, und der Überquerung der äußeren Hafenlinie kein weiterer Besuch an Bord kommt, werden wir uns als gerettet betrachten können.«
»Aber die Sklaven!«
»Sie werden in den verschlossenen Lagerhäusern zurückbleiben, und man wird dafür Sorge tragen, sie mit Medikamenten zu betäuben, um zu verhüten, daß ihre Anwesenheit allzu früh ruchbar wird.«
»Der große Mut Monsieur Manigaults besteht also darin, auf den Gewinn einer kostbaren Ladung zu verzichten«, meinte Angélique, die zu praktischen Gedankengängen zurückfand.
»Wir werden noch auf allerlei andere Dinge verzichten müssen«, antwortete Berne nachdenklich. »Aber Manigault ist durchaus nicht derjenige, der am meisten zu bemitleiden wäre. Er rechnet, seine Geschäfte durch seinen Nachfolger hier fortführen zu können. Er wird eben nur in Santo Domingo und nicht mehr in La Rochelle sein. Das Geschäft bleibt dasselbe. Er hat sich schon seiner Rückendeckung versichert. Ich selbst habe ein wenig Geld in Holland und England plaziert. Darüber hinaus werden wir die Tage, die uns bleiben, dazu nützen, den größten Teil unserer Güter in Talersäcke zu verwandeln. Sie brauchen wenig Platz auf einem Schiff.«
»Werden diese Geschäfte nicht Verdacht erregen?«
»Wir werden vorsichtig vorgehen. Die Katholiken, mit denen wir es zu tun haben, wissen, daß die Protestanten zum Verkauf ihrer Güter gezwungen sind, um der doppelten Besteuerung nachkommen zu können.«
Angélique stellte die Frage, die ihr auf den Lippen brannte.
»Wann werden wir uns einschiffen?«
»In zwei oder drei Wochen.«
»Drei Wochen!« rief sie aus. »O Gott, wie lange das noch ist!«
Der Kaufmann erbebte und schien von einem jähen Groll gegen sie erfaßt.
»Es scheint mir sehr kurz, wenn es sich darum handelt, die eigenen Wurzeln aus dem Land seiner Väter zu reißen«, sagte er dumpf.
Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Verflucht seien die, die uns dazu zwingen!«
Sie hätte ihn gern um Verzeihung gebeten, aber aus Furcht, ihn noch mehr zu reizen, sagte sie nichts.
Sie selbst, die schon alles verloren hatte, begriff nur schwer, was die Protestanten an ihr klägliches, durch Verbote und Ungerechtigkeiten ersticktes Leben hier fesselte.
Aber wie der Bauer selbst dem undankbaren Boden verbunden ist, um dessen Früchte er ringt, und ohne Neid das ihm fremde fruchtbare Tal betrachtet, klammerten sich die Protestanten noch immer an ihr gefährdetes Geschick. Der bloße Gedanke an jene amerikanischen Inseln, jene Sonne, jene Freiheit, die man ihnen versprach, machte sie traurig.