Die Gewohnheit, sich inmitten eines aufgewühlten Meers zu behaupten, ein Hindernis nach dem andern zu bezwingen, sich abzuschirmen, hatte aus ihnen eine allen Stürmen widerstehende, hartnäckig an ihren Besitz sich klammernde Rasse gemacht. Seit zwei Jahrhunderten schon war die Verfolgung ihre Lebenssphäre. Ihre Stadt und deren Umgebung zu verlassen, schien ihnen nun viel unerträglicher als der geheime, unerbittliche Kampf, an den sie gewöhnt waren.

Nicht mehr unter dem immergrünen Himmel La Rochelles zu leben!

Zu denken, daß ihre Kinder die vertraute, von den Gerüchen des Meers erfüllte Luft nicht mehr atmen, ihre Füße nicht mehr in die Spuren ihrer Väter setzen würden!

Generationen kleiner Rochelleser waren barfüßig über den Sand des Strandes gelaufen, hatten Muscheln mit ihren Taschenmessern aufspringen lassen, hatten Austern geöffnet und im Schatten des Laternenturms deren frisches, bitteres Wasser getrunken, während die Flut in den Hafen zurückströmte und hier und da die hohen weißen Segel der großen Kauffahrteischiffe tanzen ließ.

All das zu verlassen .

»Drei Wochen sind kurz«, seufzte der Kaufmann, »und dennoch weiß auch ich, daß die Gefahr drängt. Aber wir müssen versuchen, alle Chancen auf unsere Seite zu bringen, und deshalb sind diese drei Wochen des Wartens durchaus das Risiko, das wir eingehen, wert. Denn in längsten drei Wochen wird die holländische Handelsflotte La Rochelle anlaufen. Ihr wißt wie ich, daß diese Leute nicht gern einzeln segeln, wie die Franzosen es tun. Sie schließen sich zusammen, und zweimal jährlich verlassen unter dem Schutz von Kriegsgaleeren wahre Flotten von Handelsschiffen Amsterdam oder Antwerpen. Nun ist Manigault in Holland versichert, was ihm gewisse Vorteile verschafft, unter anderem den, sich diesen Konvois anschließen und von ihrem Schutz profitieren zu können. Wir müssen also die Ankunft der Flotte abwarten, zumal sie im Hafen Unruhe und Unordnung schaffen wird, die unser Vorhaben begünstigen. Wenn wir inmitten dieser Herde die Segel hissen, werden wir ganz zwangsläufig der Kontrolle der königlichen Marine entgehen, die wahrhaftig viel zu tun hätte, wenn sie alle Welt ausfragen wollte. Auf diese Weise werden wir um die Prüfungen des letzten Augenblicks herumkommen. Sobald wir einmal den Hafen hinter uns haben - und ich wette, daß sich die Zivildeligierten der Admiralität an diesem Tage nicht kleinlich zeigen werden -, sind wir vor ihren Nachstellungen sicher.«

Angélique nickte zustimmend. Der Plan schien ihr vernünftig und geschickt. Dennoch ließ sie die Furcht nicht los. Die Wochen des Aufschubs schienen sich ihr endlos hinzuziehen. Was mochte inzwischen der Sire Baumier im Schatten anzetteln? Er war nicht der Mann, der seine Beute fahren ließ. Würde er nicht von der Abwesenheit Nicolas de Bardagnes profitieren, um Entscheidungen zu treffen, von denen er wußte, daß sie sein Vorgesetzter nicht guthieß? ...

Ein Schraubstock umklammerte Angéliques Herz, doch sie hob mutig den Kopf.

»Möge Gott Euch hören, Maître Gabriel.«

Der Küstenweg schlängelte sich durch trockenes, salzverkrustetes Gras. Er folgte der vielfach gekrümmten Uferlinie und führte von La Rochelle an steilen Einschnitten, Buchten und zackigen Felsvorsprüngen vorbei zu dem kleinen Weiler La Palice unmittelbar gegenüber der Ile de Ré. Grauer Sand machte das Vorankommen schwierig. Angélique kam nur langsam vorwärts.

Sie beunruhigte sich nicht darüber. Sie hatte genug Zeit vor sich, und obwohl sie es vorgezogen hätte, die Mission, mit der man sie betraut hatte, rasch zu Ende zu führen, begann sie diesen unvorhergesehenen Spaziergang zu genießen.

Honorine trottete unermüdlich an ihrer Seite. Seit dem Tag der Ermordung der beiden Polizeispitzel wollte Angélique sie nicht mehr zurücklassen, wenn sie fortging. Übrigens verließ sie nur noch selten das Haus. Nur mit Widerwillen betrat sie die Straße. Überall sah sie verdächtige Gestalten, und immer glaubte sie, in den Augen der Passanten ein rätselhaftes Ausweichen zu lesen. Das Netz um sie zog sich zusammen; sie war dessen sicher.

Die Stunden, die Tage verstrichen ruhig, aber Angélique schienen sie wie der Sand, der unter festen Fundamenten ins Gleiten kommt. Der Sand würde weiter und weiter gleiten, und plötzlich würde alles zusammenstürzen.

Um sie herum betätigten sich die Verschworenen der Flucht mit einer Emsigkeit, die ebenso bemerkenswert war wie die Verschwiegenheit, die ihre Aktivität umgab. Im Viertel hatte sich scheinbar nichts geändert. Man hätte niemand beschuldigen können, sein Gepäck zum Aufbruch vorzubereiten. Trotzdem gelangten jede Nacht mysteriöse Ballen zum Hafen. Die wunderlichsten Schätze fanden ihren Platz im Bauch der Sainte-Marie, des kürzlich von den afrikanischen Küsten eingelaufenen Sklavenschiffes. Ob arm oder reich, jeder packte zusammen, was ihm am meisten am Herzen lag. Zwar wollte man fort, aber deswegen hatte man noch lange nicht die Absicht, ohne eine bestimmte Steppdecke aus gelbem Satin zu schlafen, noch in einem anderen eisernen Topf zu kochen als dem, der schon der Zubereitung so vieler nahrhafter Mahlzeiten gedient hatte.

Der Reeder Manigault hatte lange Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die darauf bestand, die prachtvolle Fayencen-Sammlung mitzunehmen, die der Stolz ihrer Anrichte war und die ein namhafter, einstmals nach La Rochelle geflüchteter Hugenotte, Bernard Palissy, geschaffen hatte. Der Reeder tobte, gestand schließlich hier eine Schüssel, dort eine Suppenterrine zu, wollte aber seinerseits nicht auf seine Tabaksdosen aus ziseliertem Gold verzichten.

In den Lagerhäusern am Hafen mischte sich der Tiergeruch der schwarzen Sklaven von der Guineaküste, die sich über die Leiden des Exils durch den Gesang wehmütiger Klagelieder hinwegtrösteten, mit den Düften der Vanille, des Pfeffers und Ingwers. In den Eingeweiden der Sainte-Marie prüften Schmiede die Ketten, die zum Sklaventransport zu den Inseln dienen sollten. Nichts ließ vermuten, daß Passagiere ganz anderer Art deren Plätze einnehmen würden.

Der Gedanke, während der Fahrt im Sklavendeck hausen zu müssen, berührte Tante Anna überaus peinlich.

»Man wird dort nicht atmen können«, behauptete sie. »Und alle Kinder werden an Skorbut sterben.«

Mehrmals täglich sortierte sie die Bücher, die unbedingt mitgenommen werden mußten: die Bibel, eine mathematische, eine astronomische Abhandlung ... Der Stapel war noch immer zu hoch, und das alte Fräulein seufzte.

Angélique hatte in dem kleinen Laden eines Levantiners einen Vorrat Feigen und getrockneter Trauben für die Kinder gekauft. Von Savary wußte sie, daß sie den Ausbruch des Skorbuts zu verhindern vermochten: jenes von Blutungen des Zahnfleischs begleiteten Aufschwellens des ganzen Körpers, das gewöhnlich tödlich verlief.

Jedermann beschäftigte sich mit seinen Vorbereitungen. Jeder war überzeugt, daß alles gut vonstatten gehen würde. Und wirklich ließ sich auch alles gut an. Angélique schwankte zwischen festem Vertrauen und heimlicher Unruhe. Ihr Instinkt konnte sie nicht täuschen, und sie witterte bereits Bedrohungen, die noch keine Gestalt angenommen hatten. Aber wie solle man sie erkennen? War etwa die Tatsache als gefährliches Zeichen zu werten, daß Monsieur de Bardagne nicht von seiner Reise zur Hauptstadt zurückkehrte, oder jene andere, seltsamere, daß das Verschwinden der beiden zur Polizei gehörenden Männer weder Kommentare noch Nachforschungen in der Stadt ausgelöst hatte? ... Verbarg sich hinter dem kürzli-chen Beschluß des Polizeipräfekten, die Stadttore Tag und Nacht geschlossen zu halten und alle, die hinaus oder hinein wollten, mit größter Sorgfalt zu prüfen, eine Maßnahme zur engeren Überwachung der Hugenotten, oder mußte man im Gegenteil den Vorwand als stichhaltig ansehen: daß nämlich, wie behauptet wurde, Piraten die Küste unsicher machten? Zwar hatte man nicht wie im Mittelmeer bewaffnete Überfälle zu fürchten, aber die braven Kaufleute wußten sehr wohl, was sonst von ihnen zu erwarten war. Die Piraten warfen in der Umgebung Anker, mischten sich in der Stadt unter die Passanten, boten die Früchte ihrer Raubzüge zu konkurrenzlosen Preisen an, ohne auf die Einfuhr und Verkauf ihrer Waren lastenden Steuern bezahlen zu müssen. Es gab immer Händler, die sich in der Hoffnung auf einen ansehnlichen, steuerfreien Gewinn bereitfanden, mit ihnen halbpart zu machen. Traf es zu, daß in den letzten Tagen verdächtige Individuen beobachtet worden waren, die Pelzwerk aus Kanada feilgeboten hatten? War nur ihretwegen ein ganzes Dragoner-Regiment in die Stadt beordert worden? Was auch immer daran sein mochte - die Tore waren von nun an geschlossen und wurden streng überwacht.

Aus diesem Grund war Angélique beauftragt worden, Martial und Séverine von der Ile de Ré abzuholen. Früher wäre es Maître Gabriels Aufgabe gewesen, seine beiden ältesten Kinder zu gegebener Stunde zurückzuschaffen, aber den Protestanten gelang es nur noch unter größten Schwierigkeiten, die Stadt zu verlassen. Man notierte ihre Namen, befragte sie lange, zählte sie und unterwarf sie bei der Rückkehr der gleichen Prozedur.

Andererseits drängte die Zeit. Die heimliche Abfahrt stand unmittelbar bevor. Die holländische Flotte war bereits angekündigt.

Wie oft hatte Angélique sich nicht schon aus dem Fenster gebeugt und Anselme Camisot drüben auf dem Wall gefragt:

»Sind die Holländer schon in Sicht?«

Der Wächter des Laternenturms schüttelte verneinend den dicken Kopf.

»Noch nicht. Warum so ungeduldig, Dame Angélique? Solltet Ihr einen Anbeter unter ihnen haben?«

Schon ging das Gerücht um, daß sie in Brest Anker geworfen hätten. In zwei bis drei Tagen mußten sie hier sein. Am Horizont würden ihre Segel aufblühen. In ein paar Stunden würde das Meer weiß und voller Bewegung sein wie ein Strand voller Vögel. Derbe Burschen mit rauhen, kehligen Stimmen, deren Hautfarbe an die rosige Tönung des Schinkens erinnerte, würden den Hafen überfluten.

Und eine Handvoll gejagter Männer, Frauen und Kinder würden sich in einer dunklen Nacht hastig an Bord eines Schiffes schleichen, Schatten nur, flüsternde Stimmen, Weinen der kleinen Kinder, die man durch sanftes Wiegen zu beruhigen suchte ...

Sie entflohen der Stadt, ihrer Stadt, der Stadt ihrer Väter. In dieser Nacht würde das stolze protestantische La Rochelle die Früchte seiner Niederlage ernten .

Unten im Schiffsbauch würden sie angstvoll die Abfahrt erwarten, auf die von fern her dringende Befehle, den Schritten über ihren Köpfen lauschend. Die Schiffsplanken würden knarren. Sie würden spüren, wie das Schiff sich zu regen begann, wie die Bewegung der See sich allmählich zu ungebrochenem Wogen wandelte. Später käme der Augenblick, in dem sie endlich ohne Gefahr aus dem übelriechenden Sklavenraum an Deck klettern könnten. Das Meer um sie herum wäre verlassen, und sie würden am leeren Horizont das Bild ihrer Freiheit erkennen.

Tief sog Angélique die mit dem Geruch des Salzes und des bitteren Wermuts gesättigte Luft in ihre Lungen. Die kleinen dunkelgelben Blüten sprossen in den Tälern zwischen den Dünen. Honorine pflückte sie eifrig.

»Beeil dich, Liebling«, sagte Angélique.

»Ich bin müde.«

»Dann werde ich dich eben tragen.«

Sie kniete nieder, und das Kind kletterte auf ihren Rücken.

Es tat ihr wohl, sich im Gehen gegen den Wind zu stemmen und dabei die Last dieses leichten Bündels zu spüren. Honorines zerzaustes, seidiges Haar streichelte ihr die Wangen. Sie hörte das Mädelchen lustig lachen. Sie liebte das von tausend Geräuschen - dem des Windes, der Brandung auf dem Geröll am Fuß der Klippe, der Vogelschreie, die sich aus den Binsen erhoben - erfüllte Schweigen der Heide. Angélique stellte fest - und sie war überzeugt, Honorine teile ihre Meinung -, daß sie beide nicht für die Stadt geschaffen waren. Außerhalb der Wälle fanden sie unversehens die Umgebung wieder, in der sie sich zu Hause fühlten: die Heide, den weiten Horizont und die Anziehungskraft dessen, was sich jenseits von ihm wie ein Versprechen verbarg. Dieses Land lag flach, ohne Wälder, nackt unter dem ungreifbaren Schleier eines grünlichen Nebels, der an diesem Tage die aus Dünen, Mooren und dürftigen Feldern bestehende Ebene ins Unendliche dehnte. Zur Rechten war in der Ferne eine Ansammlung elender Hütten zu sehen: der Weiler Saint-Maurice.

Auf der Seite des Meers erhob sich von Richelieus Deich noch immer der von Muscheln umkleidete Steinhaufen, flankiert von kreuzweise verbundenen Balkenstümpfen, die faulend in der Strömung versanken.

Angélique warf nur einen zerstreuten Blick hinüber. Vor ihr öffnete sich das Meer von Pertuis, die Enge zwischen den Inseln von Oléron und Ré, noch vom Land umfangen, doch schon durchtränkt von der Grenzenlosigkeiten des Ozeans.

Honorines kleine Arme klammerten sich fester um ihren Hals.

»Freust du dich?« fragte sie ihre Mutter mit der nachsichtigen Sanftmut, die verzogenen Kindern vorbehalten ist. »Ja, ich freue mich«, erwiderte Angélique.

Und es war wahr. Die Zeit der Befreiung war nahe. Aus dem Anblick dieser noch wilden, von den Menschen und ihren Leidenschaften unabhängigen Landschaft gewann sie die Sicherheit, daß das Meer sie nicht im Stich lassen würde. Eine neue Seite ihres Lebens würde aufgeschlagen werden.

Welche Beschwernisse sich auch auftürmen mochten, sie würde dieses Leben mit einem neuen Herzen bestehen, befreit von einem Druck, der ihr ganzes Dasein belastet hatte. Auf dieser alten Erde ließ sie nichts als ein kleines Grab am Rande des Forstes von Nieul nahe einem weißen, zerstörten Schloß zurück. Und als einzige Habe nahm sie ihre Tochter mit, das ihr ans Herz gewachsene Kind, ihre Freundin.

Nur noch einige Stunden, und sie würde in jene Zone der Ruhe eintreten, in der die vom Sturm erschöpften Vögel sich wie berauscht von sanften Winden dahintragen lassen.

Das Glück war nahe.

»Sing mir ein Lied, wenn du dich freust«, schloß Honorine.

Angélique lachte auf. Ihre Tochter würde immer die guten Gelegenheiten beim Schopf ergreifen.

Sie begann Florimonds Lieblingslied zu trällern, das Lied von der grünen Mühle. Es ging darin um eine grün umrankte Mühle, einen Teufel, der sie sich aneignen wollte, und den Eigentümer, der sich dagegen wehrte. Die Geschichte war lang.

Während sie sang, entfernte sich Angélique vom Rande der Klippen. Sie mußte nun ein Stück der Heide durchqueren, um wieder auf den Karrenweg zu stoßen, auf dem sie den kleinen Hafen La Palice erreichen würde, dessen erste Hütten schon in der Ferne sichtbar waren.

»Schau doch, dort drüben!« rief Honorine. »Ich sehe den Teufel von der grünen Mühle.«

Ihre Mutter wandte mechanisch den Kopf, um mit dem Blick der Richtung des ausgestreckten kleinen Fingers zu folgen, und was sie sah, verschlug ihr den Atem.

Fast genau an der Stelle, wo sie sich hätten befinden müssen, wenn sie nicht vom Uferweg abgewichen wären, tauchte eine Gestalt auf. Angélique war schon zu weit entfernt, um die Gesichtszüge der Erscheinung erkennen zu können. Was sie sah, war ein hagerer, hochgewachsener, düster gekleideter Mann, in einen weiten schwarzen Mantel gehüllt, in dem sich der Wind verfing.

Es war Mephisto!

Im selben Augenblick trieben dichtere Schwaden jenes den Ausblick verschleiernden Nebels vom Meer her über die Küste, und Angélique fand sich inmitten einer traumhaften Unwirklichkeit, in der allein der schwarze Flügel des weiten Mantels unheimlich le-bendig schien.

Es schien ihr, als habe sie aufgehört zu leben oder zumindest, als habe ihr Geist sie jäh verlassen, um sich in jenes Land zu begeben, in dem die Ungewissen Phantasievorstellungen Gestalt annehmen, wo der Traum greifbar wird, während sich die Konturen der Wirklichkeit verwischen.

So mußte es sein, wenn man wahnsinnig wurde.

So oft hatte sie an den scherzenden Wunsch des Sieur Rochat gedacht - »Ich wünschte, daß der Rescator vor La Rochelle Anker würfe!« -, und nun sah sie ihn vor sich. Sie lebte inmitten des in allen Einzelheiten von ihren Wunschvorstellungen geschaffenen Bildes.

Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hatte Angst.

Dann glitt der feuchte Atem des Nebels vorüber. Die Farben des Meers nahmen von neuem ihren lebhaften Glanz an. Alles wurde wieder klar, scharf, deutlich umrissen, und selbst La Rochelle wurde in der Ferne sichtbar, weiß und gezackt wie eine Krone aus purem Silber. Der seltsame Mann hob den Arm. Er näherte seinen Augen ein lang ausgezogenes Fernrohr und beobachtete die Stadt. Er hatte jetzt menschliche Substanz bekommen, und wenn seine tintig-schwarze Gegenwart am lichtüberströmten Klippenrand auch nach wie vor beunruhigend blieb, wirkte sie doch weder gespenstisch noch diabolisch.

Fest auf seinen in Lederstiefeln steckenden Beinen stehend, nahm er sich zur Beobachtung Zeit. Dann ließ er das Fernrohr sinken und schien anderen, noch unsichtbaren Personen unten auf dem Strand Zeichen zu geben.

Angélique fand aus ihrer Benommenheit zum Bewußtsein der Situation zurück. Er würde sich umdrehen und die mitten in ihrer Bewegung erstarrte Frau bemerken. Warum war sie plötzlich so überzeugt, daß dieser Mann und diejenigen, die ihn begleiteten, keinen Wert darauf legten, beobachtet oder gar erkannt zu werden?

Sie sah sich um und lief eilig zu einem Tamariskengebüsch, hinter dem sie sich mit ihrer Tochter versteckte. In der sandigen Senkung ausgestreckt, vermochte sie nur wenig von dem zu sehen, was sich weiter vorn zutrug. Zwei Männer waren zu dem ersten gestoßen. Sie sprachen miteinander.

Dann verschwanden sie.

Sie hätte glauben können, geträumt zu haben, wenn nicht die gedämpften Laute menschlicher Stimmen und unregelmäßige, dumpfe Schläge an ihr Ohr gedrungen wären, die vom Hammer eines Zimmermanns hätten herrühren können.

Ein Windstoß trug ihr den scharfen, unverwechselbaren Geruch geschmolzenen Pechs zu. Über den Rand der Klippen, die an dieser Stelle eine ins Land einschneidende Bucht bildeten, erhob sich ein wenig Rauch.

»Rühr dich nicht«, sagte Angélique zu Honorine.

Doch Honorine dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Sich in eine Bodensenke zu ducken wie ein auf der Lauer liegendes junges Kaninchen, entsprach ihrer ungezähmten Natur und schien sie an die frühen Tage ihrer Kindheit zu erinnern.

Angélique schlich sich kriechend durch das Gras bis zum Rand.

Mitten in der Bucht entdeckte sie einen ankernden Dreimaster, der weder Wimpel noch Flagge trug. Ziemlich tief im Wasser liegend und verhältnismäßig groß, konnte er ebensogut ein Holländer wie ein Engländer, aber gewiß kein Franzose sein, und in keinem Fall gehörte er zur Flotte der Rochelleser Kabeljaufischer. Deren Fahrzeuge überschritten nie hundertachtzig Tonnen, und das Fahrzeug dort unten mußte wenigstens zweihundertfünfzig messen.

Was hatte ein Handelsfahrzeug in dieser eine Meile von La Rochelle entfernten und zum Ankern kaum geeigneten Bucht zu schaffen, denn es war bekannt, daß die steilen, aber niedrigen Klippen wenig Schutz boten und daß der Grund schlammig und ziemlich flach war. Nur Fischerbarken flüchteten sich gelegentlich hierher.

War es denn überhaupt ein Handelsschiff? Angéliques Augen hatten sich im Mittelmeer darin geübt, gewisse Maskierungen zu erkennen. Sie war sich jetzt sicher, daß das Schiff ein untergezogenes doppeltes Deck mit einer Batterie Kanonen besaß und daß die verkleideten, selbst auf nahe Entfernung fast unsichtbaren Stückpforten, wenn es nötig war, beim Öffnen die schwarzen Mündungen eines guten Dutzends Geschütze enthüllen würden.

Die scheinbar harmlosen Säcke, die an Deck dicht an der besonders breiten und hohen Bordwand aufgetürmt waren, schienen Feldschlangen zu verbergen. Die Anwesenheit eines Wachtpostens in ihrer Nähe war verräterisch genug.

Andere mit Planen bedeckte Haufen bestanden offensichtlich aus jenen langen Holzstangen, jenen Bootshaken und Strickleitern, deren man sich auf See bedient, um den Angriff eines andern Schiffes abzuwehren - oder selbst einen Angriff zu führen.

Eine Barke löste sich vom Schiff und steuerte dem Ufer zu. Angélique verlor sie aus dem Blick, als sie anlegte.

Vorsichtig schob sie sich weiter vor und hob vorsichtig den Kopf.

Die Stimmen klangen jetzt lauter zu ihr herauf; trotzdem vermochte sie nicht zu unterscheiden, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Unter sich bemerkte sie über einem im Geröll brennenden Feuer einen großen Kessel, in dem schwedisches Pech, auch Teer genannt, das zum Ausbessern der Schiffe diente, leise vor sich hin brodelte. Kleine Tonnen waren dicht daneben aufgereiht. Matrosen, von denen sie nur die Schultern und die struppigen oder mit leinenen Mützen bedeckten Kopfe sah, tauchten Wergsträhnen in den Teer und legten sie nebeneinander in Körbe, die offenbar darauf warteten, in die Barke verladen zu werden.

Deren Besatzung war zumindest seltsam. Jeder der vier Männer, die sie bildeten, entstammte einer anderen Rasse, und sie schienen sich zusammengetan zu haben, um im Verlaufe eines nautischen Festes ein Ballett der vier Weltteile aufzuführen. Einer von ihnen, mager und flink, hatte den gebräunten Teint und die großen Augen der mittelmeerischen Rassen: ein Sizilianer oder Grieche, vielleicht auch Malteser. Ein anderer, stämmig wie ein Bär unter seiner Pelzmütze, schien sich in seinem steifen Kasack und seinen Stiefeln aus Seehundsfell nicht rühren zu können. Der dritte war braun wie ein Pfefferkuchen und hatte leicht schräge Augen. Die Muskeln seiner mächtigen, nackten Arme traten hervor, während er ohne sichtbare Anstrengung eine Tonne von respektabler Größe, die Teerstücke enthielt, auf seinen Kopf hob

- zweifellos ein Türke. Der letzte, ein hochmütiger, gigantischer Maure, dachte nicht daran, an den groben Verrichtungen der anderen teilzunehmen, und begnügte sich damit, mit der Muskete im Arm die Umgebung zu überwachen.

»DiePiraten! ...«

Der Vorwand, den der Polizeipräfekt zum Anlaß genommen hatte, die Stadttore zu schließen, traf also zu. Die angeblich beobachteten Piraten existierten also wirklich. Ihre Kühnheit übertraf alle Vorstellungen: nur ein paar Kabellängen trennten sie vom Fort Saint-Louis in La Rochelle, und nicht viel weiter war es nach Saint-Martin de Ré, dem Liegeplatz des königlichen Geschwaders.

Die Segel waren so gegeit, daß sie sehr schnell gesetzt werden konnten: ein Zeichen dafür, daß es sich um ein auf der Lauer liegendes, beim geringsten Alarm segelfertiges Schiff handelte. Es mutete merkwürdig an, daß es sich unter solchen Bedingungen zum Kalfatern anschickte. Zweifellos sollte es oberflächliche Beobachter irreführen, die von der Küste oder von Bord eines kreuzenden Schiffes aus das Treiben des Dreimasters verfolgen mochten.

Das aus geringer Entfernung kommende Geräusch die Klippe hinabpolternden Gerölls ließ sie sich dichter an den Boden schmiegen. Einigermaßen überraschendes und unerwartetes Grunzen wurde hörbar, gefolgt von durchdringenden, schrillen Schreien, die unheilvoll hätten anmuten können, wenn sie nicht von zwei stämmigen Schweinen ausgestoßen worden wären, die von ihren Besitzern, Bauern aus dem Weiler Saint-Maurice, mit einiger Mühe zum Strand hinunter getrieben wurden. Der Matrose mit der Pelzmütze ging ihnen entgegen und begann die Preise auszuhandeln. Offenbar vertrugen sich die Bauern mit dem in ihrer Nachbarschaft ankernden Piratenschiff recht gut. Nichtsdestoweniger handelte es sich um eine Schiffsladung zu allem bereiter Abenteurer. Diese Piraten waren durchaus wirklich. Sie sah sie, hörte sie, berührte sie fast. Nur der Mann im schwarzen Mantel schien nicht wirklich, konnte es einfach nicht sein. Es war unmöglich, daß er leibhaftig gekommen sein sollte, um vor La Rochelle Anker zu werfen. Gerade er! ... Warum er? ... Sie hatte geträumt. Übrigens war er nicht mehr zu sehen. Abgesehen von dem reglos stehenden Wachtposten schien das Schiff verlassen. Sanft wiegte es die Dünung, und das Licht glänzte auf dem vergoldeten Schnitzwerk des Heckaufbaus, der durch seine Ansehnlichkeit und seinen Prunk frappierte. Seine Verzierungen wären auch durch eine königliche Galeere nicht in den Schatten gestellt worden, und Angélique glückte es, zwischen ihnen einen in goldenen Lettern geschriebenen seltsamen Namen zu entziffern: Gouldsboro.

Der leichte Druck einer kleinen Hand auf ihrem Arm brachte sie zu sich.

Honorine, der die Zeit offenbar lang geworden war, hatte sich mit der Vorsicht eines Kätzchens zu ihr geschlichen.

Ihr Anblick machte Angélique begreiflich, daß sie nicht hierbleiben konnten.

Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Piraten sie überraschten? Die Freibeuter der Meere standen nicht gerade in dem Ruf, zarte Seelen zu sein. Der Gefahr, in der sie schwebten, entsprechend, würden sie sich unerbittlich zeigen. Und wenn ihr Anführer wirklich jener Rescator war, den sie vorhin erkannt zu haben glaubte, hatte sie durch ihre Gefangennahme schon gar nichts zu gewinnen ...

Sich unter unendlichen Vorsichtsmaßnahmen von Düne zu Düne schleichend, gelang es ihnen, sich von der Küste zu entfernen. Als sie endlich den Karrenweg erreichte, nahm sie Honorine wieder auf den Rücken und hastete La Palice zu. Atemlos betrat sie das Gasthaus, in dem die Fischer ihr Glas Wein zu trinken pflegten, nachdem sie ihre Netze zum Trocknen ausgespannt hatten.

»Man möchte meinen, Ihr hättet den Teufel gesehen«, sagte die Wirtin, indem sie einen Krug Wein von der Ile de Ré vor sie hinstellte.

»Ja doch, wir haben ihn gesehen!« stimmte Honorine eifrig zu.

»Munter, die Kleine«, meinte die Frau lachend.

Angélique bat um Milch und eine Schnitte für ihre Tochter und um eine warme Brühe für sich. Den Wein lehnte sie trotz des Drängens ihrer freundlichen Gastgeberin ab, da er sie allzu müde gemacht hätte. Sie durfte nicht vergessen, daß sie hierhergekommen war, um Martial und Séverine abzuholen.

Zwei Stunden später betrat sie den Boden der kleinen Inselstadt Saint-Martin, in der es von den goldverbrämten blauen und roten Uniformröcken der königlichen Offiziere nur so wimmelte.

Sie fragte nach dem Weg und fand schließlich ohne Schwierigkeiten das Haus Madame Demuris’, der Schwester Maître Bernes. Noch bleich und ein wenig abwesend, war Angélique für die ihr zugefallene Rolle gut gerüstet. Maître Gabriel Berne sei plötzlich schwer erkrankt, fühle sein Ende nahe und wolle seine Kinder vorher noch einmal sehen.

Seine Schwester hatte nicht das Herz, sie zurückzuhalten. Übrigens zeigte sie sich durch die Nachricht tief erschüttert. Sie war keine böse Frau. Sie hatte sich bekehren lassen, weil sie Ehrgeiz und genug Intelligenz besaß, um zu begreifen, daß sie als Angehörige der reformierten Religion in diesen Zeiten nur Schimpf und Verdruß erfahren würde. Jünger als Maître Gabriel, hatte sie unter dem Bruch mit dem von ihr bewunderten Bruder sehr gelitten. In Gedanken ausschließlich mit seinem bevorstehenden Ton beschäftigt, schluchzte sie und ließ die beiden Ältesten, mit deren Erziehung sie durch den Statthalter des Königs beauftragt worden war, gehen, völlig vergessend, daß sie ohne besondere Erlaubnis ihre Behausung nicht verlassen durften.

Der Patron der Barke, die sie zum Festland zurückbrachte, betrachtete besorgt den Himmel, der sich mit düsteren Wolken überzog. Ein Sturm war im Anzug. Das Boot begann auf den allmählich höher werdenden, schwärzlichen, von weißen Schaumstreifen durchzogenen Wogen zu tanzen, und als sie landeten, fiel der Wind mit Böen sprühenden Regens über sie her. Angélique gelang es, einen mit einer Plane überdeckten Karren zu mieten. Auch ohne das Unwetter hätte sie es nicht gewagt, zu Fuß durch die Heide zurückzugehen. Der Kutscher, ein Hugenotte, war erfreut, den Kindern Maître Bernes einen Dienst erweisen zu können.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Ehe sie sich’s versahen, waren sie unter den Wällen La Rochelles in der Nähe des Saint-Nicolas-Tors angelangt. Ein Posten in einem Überwurf aus geölter Leinwand bewachte es. Er warf ihnen kaum einen Blick zu und ließ den Bauernkarren ohne Anstände passieren. Angélique beglückwünschte sich bereits zu dem Sturm, der es ihnen erlaubte, sich so leicht aus der Affäre zu ziehen, als zwei Polizisten aus der Wachtstube tragen.

Sie stellten sich vor das Pferd, um es anzuhalten, und warfen sodann einen Blick ins Innere des Karrens.

»Das ist sie«, sagte einer von ihnen.

Angélique erkannte denjenigen wieder, der sie nach ihrem Namen und ihren Verhältnissen befragt hatte, als sie am Vormittag beim Verlassen der Stadt hier vorbeigekommen war.

»Seid Ihr Dame Angélique, Magd bei Maître Gabriel Berne, wohnhaft an der Ecke der Rue Sous-les-Murs und des Buttermarkts?«

»Ja, das bin ich.«

Die beiden Männer beratschlagten miteinander. Dann schwang sich einer von ihnen auf den Sitz neben dem Kutscher.

»Wir haben Order bekommen, Euch zum Justizpalast zu bringen, sobald Ihr zurückkehrt.«

Der Hugenotte, der den Karren lenkte, wechselte die Farbe. Für einen Angehörigen der reformierten Religion war es nicht gut, sich in Gesellschaft von Personen zu befinden, die zum Justizpalast gebracht werden mußten.

Gezwungenermaßen schlug er jedoch die bezeich-nete Richtung ein. Als sie vor der langen, mittelalterlichen Fassade des Gebäudes, deren in Speiröhren auslaufende Dachrinnen wahre Wasserfluten auf das Pflaster sprudelten, den Fuß auf die Erde setzte, glaubte Angélique noch immer, daß man mit ihr über die Piraten sprechen wolle. Dann sagte sie sich, daß Nicolas de Bardagne zurückgekehrt sein müsse und eine Gelegenheit suche, sich ihr zu nähern.

Indessen ließ man sie nicht die im Hintergrund des Hofs unter vergoldetem Deckengetäfel zum ersten Stock führende große Treppe hinaufsteigen, die sie schon kannte.

Zusammen mit den drei Kindern schob man sie zu den von einer vorgebauten Arkade verdüsterten Amtszimmern. Die Kerzen waren bereits angezündet. Inmitten eines Wusts von Papieren, Tintenfässern und Federkielen arbeiteten Schreiber. Andere hockten auf Schemeln in den Fensternischen und schienen nichts anderes zu tun zu haben, als sich die Fingernägel zu schneiden.

Der Raum war von einem muffigen Geruch nach Schweiß und Staub, durchmischt jedoch von den militärischen Dünsten nach Tabak und Stiefelleder, erfüllt, der beunruhigende Erinnerungen in Angélique weckte. Ein Polizeigeruch. Ein Mann erhob sich, musterte die junge Frau mit der unverschämten Gelassenheit der Polizeispitzel und öffnete eine Tür hinter sich.

»Tritt dort ein«, sagte er und stieß sie voran.

Dabei löste er ihre Hand von der Honorines.

»Die Kinder bleiben hier.«

»Aber sie können doch mit mir kommen«, protestierte Angélique.

»Unmöglich! Monsieur Baumier will dich verhören.«

Angélique begegnete den Blicken Martials und Séverines, Ihre Lippen waren halb geöffnet, sie atmeten stoßweise. Sie glaubte, die schnellen, angstvollen Schläge ihrer Herzen zu hören. Sie waren schon einmal hier gewesen, damals, als man sie verhaftet hatte. Es drängte sie, ihnen zuzurufen: »Vor allem

- schweigt!«, denn sie hatte die Unvorsichtigkeit begangen, ihnen während der Überfahrt von der Ile de Ré nach La Palice halblaut von der bevorstehenden Abreise nach den amerikanischen Inseln zu erzählen.

Doch sie konnte es ihnen nur mittelbar zu verstehen geben.

»Achtet auf Honorine. Macht ihr begreiflich, daß sie artig sein, daß man hier vor allem den Mund halten muß ...«

Die letzten Worte verloren sich im Geschrei Hono-rines, die wütend darüber war, von ihrer Mutter getrennt zu werden. Die Tür schloß sich, und Angélique blieb voller Angst inmitten des Zimmers stehen, in das man sie geschoben hatte. Sie horchte auf das Gezeter ihrer Tochter, in das sich die mürrischen Stimmen von zweifellos wohlmeinenden Männern mischten, die sie zu beruhigen suchten. Das Geschrei wurde leiser. Man schien das Kind zu entfernen. Sie vernahm das Geräusch sich schließender Türen, dann wurde es still.

»Tretet näher. Setzt Euch.«

Angélique fuhr zusammen. Die Anwesenheit des Sieur Baumier hinter seinem Schreibtisch war ihr entgangen. Er wies auf einen Schemel ihm gegenüber.

»Nehmt Platz, Dame Angélique.«

Es schien ihr, als betone er ihren Namen auf undefinierbare Weise. Er vermied es, sie anzusehen, während sie sich setzte, blätterte in einem Aktenstück, kratzte sich den Kopf und glättete sein spärliches Haar.

Tabakreste hingen an seiner Nase. Mehrmals brummte er »Gut ... gut ...«, schloß das Aktenstück wieder und ließ sich gegen die hohe, mit abgenutztem Stoff bespannte Lehne seines Sessels zurücksinken.

Baumier hatte eng aneinandergerückte Augen, jenen verdeckten, ein wenig schielenden, von starrem Glanz jäh belebten Blick, den man bei Untersuchungsrichtern findet. So wenig Nicolas de Bardagne für die Aufgabe bestimmt war, der er sich gewidmet hatte, so sehr war dieser Mann in der ihm zugefallenen Funktion an seinem Platz.

Angélique spürte es: sie würde kämpfen müssen. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich zäh. Es gehörte zur Taktik Baumiers, diejenigen, die er zu verhören hatte, auf solche Weise einzuschüchtern, aber in diesem Fall nutzte Angélique die Zeit, um ihre Kräfte zu sammeln. Sie wußte nicht, auf welchen empfindlichen Punkt er zunächst seinen Angriff richten würde. Vielleicht wußte Baumier es auch noch nicht. Während er scharf nachdachte, leckte er sich die schmalen Lippen, was ihm den Ausdruck eines grausamen Fuchses verlieh.

Endlich entschloß er sich und beugte sich mit süßlicher Miene vor.

»Verratet mir’s, meine Schöne, was habt Ihr mit den Leichen gemacht?«

»Den Leichen?« wiederholte Angélique erstaunt.

»Spielt nicht die Unschuldige. Ihr wärt nicht so betroffen, wenn Ihr nicht genau verstündet, worauf es ankommt. Ihr erinnert Euch gar nicht gern daran, nicht wahr? Diese Leichen, die Ihr wegschleppen mußtet ... verstecken ... he?«

Es glückte ihr, die Maske höflicher Verblüffung zu bewahren.

Baumier wurde ungeduldig.

»Verlieren wir nicht unnütz Zeit. Ihr werdet ohnehin nicht darum herumkommen zu gestehen. Diese Leichen . diese Männer . Ihr kennt sie doch. Einer von ihnen trug einen blauen Rock.«

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Wollt Ihr etwa behaupten, daß Euch letzten Monat kein mit einem blauen Rock bekleideter Mann auf der Straße ansprach und auch galante Vorschläge machte?«

»Verzeiht, Monsieur«, - es gelang ihr, ein leeres Lächeln anzudeuten, »- aber ich verstehe nichts von dem, was Ihr mir da sagt. Bitte, erregt Euch nicht.«

Der Präsident der königlichen Kommission für religiöse Angelegenheiten lief rot an und preßte die Lippen zusammen.

»Ihr erinnert Euch nicht dieser beiden Männer? . Im April, am 3. dieses Monats, um es genau zu sagen, in der ersten Nachmittagsstunde . Ihr kehrtet von einem Gang zu den Magazinen Manigaults am Hafen zurück ... Diese Männer folgten Euch durch die Rue de la Perche, die Rue de la Soura ... Nun, meldet sich Euer Gedächtnis noch immer nicht?«

Er dosierte Ironie und Überredung.

Da sie nicht ahnte, in welchem Punkt er sie möglicherweise überführen konnte, murmelte sie:

»Es ist möglich.«

»Ah, wir machen Fortschritte«, erklärte er befriedigt.

Von neuem setzte er sich in seinem Sessel zurecht, während er sie wie eine Beute betrachtete, die ihm nicht entgehen konnte.

»Erzählt mir davon.«

Angélique nahm sich zusammen. Sich durch die diabolische Selbstsicherheit ihres Gesprächspartners einschüchtern zu lassen, wäre der kürzeste Weg zu ihrem Untergang; von einem Eingeständnis zum anderen würde sie sich immer tiefer verstricken.

»Was soll ich da erzählen, sagte sie in bewußt vulgär klingendem, barschem Ton. »Männer, die mich auf der Straße ansprechen, gibt’s mehr als genug, wie Ihr Euch vorstellen könnt. La Rochelles Ruf wird, ganz nebenbei gesagt, immer schlechter. Aber ich habe, weiß Gott, anderes zu tun, als über diese traurigen Erscheinungen Buch zu führen und mir zu merken, ob sie einen blauen oder roten Rock auf dem Leibe tragen.«

Baumier wischte mit einer Geste ihren Protest beiseite.

»Ich bin sicher, daß Ihr Euch an diese recht gut erinnert. Wie wär’s, wenn Ihr Euch ein wenig Mühe gäbt. Sie sind Euch gefolgt und ... dann?«

»Monsieur«, sagte sie bissig, »da Ihr mir so oft erzählt, daß sie mir gefolgt seien, möchte ich annehmen, daß ich sie danach auf die Reise geschickt habe.«

»Und Ihr habt Euren Weg fortgesetzt?«

»Zweifellos.«

»Am 3. April seid Ihr also von Monsieur Manigault geradewegs zum Hause Maître Bernes in der Rue Sous-les-Murs zurückgekehrt?«

Sie spürte die Falle und tat, als ob sie angestrengt nachdenke.

»Am 3. April, sagt Ihr? ... Kann sein, daß ich an diesem Tag nicht direkt zurückgekehrt bin, sondern zuerst zu den Lagerhäusern meines Herrn ging, wie so oft, wenn ich ihm eine Botschaft Monsieur Manigaults zu überbringen hatte.«

Baumier schien mit ihrer Antwort zufrieden. Ein Lächeln verzog seine Lippen und zeigte seine gelblichen Zähne.

»Ihr könnt von Glück sagen, daß Ihr Euch endlich Eurer Wege an diesem Tag erinnert. Hättet Ihr das Gegenteil behauptet, wäre Eure Unglaubwürdigkeit ans Licht gekommen. Ihr müßt nämlich wissen, daß ich selbst die in Frage stehenden galanten Herren auf Eure Spur gesetzt habe. Von einer Wirtschaft am Hafen aus, in der ich mich befand, als Ihr Manigault verließet, habe ich sie Euch folgen sehen. Ein anderer meiner Leute erwartete Euch mit zwei Polizisten in der Rue Sous-les-Murs, in der Nähe der Behausung Maître Bernes. Dieser Mann bezeugt nun, daß Ihr an jenem Tage nicht zurückgekehrt seid. Er hat weder Euch noch die beiden vorgeblichen Galane gesehen, mit denen er zusammenarbeiten sollte. Und diese beiden ... sind bis heute verschwunden geblieben.«

»So!« machte Angélique, als habe sie die tragische Bedeutung dieser Bemerkung nicht begriffen, die der Präsident mit unheilverkündend gedämpfter Stimme von sich gegeben hatte.

»Hört endlich auf, die Unschuldige zu spielen!« schrie er, erneut auf den Tisch schlagend.

»Er knirschte mit den Zähnen vor Wut.

»Ihr wißt sehr wohl, warum sie nicht wieder aufgetaucht sind. Weil man sie umgebracht hat. Und ich weiß auch, wer. Um Eurem schwachen Gedächtnis nachzuhelfen, werde ich Euch erzählen, wie es sich zugetragen hat. Als Ihr die Lagerhäuser Eures sogenannten Herrn erreichtet, führten meine Leute ihre Weisung aus - eine Weisung, der sie nur zu gern nachkamen, wie ich nun sehe! - und suchten von Euch eine kleine Belohnung zu erlangen, Maître Berne und seine Gehilfen kamen dazu. Es gab eine Auseinandersetzung, meine beiden Leute sind der Übermacht und den Schlägen erlegen. Was ich wissen möchte, ist, wie Ihr sie habt verschwinden lassen.«

Mit viel Geschick hatte Angélique es fertiggebracht, während seines Berichts ihren Augen einen immer erschrockeneren Ausdruck zu geben. Baumiers Version hinkte in einem Punkt, dem der Teilnahme der Gehilfen, was bewies, daß er seiner Sache nicht völlig sicher war.

»Großer Gott!« rief sie, ihre Naivität übertreibend. »Was Ihr mir da erzählt, ist ja schrecklich! Ich traue meinen Ohren nicht! Ihr beschuldigt meinen Herrn, ein Mörder zu sein?«

»Ja, ein Mörder!« bestätigte Baumier grimmig.

»Aber das ist unmöglich, Monsieur! Er ist ein sehr frommer Mensch. Er liest alle Tage die Bibel.«

»Das beweist nichts, im Gegenteil. Diese Ketzer sind zu allem fähig. Ich werde dafür bezahlt, um es zu wissen, glaubt mir.«

Die Entrüstung und gespielte Arglosigkeit Angéliques schien dennoch seine Überzeugung ins Wanken gebracht zu haben.

Sie fuhr beharrlich fort:

»Er würde keiner Fliege etwas antun. Er ist ein sehr ruhiger, sehr sanfter Mensch.«

Der Inquisitor lächelte auf unangenehme Art.

»Ich zweifle nicht, daß Ihr solche Eigenschaften zu schätzen wißt, meine Schöne.«

»Mein Herr hat niemals .«

»Euer Herr! Euer Herr!« knurrte er. »Kehren wir nicht die Rollen um. Er ist viel weniger Euer Herr, als Ihr, seine Mätresse, es wahrhaben wollt.«

Angélique nahm sich die Zeit, eine beleidigte Miene aufzusetzen, bevor sie die Karte ausspielte, die sie von Anfang an in Reserve hielt, die einzige vielleicht, die ihr aus ihrer üblen Lage heraushelfen konnte. Die grobe Anspielung Baumiers gab ihr endlich Anlaß dazu.

»Monsieur«, sagte sie mit Würde, indem sie die Augen senkte, »es ist Euch sicher nicht unbekannt, daß Monsieur de Bardagne mir die Ehre erwiesen hat, mich trotz meines einfachen Standes zu bemerken. Ich bezweifle, daß ihm die zweideutigen und beleidigenden Anklagen gefallen werden, die Ihr gegen mich richtet.«

Er schien nicht übermäßig beeindruckt. Im Gegenteil: er lächelte sein süßliches Lächeln und machte eine Bewegung, die Angélique mit dumpfem Schrecken erfüllte. Er nahm einen Gänsekiel aus dem Schreibzeug und begann ihn träumerisch zwischen seinen Fingern zu drehen. Diese Bewegung weckte in ihr bis zur Übelkeit die Erinnerung an die Angst vor den Verhören, denen sie einstmals der schreckliche Polizist François Desgray unterworfen hatte. Während er sich insgeheim darauf vorbereitete, sie an den Pranger zu nageln, hatte er gleichfalls die Gewohnheit gezeigt, mit einem Federkiel zu spielen.

Angélique vermochte ihren Blick nicht von der mechanischen Bewegung des groben, von Tabak geschwärzten Daumens abzuwenden.

»Richtig«, bemerkte Baumier mit erkünstelter Sanftheit, »ich vergaß, Euch zu sagen, daß Monsieur de Bardagne nicht nach La Rochelle zurückkehren wird. Man ist höheren Orts der Ansicht, daß er es bei der ihm anvertrauten Aufgabe an der nötigen Energie hat mangeln lassen.«

Ein verächtlicher Ausdruck spielte um seine Lippen.

»Zahlen wurden gebraucht, keine Versprechungen. Nun, unter seiner allzu nachsichtigen Verwaltung hat die Arroganz der Hugenotten nur zugenommen, und es ist nicht zu leugnen, daß die wenigen Bekehrungen, die während dieser Zeitspanne erzielt werden konnten, einzig und allein meinem, geben wir es zu, schlecht belohnten Eifer zu verdanken sind.«

Er legte beide Hände offen vor sich hin und fuhr fort, plötzlich familiär, fast gutmütig: »Die Situation ist also klar, meine Kleine. Kein Monsieur de Bardagne, der Euch schützen und sich in Eure Netze einspinnen lassen wird. Von nun an werdet Ihr Euch mit mir gutstellen müssen. Ich wette .ja, ja, daß wir zwei uns verstehen werden.«

Angélique vermochte das Zittern ihrer Lippen nicht zu unterdrücken.

»Er wird nicht zurückkehren ...«, murmelte sie, ehrlich niedergeschlagen.

»Nein ... Aber - bah! - wenn dieser Liebhaber Euch auch beträchtliche Vorteile bot, wie ich zugeben muß, bleibt Maître Berne für Euch doch nichts weniger als ein sicherer Wert, eine solide Investition. Ihr habt recht gehabt, Euren Enterhaken nach diesem reichen Witwer auszuwerfen .«

»Ich erlaube Euch nicht, Monsieur .«

»Und ich erlaube Euch nicht, Euch noch länger auf meine Kosten lustig zu machen, schmutzige, kleine Heuchlerin!« brüllte Baumier, zur Abwechslung seinen heiligen Zorn vorkehrend. »Wie? ... Ihr wärt nicht seine Mätresse? ... Was habt Ihr dann an jenem berühmten 3. April in Maître Bernes Büro gemacht, als der Steuerbeamte Grommaire zur Beitreibung erschien? ... Er hat Euch gesehen! ... Eure Korsage war geöffnet, Eure Brust halb entblößt, und Euer Haar hing wirr auf die Schultern ... Und er mußte wer weiß wie lange klopfen, bevor sich dieser calvinisti-sche Lüstling zum öffnen entschloß ... Und Ihr habt die Stirn, mir ins Gesicht zu sagen, daß Ihr nicht seine Mätresse seid? ... Eine Lügnerin, eine Intrigantin, das seid Ihr!«

Erhielt atemlos inne, befriedigt, die Wangen seines Opfers von einem brennenden Rot überflutet zu sehen.

Angélique verwünschte sich dafür nicht imstande gewesen zu sein, diese Röte zurückzuhalten. Wie konnte sie es ableugnen? ... Der Steuerbeamte hatte dank dem Dämmerlicht im Magazin wenigstens nicht bemerkt, daß ihre Kleidung zerrissen und mit Blut befleckt gewesen war. Es war nur das halbe Übel, wenn er die Unordnung ihrer Erscheinung frivolem Zeitvertreib zuschrieb. Aber selbst den nachsichtigsten Augen mußte die Situation eindeutig scheinen.

»Ah, nun seid Ihr schon weniger stolz«, warf ihr Peiniger ein.

Er triumphierte, daß es ihm geglückt war, sie zum Senken ihrer Lider zu zwingen. Die Frechheit dieser Frauen überstieg jede Vorstellungskraft. Um ein weniges brachten sie einen dazu zu glauben, vom rechten Wege abgeirrt zu sein.

»Nun? Was habt Ihr mir zu sagen?«

»Monsieur, man hat gelegentlich schwache Stunden .«

Baumiers Augen wurden schmal, und seine Züge nahmen einen übertrieben freundlichen und zugleich boshaften Ausdruck an.

»Oh, gewiß! ... Schwache Stunden, wenn man eine Frau wie Ihr ist, die die Blicke der Männer auf sich zieht und weiß, daß sie an jedem Finger einen haben kann ... Ich würde fast sagen, es ist Euer Beruf. Das Gegenteil würde mich verwundern. Und daß Ihr Euer Auge auf diesen Berne werft, ist schließlich Eure Angelegenheit. Aber Ihr habt mich über diesen Punkt in unverschämter Weise belogen, und wenn Ihr nicht von mir überführt worden wäret, hättet Ihr weiterhin entrüstet Eure beleidigte Tugend verteidigt. Wenn man in einem Punkt auf solche Art lügt, kann man auch in allen anderen lügen. Ich kenne Euch jetzt, meine Schöne. Ich habe Euer Maß genommen. Ihr seid sehr stark, aber ich werde stärker als Ihr sein.«

Angélique begann sich in einer ausweglosen Lage gefangen zu fühlen. Dieser kleine, von Weihrauch und Papierstaub gebeizte Mann war besonders durchtrieben, oder hatte etwa sie ihre Geistesgegenwart von früher eingebüßt? Er jagte ihr größeren Schrecken ein als Desgray. Zwischen ihr und Desgray hatte es immer - selbst an jenem Tage, an dem er ihr die Finger zurückgebogen hatte, um sie zum Eingeständnis ihrer Teilnahme an einer Einbruchsaffäre zu zwingen - ein besonderes Fluidum gegeben, die fleischliche Anziehungskraft, die selbst ihrer wildesten Auseinandersetzung einen erregenden Beigeschmack verliehen hatte.

Aber beim bloßen Gedanken, ihre Reize ins Spiel bringen zu müssen, und die Bösartigkeit dieses übelriechenden Nagetiers zu beschwichtigen, glaubte sie vor Ekel in Ohnmacht zu sinken. Das überstieg bei weitem ihre Kräfte, ganz abgesehen davon, daß jeder Versuch in dieser Richtung bei Baumier unter Umständen fehlschlagen konnte. Er war, nur eine Stufe tiefer, von derselben Art wie die Solignacs. Seine Wonnegefühle fand er in der Befriedigung, erbarmungslose Pflichten zu erfüllen, im Schauspiel eines hoffnungslos in die Enge getriebenen, um Gnade winselnden Wesens, in flehenden Blicken, in dem Gefühl der Macht, die darin bestand, mit einem einzigen Federstrich ein ganzes Leben vernichten zu können.

Er hatte mit einer Geste äußersten Behagens, wie man sie vornehmlich bei den Wohlbeleibten findet, die Hände auf seinem mageren Bauch gefaltet. Bei ihm indes betonte sie eher noch die dünnblütige Magerkeit und ließ ihn einer alten Jungfer ähneln.

»Nun, meine Hübsche, seien wir gute Freunde. Warum habt Ihr Euch von diesen Ketzern locken lassen? Zu anderen Zeiten hätte dieser Berne mit seinen Talern gewisse Vorteile bieten können, ich bestreite es nicht. Aber Ihr seid schlau genug, um zu begreifen, daß heutigentags das Vermögen eines Reformierten weniger beständig ist als der Wind. Wenigstens, solange er sich nicht bekehren laßt. Das wäre dann eine andere Sache. Wenn Ihr pfiffig wärt, hättet Ihr schon längst Gabriel Berne und seine Familie zum Bekehren veranlaßt. Ihr hättet in jeder Hinsicht gewonnen, während Ihr jetzt gehörig in der Tinte sitzt: als Komplizin eines Mörders, als Beteiligte an hugenottischen Verrätereien geht Ihr des Vorteils verlustig, Katholikin zu sein. Man kann Euch anklagen, ihrer sträflichen Konfession zu huldigen, und das ist eine ernste Sache.«

Er konsultierte von neuem einen Zettel.

»Der Pfarrer der Eurem Dienstort zunächst liegenden Gemeinde Saint-Marceau behauptet, daß er Euch weder jemals am Gottesdienst habe teilnehmen sehen noch Euch die Beichte abgenommen habe. Was bedeutet das? Daß Ihr Euch vom katholischen Glauben gelöst habt?«

»Nein, gewiß nicht!« antwortete Angélique mit einem Elan, der den unverkennbaren Vorzug hatte, aufrichtig zu sein.

Baumier spürte es und zögerte enttäuscht. Die Dinge entwickelten sich nicht ganz so, wie er wollte. Er genehmigte sich eine Prise, schnupfte, nieste geräuschvoll, ohne sich zu entschuldigen, und schnäuzte sich lange mit widerlicher Sorgfalt.

Angélique konnte nicht umhin, sich des Augenblicks zu erinnern, in dem Honorine mit gerötetem Gesicht unter der grünen Mütze und vor Abscheu blitzenden Augen aufgetaucht war, ihren Knüppel gegen Baumier schwenkend und mit schrillem Stimmchen rufend: »Ich mach’ dich tot!«

Ihr Herz füllte sich mit Zuneigung für das kleine, unbezähmbare Geschöpf, das sich bereits wie sie gegen alles erhob, was ihr niedrig und hassenswert erschien.

Sie mußte hier heraus, mußte Honorine wiederfinden und die wenigen Stunden durchstehen, die sie noch von ihrer Flucht trennten.

»Und das hier?« fragte Baumier. »Was haltet Ihr davon?«

Er reichte ihr ein paar Blätter. Sie enthielten eine Liste von Namen. Die Gabriel Bernes und seiner Familie, die der Mercelots, Carrères, Manigaults und einiger anderer. Angélique las sie zweimal hintereinander, neugierig zunächst, dann beunruhigt. Sie warf einen fragenden Blick auf ihr Gegenüber.

»Alle diese Leute da werden morgen verhaftet werden«, sagte er mit einem breiten Lächeln. Und plötzlich zustoßend;

»Weil sie sich aus dem Staub machen wollten!«

Nun erkannte Angélique die Liste wieder. Es war eine Abschrift jener anderen, die, von Manigault aufgestellt, die Namen der heimlichen Passagiere der Sainte-Marie enthielt. Alle waren sie aufgeführt, bis hinunter zum kleinen Raphaël, dem Letztgeborenen der Carrères, der zum »Bastard durch Verordnung« erklärt worden war, weil die Pastoren nicht mehr wie früher als Standesbeamte mit dem Recht der Geburtenregistrierung anerkannt wurden.

Auch ihr eigener Name war nach denen der Familie Berne eingetragen: Dame Angélique, Magd.

»Die Sainte-Marie wird nicht in See stechen«, begann Baumier wieder. »Schon jetzt ist sie striktester Bewachung unterworfen.«

Die verschiedensten Ausflüchte und Verhaltensmöglichkeiten schossen blitzartig durch Angéliques Geist, und sie verwarf sie eine nach der anderen. Ihr überreizter Spürsinn zeigte ihr alsbald, auf welche Weise es Baumier gelingen würde, jede Ausrede wiederum gegen sie ins Feld zu führen. Er wußte vieles. Er wußte alles. Doch sie würde schon einen Stein finden, der ihn ins Stolpern brächte. Alles war besser als das Schweigen, das, je länger es andauerte, sich immer mehr zum Geständnis auswuchs.

»Aus dem Staub machen?« wiederholte sie. »Warum?«

»Alle diese Hugenotten versuchten, ihr Vermögen zu retten, indem sie lieber bei den Feinden Frankreichs Zuflucht suchen, als sich dem König zu unterwerfen.«

»Ich habe niemals etwas davon gehört . Und warum sollte ich auf dieser Liste stehen? Ich brauche mich weder zu bekehren noch habe ich ein Vermögen zu retten.«

»Ihr könntet fürchten, in La Rochelle zu bleiben. Immerhin seid Ihr die Komplizin eines Mörders.«

»Oh, Monsieur!« rief Angélique in gespieltem Erschrecken aus. »Ich flehe Euch an, wiederholt diese Beschuldigung nicht. Ich schwöre Euch, daß sie falsch ist. Ich könnte Euch den Beweis dafür liefern.«

»Ihr wißt also etwas?«

»Ja, ja.«

Angélique verbarg ihr Gesicht in ihrem Taschentuch.

»Ich werde Euch die ganze Wahrheit gestehen, Monsieur.«

»Bravo!« schrie Baumier, dessen Züge ein triumphierendes Leuchten erhellte. »Sprecht, mein Kind. Ich höre.«

»Dieser . diese Männer, die Ihr mir an jenem 3. April, wie Ihr sagt, hinterhergeschickt habt ... ich ... ich muß gestehen, daß ich mich ihrer sehr gut erinnere.«

»Ich habe nicht daran gezweifelt.«

»Vor allem diesen Burschen im blauen Rock. Wie soll ich’s Euch erklären, Monsieur ... ich habe mich geschämt. Aber in Wirklichkeit ist mein Herr im Gegensatz zu dem, was Ihr Euch zusammengereimt habt, ein sehr strenger Mann, und das Leben in seinem Hause bietet wenig Zerstreuungen. Ich bin ein armes Mädchen, das für ihr Kind zu sorgen hat, und ich willigte ein, bei diesem Hugenotten zu dienen, weil er mir guten Lohn bot. Aber er ist nicht sehr nachsichtig. Man muß arbeiten, arbeiten und die Bibel lesen, das ist alles. Als mich jener liebenswürdige junge Mann in der Rue de la Perche ansprach, lauschte ich seinen Worten mit Vergnügen. Seid nicht böse, Monsieur.«

»Warum sollte ich böse sein?« knurrte Baumier. »Es beweist nur, daß er etwas von dem Metier, für das ich ihn bezahlte, verstand. Und dann?«

»Dann haben wir unseren Weg in angenehmster Unterhaltung fortgesetzt, und als wir an meinem Ziel, den Lagerhäusern Maître Bernes, ankamen, glaubte ich ihm zu verstehen gegeben zu haben ... daß ich ihn später gern wiedersehen würde ... unter intimeren Umständen. Ich erinnere mich, daß er mit seinem Kameraden sprach und dabei irgend etwas sagte wie: >Die alte Krabbe hat uns für diese Angelegenheit ganz hübsch die Taschen gefüllt .. .<«

»Die alte Krabbe?« unterbrach Baumier entrüstet.

»Ich weiß nicht, von wem er sprach, Monsieur. Das heißt, jetzt vermute ich fast, daß es vielleicht ... um Euch ging.«

»Fahrt fort!« zischte er wütend.

»Wenn es mir recht im Gedächtnis geblieben ist, sprachen sie darüber, daß sie Geld zu ihrer Verfügung hätten.«

Sie wagte sich sehr weit vor, denn das war ein Detail, von dem sie nichts wußte. Aber sie konnte immerhin vermuten, daß die gedrillten Verführer, die der Präsident der königlichen Kommission auf das Pflaster La Rochelles schickte, mit genügend Geldmitteln ausgerüstet sein mußten, um die Schönen zu blenden.

Ihre Schlußfolgerung traf ins Schwarze, denn er rührte keine Wimper. Angélique faßte Mut.

»Er fuhr fort: >Wenn wir’s schon mal mit einer Lustigen zu tun haben, die uns nicht mit der Hand im Gesicht herumfährt, sollten wir uns unsere Chance nicht durch die Finger gehen lassen. Wart auf mich in der Taverne von Saint-Nicolas und laß dir auf Rechnung des Alten ein Maß geben. Hinterher werden wir uns schon was austüfteln.<«

»Was wollte er damit sagen?« erkundigte sich Baumier, der vor unterdrückter Wut zu dampfen schien.

»Ich weiß nicht, Monsieur ... Ich gestehe Euch, daß ich anderes im Kopf hatte. Er war ein so liebenswürdiger Bursche. Man muß zugeben, daß Ihr Eure Leute gut auswählt. Er war sehr keck. Nicht, daß er mir mißfallen hätte. Mein Dasein bei diesen Hugenotten ist recht wenig unterhaltsam, wie ich Euch schon erklärte, und ich hatte seit langem nicht mehr von gewissen ... Vergnügungen gekostet. Die Gasse lag verlassen .«

Sie erschrak vor sich selbst, weil sie aus dem Stegreif eine so gemeine Geschichte erfand, aber viel wichtiger war, daß Baumier anzubeißen schien. Er beugte sich interessiert vor, und seine Teilnahme regte Angéliques Phantasie nur noch mehr an.

»Unser Pech war nur, daß mein Herr, Maître Berne, uns überraschte.

Er ist sehr aufbrausend und geriet bei unserem Anblick in großen Zorn. Außerdem ist er sehr stark, und mein neuer Freund war kaum in der Lage, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Deshalb hat er sich auch schleunigst davongemacht, was das Vernünftigste war, so, wie die Dinge lagen, nicht wahr?«

»Die Pest soll über diese Laffen kommen! Warum hatten sie sich getrennt? Wenn ich sie zu zweit losschicke, hat das schon seine Gründe.«

»Was mich betrifft, zerrte mich mein Herr in sein Büro, um mich auszuschelten. Er war sehr zornig, wie ich Euch sagte .«

»Eifersucht!«

»Vielleicht«, meinte Angélique mit einer koketten Bewegung. »Sicher ist jedenfalls, daß er mir den Stock zu kosten geben wollte, als Monsieur Grommaire dazwischenkam und mir die Strafe ersparte.«

Baumier rückte auf seinem Sessel unruhig hin und her. Es war offensichtlich, daß die neue Darstellung der Ereignisse seine Vorstellungen verwirrte.

»Ist das alles?«

»Nein, das ist noch nicht alles«, murmelte Angélique, indem sie von neuem den Kopf senkte.

»Was noch?«

»Dieser Bursche im blauen Rock . ich . ich habe ihn wiedergesehen.«

»Wo? Wann?«

»Am selben Abend. Wir hatten eben noch Zeit gehabt, uns ein Rendezvous an den Wällen zu geben. Und am Tag darauf auch .«

Sie tastete sich vorsichtig vorwärts. Würde der Versuch, die Wahrhaftigkeit ihres Berichts zu untermauern, womöglich das zerbrechliche Gebäude ihrer Lügen zum Einsturz bringen?

»Und dann hab’ ich ihn nicht mehr wiedergesehen. Ich nahm an, daß er die Stadt verließ ... Er hat so etwas angedeutet. Trotzdem war ich enttäuscht.«

Baumier bewegte in bitterer Ernüchterung die Schultern.

»Alle sind sie gleich! Man schindet sich, um ihnen einen Beruf beizubringen, man macht sie mit ihrer Aufgabe vertraut, man überträgt ihnen Missionen von größter Wichtigkeit, und sie kneifen bei der ersten Gelegenheit aus, um anderswo ihr Glück zu suchen. Immerhin, von Justin Médard hätte ich derlei nicht erwartet. Wem soll man noch trauen!«

Angélique ließ ihm nicht die Zeit, sich allzu sehr über das unerklärliche Verhalten des unglückseligen Justin Médard zu wundern, der seine Ergebenheit für eine gerechte Sache und seine unerschrockene berufliche Gewissenhaftigkeit mit der jähen Verwandlung in Krabbenfutter hatte bezahlen müssen. Sie flehte:

»Da ich Euch nun alles gestanden habe, Monsieur, werdet Ihr doch hoffentlich nicht allzu hart mit mir umgehen. Ich verspreche Euch, daß ich diese Hugenotten gleich morgen verlassen werde. Es schafft mir zuviel Verdruß, bei ihnen zu sein. Das Maß ist voll! Ich weiß zwar noch nicht, wohin ich gehen könnte, aber ich verspreche Euch, daß ich mit ihnen Schluß machen werde.«

»Keineswegs, meine Hübsche, Ihr werdet nicht mit ihnen Schluß machen«, protestierte er. »Im Gegenteil, Ihr müßt bei ihnen bleiben und mich über alles, was dort vor sich geht, auf dem laufenden halten. Habt Ihr etwas von der geplanten Flucht auf der Sainte-Marie gewußt? Ihr steht auch auf der Liste.«

»Wie sollte ich? Ich weiß nicht, um was es sich handelt, Monsieur. Wenn mein Herr den Plan gefaßt hätte, abzureisen, hätte er mir sicher etwas davon gesagt oder wenigstens doch gewisse Vorbereitungen getroffen.«

»Ihr habt nichts bemerkt?«

»Nein.«

Sie sah ihn so naiv wie nur möglich an. Baumiers Finger spielten mit der verräterischen Liste.

»Und dennoch scheinen meine Informationen zutreffend.«

»Wenn die, die sie Euch liefern, ihr Geld ebenso leicht verdienen wie Euer Justin Médard .«, kicherte Angélique.

»Schweigt!« brüllte Baumier. »Weil ich Euch nachsichtig angehört habe, hebt Ihr schon wieder die Nase. Unverschämte! Freches Weib!

Ihr verdientet, daß ich Euch bei den Reuigen Mädchen einsperren ließe, denn Ihr seid nichts anderes als ein Flittchen der schlimmsten Art ... Aber wenn Ihr wirklich dergleichen seid, werdet Ihr mir draußen nützlicher als drinnen sein.«

Wieder beruhigt, musterte er sie mit träumerischer Aufmerksamkeit.

»Wenn ihr wirklich dergleichen seid«, wiederholte er gedämpft.

Er erhob sich und kam um den Tisch herum.

Angélique fragte sich angstvoll, welchen Überlegungen er wohl nachhing. Es war zu hoffen, daß er im Austausch für ihre Befreiung keinen Kuß von ihr verlangte. Aber er wandte sich in seinem trippelnden Gang zur Tür.

»Monsieur, Monsieur«, bat sie mit gefalteten Händen, »sagt mir, daß Ihr mich freilassen und mir meine Tochter zurückgeben werdet. Ich habe nichts Böses getan.«

»Ja, ich glaube, daß ich Euch freilassen werde«, erklärte er mit olympischer Herablassung. »Wenigstens für diesmal ... Nur noch eine kleine Prüfung ... und Ihr werdet frei sein.«

Er ging hinaus.

Wenn sie nicht so aufs äußerste angespannt gewesen wäre, hätte sie den beunruhigenden Ton seiner Stimme herausgehört, als er gesagt hatte; »Nur noch eine kleine Prüfung ...« Aber sie dachte lediglich erleichtert an sein Versprechen: »Ich werde Euch freilassen.« Einen Moment lang war ihr die Situation verzweifelt erschienen. Wenn man ihr nur mit Honorine auch die Berne-Kinder zurückgab!

Ihre Schultern senkten sich. Sie schloß die Augen, und Tränen der Schwäche liefen über ihre Wangen.

Dann öffnete sich die Tür von neuem und jemand betrat den Raum.

Es war der Polizist François Desgray.

Ihn dort zu sehen mit seinem kräftigen Kinn, dem zwingenden Blick seiner braunen Augen, den massiven, in einen um die Knopflöcher diskret mit goldener Litze besetzten Rock aus maronenbraunem Tuch gezwängten Schultern, dem elegant geschlungenen Halstuch, den hohen Absätzen und allem anderen, was an seiner Person nach Hauptstadt »roch« - nach Paris, seinen Equipagen und blauen Nächten -, war ein so überraschendes Ereignis, daß sich Angélique nicht sofort klar darüber wurde, in welcher Weise das Auftauchen dieses Gespenstes aus ihrer Vergangenheit sich auf ihre Lage auswirken mußte.

Die Enthüllung der Identität der Marquise du Plessis-Bellière, der Rebellin des Poitou, ihre Verhaftung im Namen des Königs, das Gefängnis, der Richterspruch, Honorine ins Nichts geschleudert, für sie verloren wie Florimond, die Flucht nach den Inseln vereitelt .

Ihr gelähmtes Hirn war nicht in der Lage, über den Schock dieser Begegnung hinauszudenken. Sie erkannte ihn wieder. Sie war sogar auf unbestimmte Weise zufrieden, ihn wiederzusehen. Desgray! Es lag so weit zurück . und nun war er ihr so nah!

Er verbeugte sich, als ob er sie gestern verlassen hätte.

»Ich grüße Euch, Madame. Wie geht es Euch?«

Seine Stimme ließ sie erzittern. Sie trug das ferne Echo ihrer Streitgespräche in sich, der Augenblicke des Hasses und der Furcht, die sie seinetwegen erfahren, der Momente heißen, brutalen Liebesgenusses, die er ihr auferlegt hatte.

Sie folgte ihm mit den Augen, während er den Raum durchquerte und sich vor dem Schreibtisch Baumiers niederließ. Er trug keine Perücke, was das vertraute Bild früherer Zeiten hervorhob und ihm trotz der im Laufe der Jahre immer stärker betonten Härte seiner Züge das Gesicht des armen, unbekümmerten Studenten zurückgab, den sie in jenen Tagen gekannt hatte, als er noch nicht der Polizei beigetreten war. Im Gegensatz dazu waren ihr seine gewählte Kleidung und seine sicheren Bewegungen, war ihr die Art, in der er sich als Mann zeigte, der es gewöhnt war, schwere Verantwortungen zu tragen, fremd.

Seine Züge waren wie in Stein gemeißelt. In den Augenwinkeln würden sich die tief eingegrabenen Zeichen der Ironie nicht mehr verwischen, und die Kerben zu beiden Seiten seines Mundes verliehen ihm einen halb weichen, halb bitteren Zug. Doch er widmete ihr alsbald den liebenswürdigen Glanz seines alten Lächelns.

»Nun, meine liebe Marquise der Engel, es stand also im Buche des Schicksals geschrieben, daß wir uns trotz der Hast, mit der Ihr mich bei unserer letzten Begegnung floht, wiedersehen würden. Wann war das noch? . Es muß ziemlich lange her sein ... vier ... nein, fünf Jahre! ... Schon! Wie die Zeit vergeht. Für manche ist sie überaus fruchtbar in puncto Ereignissen, für Euch, zum Beispiel. Euch nicht ruhig halten zu können, ist ein Teil Eures besonderen Genies. Für mich? ... Oh, was wollt Ihr, das Leben ist gewiß erheblich friedlicher, wenn Ihr nicht plötzlich in ihm erscheint. Ich erledige die laufenden Angelegenheiten, alles, was mir so vor die Finger kommt. Kürzlich verhaftete ich eine Eurer Nachbarinnen . die Marquise de Brinvilliers. Ich weiß nicht, ob Ihr Euch erinnert. Sie wohnte ein paar Straßen von Eurem Hôtel du Beautreillis entfernt. Sie hat ihre ganze Familie vergiftet, zuzüglich einiger zehn Personen. Seit Jahren bin ich ihr schon auf der Spur, und Ihr habt mir schließlich dabei geholfen, sie zu überführen. Ja doch! Jene unschätzbaren Informationen, die ich gelegentlich eines von Euren guten Freunden aus dem Hof der Wunder verübten Einbruchs zart aus Euch herausquetschte, boten mir den fehlenden Fingerzeig. Erinnert Ihr Euch nicht mehr? . Nun, es ist auch wahrhaftig allzuviel seitdem geschehen. Ah, meine Liebe, man geht zur Zeit in Paris mit Gift verschwenderisch um. Ich stecke bis über die Ohren in Arbeit. Auch in Versailles wird vergiftet. Dort sind die Nachforschungen erheblich delikater . Aber ich sehe, daß Euch solches Geschwätz nicht mehr recht zu fesseln vermag. Sprechen wir also von etwas anderem.

Man hat mich beauftragt, Euch zu finden und in sicheres Gewahrsam zu nehmen. Man bürdet mir immer die unerfreulichsten Pflichten auf. Die Rebellin des Poitou in Gewahrsam nehmen! Wie unbequem!

Überdies ist es nicht meine Spezialität, in einer Provinz wie der Euren herumzustreifen ... Armselige Provinz«, murmelte er, »ausgeblutet, verwüstet, mit Menschen wie Tiere, deren Mund sich verriegelte, sobald man nur Euren Namen aussprach! ... Ich habe meine Nachforschungen aufgegeben und dem Zufall vertrauen müssen ... Dieser Schnüffler Baumier hat diese Rolle gespielt und mir schließlich auf die Sprünge geholfen. Er war nach Paris gekommen, um über irgendwelche Religions-Angelegenheiten zu berichten und gleichzeitig Erkundigungen über eine Frau einzuziehen, die ... über eine Frau, von der ... Was hat mir nur die Idee eingegeben, daß Ihr diese Frau sein könntet? Ich weiß es nicht. Und nachdem ich mich noch mit dem liebenswürdigen Gouverneur La Rochelles, Monsieur de Bardagne, unterhielt, schwanden meine letzten Zweifel. Ich bin also in aller Hast mit der Post hierhergekommen, um Euch wiederzusehen, meine Liebste. Ihr seid es wirklich. Meine Mission ist erfüllt.

Wißt Ihr, daß Ihr Euch verjüngt habt? ... Aber ja, es fiel mir im selben Augenblick auf, in dem ich mich in Eurer Gegenwart fand. Liegt es an dieser einfachen, kleinen Haube, die mir die Magd Meister Bourgeauds ins Gedächtnis zurückruft, aus jenen entlegenen Zeiten, als ich noch von Suresnes aus die Taverne zur Roten Maske aufzusuchen pflegte, um ein Glas Weißwein zu trinken? Später hat mich Euer neues Gesicht, das mit Juwelen überladene Antlitz der Favoritin des Königs, heftig enttäuscht. Glaubt mir, ich begann in ihm bereits die Zeichen zu erkennen, die die Gesichter meiner Giftmörderinnen tragen: Gier, Ehrgeiz, Angst, Rachsucht. Das ist nun vorbei. Ihr habt wieder die aufrichtigen, arglosen Augen, die Euch als junge Frau auszeichneten ... und etwas mehr: die schwere Erfahrung. Was hat Euch nur von all dem reingewaschen? Was hat Euch Eure glatten, reinen Wangen zurückgegeben? Eure dunkel glänzenden, verzehrenden Augen, die um Hilfe rufen?

Als ich eben hier eintrat, sagte ich mir: >Mein Gott, wie jung sie ist!< Eine angenehme Überraschung, ich gebe es zu, nach fünf Jahren der Trennung. War es vielleicht wegen der Tränen auf Euren Wangen? ...

War es diese alte Ratte Baumier, die Euch zum Weinen brachte, meine Liebe? Warum? Was habt Ihr wieder einmal angestellt, daß Ihr zwischen die schmutzigen Finger der Polizei geraten seid? ... Wann werdet Ihr es lernen, klug zu sein? ... Wollt Ihr mir nicht endlich antworten? Eure Augen sind gewiß beredt, wie sie es immer gewesen sind, aber das genügt mir nicht. Ich möchte den Klang Eurer Stimme hören.«

Er beugte sich vor, sehr ernst, unverwandt ihren Blick festhaltend. Sie blieb stumm, unfähig, ein Wort zu formulieren. Aus der Tiefe ihrer Verzweiflung erhob sich ein Ruf:

»Desgray, mein Freund Desgray, zu Hilfe!«

Aber kein Laut drang über ihre Lippen.

Desgray schwieg. Lange betrachtete er sie. Zug um Zug, Einzelheit nach Einzelheit, mußte er wieder Besitz von diesem Gesicht nehmen, von einer menschlichen Gestalt, die allzu oft seine Träume beunruhigt hatte.

Er war auf alles gefaßt gewesen: sie heruntergekommen, gealtert, arrogant, verbittert, haßvoll vorzufinden, aber nicht auf soviel ruhigen, gefaßten Schmerz, auf den stummen, herzzerreißenden Anruf ihrer grünen Augen, die ihm klarer und lichter als früher erschienen.

»Ich wußte dich schön«, dachte er, »aber du bist viel schöner! Durch welches Wunder?«

Ein echter Respekt für diese Frau bemächtigte sich seiner, die ein solches Kunststück zuwege gebracht hatte: sich ihre geistige Integrität zu erhalten trotz schrecklicher Jahre, Krieg, Niederlage, trotz einer Existenz, die nur die eines gejagten, ewig in Gefahr befindlichen Tieres gewesen sein konnte.

Wieder beugte er sich vor und wurde ernst.

»Madame, was kann ich tun, um Euch zu helfen?«

Angélique erbebte heftig, als habe man sie aus einem hypnotischen Schlaf geweckt.

»Mir helfen? Ihr wollt es auf Euch nehmen, mir zu helfen, Desgray?«

»Was habe ich anderes getan als Euch zu helfen, seitdem ich Euch kenne? Ja, selbst als ich Euch in Marseille zu verhaften suchte, geschah es nur, um Euch zu helfen. Was hätte ich nicht darum gegeben, verhindern zu können, daß Ihr Euch in jenes unglückselige Abenteuer einließt, daß Ihr so teuer habt bezahlen müssen!«

»Aber ... habt Ihr nicht Befehl, mich zu verhaften?«

»Sicher ... eher zweimal als einmal. Doch ich werde es nicht tun.«

Er schüttelte den Kopf.

»Weil es diesmal ... schrecklich für Euch würde. Ihr könntet nicht mehr entkommen. Ich wäre gezwungen, Euch mit gebundenen Füßen und Händen auszuliefern, mein Lämmchen. Und ich weiß nicht einmal, in welchem Maße Euer Leben dabei auf dem Spiel steht. Mit Eurer Freiheit wäre es in jedem Falle vorbei. Ihr würdet das Tageslicht nie mehr wiedersehen.«

»Ihr riskiert Eure Karriere, Desgray.«

»Es ist nicht eben geschickt von Euch, mich gerade in dem Augenblick, in dem ich Euch meine Unterstützung anbiete, daran zu erinnern. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß man Euch für den Rest Eures Lebens einsperrt, Euch, die Ihr für die Weite geschaffen seid ... Apropos, ist es wahr, daß Ihr mit dreißig Protestanten zu Schiff fliehen wollt?«

Nachlässig durchblätterte er die Liste der Passagiere der Sainte-Marie. Sie sah die Namen tanzen: Manigault, Berne, Carrère, Mercelot ... Die Vornamen: Martial, Séverine, Laurier, Rebecca, Jérémie, Abigaël, Raphaël ... Sie zögerte eine letzte Sekunde.

Ein Polizist kennt hundert Arten, ein Geständnis hervorzulocken. Hatte die muntere Stimme Desgrays, hatten seine von zärtlichen Untertönen begleiteten spöttelnden Äußerungen etwas anderes zum Ziel gehabt, als ihr Mißtrauen einzuschläfern und sie im Guten zur Preisgabe ihres Geheimnisses zu überreden? Mit einem Wort konnte sie ihre Freunde ausliefern, die, die sie um jeden Preis hatte schützen wollen. Ihre Lippen zitterten. Sie setzte alles aufs Spiel:

»Ja, es ist wahr«, sagte sie.

Desgray ließ sich gegen die Lehne zurücksinken und stieß einen merkwürdigen, kleinen Seufzer aus.

»Gut«, sagte er. »Ihr habt nicht an mir gezweifelt. Wäret Ihr mir anders gekommen, hätte ich Euch vielleicht verhaftet. Es ist seltsam in unserem Metier. Mit dem Alter wird man zugleich härter und sentimentaler, grausamer und zärtlicher. Man verzichtet auf alles, abgesehen von einigen kleinen Dingen, die nicht mit Gold aufzuwiegen sind. Und je mehr Zeit verstreicht, desto kostbarer scheinen sie. Eure Freundschaft gehörte zu ihnen. Ich erlaube mir, meine Liebe, Euch diese im allgemeinen wenig zu meiner Art passenden Konfidenzen zu machen, weil ich weiß, daß ich Euch nie wiedersehen werde, wenn ich Euch diesmal freigebe.«

»Ihr werdet mich freigeben?«

»Ja. Aber das scheint mir nicht ausreichend, um Euch zu schützen, denn ihr befindet Euch wieder einmal in einer äußerst üblen Lage. Weshalb habt Ihr Euch nicht früher nach den Inseln eingeschifft? Es wäre die beste Lösung gewesen. Ich hätte Euch niemals wiedergesehen, was mich sehr erleichtert hätte. Jetzt hat mich die Begegnung mit Euch in größte Unruhe versetzt. Dieser Baumier ist Euch zuvorgekommen. Eure Komplizen werden unverzüglich verhaftet werden. Ihr Schiff steht bereits unter Bewachung. In diesem Punkt kann ich nichts für Euch tun ... Was für eine Idee überhaupt, Euch unter diese Ketzer zu mischen, während Ihr doch hundert gute Gründe habt, Euch so unauffällig wie nur möglich durchs Dasein zu schleichen. Man beschäftigt sich heutzutage allzu viel mit ihnen, als daß ihre Häuser Euch sicheren Schutz zu bieten vermöchten. Ganz abgesehen davon, daß sie wahrhaftig nicht reizvoll sind. Kaltblüter, die nicht einmal richtig lieben können ... Ihr enttäuscht mich.«

»Sagtet Ihr, daß man sie verhaften wird?« fragte Angélique, die nur das gehört hatte. »Wann?«

»Morgen früh.«

»Morgen früh«, wiederholte sie erbleichend.

Noch wußte keiner von ihnen davon.

Morgen früh würden schwarz gekleidete Männer, Polizeibüttel, in den von spanischem Flieder und Levkojen überblühten Hof eindringen, in dem die Kinder um die Palme tanzten. Sie würden diese Kinder an den Händen packen und für immer fortbringen. Sie würden Ketten um Maître Bernes Handgelenke legen. Sie würden die alte Rebecca und die ehrenwerte Tante Anna, die protestierend ihre Bibel und die mathematischen Bücher an ihren mageren Busen drücken würde, grob herumstoßen. Aber man würde ihr die Bücher entreißen und sie in den Rinnstein werfen .

Und überall in den Gassen des Viertels unter den Wallen würde man Frauen in weißen Hauben sehen, gebeugt unter hastig geknüpften Bündeln, mit Ketten gefesselte Männer, schwer bewaffnete Soldaten, gefolgt von zu Tode erschrockenen kleinen Kindern, die sie einem dunklen Schicksal entgegenführten.

»Desgray, Ihr sagtet, daß Ihr mir helfen wollt .«

»Und Ihr, Ihr würdet davon profitieren, um diese Leute zu warnen ... Nichts davon, mein Herzchen. Schluß mit den Dummheiten! Ich lasse Euch äußerstenfalls die Zeit, unter meiner Aufsicht Euren Putz zusammenzuraffen, und danach nehme ich Euch aus diesem gefährlichen Kreislauf heraus, in den Ihr Euch dummerweise habt hineinziehen lassen. Ihr vergeßt zu schnell, daß auch Ihr eine Galgenkandidatin seid und daß Euch auch die papistische Religionszugehörigkeit nicht davor bewahren würde, wenn jemand anders als ich Euch zum Objekt einer kleinen, gründlichen Untersuchung machte.«

»Hört mich an, Desgray.«

»Nein.«

»Vierundzwanzig Stunden ... Ich bitte Euch um vierundzwanzig Stunden Aufschub. Bewirkt durch Euren Einfluß, daß ihre Verhaftung bis übermorgen oder wenigstens morgen abend aufgeschoben wird.«

»Beim Satan, Ihr seid toll!« schrie Desgray, von Zorn übermannt.

»Ihr werdet immer anspruchsvoller. Ich habe schon alle Mühe, Euren Kopf zu retten, auf den ein Preis von fünfhundert Livres gesetzt ist, und das genügt Euch nicht einmal.«

»Vierundzwanzig Stunden, Desgray ... Ich verspreche Euch, daß ich mit ihnen fliehen werde.«

»Ihr wollt mir einreden, daß es Euch vor morgen abend gelingen könnte, rund fünfzig Personen der drohenden Verhaftung zu entziehen und weit genug fortzuschaffen, so daß Baumier sie nicht mehr erwischen kann?«

»Ja, es wird mir gelingen .«

Desgray studierte sie einen Augenblick schweigend.

»Was bedeutet dieser Stern, der in Euren Augen aufglänzt?« sagte er, plötzlich sanft. »Oh, ich erkenne ihn wieder! Nichts wird Euch ändern, Marquise der Engel. Also gut, es sei. Ich werde Euch und ihnen den Aufschub geben, um den Ihr mich bittet. Dieses Lächelns wegen, das Euer Gesicht erhellte, als Ihr sagtet: >Es wird mir gelingen.<«

Und da sie sich schon erhob, hielt er sie mit einer Geste zurück.

»Aber denkt daran: vierundzwanzig Stunden. Nicht mehr. Selbst, wenn ich’s wollte, könnte ich ihn nicht verlängern. Man bringt mir hier Respekt entgegen, weil ich die rechte Hand Monsieur de La Reynies, des Polizeipräfekten des Königreichs, bin. Doch ich bin eines besonderen Falles wegen hierhergekommen, des Euren, und habe mich in die Angelegenheiten der Provinz nicht einzumischen. Baumier wird über meine Intervention in der Angelegenheit der Verhaftung >seiner< Protestanten gewiß nicht erbaut sein. Trotzdem werde ich einen Vorwand finden, die Durchführung bis morgen abend aufzuschieben. Länger nicht. Er ist gerissen. Er weiß, daß die holländische Flotte in La Rochelle eintreffen wird. Das Durcheinander, das sich dabei ergeben muß, wäre denen, auf die er es seit langem abgesehen hat, allzu günstig. Vor Ankunft der Flotte müssen sie sich hinter Schloß und Riegel befinden.«

»Ich habe verstanden.«

»Geht hier hinaus«, sagte er, indem er ihren Ellbogen berührte, um sie zu einer anderen Pforte hinter dem Schreibtisch zu führen. »Ich lege keinen Wert darauf, daß man Euch verschwinden sieht. So lassen sich neugierige Fragen am besten vermeiden.«

Angélique blieb jäh stehen.

»Und die Kinder? Ich kann ohne sie nicht gehen.«

»Ihr könnt darauf wetten, daß ich sie schon zu Euch zurückgeschickt habe«, brummte er. »Diese kleine rote Teufelin, die, wie es scheint, Eure Tochter ist, hat uns mit ihrem Geplärr die Ohren gefoltert. Ich sagte dem Ältesten: Verduftet zu eurem Vater, sprecht mit niemand und erwartet die Rückkehr Dame Angéliques.< Das war, während Baumier Euch verhörte. Aber ich wußte, daß ich noch an die Reihe kommen würde.«

»Oh, Desgray«, murmelte sie, »wie gut Ihr seid!«

Er hatte sie einen engen, düsteren Flur entlanggeführt und öffnete nun eine Tür.

Draußen war die Nacht schon hereingebrochen. Ganz nah sprudelte eine Dachrinne Wasserfluten aufs Pflaster. Doch es regnete nicht mehr. Nur ein feuchter, trunkener Wind fuhr in heftigen Stößen durch die Gasse.

Desgray blieb auf der Schwelle stehen. Er nahm Angélique in seine Arme, auf seine Art, ungeniert und unwiderstehlich, jeden Widerstand lähmend.

»Ich liebe Euch«, sagte er. »Jetzt kann ich’s Euch gestehen, denn es hat keine Bedeutung mehr.«

Ihr zurückgeworfener Nacken lag in der Beuge seines harten Arms, und sie fühlte sich ein wenig schwach werden, nicht seiner Nähe wegen, sondern weil sie, von der Nacht und dem Wind ergriffen, aufgehört hatte, ihn zu sehen und zu spüren. Er trat in die Unwirklichkeit zurück. In ihrem tiefsten Innern zählte allein das ungeduldige Verlangen des gefangenen Vogels, dem Käfig zu entkommen und für immer zu entfliehen.

Er begriff, daß seine Arme einen abwesenden Körper umfingen, einen schon fernen Geist. Für diese verfolgte Frau war er, der lebendige, wirkliche oder sich doch wirklich glaubende Mann nichts als ein Geist der Vergangenheit, der sie in seine Gruft hinabzuziehen suchte. Sie floh ihrem Schicksal zu, in dem es für ihn keinen Platz mehr gab.

»Geschaffen für die Weite«, dachte er, »für die Freiheit .«

Über ihre Lippen gebeugt, berührte er sie nicht.

»Adieu, Marquise der Engel«, murmelte er.

Sehr sanft entließ er sie aus seinen Armen. Sie löste sich von ihm, lief einige Schritte, schien sich eines Besseren zu besinnen. Offenbar wandte sie sich ihm zu, Er sah sie schon nicht mehr. Er hörte ihre Stimme: »Adieu, mein Freund Desgray ... Ich danke, danke Euch.«

Angélique lief durch die nächtlichen Gassen. Der Wind trug ihren Lippen einen feinen Salzgeschmack zu. So mußte Lots Weib durch das bedrohte Sodom gelaufen sein, während sich über der Stadt schon die tödlichen Partikelchen sammelten, die sie vernichten würden.

Atemlos erreichte sie das Haus.

Sie waren alle da: die Kinder, Maître Gabriel, die alte Rebecca und Tante Anna, Abigaël, der alte und der junge Pastor.

Sie warfen sich in ihre Arme, umringten sie, bedrängten sie mit Fragen.

»Sprecht«, forderte der Kaufmann. »Man hat Euch verhaftet. Warum? Was hat sich ereignet?«

»Nichts Ernstliches.«

Selbst Tante Anna wiederholte mit meckernder Stimme: »Ihr habt uns schreckliche Angst eingejagt. Wir fürchteten schon, man hätte Euch ins Gefängnis geworfen.«

»Es ist nichts.«

Sie bemühte sich zu lächeln, um sie zu beruhigen. Denn da sie sie nun alle um sich hatte, war sie sicher, daß ihr Vorhaben glücken und daß es ihr gelingen würde, sie zu retten. Sie brachten sie bis zur Küche, wo sie sich setzen mußte. Rebecca stellte ein Glas Wein vor sie hin. Wollte sie diesen, oder zog sie einen andern vor? Rebecca schlug vor, mehrere Flaschen zu öffnen. Ohnehin würde man nicht alle diese schönen Reserven aufs Schiff bringen können.

»Das Schiff?« fragte Maître Gabriel. »Hat man Euch deswegen zurückgehalten. Haben Sie Wind davon bekommen?«

»Es ist nichts Ernstes.«

»Ihr wiederholt ständig, daß es nichts Ernstes sei, aber Ihr seid bleich wie ein Leinentuch. Was gibt es also? Sprecht. Sollen wir Manigault benachrichtigen?«

Sie machten es ihr schwer, sie hinters Licht zu führen. Er legte seine Hand auf Angéliques Schulter.

»Ich war schon im Begriff, zum Justizpalast zu laufen.«

»Damit hättet Ihr einen großen Fehler begangen, Maître Gabriel. Ich habe Gewißheit darüber erlangt, daß diese Herren einen Verdacht hegen, aber noch keine Beweise haben. Bis sie sie finden, werden wir längst davon sein. Ich nehme an, daß Martial und Séverine nichts ausgeplaudert haben.«

»Man hat uns nichts gefragt«, sagte Martial. »Glücklicherweise! Ein großer Herr kam sofort zu uns, nahm Honorine auf den Arm, damit sie nicht mehr weinen sollte, und sagte uns dann: >Geht nach Hause zurück, Dame Angélique wird euch folgen.< Die andern sahen so aus, als ob es ihnen nicht recht sei, aber er brachte uns trotzdem auf die Straße.«

»Ich glaube, er war aus Paris«, ließ sich Séverine mit glänzenden Augen vernehmen. »Die andern hatten Respekt vor ihm.«

Angélique bestätigte es:

»Dieser Herr ist in der Tat ein Freund von mir und hat mir versprochen, daß wir diese Nacht ruhig schlafen können.«

»Ihr habt Freunde bei der Pariser Polizei, Dame Angélique?« fragte Maître Gabriel aufbrausend.

Angélique fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ja. Es ist ein Zufall, aber es ist so. Und Ihr seht, daß derlei recht nützlich sein kann. Ich verspreche Euch, daß ich Euch morgen alles erzählen werde. Aber heute bin ich müde, und ich glaube, daß die Kinder zu Bett gebracht werden müßten.«

Als sie sich zurückzogen, bat sie Abigaël, noch zu bleiben. »Ich muß mit Euch reden.«

Sie warteten, bis die Stille sich auf das große Haus herabgesenkt hatte und Honorine eingeschlafen war. Angélique öffnete im Winkel der Küchennische eine Truhe und zog ihren wärmsten Mantel heraus, desgleichen ein Wolltuch, das sie über ihre Haube legte und energisch unter ihrem Kinn verknotete.

»Ich habe Maître Berne nichts von meinem Plan erzählen wollen«, sagte sie zu Abigaël, »weil er mich sicher daran gehindert hätte, ihn auszuführen. Aber ich bin die einzige, die handeln kann. Indessen ist es nötig, daß Ihr davon wißt.«

Und in atemloser Hast enthüllte sie ihr alles.

Man hatte sie verraten. Wer? Vielleicht ein Schreiber Manigaults.

Vielleicht einer der ihren ... Was tat es im Grunde? Wichtig war allein, daß Baumier von allem wußte. Er kannte ihre Namen. Seine Spitzel und Polizeibüttel überwachten sie, überwachten die Lagerhäuser, die Sainte-Marie. Die Häuser aller waren schon gezeichnet. Der schwarze Engel des Unheils hatte seine unsichtbare Hand auf die Dächer der schönen Wohnungen und bescheidenen Kramläden des Viertels unter den Wällen gelegt. Morgen würde man kommen, um alle zu verhaften.

Abigaël hörte schweigend zu. Mehr als je ähnelte sie mit ihrem von der weißen Haube eingerahmten länglichen und sanften Gesicht, von dem sich die blassen Brauen kaum abhoben, einer flämischen Madonna. Sie blieb ruhig. Sie besaß Seelenstärke genug, um sich dem, was kommen mußte, zu fügen, aber es fiel ihr leicht, dachte Angélique, weil Abigaël nicht wußte, was Unglück war. Sie wußte nicht, was es hieß, im Gefängnis zu vegetieren, wie Wild gejagt zu werden, keinen Stein zu besitzen, um sein Haupt zu betten, vergebens bei seinesgleichen um Hilfe zu flehen.

»Eine Chance bleibt uns«, versicherte sie. »Ich will sie zu nützen versuchen. Deshalb muß ich heute abend noch fort.«

Abigaël erbebte.

»Heute abend? In diesem Sturm? Hört .«

Der Wind rüttelte an den Fensterläden und Scheiben. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und das Geräusch des Gusses vermischte sich mit dem dumpfen Brausen des Meers.

»Die Stunden sind gezahlt«, sagte Angélique. »Wenn wir uns morgen abend nicht eingeschifft haben, sind wir verloren.«

»Eingeschifft? Wie wäre das möglich? Ihr sagt doch selbst, daß der Hafen bewacht wird. Und bei diesem Wetter würde ohnehin keins der Schiffe in See gehen.«

»Würde ein einziges nicht genügen?« fragte Angélique starrköpfig. »Wir müssen diese Chance nützen, die letzte. Haltet Euch bereit, Abigaël. Ich möchte, daß Ihr während meiner Abwesenheit das Gepäck eines jeden vorbereitet. Nur sehr wenig: Kleidungsstücke zum Wechseln, etwas Wäsche.«

»Wann werdet Ihr zurückkommen?«

»Ich weiß es nicht. Bei Morgengrauen vielleicht. Aber haltet Euch bereit . Ich werde ohne Zweifel die Nachricht bringen, daß das Schiff nur auf euch wartet, um in See zu gehen, und daß wir uns beeilen müssen.«

Schon an der Tür, hielt sie noch einmal inne, wie von einem neuen Gedanken gepackt:

»Falls ich nicht zurückkommen sollte, Abigaël ... was auch geschieht, versucht, meine Tochter Honorine zu beschützen. Aber wie dumm ich bin! ... Ich muß zurückkommen. Es kann nicht anders sein!«

Abigaël trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Was werdet Ihr tun, Angélique?«

»Etwas ganz Einfaches nur. Ich werde einen Schiffskapitän aufsuchen, den ich kenne, und ihn bitten, uns alle mitzunehmen.«

Das junge Mädchen drückte sie fest an sich, und als es die Augen hob, war Angélique von dem Leuchten auf ihrem Antlitz betroffen.

Eine naive Vision aus ihrer Kindheit mischte sich in den Trost, den die unerwartete Entdeckung dieser Freundschaft ihr bereitete. Als sie noch klein gewesen und der Sturm pfeifend über das Moor von Monteloup gebraust war, hatte sie sich eingebildet, von den schützenden Armen der Jungfrau Maria umfangen zu sein, und ihre Furcht war gewichen. Sie lehnte ihre Stirn gegen Abigaëls Schulter. Diese sagte gedämpft:

»Warum sollt Ihr uns alle mitnehmen? Ihr vervielfacht nur Eure Schwierigkeiten. Ihr hättet Euch allein retten können, Angélique. Ich spüre es .«

»Nein. Ich hätte es nicht gekonnt«, erwiderte Angélique, den Kopf schüttelnd. »Es wäre über meine Kräfte gegangen. Ihr könnt es nicht verstehen, meine sanfte Abigaël, aber ich weiß, daß ich weder das vergossene Blut zu sühnen noch mich von den Irrtümern meines Lebens loskaufen vermöchte, wenn ich nicht alles einsetzte, um euch alle zu retten.«

Sie schloß fast heiter: »Es wird heute abend geschehen oder nie. Deshalb muß es mir gelingen.«

Abigaël begleitete sie bis zum großen Portal. Ein jäher Windstoß blies die Kerze aus. Die beiden jungen Frauen umarmten sich, ohne einander zu sehen, und Angélique glitt dicht an den Mauern entlang den Wällen zu, um den Windstößen weniger Widerstand zu bieten. Sie hörte nicht mehr, daß sich die Tür hinter ihr schloß.

Während sie sich zu ihrem Ziel durchkämpfen würde, würde Abigaël wachen wie eine brennende Lampe. Sie würde nicht allein sein.

Fast auf Knien glückte es ihr, die triefenden Stufen zu erklimmen, die zum Wallgang hinaufführten. Oben umgab sie das wahnwitzige Brausen des Meers. Sie hörte die mächtigen Rammbock-Stöße der entfesselten Wogen gegen die Fundamente dröhnen. Die Brandung spritzte hoch auf, alles überschwemmend und die Steinplatten mit einer Schaumschicht überziehend. Sie war schon durchnäßt, als sie die Wacht-stube des Laternenturms erreichte.

Einen Moment blieb sie im Schutz eines Strebepfeilers, um wieder zu Atem zu kommen, dann hob sie sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine Luke ins Innere. Sie sah den Soldaten Anselme Camisot trübselig neben einem Kohlenbecken sitzen, dessen Glut rötliche Reflexe auf sein schlecht rasiertes Vollmondgesicht warf.

Glücklicherweise kannte Angélique die tief eingewurzelte Schüchternheit ihres Anbeters, denn es hätte kaum einen beunruhigerenden Anblick geben können als den des einsamen Soldaten hinter den gekreuzten Gitterstäben, über dessen gesenktem Kopf sich die Deckenwölbungen der mittelalterlichen Rüstkammer in der Düsternis verloren.

Aber sie hatte auch keine Wahl! Sie klopfte gegen die Scheibe.

Der Soldat sah endlich auf, und sein Gesicht drückte tiefste Verblüffung aus, als er die vom Gott der Stürme in dieser Nacht gesandte Erscheinung entdeckte. Er rieb sich mehrmals die Augen, sprang sodann auf, geriet mit seinen Füßen und der Hellebarde durcheinander, stieß gegen seinen auf der Erde liegenden Helm, was alle Echos des Turms zu wecken schien, und gelangte schließlich zur Tür, deren Riegel er zurückschob.

Angélique glitt hinein und streifte erleichtert die vom Wasser schwer gewordene Kapuze zurück.

»Ihr, Dame Angélique?« fragte Anselme Camisot außer Atem, als ob er gelaufen wäre. »Ihr? ... Bei mir?«

Dieses »Bei mir«, das den unheimlichen runden Raum, die Strohschütte auf der Erde und die bescheidene, aus Meergarnelen und Schwarzbrot bestehende Mahlzeit des Wachtpostens bezeichnete, war rührend.

»Messire Camisot, ich bin gekommen, um Euch um einen großen Dienst zu bitten. Es ist unbedingt nötig, daß Ihr mir die kleine Winkelpforte öffnet, denn ich muß die Stadt verlassen.«

Der Soldat überdachte ihr Begehren, und die Enttäuschung machte ihn streng. »Unbedingt nötig ... ich muß ... Nichts sonst? Aber das ist verboten, meine Schöne.«

»Darum wende ich mich auch an Euch. Es ist der einzig mögliche Weg. Ich weiß, daß Ihr die Schlüssel

habt.«

Die gorillahafte Stirn des armen Camisot runzelte sich mehr und mehr.

»Wenn Ihr Euch mit einem Liebhaber treffen wollt, zählt nicht auf mich. Ich bin Hüter der Moral wie alles anderen auch.«

Angélique zuckte mit den Schultern.

»Glaubt Ihr, daß es das rechte Wetter ist, um einen Liebhaber am Strand zu treffen?«

Der Soldat horchte auf das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes, der im Turm umging wie ein ganzes Regiment Gespenster.

»Nein«, sagte er dann. »Selbst hier ist es besser als draußen. Aber was dann? Warum wollt Ihr die Stadt verlassen?«

Zwar hatte sie keine Lüge bereit, aber sie brauchte nicht lange nach einer zu suchen.

»Ich muß jemand eine Botschaft bringen, der sich im Weiler Saint-Maurice versteckt ... einem, dem die Todesstrafe droht ... einem Pastor.«

»Verstehe«, brummelte Camisot. »Aber wenn Ihr fortfahrt, Euch in solche Geschichten zu mengen, werdet Ihr Euch bald im Gefängnis wiederfinden. Und ich riskiere dabei nicht mehr das Wippen, sondern den Strang.«

»Niemand wird darüber reden . Als ich versprach, diese Botschaft zu überbringen, dachte ich sofort an Euch. Ich habe niemand etwas von meiner Absicht gesagt, aber an wen könnte ich mich mit dem gleichen Vertrauen wenden, wenn Ihr Euch weigert?«

Sanft legte sie ihre Hand auf die große, haarige Pratze und hob flehend ihren Blick zu ihm. Der arme Anselme Camisot geriet völlig außer Fassung. Wenn er ihr auch bei ihren bisherigen Begegnungen wie jeder rechte Spaßvogel, der etwas auf sich hielt, gelegentlich im Vorübergehen ein galantes Scherzwort zugerufen hatte, hätte er doch nie zu hoffen gewagt, daß sie ihm, gerade ihm, eines Tages ins Gesicht sehen würde, noch dazu auf solche Art. Er rieb sich das Kinn, seines struppigen Bartes und seiner Häßlichkeit bewußt, die schon immer das Gelächter der Frauen erregt hatte.

»Ich wäre Euch sehr dankbar, Messire Camisot«, beharrte Angélique. »Sehr, sehr dankbar .«

Die Vorstellungsfähigkeit des Soldaten ging nicht über einen Kuß hinaus, aber der bloße Gedanke, daß diese bewunderungswürdigen Lippen sich ihm gnädig zeigen könnten, ihm, dem Bedauernswertesten der Garnison, genügte, um ihn den Kopf verlieren zu lassen. Seine Kameraden sprachen oft über die Kälte der schönen Magd der Bernes. Wenn sie eines Tages erführen, daß er, Anselme, der Häßliche, der Türkenkopf, erlangt hatte, was selbst der geckenhafteste unter ihnen für unmöglich hielt! Ah, es wäre sogar ein Grund, eine Kerze in eine papistische Kirche zu pflanzen. Man konnte nicht wissen, wozu es gut war. Die Erwägung, was die allernächste Zukunft möglicherweise für ihn bereithielt, erschreckte ihn schon im voraus.

Mit verstörtem Gesichtsausdruck stammelte er:

»Eh, nun ... gut! Schließlich tue ich damit niemand unrecht, nicht wahr? Ich bin Herr über die Wälle, und wenn man sich nicht mal für eine Frau wie Euch in Unkosten stürzen sollte, für wen dann?«

Er nahm seinen Schlüsselbund vom Haken.

»Wenn Ihr zurückkommt ... werdet Ihr einen kleinen Augenblick ... bei mir bleiben?«

»Ja, ich werde bleiben«, sagte sie, zu allen Konzessionen bereit.

Und sie schenkte ihm ein Lächeln, weil sie dachte, daß dieser arme Teufel wirklich ein braver Kerl sei, der nicht wie die meisten anderen zumindest auf einem Vorschuß auf die Belohnung bestand. Anselme Camisot überlegte indessen, daß ihm genug Zeit bleiben würde, um sich vor seinem Küraß als Spiegelersatz zu rasieren und aus den unterirdischen Verließen des Turms gewisse nur ihm bekannte Schätze heraufzuholen: ein Tönnchen Weißwein, einen Schinken ... Es würde ein großes Fest werden.

Angélique zitterte vor Ungeduld, während sie den Raum verließen und sie ihm zu einem Winkel der Wälle folgte, in dem sich ein Ausfalltor befand, das bei früheren Belagerungen einer Gruppe von Bogenschützen die Möglichkeit geboten hatte, die Angreifer unversehens mit ihren Pfeilen zu spicken. Im Tor selbst öffnete sich ein hölzernes Pförtchen auf eine schmale Treppe, die in die Dünen hinunterführte. Angélique überschritt die Schwelle und begann, die glitschigen Stufen hinabzusteigen, zwanzigmal in Gefahr, sich den Hals zu brechen. Der Soldat beleuchtete ihren Weg von oben, aber der Wind blies mehrmals die Laterne aus, und die junge Frau wartete, bis das Licht wieder aufleuchtete, fest an die Mauer gedrückt, von der der wütende Sturm sie losreißen zu wollen schien, um sie ins Dunkel zu stürzen.

Endlich spürte sie durchweichten, schlammigen Boden unter ihren Füßen.

Sie befand sich außerhalb der Stadt.

Inmitten des entfesselten Tobens der Wellen, die auf dem Geröll des Strandes zerschellten, fahndete sie nach dem Küstenweg und schlug ihn ein. Sie vermochte ihn nur durch die Berührung des Sandes zu unterscheiden. Zuweilen geriet sie zwischen Strauchwerk oder lief gegen einen Tamariskenbusch. Dann tastete sie sich mit dem Fuß zur nackten Erde des Pfads zurück. Niemals, so schien es ihr, hatte sie eine so tiefe Finsternis durchwandert.

Nirgends ein Licht, das sie in diesem dunklen Ozean hätte leiten können. Kalter Regen rieselte in steter Gleichmäßigkeit auf sie herab. Ihre nassen Wimpern verklebten sich. Zuweilen schritt sie mit geschlossenen Lidern voran. Zu ihrer Linken ahnte sie den offenen Abgrund der steilen Klippen. Der geringste Fehltritt konnte sie straucheln lassen. Zerschmettert würde sie am Fuße der Kalksteinmauer landen.

Nach und nach nahm ihre Angst so zu, daß sie keinen Schritt mehr voran zu tun wagte. Auf allen vieren kroch sie weiter, mit Händen und Knien im Schlamm des Weges tappend, den der Regen in ein Rinnsal verwandelte. Sie kam kaum vorwärts. Um ihrer Furcht zu entrinnen, entschloß sie sich endlich, am Klippenrand abzusteigen und auf dem Strand weiterzugehen. Sie würde dort gleichfalls zu ihrem Ziel gelangen, doch ohne einen Sturz riskieren zu müssen. An einer Besonderheit, die sie bemerkt hatte, als sie mit Honorine hier vorbeigegangen war - einem hölzernen Kreuz, an dem sie sich eben gestoßen hatte -, wurde ihr klar, wo sie sich befand. Nicht weit entfernt bot eine Rampe aus übereinandergetürmten Felsen die Möglichkeit, den Strand zu erreichen.

Sie entdeckte das Plateau und begann, es hinabzuklettern. Doch ein unterspülter Erdklumpen gab nach, sie glitt mit einer Lawine von Felsbrocken in die Tiefe und fand sich geschunden, aber unverletzt ein Stück weiter unten wieder. Ihre Hände schienen zu bluten, und ihr Kleid war über den Knien zerrissen. Glücklicherweise hatte sie sich nicht einmal etwas verrenkt. Sie raffte sich also auf und machte sich wieder auf den Weg. Um nicht abzuirren, tastete sie sich an der Klippenwand entlang.

Nun war es das Meer, das sie greifend behinderte. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, vermochte Angélique die weißen Wellenkämme und langen Schaumzungen zu unterscheiden, die auf sie zuschossen. Es war ein Ansturm fahler, drohender Formen, die sie mit höllischem Getöse umzingelten. Einige überschlugen sich in größerer Entfernung, andere schienen im Gegenteil keine Begrenzung ihres Elans zu kennen und glitten mit der geschmeidigen Wildheit von Schlangen bis dicht an ihre Füße heran. Eine der sich nähernden Wogen schien ihr so hoch, daß sie sich entsetzt gegen die Felswand preßte, als wollte sie sich in sie eingraben.

Wenige Schritte von ihr entfernt brach die Woge in brodelndem Aufruhr zusammen. Sie spürte, wie das kalte Wasser zuerst ihre Knöchel, dann ihre Knie umspülte. Die nächste würde bis zu ihrem Gürtel reichen und sie mit sich hinaustragen.

Zurückströmend, war der Sog des Wassers so stark, daß es sie zu Fall brachte. Sie klammerte sich fest, wo sie nur konnte.

»Ich muß wieder hinauf«, sagte sie sich.

Aber wie sollte sie einen Ausweg aus dieser Falle finden? Sie begann zu laufen, um der Gefahr, dem Galopp der aufgehetzten Wogen zu entfliehen. Ihre Füße glitten ab, verletzten sich im Geröll. An einigen Stellen wich der Strand gefährlich bis in die Nähe der Klippen zurück.

Sie hatte nun nur noch einen Gedanken: die Heide oben wieder zu erreichen. Die Flut war offenbar im Begriff zu steigen. Wenn sie unten blieb, würde sie ohne Zweifel ertrinken. Ihre Hände tasteten Halt suchend an der Klippe entlang. Nachdem sie sich noch eine Weile weitergeschleppt hatte, entdeckte sie eine kleine Bucht, in der zuweilen Barken zu ankern schienen, und in der Tiefe ihrer Biegung den steilen Pfad, den die Fischer benutzten. Sie kletterte nach oben, mit jedem Schritt um ein weniges dem infernalischen Kessel entrinnend.

Als sie den Rand der Klippe erreicht hatte, ließ sie sich erschöpft zu Boden sinken und blieb, die Wange gegen die feuchte Erde gepreßt, eine Weile liegen.

Diese Reise ans Ende der Nacht konnte nicht weit von dem entfernt sein, was man nach dem Tode empfand: ein endloses, qualvolles Suchen in einem unbekannten Land.

Osman Ferradji, der große schwarze Magier, hatte es so ausgedrückt:

»Man wird sich nicht immer des Todes bewußt. Manche finden sich, ohne zu wissen, warum, inmitten unbekannter Finsternisse und müssen sich ihren Weg suchen, nur durch das im Laufe ihrer irdischen Erfahrungen erworbene Licht geführt. Haben sie auf Erden nichts erworben, verirren sie sich in der Welt der Geister von neuem ... So sagen es die Weisen des Orients.«

Osman Ferradji! Sie sah ihn vor sich, schwarz wie die Nacht, und er sprach zu ihr:

»Warum bist du vor diesem Menschen geflohen? ... Dein Schicksal und das seine kreuzen sich immer wieder.«

Angélique stützte sich mit ihren Händen auf. »Wenn dein Schicksal das meine kreuzen muß«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, »dann muß es mir glücken.«

Der Zufall allein hatte den Rescator nicht an dieses Gestade führen können. Gewiß bedeutete es etwas. Es bedeutete, daß Angélique ihm begegnen mußte. Trotz des Sturms, des Meers, der Nacht würde sie also zu ihm gelangen. Eine außerordentlich gegenwärtige, rauhe Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Bei mir werdet Ihr schlafen. Bei mir gibt es Rosen.« Und der Zauber Kandias und jenes unerklärlichen Augenblicks, in dem sie an der Seite des maskierten Mannes, der sie soeben gekauft hatte, die Lust verspürte, für immer bei ihm zu bleiben, kehrte zu ihr zurück.

Angélique raffte sich auf.

Sie stellte fest, daß es aufgehört hatte zu regnen. Doch der Wind schien dafür noch an Wucht gewonnen zu haben. Er packte sie an den Schultern, stieß sie vorwärts, warf sich ihr sodann von vorn entgegen, und sie mußte sich Schritt für Schritt ihren Weg erkämpfen, wie von einer menschlichen Kraft zurückgehalten.

Wenige Augenblicke später überfiel sie die Furcht, die falsche Richtung eingeschlagen zu haben. Sie drehte sich wie eine Marionette um sich selbst und vermochte sich plötzlich nicht mehr zurechtzufinden. Aber der Himmel begann an einigen Stellen lichter zu werden, und unversehens entdeckte sie im Osten die rötliche Flamme des Laternenturms. Auf der anderen Seite schimmerte ein zweites, kleineres Licht auf der äußersten Spitze der Ile de Ré.

Angélique fand zu ihrer klaren Überlegung zurück. Sie erriet die vom Wind gepeitschte, aber von den Nebeln befreite Ebene um sich. Sie konnte schneller gehen. Als sie in der Nähe der Bucht ankam, in der sie nachmittags das ankernde Schiff gesehen hatte,

verlangsamte sie ihre Schritte.

»Und wenn er in See gegangen ist?« fragte sie sich plötzlich.

Dann faßte sie von neuem Hoffnung. So viele dramatische Dinge hatten sich in den letzten Stunden ereignet - die Rückkehr der Kinder, ihre Verhaftung, das Verhör Baumiers, die Begegnung mit Desgray -, daß sie unter dem Eindruck stand, Tage durchlebt zu haben. Als sie die Piraten bemerkt hatte, waren sie mit den Vorbereitungen zum Kalfatern beschäftigt gewesen. Das bedeutete, daß am Schiff Reparaturen vorzunehmen waren und daß sie unmöglich mitten in der Nacht vor dem wachsenden Sturm hatten flüchten können.

Überdies tauchte nun auch ein stärkeres Licht auf, das wie ein großer Stern über ihr zu schweben schien. Sie begriff, daß es die an der Mastspitze der Gouldsboro schwankende Laterne war.

Trotz ihres Wunsches, möglichst wenig aufzufallen, zogen es die Piraten offenbar vor, klar zu sehen, denn die Bucht, in die sie sich geflüchtet hatten, war kaum geschützt, und das Schiff zerrte heftig an seinen Ankerketten.

Auf Deck waren die Umrisse der Wachtposten zu erkennen, die sich, so gut es ging, gegen das Unwetter schützten.

Angélique verharrte eine ganze Weile beobachtend am Rande der Klippe.

Selbst unsichtbar, betrachtete sie das vom Ungewissen Licht der schwankenden Laterne überhuschte Schiff - ein wahres Gespensterschiff - mit seinen gegen den Wind an den Masten festgezurrten Segeln, das im schäumenden Kochen der anstürmenden Flut wie auf dem Grunde des Kessels einer Zauberin schaukelte.

Vor kurzem noch, als sie La Rochelle verlassen hatte, war es ihr einfach erschienen, sich auf den Weg zu machen und zu diesem Ort wie zu dem Hafen zu laufen, in dem die einzig noch verbleibende Hilfe auf sie wartete.

Jetzt erst wurde ihr der Wahnwitz ihres Unternehmens klar: sich freiwillig in die Gewalt dieser Gesetzlosen zu begeben, sich dem gefährlichen Piraten zu nähern, den sie beleidigt und lächerlich gemacht hatte, ihn in einer Angelegenheit um Hilfe zu bitten, die nicht nur schwierig, sondern für ihn auch ohne Gewinn war! ... Unsinnig das eine wie das andere und ohne Aussicht, zu etwas anderem als zu einer Katastrophe zu führen. Aber auch in ihrem Rücken drängte die unausweichliche Katastrophe. Und sie hatte sich schon zu weit vorgewagt.

Unter ihr tanzte ein zweites Licht, der Schein eines im Schutze der Klippenhöhle angezündeten Feuers, neben dem Matrosen Wache hielten.

Dieselbe Hand, vielleicht die Osman Ferradjis, die Angélique schon zuvor aus ihrer Apathie gerissen hatte, stieß sie von neuem voran. »Geh! Geh! Dort ist dein Schicksal ...«

Hoffnung und Schrecken teilten sich in ihr Herz. Aber sie zögerte nicht länger, und da sie nun auf den Pfad stieß, den wenige Stunden vorher die Fischer von Saint-Maurice und ihre Tiere benutzt hatten, begann sie ihn vorsichtig hinabzusteigen.

Sie erreichte den Strand, Ihre Füße versanken in dem perlmuttern schimmernden Kies, der aus Millionen zerbrochener Muscheln bestand. Mit Mühe bewegte sie sich vorwärts.

Von hinten packten sie Hände um die Taille, an den Handgelenken und verurteilten sie zur Unbeweglichkeit. Eine trübe Laterne wurde ihr vors Gesicht gehalten. Die sie umgebenden Piraten sprachen in einer ihr unbekannten Mundart. Sie unterschied ihre braunen Gesichter unter blutroten Tüchern, ihre kräftigen Zähne und das Funkeln der goldenen Ringe, die einige von ihnen im Ohrläppchen trugen.

Dann schrie sie auf, einen Namen ihnen in die Gesichter schleudernd, hinter dem sie sich wie hinter einem Schild verbarg:

»Der Rescator! ... Ich will ihn sprechen, Euren Anführer ... Monsieur le Rescator!«

Sie wartete, an die Holzwand gelehnt, um dem heftigen Schwanken des Schiffes besser widerstehen zu können.

Die Wächter vom Strand hatten sie in eine türkische Barke steigen lassen, die die Wellen wie eine Nußschale hin und her warfen, und es war ihr nicht recht klar, dank welcher Kraft es ihr schließlich gelungen war, sich in der tintigen Nacht an der schaukelnden Strickleiter an Deck zu ziehen.

Jetzt war sie an ihrem Ziel angelangt. Man hatte sie in eine Art Kombüse geschoben, zweifellos das Reich des Kochs, denn sie war von Schwaden Fettgeruchs durchzogen.

Zwei Männer bewachten sie. Ein dritter trat ein, der unter seinem durchweichten Federhut eine Maske trug und dessen untersetzte, stämmige Gestalt sie alsbald erkannte.

»Seid Ihr der Kapitän Jason?«

Sie sah ihn auf Deck des königlichen Flaggschiffs La Royale vor sich. Kapitän Jason, der erste Offizier des schrecklichen Rescator, erteilte dem Herzog de Vivonne, Großadmiral der Flotte König Ludwigs XIV, seine Befehle. Heute wirkte er weit weniger prächtig, aber er bewahrte sich noch immer das sichere Auftreten des Stellvertreters eines Herrn, dessen Willen sich letzten Endes doch als der stärkere erwies.

»Woher kennt Ihr mich?« fragte er nach einem Moment der Überraschung.

Durch die Schlitze der Maske musterte sein argwöhnischer Blick die durchnäßte, zerzauste und zerlumpte Bäuerin, die man ihm präsentierte.

»Ich bin Euch in Kandia begegnet«, antwortete sie.

Sein Mienenspiel drückte Erstaunen aus. Allem Anschein nach erkannte er sie nicht.

»Sagt Eurem Herrn, Monseigneur le Rescator, ich sei ... jene Frau, die er vor vier Jahren in Kandia für fünfunddreißigtausend Piaster gekauft hat ... in der Nacht des Brandes.«

Kapitän Jason sprang buchstäblich bis zur Decke. Staunend starrte er sie noch immer an. Dann stieß er einige englische Flüche aus. Schließlich befahl er den beiden Matrosen in einer Erregung, die bei diesem ruhig scheinenden Mann ungewöhnlich wirkte, die Gefangene aufs sorgfältigste zu bewachen, schoß aus der Tür, und gleich darauf hörte sie ihn über die Deckplanken poltern.

Die beiden Männer glaubten sich verpflichtet, Angélique an den Armen zu packen, obwohl es auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen unmöglich gewesen wäre zu entkommen. Sie befand sich nun im Rachen des Wolfes.

Die Wirkung ihrer Erklärung erfüllte sie mit Unruhe. Ohne jeden Zweifel hatte man sie nicht vergessen. Sie würde in kurzem vor dem Rescator stehen. Gleich einer Woge überschwemmten sie ihre Erinnerungen. Das vom jäh aufblitzenden Schein der blauen Rakete erhellte Kandia, Kandia in Flammen, die Hermes des Piraten d’Escrainville, die sich brennend vom dunklen Nachthimmel abhob wie ein Monument aus reinem Gold, während die Masten in einer Funkengarbe zusammenstürzten. Der Rescator inmitten der Rauchwolken, die sich aus seiner Sche-becke erhoben, und der alte Zauberer Savary, der im Bug der Barke herumgetanzt war und gerufen hatte: »Das ist das griechische Feuer! Das ist das griechische Feuer!«

Krampfhaft zog sie ihren nassen Mantel um sich zusammen, der wie Blei auf ihren müden Schultern lastete.

In der Feuernacht von Kandia hatten sich zwei Schicksalswege getroffen, hatten sich wieder voneinander entfernt und begegneten sich nun gegen alle Logik, selbst gegen den Willen der Götter, erneut in dieser Nacht an einem anderen Punkt der Erde. War es das, was Osman Ferradji auf der Plattform des Mozagrel-Turms in den Gestirnen gelesen hatte? ...

Das Geräusch von Schritten drang von draußen herein, Angélique straffte sich, bereit, ihm gegenüberzutreten. Aber es war nur Kapitän Jason, der auf der Schwelle erschien. Mit einer barschen Bewegung wies er die Matrosen an, ihm mit Angélique zu folgen. Während sie über einen Laufsteg gestoßen wurde, spürte sie wieder den schneidenden Atem des Windes, umfing sie das nahe Brausen der Fluten. Man ließ sie die Stufen einer kurzen Holztreppe hinaufsteigen.

Hinter den Scheiben des Heckaufbaus schimmerten rote Lichter. Sie beschworen die Erinnerung an jene still brennenden, diabolischen Flämmchen herauf, die unter den Retorten der Alchimisten, der Satansdiener, leuchteten. Warum durchkreuzte ein solcher Gedanke Angélique, während man sie, von einer heulenden Bö umtost, ins Innere schob? Vielleicht dachte sie daran, daß man den Herrn dieses Raums, den Rescator, auch den Magier des Mittelmeers nannte .

Im ersten Augenblick schien es ihr, als habe sie ein Beet von Moos und Blumen betreten, und während man die Tür hinter ihr schloß, wurde sie sich der wohltuenden Wärme des Raums bewußt. Nach den eisigen Duschen des Regens und dem peitschenden Sturm bereitete sie ihr fast Unbehagen. Sie mußte alle ihre Willenskräfte zu Hilfe nehmen, um stehenzubleiben und nicht in Ohnmacht zu sinken.

Allmählich erholte sie sich. Ihre Augen gewöhnten sich an das helle Licht. Vor ihr stand ein Mann, der den Salon mit seiner Gegenwart zu füllen schien.

Es war der Mann, den sie am Klippenrand gesehen hatte, es war der Rescator. Seine Größe überraschte sie. Er stieß fast an die niedrige Decke. Auch erinnerte sie sich nicht, daß seine Erscheinung so eindrucksvoll gewesen war. Da sie ihn in seiner ungezwungenen, katzenhaften Art nur zwischen den Orientalen des Batistans von Kandia gesehen hatte, war er ihr nie so hart vorgekommen. Er schien ihr kantig aus schwarzem Felsgestein ausgehauen zu sein, mit mächtigen Schultern, die Taille von einem breiten Gürtel aus Leder und Stahl umschnürt, an dem in Halftern zwei verzierte Pistolen hingen, die straffen Muskeln der Schenkel durch eine eng anliegende Lederhose betont. Seine Haltung - die Beine gespreizt, um dem Rollen des Schiffs zu widerstehen, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt - war die eines Richters. Kalt, beobachtend, mißtrauisch.

Er verhielt sich abwartend. Er schien nur wenig Ähnlichkeit mit dem Fürsten des Mittelmeers zu besitzen.

Allein an dem schmalen Kopf, umwunden von einem auf spanische Art geknüpften Tuch aus dunklem Satin, der unmenschlichen Ledermaske mit der herausgearbeiteten Nase, dem schwarzen, gelockten Bart, der dies düstere Gesicht verlängerte, und in dem durch die Schlitze der Maske funkelnden unerträglichen Blick, erkannte sie ihn wieder.

Er war es, der Rescator, doch geprägt von einem härteren Zauber, dem des Ozeans, und während sie lange Zeit von dieser rätselhaften Persönlichkeit wie von einem der Helden aus »Tausendundeiner Nacht« geträumt hatte, entdeckte sie nun, daß sie vor einem Piraten stand.

Zwei venezianische Laternen mit rotgoldenen Scheiben rahmten ihn ein und trugen wenig dazu bei, die Unheimlichkeit seines Anblicks zu mildern.

Eine besonders ungestüme Woge ließ Angélique schwanken und schleuderte sie gegen die Tür, an der sie sich festklammern mußte, um nicht zu fallen.

In diesem Augenblick kam Leben in die schwarze Statue. Die Schultern hoben sich in einem krampfhaften Zucken. Der Kopf beugte sich zurück.

Und sie bemerkte, daß den Rescator ein Anfall des ihm eigenen erstickten Gelächters schüttelte, das in einem dumpfen Husten endete.

»Die Französin aus Kandia!« rief er aus.

Die rauhe, verschleierte Stimme, in der zuweilen knirschende Zwischentöne aufklangen, hatte auf Angélique genau dieselbe Wirkung wie früher. Sie rief ein herzzerreißendes, schmerzliches Gefühl hervor. Etwas Unerträgliches und zugleich doch auch wieder das Verlangen, sie von neuem zu hören!

Sie sah ihn mit langsamen Schritten auf sich zukommen; seine Zähne eine weiße Spur im schwarzen Bart.

Sein Lachen verletzte sie mehr, als es Beschimpfungen vermocht hätten.

»Warum lacht Ihr«, fragte sie mit tonloser Stimme.

»Weil mich das Phänomen Eurer Verwandlung beschäftigt, die aus der schönsten Gefangenen des Mittelmeers, für die ich ein Vermögen bezahlte, eine Frau machte, für die hundert Piaster noch zuviel wären.«

Er hätte nicht verächtlicher, nicht unverschämter sein können. Angélique sah sich, wie sie wirklich war: durchnäßt, abgerissen, in der düsteren Kleidung einer Frau des Volkes, das Gesicht fleckig unter dem schwarzen, triefenden Kopftuch, Haarsträhnen, die an ihren Schläfen klebten - eine Hexe. Weit entfernt davon, sich einschüchtern zu lassen, verlieh ihr diese neue Attacke plötzlich die Kraft zu reagieren.

»Oh, wirklich!« sagte sie sarkastisch. »Um so besser. Dann werdet Ihr den schlimmen Streich, den ich Euch in Kandia spielte, nicht mehr bedauern - falls Ihr es jemals getan habt.«

Gegen die Tür gelehnt, betrachtete sie mit gesenkter Stirn und blitzenden Augen den maskierten Mann und stellte fest, daß er ihr keine Angst einflößte. Sie hatte beschlossen, daß er sie retten müsse, da er und sein Schiff ihre einzige und letzte Chance waren. Also mußte sie ihn umgarnen, mußte sie sein Mitgefühl zu wecken suchen. Er schien ihr unerreichbar und verschlossen, schrecklich fern, nicht wirklich, eine Erscheinung auf halbem Wege zwischen Alptraum und Wachtraum. Ihr Eindruck vertiefte sich noch während des folgenden Schweigens.

Sie wünschte, daß er von neuem spräche. Der Klang seiner Stimme würde ihr helfen, sich dem Zwang seines magnetischen Blicks zu entziehen.

»Es fehlt Euch nicht an Kühnheit, da Ihr mich an jene Dinge erinnert«, sagte er endlich. »Wie ist es Euch gelungen, mich zu finden?«

»Ich bemerkte Euch vor kurzem, als ich durch die Heide ging. Ihr standet am Rand der Klippe und beobachtetet die Stadt.«

Sie sah ihn erbeben, wie in einem wunden Punkt berührt.

»Zweifellos macht sich das Schicksal über uns lustig«, rief er. »Wieder einmal seid Ihr nicht weit von mir entfernt gewesen, und ich habe Euch nicht gesehen.«

»Ich versteckte mich in den Gebüschen.«

»Ich hätte Euch dennoch sehen müssen«, erklärte er in einer Art von Zorn. »Welches Genie hilft Euch, zu erscheinen und zu verschwinden, mir zwischen den Fingern zu entwischen?« Er begann auf und ab zu gehen. Sie zog die Bewegung seiner feindseligen Reglosigkeit vor.

»Ich werde meine Leute zu ihrer Art, Wache zu halten, nicht gerade beglückwünschen«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Habt Ihr zu irgend jemand von Eurer Beobachtung, von unserer Anwesenheit hier gesprochen?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Da habt Ihr Glück gehabt ... Als Ihr mich also bemerktet, seid Ihr wieder einmal geflüchtet, um Euch sodann um Mitternacht bei mir vorzustellen . Warum? Warum seid Ihr gekommen?«

»Um Euch zu bitten, Personen an Bord Eures Schiffes zu nehmen, die La Rochelle spätestens mor-gen abend verlassen haben müssen und sich zu den amerikanischen Inseln begeben wollen.«

»Passagiere?«

Der Rescator wandte sich ihr zu. Er bewegte sich trotz des ununterbrochenen Wogens der See mit außerordentlicher Sicherheit. Angélique erinnerte sich seiner Silhouette auf dem Bugspriet der Schebecke, als er das Tau geworfen hatte, das die Galeere Dauphine retten sollte. Während sie hier stand, gegenwärtig in diesem Salon, fuhr ein Teil ihres Geistes fort, der Vergangenheit entrissene Bilder zu wecken. Es war wie eine heimliche, unterirdische Suche, deren Zielpunkt immer nur dieser schwarze, faszinierende Mann war. Wie damals, als er sich ihr im Verkaufssaal des Batistans zum erstenmal genähert hatte, forderte er unversehens alle ihre Kräfte, beanspruchte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Die vertraulichen Einflüsterungen der jungen griechischen Sklavin Ellis flatterten durch ihre Erinnerung wie Schmetterlinge: »Alle Frauen! ... Er verführt sie alle . keine vermag sich ihm zu entziehen, meine Freundin .« Trotzdem hörte sie deutlich ihre eigene Stimme antworten: »Ja, Passagiere. Sie werden Euch gut bezahlen.«

»Welcher Art mögen wohl diese eigentümlichen Passagiere sein, die Bedürfnis nach einem Korsarenschiff verspüren? Sicherlich, um aus La Rochelle zu fliehen .«

»Fliehen ist das richtige Wort, Monseigneur. Es handelt sich um Familien, die der reformierten Religion angehören. Der König von Frankreich duldet keine Ketzer mehr in seinem Königreich. Diejenigen, die nicht bereit sind, sich zu bekehren, haben keine andere Wahl, als ihre Heimat zu verlassen, wenn sie dem Gefängnis entgehen wollen. Aber die Küsten werden überwacht, und es ist schwierig, heimlich aus den Häfen zu gelangen.«

»Familien, sagtet Ihr? Sind auch Frauen dabei?«

»Ja, ja .«

»Und Kinder?«

»Ja ... Kinder vor allem«, erwiderte Angélique mit klangloser Stimme.

Sie sah sie mit ihren rosigen Wangen und ihren Augen voller Sterne um die Palme tanzen. Es war, als hörte sie hinter dem Tosen des Sturms das rhythmische Klappern ihrer kleinen Holzpantinen.

Aber sie wußte auch, daß ihr Eingeständnis so gut wie sicher seine Weigerung hervorrufen würde. Der Kapitän eines Frachtschiffes nimmt nur widerwillig Passagiere an Bord. Und Frauen und Kinder betrachtet er als Ware, die ihm nur Unannehmlichkeiten auf den Hals ziehen kann. Das beklagt sich, das stirbt, die Männer an Bord schlagen sich wegen der Frauen ...

Angélique hatte lange genug in einem Hafen wie La Rochelle gelebt, um die Vermessenheit ihrer Bitte zu begreifen. Wie konnte sie es wagen, mit einem Piraten über den Advokaten Carrère und seine elf Kinder zu sprechen? ... Ihre Sicherheit schwand.

»Es wird immer schöner«, spottete der Rescator.

Seine Stimme färbte sich ironisch:

»Und wie hoch beziffert sich dieses höchst uninteressante Kontingent von Psalmensängern, mit dem Ihr meinen Schiffsraum vollstopfen wollt?«

»Es sind fast ... vierzig Personen.«

Sie ließ beinah ein Dutzend unter den Tisch fallen.

»Wie? ... Ihr scheint zu scherzen, meine Schöne. Es wäre besser, wenn Ihr den Scherz nicht weitertreibt. Aber da ist etwas, was mich neugierig macht. Infolge welch seltsamer Zusammenhänge interessiert sich die Marquise du Plessis-Bellière - denn diesen Titel führtet Ihr doch, als ich Euch kaufte? - plötzlich für eine Handvoll bleicher calvinistischer Spitzköpfe? Sollte jemand aus Eurer Familie darunter sein? Ein Liebhaber? ... obwohl mir einer von dieser Sorte nicht eben inspirierend für eine ehemalige Odaliske zu sein scheint. Oder, wer weiß, vielleicht habt Ihr unter diesen Ketzern sogar einen neuen Gatten auserwählt, denn wenn ich mich recht erinnere, steht Ihr in dem Ruf, in dieser Hinsicht einen starken Konsum zu haben.«

Seine boshafte Ironie schien ihr eine seltsame Neugier zu verbergen.

»Nichts von alledem«, sagte sie.

»Warum dann?«

Wie konnte sie ihm erklären, daß ihr nichts anderes als das Heil ihrer protestantischen Freunde am Herzen lag? In den Augen eines gewiß recht ruchlosen Piraten, der noch dazu, wie sie hatte erzählen hören, spanischer Herkunft war, mußte ein solcher Grund unverzeihlich sein. In letzterem Fall käme zu seiner Ruchlosigkeit noch die Unduldsamkeit seiner Rasse.

Es war etwas Beunruhigendes in der Tatsache, daß er über manche Einzelheiten ihres Lebens auf dem laufenden zu sein schien. Er wußte zweifellos viel über sie. Gewiß, das Mittelmeer kolportierte Neuigkeiten mit einer Genauigkeit, die sich selten auf einem Fehler ertappen ließen, wenn sie auch oft genug übertrieben waren.

Er beharrte ironisch:

»Ihr seid mit einem der Ketzer verheiratet, nicht wahr? Wahrhaftig, Ihr seid tief gesunken.«

Angélique schüttelte den Kopf. Die niederträchtigen, von Bösartigkeit nicht freien Anspielungen berührten sie nicht. Ihre ganze Sorge galt der unglückseligen Wendung, die die Verhandlung genommen hatte. Wo sollte sie die Argumente hernehmen, die ihn überzeugen konnten?

»Unter ihnen sind Reeder, die auf den amerikanischen Inseln Vermögen besitzen. Sie könnten Euch entschädigen, wenn Ihr ihnen das Leben rettet.«

Mit einer Handbewegung wischte er ihren Vorschlag beiseite.

»Was sie mir auch anbieten würden, es könnte das Ärgernis ihrer Anwesenheit nicht ausgleichen. Für vierzig zusätzliche Personen habe ich keinen Platz an Bord. Ich weiß nicht einmal, ob ich unseren Ankerplatz verlassen und ohne Schwierigkeiten die Meerenge hinter mich bringen kann, da die verdammte königliche Flotte dort draußen umherstreift. Außerdem befinden sich die amerikanischen Inseln nicht auf meiner Route.«

»Wenn Ihr sie nicht aufnehmt, werden sie morgen abend alle im Gefängnis sein.«

»Bah! Das ist das Schicksal vieler in diesem charmanten Königreich.«

»Man soll von solchen Dingen nicht leichtfertig reden, Monsieur«, sagte sie, in ihrer Verzweiflung die Hände faltend. »Wenn Ihr wüßtet, was es heißt, im Gefängnis zu sein .«

»Und wer sagt Euch, daß ich es nicht weiß?«

Sie überlegte, daß er, der außerhalb des Gesetzes lebte, in der Tat in seiner Heimat Verurteilung und Ausstoßung kennengelernt haben mußte. Für welches Verbrechen? .

»In dieser Zeit werden so viele Leute ins Gefängnis gesteckt, gehen so viele Leben verloren! Ein paar mehr oder weniger, was bedeutet das schon! ... Nur die Meere sind noch frei und ein paar jungfräuliche Landstriche Amerikas . Aber Ihr habt die Frage, die ich Euch stellte, nicht beantwortet. Aus welchem Grund interessiert sich die Marquise du Plessis für diese Ketzer?« Sein Ton war gebieterisch.

»Weil ich nicht will, daß sie ins Gefängnis kommen.«

»Große Gefühle also? Bei einer Frau Eurer Moral glaube ich nicht recht daran.«

»Oh, glaubt, was Ihr wollt«, murmelte Angélique, am Ende ihrer Kraft angelangt. »Es gibt keinen anderen Grund. Ich will, daß Ihr sie alle rettet!«

Den ganzen Abgrund, der das Herz der Frauen von dem der Männer trennt, durchmaß sie an diesem Tage. Nach Baumier Desgray und der Rescator! Selbstbewußte, von ihrer Macht erfüllte Männer, gleichgültig gegen die Tränen der Frauen und das Schluchzen gepeinigter Kinder. Baumier hätte sich darüber belustigt. Desgray hatte sich nur bereit gefunden, sie zu schonen, weil er sie noch immer liebte. Da sie in den Augen des Rescators alles Verführerische verloren hatte, würde er ihr nichts mehr zugestehen.

Im übrigen hatte er sich von ihr abgewandt und auf einem breiten orientalischen Diwan niedergelassen. Seine Haltung drückte äußerste Langeweile, wenn nicht völlige Gleichgültigkeit aus. Er streckte seine langen, in Stiefeln steckenden Beine vor sich über den Teppich.

»Wahrhaftig, die Narrheiten der Frauen sind mannigfaltig, aber ich muß gestehen, daß Ihr bei weitem das übliche Maß überschreitet. Rekapitulieren wir: als ich Euch das letztemal begegnete, seid Ihr mir davongelaufen, nicht ohne mir als Erinnerung meine in Flammen stehende Schebecke und fünfunddrei-ßigtausend Piaster Schulden zurückzulassen; vier Jahre später findet Ihr es ganz natürlich, zu mir zu kommen, ohne irgendwelche Bestrafung zu fürchten, um mich zu bitten, Euch und vierzig Eurer Freunde an Bord zu nehmen und ihnen zur Flucht zu verhelfen. Gebt zu, daß Eure Forderung jedes Verständnis

übersteigt!«

Er stieß die auf einem niedrigen Tischchen neben dem Diwan stehende Sanduhr an und drehte sie um. Dank einem schweren Bronzefuß, der es auf seinem Platz hielt, schien das Instrument durch die Bewegungen des Schiffes nicht beeinflußt zu werden. Der Sand begann zu rieseln, ein winziger, schneller Sturzbach, der Angéliques Augen in seinen Bann schlug. Die Stunden verrannen, die Nacht verstrich ...

»Schließen wir ab«, sagte der Rescator. »Ich bin weder an Eurer Transportgeschichte noch an Euch selbst interessiert. Da Ihr aber die Unvorsichtigkeit begangen habt, Euch in die Hände eines Herrn zu geben, der es sich hundertmal geschworen hat, Euch für die Unannehmlichkeiten, die Ihr ihm verursacht habt, teuer bezahlen zu lassen, werde ich Euch trotzdem an Bord behalten . In Amerika stehen die Frauen weniger hoch im Kurs als im Mittelmeer, aber es wird mir durch Euren Verkauf vielleicht gelingen, einiges von dem Schaden wiedergutzumachen.«

Trotz der Wärme im Raum fühlte sich Angélique von einer eisigen Kälte bis ins Herz durchdrungen. Ihre durchnäßten Kleidungsstücke klebten an ihrem Körper, aber im Eifer des Gesprächs hatte sie bisher nicht darauf geachtet.

Jetzt zitterte sie vor Kälte.

»Euer Zynismus beeindruckt mich nicht«, sagte sie mit heiser werdender Stimme. »Ich weiß, daß .«

Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie und ließ sie nicht weitersprechen. Das vollendete das Bild ihrer Vernichtung ... Zu ihrem jämmerlichen Äußeren fügte sich der Anblick einer kränklichen Frau, die nach Atem rang.

In diesem Moment fand er angesichts ihrer Niederlage zu einer Geste, die sie nicht erwartet hatte. Er trat zu ihr, legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben.

»Das kommt davon, wenn man in einer Sturmnacht an der Küste hinter einem Piraten herläuft«, murmelte er.

Die Maske näherte sich ihrem Gesicht. Es war ein erstaunlicher Kontrast: das harte, kalte Leder und das Funkeln brennender Augen, die ihre Willenskräfte lähmten.

»Was haltet Ihr von einer Tasse guten Kaffees, Madame?«

Angélique begann sich unversehens besser zu fühlen.

»Kaffee? Echten türkischen Kaffee?«

»Ja, türkischen Kaffee, wie man ihn in Kandia trinkt ... Aber entledigt Euch zuvor dieses mit Wasser vollgesogenen Umhangs. Ihr habt meine Teppiche unter Wasser gesetzt.«

Um sich herum sah sie den samtweichen orientalischen Bodenbelag, auf dem man zwischen Blüten wie auf Moos zu gehen glaubte, in einem erbärmlichen Zustand.

Der Rescator nahm ihr den Umhang ab und warf ihn in eine Ecke, als wäre es ein Bündel Lumpen. Von der Lehne eines Sessels nahm er seinen eigenen Mantel.

»Einen schuldet Ihr mir bereits, den Ihr ohne Gewissensbisse in der Nacht des Brandes mitgenommen habt. Ah, niemals sah man den Rescator mehr der Lächerlichkeit preisgegeben .«

Und es war wie in jener Nacht im Orient: zwei warme Hände auf ihren Schultern und um sie die schützenden Falten des duftenden samtenen Mantels ... Sie noch immer an sich drückend, führte er sie zum Diwan. Als sie sich gesetzt hatte, begab er sich in den Hintergrund des Salons, und sie vernahm von draußen den Ton einer Glocke. Der Sturm beruhigte sich offenbar, denn die Bewegungen des Schiffs wurden weniger heftig.

Der Sand des schönen Instruments zum Messen der Zeit fuhr fort zu rieseln, schimmernd im orangenen Licht der venezianischen Laternen.

Angélique entfloh der Wirklichkeit. Sie befand sich in der Höhle des Zauberers .

Auf das Glockenzeichen hin war ein Mann eingetreten, ein barfüßiger Maure in kurzem Burnus über roten Matrosenhosen. Mit den geschmeidigen Bewegungen seiner Rasse kniete er nieder und schob einen niedrigen Tisch zum Diwan, auf den er ein silberverziertes Kästchen aus Korduanleder stellte. Klappte man die beiden Seitenwände herunter, verwandelten sie sich in Präsentierplatten, auf denen alle zur Bereitung und zum Kosten des Kaffees notwendigen Utensilien in schönster Ordnung befestigt waren:

Der silberne Samowar, das Tablett aus massivem Gold mit zwei Tassen aus chinesischem Porzellan, ein mit geeistem Wasser gefülltes chinesisches Kännchen und eine Schale mit Kandiszucker.

Der Maure verschwand und kehrte gleich darauf mit einem Kessel kochenden Wassers zurück. Mit großer Sorgfalt und ohne einen Tropfen zu verschütten, bereitete er das orientalische Getränk, dessen Duft Angélique durchdrang und ein fast kindliches Vergnügen in ihr weckte. Ihre Wangen erhielten plötzlich ihre Farbe wieder, als sie ihre Hand nach dem silbernen Becher ausstreckte, in dem die chinesische Tasse ruhte. Neben ihr sitzend, beobachtete sie der Rescator mit rätselhaftem Blick, während sie nach muselmanischem Ritus mit zwei Fingern die winzige Tasse ergriff, einen Tropfen Eiswasser hineinfallen ließ, um das Sinken des Satzes zu beschleunigen, und sie schließlich an die Lippen führte.

»Man sieht, daß Ihr Gast im Harem Moulay Ismaëls gewesen seid«, sagte er. »Welche Meisterschaft! Man könnte Euch für eine Muselmanin halten. Trotz Eurer augenblicklichen Lage habt Ihr Euch ein paar gute Sitten bewahrt, an denen man Euch wiedererkennt.«

Der Maure hatte sich zurückgezogen.

Angélique stellte die Tasse in ihre Hülle zurück, die sie davor bewahrte umzustürzen, und der Rescator beugte sich vor, um sie von neuem zu bedienen. Dabei bemerkte er Blutspuren am Rand des silbernen Bechers.

»Woher dieses Blut? Seid Ihr verletzt?«

Angélique sah auf ihre zerschundenen Handflächen.

»Ich spürte nichts. Es ist vor kurzem auf den Klippenfelsen geschehen ... Bah! Auf den Pfaden des Rifs war es schlimmer.«

»Eure Flucht? ... Wißt Ihr, daß Ihr die einzige christliche Sklavin seid, der ein solcher Streich geglückt ist? Ich glaubte lange, daß Eure Knochen auf irgendwelchen Fährten der Wüste bleichten.«

Vor Angéliques weitgeöffneten Augen wurde die grausame Odyssee von neuem lebendig.

»Ist es wahr ... daß Ihr nach Miquenez gekommen seid, um mich zu holen?« fragte sie.

»Es stimmt. Übrigens war es nicht schwer, Euch zu folgen. Ihr hattet ein Gemetzel hinter Euch gelassen.«

Die Lider der jungen Frau schlossen sich. Ihre Züge spiegelten Entsetzen wider.

Der Maskierte murmelte mit zweideutigem Lächeln:

»Dort, wo die Französin mit den grünen Augen vorüberzieht, bleiben nur Schutt und Leichen zurück.«

»Ist das ein neues Sprichwort im Mittelmeer?«

»Ja, etwas dergleichen.«

Bedrückt sah Angélique auf das Blut an ihren Händen .

Er stellte eine weitere Frage:

»Ihr seid zu zehnt aus Miquenez geflüchtet. Wie viele davon haben Ceuta erreicht?«

»Zwei.«

»Wer war der andere?«

»Colin Paturel, der König der Gefangenen.«

Wieder begann Angst in ihr aufzusteigen. Eine ungreifbare, nicht zu bestimmende Gefahr ...

Um sie zu bannen, bemühte sie sich, von neuem dem Blick des Maskierten zu begegnen.

»Wir haben viele gemeinsame Erinnerungen«, sagte sie leise.

Er lachte auf seine jähe, heisere Art, die sie erschreckte.

»Viel zu viele. Mehr als Ihr meint.«

Plötzlich reichte er ihr sein Taschentuch.

»Wischt Eure Hände ab.«

Sie gehorchte mechanisch. Der bisher betäubte Schmerz begann spürbar zu werden. Das Salz brannte in den Wunden.

»Ich wollte über den Strand gehen, um mich nicht zu verirren«, erklärte Angélique.

Sie erzählte, daß sie auch diesmal angesichts der steigenden Flut geglaubt habe, ihre letzte Stunde sei gekommen. Sie fragte sich, durch welches Wunder es ihr gelungen sei, an den steil abfallenden Klippen emporzuklettern.

»Der Tod schien mich schon in seinen Krallen zu haben ... Aber schließlich habe ich Euch doch wiedergefunden.«

In Angéliques Stimme schwang bei diesem letzten Satz ein Ton träumerischer Weichheit. Übrigens sprach sie ihn aus, ohne sich seiner Bedeutung bewußt zu sein. ». habe ich Euch doch wiedergefunden.«

In dem geheimnisvollen Licht sah sie nur sein schwarzes, unbewegliches Gesicht. Dort endeten alle ihre Träume.

Einen Augenblick lang schien es Angélique, daß sie sich an die breite Brust des Mannes werfen, daß sie ihr Gesicht in den Falten seines samtenen Rockes verbergen müsse.

Dieser Samt war nicht schwarz, wie sie geglaubt hatte, sondern dunkelgrün wie das Moos der Bäume. Sie betrachtete ihn und dachte: Wie gut täte es, sich in ihm zu bergen!

Der Rescator streckte die Hand aus. Er berührte ihre Wange, ihr Kinn; unerklärlicherweise waren ihm, dessen durchdringenden Augen nichts verborgen blieb, die sanften Bewegungen des Blinden eigen, der ihm unsichtbare Züge zu erkennen sucht.

Dann löste er mit einem Finger langsam das armselige, kleine Halstuch, das noch immer um Angéliques Haar geknüpft war, und warf es beiseite. Das angeklatschte, durch das Meerwasser dunkler getönte Haar fiel auf die Schultern der jungen Frau herab. Die weißen Strähnen zogen lichte Streifen hindurch. Angélique hätte sie gern vor ihm verborgen.

»Warum war Euch so sehr daran gelegen, mich wiederzufinden?« fragte der Rescator.

»Weil Ihr der einzige seid, der uns retten kann.«

»Ah, Ihr denkt also immer noch an diese Leute!« rief er, sichtlich verärgert, aus.

»Wie könnte ich sie vergessen?«

Ihre Augen kehrten zu dem flinken Sturzbach der Sanduhr zurück. In regelmäßigen Zwischenräumen lief der obere Behälter des Instrumentes leer, und der Rescator drehte es mit einer mechanischen Bewegung um.

In La Rochelle schlief Honorine in dem großen Bauernbett in der Küchennische, aber die heitere Ruhe des Kindes, die Angélique sooft mit Entzücken betrachtet hatte, war gestört. Sie wälzte sich unruhig herum und weinte im Schlaf, Heute hatten sie wieder bedrohliche Gesichter umringt, und sie hatte die Angst ihrer Mutter gespürt. Abigaël wachte bei ihr, für Angélique betend, die Hände gefaltet. Auch Laurier war vielleicht wach wie damals, als er noch auf dem Speicher geschlafen hatte. Er lauschte auf das Unaufhörliche Hin und Her seines Vaters im benachbarten Zimmer.

»Wie könnte ich sie vergessen? Ihr habt mir eben gesagt, daß hinter mir nur Schutt zurückbliebe ... Helft mir also, wenigstens diese zu retten, ein paar Überreste.«

»Diese Leute, diese Hugenotten ... was tun sie? Ich meine, was üben sie als Beruf aus?«

Er stellte die Fragen in barschem Ton, während er nervös seinen Bart zupfte. Dieses Zeichen der Verlegenheit bei einem Mann, den sie bei so mancher Gelegenheit immer als Herr seiner selbst gesehen hatte, verriet ihr, daß die Partie unerklärlicherweise gewonnen war.

Ihr Gesicht erhellte sich.

»Triumphiert nicht«, sagte er ihr. »Selbst wenn es so aussieht, als gäbe ich in dieser Sache Euren Bitten nach, werdet Ihr nichts dabei gewinnen.«

»Was tut’s? Wenn Ihr einwilligt, sie an Bord zu nehmen und sie so dem Gefängnis und dem Tod zu entziehen, was hat da alles andere zu bedeuten? Ich werde hundertmal dafür zahlen.«

»Worte! Ihr kennt den Preis noch nicht, den ich Euch auferlegen werde. Euer Vertrauen in mich grenzt an Naivität. Ich bin ein Pirat der Meere, und Ihr könnt darüber nachdenken, ob mein Beruf etwa darin besteht, Menschenleben zu retten, oder nicht vielmehr darin, sie zu vernichten. Frauen wie Ihr sollten sich nur in die Angelegenheiten der Liebe mischen.«

»Aber es ist eine Angelegenheit der Liebe.«

»Ah, philosophiert nicht«, rief er, »oder ich nehme Euch nur auf mein Schiff, um Euch auf offener See zu ertränken! In Kandia wart Ihr weniger gesprächig und dafür weitaus amüsanter. Antwortet auf meine Frage: welche Art Leute außer frommen Frauen - die schlimmste Art - und plärrenden Würmern soll ich Eurem Verlangen entsprechend aufnehmen?«

»Unter ihnen ist einer der größten Reeder von La Rochelle, Monsieur Manigault, außerdem Kaufleute, die sich mit Überseehandel befassen. Sie besitzen auf den Inseln .«

»Sind auch Handwerker darunter?«

»Ein Zimmermann und sein Lehrling.«

»Das ist schon besser.«

»Ein Bäcker, zwei Fischer. Es sind ehemalige Seeleute, die eine kleine Flottille organisiert haben, um den Fischmarkt von La Rochelle zu beliefern. Sie hoffen, ihr Handwerk auf den Inseln wieder betreiben zu können. Weiter gehören dazu Monsieur Merlot, der Papierfabrikant, Maître Jonas, der Uhrmacher .«

»Nutzlose!«

»Maître Carrère, der Advokat.«

»Es wird immer schlimmer.«

»Ein Arzt .«

»Das genügt ... Nehmen wir sie also an Bord, da Ihr sie nun einmal retten wollt ... alle. Niemals bin ich einer so anspruchsvollen Frau begegnet wie Euch. Und nun, teure Marquise, könnt Ihr mir einen Plan unterbreiten, der es erlaubt, Eure Laune erfolgreich durchzuführen? Ich habe keineswegs die Absicht, mich ewig in diesem Krabbenloch aufzuhalten, in das zu kriechen ich dumm genug war. Ich hatte mir vorgenommen, bei Morgengrauen in See zu gehen. Ich werde längstens bis zur nächsten Flut kurz vor Mittag warten.«

»Wir werden pünktlich auf der Klippe sein.«

Der Soldat Anselme Camisot, der einen Teil der Nacht hinter der Pforte im Winkel damit verbracht hatte, sich an kühnen Hoffnungen und paradiesischen Visionen zu wärmen, fuhr zusammen, als er ein leises Kratzen an der Holzfüllung der Tür vernahm. Seine Erwartungen begannen zu schwinden wie die Flamme einer verbrauchten Kerze, denn die Nacht ging zu Ende, und die Dämmerung zog herauf.

Er hatte Mühe, seinen in der Kälte taub gewordenen, ungefügen Körper zu bewegen.

»Seid Ihr es, Dame Angélique?« flüsterte er.

»Ich bin’s.«

Er drehte den im Schloß knirschenden Schlüssel, und Angélique glitt in die Türöffnung.

»Ihr seid lange ausgeblieben«, seufzte der Soldat.

Im gleichen Augenblick schloß sich der Schraubstock eines stählernen Arms um seine Kehle, während ein Stoß in die Nierengegend ihn das Gleichgewicht verlieren ließ. Ein starker, mit geübter Hand zum Nacken geführter Schlag beförderte ihn zur weiteren Betrachtung seiner idyllischen Bilder ins Land der Träume.

»Armer Mann«, murmelte Angélique, den knochigen, geknebelten und gefesselten Körper Anselme Camisots betrachtend.

»War nicht anders zu machen, Madame«, sagte einer der Seeleute, die sie begleiteten. Es waren ihrer drei.

Der Rescator hatte sie unter seiner Mannschaft zu ihrer Bewachung ausgewählt. »Wir haben den Auftrag, Euch um keinen Preis zu verlassen und Euch tot oder lebendig zurückzubringen!«

Im Hof des Berneschen Hauses fiel der Schein von Maître Gabriels Laterne auf Angélique und den nachtdunklen, mit Silber besetzten Mantel, sowie auf die sie umgebenden Gestalten dreier Matrosen mit verwegenen Galgengesichtern. Die drei deponierten ein stattliches Bündel auf dem Pflaster, in welchem der Kaufmann den wohlverschnürten Wächter des Laternenturms erkannte.

»Ich kann Euch berichten«, sagte Angélique schnell, »daß ich einen Schiffskapitän gefunden habe, der bereit ist, uns alle aufzunehmen. Er geht in wenigen Stunden in See. Diese Leute hier sollen mich begleiten, während ich die andern benachrichtige. Ihr müßt ihnen Kleidungsstücke leihen, damit sie nicht auffallen. Es handelt sich um ein ausländisches Korsarenschiff .«

Schamhaft verschleierte sie die wirkliche Identität des Piraten, der weder irgendeinem Souverän anhing, noch eine andere Flagge führte als den berühmten schwarzen Wimpel der Seeräuber.

»Es liegt in einer Bucht nahe dem Dorf Saint-Maurice vor Anker. Dort müssen wir uns sammeln. Jede Familie wird sich mit eigenen Mitteln und getrennt dorthin begeben. Was Euch und Eure Familie betrifft, Maître Berne, schlage ich vor, daß Ihr die Stadt durch die kleine Ausfallpforte am Fuß des Laternenturms verlaßt. Sie ist noch drei Stunden unbewacht, denn die Ablösung wird nicht vor sieben Uhr morgens erfolgen. Wenn wir uns beeilen, können auch andere Familien diesen Weg benutzen.«

Maître Gabriel war klug genug, keine Fragen zu stellen. Abigaël hatte mit ihm gesprochen. Er wußte, daß alles verloren wäre, wenn er nicht jede Möglichkeit ergriffe, die es ihm erlaubte, schnellstens die Stadt zu verlassen und das Meer zu gewinnen. In der noch dunklen, von Nebelschwaden diesigen Nacht begannen schon die ersten Stunden des Tages zu verrinnen, der entweder ihren Auszug oder ihr Ende in den Kerkern des Königs sehen würde.

Er wies einen Kellerraum an, in dem man den geknebelten Soldaten einschloß, und stieg sodann hinter Angélique die Treppe hinauf, wobei er erklärte, daß er die Kinder und Tante Anna wecken würde.

Später würde er sich um die seltsamen Leibwächter mit den gebräunten Gesichtern unter ihren verdächtigen Pelzmützen, die Angélique begleiteten, und um die Vorgänge kümmern, denen sie ihre Verwandlung in eine ihm fremde Frau verdankte, die ihm Befehle erteilte.

Er begriff dunkel, daß der Ernst der Stunde Angélique daran hinderte, weiterhin eine Rolle zu spielen, die sich mit ihrer wahren Persönlichkeit nicht deckte. Die rasch voranschreitende Dämmerung zwang sie in ihre Wirklichkeit zurück. Sie hatte mit der Kaltblütigkeit und Uneigennützigkeit der großen Adligen von einst die Sorge für sie alle übernommen, und die einzige Art, ihre Bemühungen und Opfer nicht scheitern zu lassen, war die, ihr sofort und in allem zu gehorchen.

Abigaël hatte ihr schmales Gepäck vorbereitet, wie Angélique es ihr empfohlen hatte. Der Pastor Beau-caire war bereits mit seinem Neffen erschienen. Der kleine Nathanaël setzte seinen Schlaf neben Honorine fort.

»Ich werde sie aufstehen und sich ankleiden lassen«, sagte Abigaël, ohne weitere Fragen zu stellen. »Inzwischen könnt Ihr Euch in diesem Zuber mit heißem Wasser aufwärmen, den ich für Euch vorbereitet habe, und danach trockene Kleidungsstücke überziehen.«

»Ihr seid ein Engel«, sagte Angélique, die ohne eine Sekunde zu verlieren die Tür der Küche schloß. Dann glitt sie hinter den Wandschirm, hinter den das junge Mädchen den Zuber geschoben hatte, warf den Mantel des Rescators und danach ihre durchnäßten Kleider auf die Fliesen und erbebte vor Wohlbehagen, als sie in das dampfende Wasser tauchte.

Ohne diese Erfrischung hätte sie trotz der Anspannung, die sie aufrecht hielt, kaum durchzuhalten vermocht. Und ihre Aufgabe war noch nicht beendet.

Sie hörte Abigaël sanft die Kinder wecken, indem sie ihnen von einem wundervollen Land voller Blumen und Näschereien erzählte, in das sie nun reisen würden. Das junge Mädchen verstand es, die Kleinen, ohne sie zu erschrecken, ohne ihnen die Beklemmung dieser nächtlichen Stunden mitzuteilen, in denen jede Sekunde schwer wie Blei wog, aus ihrem Schlummer zu lösen.

»Wie ich Euch bewundere, Abigaël«, sagte Angélique hinter dem Wandschirm. »Ihr laßt Euch durch nichts aus Eurer Ruhe bringen.«

»Das ist das wenigste, was ich für Euch tun kann, Angélique«, antwortete sie so gelassen, als ob sie bei der abendlichen Spinngesellschaft Wollfäden drehe. »Aber woher kommt Ihr? Ihr seid wie verwandelt.«

»Ich?«

Angéliques Blick fiel in den an der Wand angebrachten hohen Spiegel aus poliertem Stahl, vor dem sie zuweilen zerstreut und eilig ihr Haar geordnet und den Sitz ihrer Haube geprüft hatte, und sie sah sich nackt.

Wie im Aufleuchten eines Blitzes erkannte sie ihre weiße Gestalt, das Bild einer kraftvollen, gut gewachsenen Frau mit straffen, hoch angesetzten Brüsten, langem Rücken, wohlgeformten Beinen, »den schönsten Beinen von Versailles«, gezeichnet von dem roten Mal jener Narbe, die ihr Colin Paturel beigebracht hatte, um sie vor dem Schlangenbiß zu retten, damals im Rif.

Ein vergessener Körper! ...

Die verletzende Stimme klang ihr wieder in den Ohren. »Eine Frau, für die hundert Piaster noch zuviel wären.«

Sie zuckte spöttisch mit den Schultern:

»Was will er noch? Um so schlimmer für ihn.«

Sie schlüpfte in das trockene Hemd, das Abigaël in Reichweite über einen Schemel gebreitet hatte.

Mit herausfordernder Gebärde schüttelte sie ihr Haar, das seine sonnenfunkelnden Aureole entfaltete.

»Wie ist es nur zu erklären? Er ist mein schlimmster Feind . und mein bester Freund .«

Er hatte sie zuweilen boshaft und zynisch behandelt. Er verspottete sie. Er hatte ihre unerträgliche Angst, die Angst der gejagten Frau, nicht ernstgenommen. »Und nun, teure Marquise, habt Ihr einen Plan, der es erlaubt, Eure Kapricen erfolgreich durchzuführen?« Als ob das Verlangen, Menschenleben zu retten, nichts anderes als eine unpassende, törichte Laune wäre! Aber er willigte ein, sie an Bord zu nehmen. Der Gesetzlose war bereit, das Wagnis einzugehen, das ein zuverlässiger, mit Vorräten reichlich versorgter und in Geleitschutz segelnder Kapitän weit von sich gewiesen hätte.

Was bedeuteten da schon zynische Worte? Angéliques Empfindlichkeit war seit geraumer Zeit stumpf geworden. Das Unglück hatte ihr Rückgrat, ihren Stolz geschmeidig gemacht. Die Taten allein zählten für sie. Überraschenderweise hatte er selbst sie in dem Augenblick darauf gestoßen, in dem sie sein Schiff verließ.

»Ihr habt einen schauderhaften Charakter, meine Liebe, das ist sicher, und dennoch habt Ihr Euch über meinen Mangel an Höflichkeit Euch gegenüber nicht beklagt.«

»Oh, es gibt soviel wichtigere Dinge! Rettet uns, und Ihr könnt mich behandeln, wie es Euch gefällt.«

»Keine Bange, ich werde daran denken.«

Angélique unterdrückte ihre Lachlust, Abigaël hätte es nicht verstanden. Aber was sie aufrecht hielt, war diese Gegnerschaft zweier Widersacher, die sich gleichwertig wußten und sich keine Antwort schuldig blieben.

Sie trat hinter dem Wandschirm hervor, während sie noch die Schnürbänder ihres Rockes knüpfte, schob das Haar zusammen, barg es unter einer frischen Haube und hüllte sich in den samtenen Mantel.

»Ich bin bereit.«

»Wir alle sind bereit.«

Angélique warf einen Blick auf die Uhr. Noch keine halbe Stunde war seit ihrer Rückkehr verstrichen. Die Zeit nahm elastische Maße an.

In doppelte Röcke und ihren Kapuzenmantel gebündelt, schien Honorine im Stehen zu schlafen. Angélique nahm die kleine schlummerschwere Gestalt in ihre Arme.

Rebecca näherte sich, um den Zuber zu leeren. Angélique hielt sie zurück. Die Zeit drängte. Trotzdem wollte die alte Magd noch das Haus aufräumen. Was getan werden mußte, war das Löschen der Glut im Kamin. Maître Gabriel war es, der sie mit dem Fuß austrat.

Unten im Hof beriet Maître Gabriel, was sie mit dem im Keller gebunden liegenden Soldaten anfangen sollten. Ihn in einem Haus zurückzulassen, in das keiner der Bewohner je zurückkehren würde, bedeutete, ihn vielleicht einem grausamen Schicksal zu überantworten. Anselme Camisot hatte ihnen gute Dienste geleistet. Einen Augenblick schwankten sie. Schließlich erklärte Angélique, selbst wenn ihre Flucht zunächst unbemerkt bliebe, würden doch abends Bewaffnete das Domizil der Bernes umstellen, um die Familie zu verhaften. Da sie das Haus verlassen vorfanden, würden sie es durchsuchen und den Soldaten befreien, falls dieser sich bis dahin nicht selbst seiner Fesseln entledigt hätte.

»Es ist gut. Gehen wir«, sagte Maître Berne.

Die Nacht begann sich zu lichten, als sie die Schwelle überschritten und das schwere Tor sich hinter ihnen schloß.

Im dichten Nebel erreichten sie den Fuß der Wälle und bald darauf die kleine Ausfallpforte. Angélique legte Honorine in Abigaëls Arme.

»Ich kann Euch nicht weiter begleiten. Ich muß die anderen noch benachrichtigen. Seht zu, daß Ihr nach Saint-Maurice gelangt. Wenn alle dort versammelt sein werden, brechen wir zu dem Ort auf, an dem wir uns einschiffen müssen. Die Fischer des Weilers dürfen von Euren Absichten nichts erfahren. Erzählt ihnen, daß Ihr gekommen seid, um einen Glaubensgenossen in der Heide zu begraben.«

»Kennst du den Weg, Martial?« fragte Maître Gabriel seinen Sohn. »Führe die Frauen bis zum Weiler. Ich muß bei Dame Angélique bleiben.«

»Nein«, protestierte diese.

»Glaubt Ihr, daß ich Euch mit diesen verdächtigen Ausländern allein lassen werde?«

Angélique gelang es, ihn davon zu überzeugen, daß er seine Familie begleiten müsse. Sie fürchtete nichts, sie fühlte sich vor Zudringlichkeiten sicher, sie wolle vor allem sobald als möglich außerhalb der Mauern wieder zu ihnen stoßen. Dies sei nur die erste Etappe.

»Ein Mann wie Ihr wird vonnöten sein, um die Familien zu beruhigen, die ich zum Dorf schicken werde. Sie werden ihre Häuser verlassen müssen, ohne viel Zeit zum Überlegen zu haben. Aber es kann sein, daß sie in Panik geraten, sobald sie den Treffpunkt erreicht haben.«

Als die kleine Schar, die aus den Bernes, den beiden Pastoren, Abigaël und Honorine bestand, endlich verschwunden war, übernahm Angélique umsichtig und entschlossen die Aufgabe des Schäferhundes, der seine Herde zusammentreibt.

Weder die Mercelots, die die Nachricht mit Ruhe aufnahmen, noch ihre Tochter Bertille bestanden auf weiteren Erklärungen. Angélique sagte ihnen, daß sie sofort aufbrechen müßten, wenn sie nicht abends im Gefängnis schlafen wollten. Rasch kleideten sie sich an. Maître Mercelot nahm ein Buch unter den Arm, an dem er seit langen Jahren arbeitete. Es war auf feinstem Papier geschrieben, das das Wappen des Königs als Wasserzeichen trug, und betitelte sich »Annalen der den Bewohnern La Rochelles in den Jahren des Heils von 1663 bis 1676 auferlegten Verfolgungen und Opfer«.

Es war sein Lebenswerk.

Bertille erkundigte sich, was mit ihrem Gut geschehen solle, das man bereits auf die Sainte-Marie gebracht habe.

»Wir werden uns später damit befassen.«

Die Familie Mercelot schlug den Weg zu den Wällen ein, während sich Angélique aufmachte, um den Uhrmacher zu wecken.

Ein wenig später läutete sie bei den Carrères. Dieser mit elf Kindern gesegnete Advokat ohne Prozesse repräsentierte das, was der Rescator als nutzlosestes Zubehör seiner Ladung bezeichnet hatte. Doch gerade er war es, der die meisten Einwendungen erhob. Fortgehen? Jetzt? Aber warum? Weil man sie verhaften würde? Woher wußte sie das? Man habe es ihr gesagt? Wer habe es gesagt? Könne sie mit Beweisen aufwarten? ... Angélique lehnte jede Diskussion ab, ging von Zimmer zu Zimmer und weckte die Familie. Zum Glück boten die von ihrer Mutter bewundernswert erzogenen Kinder keinerlei Schwierigkeiten. Die größeren halfen den jüngeren beim Ankleiden, diese ordneten ihre kleine persönliche Habe. In wenigen Minuten waren alle bereit, die Zimmer aufgeräumt, die Betten gemacht. Maître Carrère war in Hemd und Nachtmütze noch dabei, Beweise für seine bevorstehende Verhaftung zu fordern, als ihn seine Nachkommenschaft bereits von Kopf bis Fuß reisefertig im Vestibül erwartete.

»Wir wollen fortgehen, Vater«, sagte der Älteste, ein Junge von sechzehn Jahren. »Wir wollen nicht ins Gefängnis. Die Söhne des Uhrmachers sind weggeschleppt worden und nie zurückgekehrt.«

»Komm nur, Matthieu«, drängte seine Frau. »Da wir uns nun einmal entschlossen haben, La Rochelle zu verlassen, ist es einerlei, ob heute oder später.«

Sie legte ihren Letztgeborenen in Angéliques Arme, um ihrem Gatten die Kniehosen reichen zu können. Nachdem sie ihm gut zugeredet und ihn wie ein Kind angekleidet hatte, machte sie kurzen Prozeß und schob ihn hinaus.

»Meine Tabaksdose«, ächzte er.

»Hier ist sie.«

Der Nebel begann durchsichtig zu werden. Der steigende Tag durchdrang ihn mit seinem Licht. Schon begann man das Erwachen der Stadt zu spüren.

Angélique und die ihr auf Schritt und Tritt folgenden Matrosen geleiteten die Familie des Advokaten zur Ausfallpforte.

Während sie einen nach dem anderen auf dem Küstenpfad im Nebel verschwinden sah, empfand Angélique unsagbare Erleichterung.

Noch drei oder vier Familien waren zu benachrichtigen, dazu die Manigaults, die in einem entfernteren Viertel wohnten.

Ein Glockenspiel perlte durch die Dämmerung, und fast gleichzeitig erhoben durch den Nebel erstickte rhythmische Glockentöne den Ruf des Angelus. Das Erwachen der Stadt wurde spürbarer. Handwerker schlugen die Läden vor ihren Buden zurück.

Mit der Familie des Bäckers der Walltreppe zustrebend, blieb Angélique plötzlich stehen und horchte.

Vom Wallgang herunter drang das Geräusch eiliger Schritte. Männerstimmen riefen sich etwas zu. Dann beugte sich etwas Scharlachrotes oben über den Rand der Bastion. Der Nebel war noch zu dicht, als daß der Soldat die Flüchtlinge unten in der Gasse hätte bemerken können. Sie zogen sich lautlos zurück und beratschlagten im Schütze der Wölbung eines benachbarten Haustors.

»Die Ablösung ist eingetroffen, und sie haben das Verschwinden des Wächters entdeckt«, sagte Angélique. »Wahrscheinlich haben sie ihn im Verdacht, durch die Pforte entwischt zu sein. Aber in jedem Fall werden sie sie verriegeln oder einen Posten davor stellen.«

Die Sicht wurde mit jedem Augenblick klarer und ließ bereits die stattliche Zahl der oben versammelten Uniformen erkennen.

»Die Rotröcke, die Dragoner«, murmelte der Bäk-ker. »Warum solche Machtentfaltung?«

»Vielleicht wegen der Ankunft der holländischen Flotte.«

Die Frau des Bäckers begann zu weinen.

»Da haben wir unser Pech! Wenn du dich ein bißchen mehr beeilt hättest, Antoine, hätten wir noch passieren können. Wie sollen wir jetzt aus der Stadt kommen?«

»Natürlich durch eins der Stadttore«, beruhigte sie Angélique. »Man wird eben dabei sein, sie zu öffnen.«

Sie setzte ihnen auseinander, daß sie nicht mehr Aufmerksamkeit erregen würden als andere Handwerker oder Kaufleute, die sich in den ersten Tagesstunden nach La Pallice oder zur Ile de Ré begaben.

»Die Stadt befindet sich nicht im Belagerungszustand, und die Polizei läßt uns noch einen Tag Ruhe. Ihr werdet mit euren Brotkörben durchgehen, als ob ihr irgendwo etwas zu liefern hattet. Wenn man euch fragt, nennt ihr eure Namen.«

Sie brachte es zuwege, ihnen erneut ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, und sie entfernten sich zwischen den ersten Passanten. Meister Romain hatte sich mit einem tüchtigen Vorrat seines letzten Ofenschubs ausgerüstet. Man würde auf diese Weise wenigstens etwas zu beißen haben, bis man die erste Ration Schiffszwieback erhalten würde.

In den Augen derer, die ihn vorbeigehen sahen, war er an diesem Morgen nicht mehr und nicht weniger als ein Bäcker aus La Rochelle unter seinen Mitbürgern, und dennoch fühlte er sich schon als Exilierter, während er und die Seinen schweren Herzens und noch betäubt von der Überstürzung des Aufbruchs dem Saint-Nicolas-Tor zuschritten.

Angélique fand die Manigaults bei Tisch in ihrem prächtigen ausgestatteten Speisezimmer und Siriki damit beschäftigt, ihnen heißen, duftenden Kakao einzuschenken.

Sie war zumindest ebenso außer Atem wie an dem Tage, an dem sie zum erstenmal zu ihnen gekommen war, um Monsieur de Bardagne zu holen.

Denn die Sonne stand bereits hoch. Nach dem nächtlichen Sturm kündigte sich ein strahlender Tag an. Der Nebel hatte sich fast völlig aufgelöst. Die Stadt summte vor Leben. Die Nacht entzog ihnen ihren Beistand. Sie mußten den Gefahren nun bei Tageslicht trotzen.

So kurz zusammengefaßt wie möglich, teilte ihnen Angélique die letzten Ereignisse mit. Ihr Fluchtplan war entdeckt, ihre Arretierung stand unmittelbar bevor, ein einziger Ausweg blieb: sich sofort auf ein Schiff zu begeben, das bereit war, sie an Bord zu nehmen, und in der Umgebung La Rochelles ankerte. Die Schwierigkeit war, aus der Stadt herauszukommen, ohne Verdacht zu erregen. Die Manigaults waren sehr bekannt, und man hatte zweifellos ihretwegen schon gewisse Befehle erteilt. Es war unbedingt erforderlich, getrennt und unter falschem Namen die Tore zu passieren. Einmal außerhalb der Stadt, würde man sich im Weiler Saint-Maurice treffen ...

Maître Manigault, seine Frau, seine vier Töchter, sein kleines Söhnchen und sein Schwiegersohn schienen wie zu Stein erstarrt, in der gleichen Bewegung, in der sie bei ihrem Frühstück unterbrochen worden waren.

»Sie ist verrückt, dieses Mädchen!« zeterte Madame Manigault. »Wie? So, wie wir sind, sollen wir nach Amerika reisen? Und alles stehen und liegen lassen?«

»Wie nennt sich das in Frage stehende Schiff?« erkundigte sich der Reeder streng.

»Die ... Gouldsboro.«

»Kenn’ ich nicht. Gehören diese Männer, die Euch begleiten, zu ihrer Mannschaft?«

»Ja, Monsieur.«

»Nach ihren Visagen zu schließen, scheint es ein wenig empfehlenswertes, wenn nicht gar verdächtiges Schiff zu sein.«

»So ist es, aber sein Kapitän ist bereit, andere Verdächtige, uns nämlich, an Bord zu nehmen. Um so schlimmer für Euch, wenn Ihr diesen da die Galgenvogelgesichter der Büttel Baumiers vorzieht, die Euch heute abend verhaften und ins Gefängnis werfen werden.«

»Aus dem Gefängnis kommt man auch wieder heraus. Ich habe Beziehungen.«

»Nein, Monsieur Manigault, diesmal werdet Ihr nicht wieder herauskommen.«

Einer der Matrosen, die sie begleiteten, berührte sie am Arm.

»Madame«, sagte er in gebrochenem Französisch, »der Chef hat uns befohlen, uns bei Tagesanbruch aus der Stadt zu verkrümeln. Wir müssen uns beeilen.«

Angélique wäre angesichts dieser Familie, die friedlich um ihren reich besetzten Tisch saß und es sich schmecken ließ, als ob der Himmel nicht jeden Augenblick über ihr einstürzen könne, am liebsten aus der Haut gefahren. Manigault zurückzulassen, bedeutete, auf einen erfahrenen Kaufmann zu ver-zichten, mit dessen Reichtum es kein anderer der kleinen Gemeinschaft aufnehmen konnte. Sie hatte dem Rescator versprochen, daß man ihn belohnen würde. Und vor allem war da dieses schöne, blonde Kind, der kleine Jérémie, der soviel Ähnlichkeit mit Charles-Henri aufwies.

»Um so schlimmer für Euch und Euren Sohn«, sagte sie. »Ich bedaure nur, mein Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, weil ich Euch benachrichtigen wollte. Wenn ich nicht bis hierher hätte laufen müssen, wäre ich jetzt zweifellos schon in Saint-Maurice. Jede Minute, die verstreicht, verringert unsere Chancen. Ihr hattet Euch schon entschlossen fortzugehen, nun wollt Ihr nicht. Ihr wartet auf das Wunder, das Euch erlauben würde, alles zu behalten; Eure Stellung, Euer Geld, Euren Glauben, Eure Stadt. Ihr, die Ihr die Schriften lest, hättet Euch erinnern müssen, daß den in Ägypten gefangenen Juden befohlen war, das Passahlamm stehend, mit gegürteten Lenden, den Stecken in der Hand, zum Aufbruch bereit, zu essen, auf daß sie fliehen konnten, sobald das Zeichen gegeben war ... bevor der Pharao sich eines andern besann.«

Der Reeder Manigault starrte sie an. Sein Gesicht rötete sich und verlor gleich darauf alle Farbe.

»Bevor der Pharao sich eines andern besann«, murmelte er. »Ich hatte in dieser Nacht einen Traum. Alle Bedrohungen, die uns umringen, nahmen Gestalt an. Ich wußte, daß eine riesige Schlange mich und die Meinen ersticken würde. Sie kroch immer näher, und ihr Kopf... ihr Kopf war der .«

Er unterbrach sich, stand mit noch immer starrem Blick auf, und nachdem er sich bedächtig den Mund mit seiner Serviette gewischt hatte, legte er sie neben die halb mit Kakao gefüllte Tasse.

»Komm, Jérémie«, sagte er und nahm die Hand seines Sohns.

»Wohin geht Ihr?« rief Madame Manigault.

»Zum Schiff.«

»Ihr werdet doch nicht den albernen Geschichten dieses Mädchens glauben!«

»Ich glaube an sie, weil ich weiß, daß sie wahr sind. Schon seit mehreren Tagen habe ich den Verdacht, daß wir verraten worden sind.« Er wandte sich an den alten Neger. »Hole mir Mantel und Hut, desgleichen für Jérémie.«

»Nehmt Gold mit«, flüsterte ihm Angélique zu. »Alles, was Ihr in Euren Taschen forttragen könnt.«

Madame Manigault erging sich in Klagen:

»Er verliert wahrhaftig den Kopf! Was soll aus uns werden, meine Töchter?«

Die jungen Mädchen sahen ratlos von ihrem Vater zu ihrer Mutter.

Der Offizier, Schwiegersohn des Reeders, erhob sich gleichfalls.

»Komm, Jenny«, sagte er, seine junge Frau bei den Schultern nehmend. Er betrachtete sie mit ernster Zärtlichkeit.

»Wir müssen fort.«

»Wie denn? Jetzt?« stammelte sie bestürzt.

Schon die Aussicht auf die Fahrt mit der Sainte-Marie hatte sie in Schrecken versetzt, denn sie erwartete ein Kind.

»Du hattest doch schon ein wenig Gepäck für den Aufbruch vorbereitet. Nimm es. Der Augenblick ist gekommen.«

»Ich habe auch einen Reisesack«, sagte Manigault. »Er ist ziemlich umfangreich, aber Siriki wird ihn tragen.«

»Siriki darf uns nicht folgen«, riet Angélique mit leiser Stimme. »Allzu viele in der Stadt wissen, daß er Euer Neger ist. Man wird Euch sofort bemerken. Ihr werdet überwacht.«

»Siriki zurücklassen?« protestierte der Reeder. »Das ist ganz unmöglich. Wer wird sich um ihn kümmern?«

»Euer Teilhaber, Sieur Thomas, der nach Eurer Abreise Eure Geschäfte wahrnehmen und sich mit Euch in Verbindung setzen soll, sobald Ihr auf den Inseln angelangt seid.«

»Mein Teilhaber? ... Gerade er ist es, der uns verraten hat. Jetzt bin ich dessen sicher. Zweifellos träumt er davon, sich alles anzueignen.«

Er fügte düster hinzu:

»Der Kopf der Schlange, die ich in meinem Traume sah, war der seine.«

Im Vestibül streifte sein bitterer Blick die festgefügten und verzierten Deckenwölbungen. Verglaste Türen öffneten sich auf die Alleen eines großen Gartens, andere auf den Hof mit der unvermeidli-chen Palme.

Manigault ergriff Jérémies Hand und überquerte den Hof. Einer der Matrosen folgte ihm mit seinem Reisesack.

»Wohin geht Ihr?« kreischte Madame Manigault. »Ich bin noch längst nicht fertig. Ich muß noch einige Schüsseln der Sammlung einpacken, die kostbarsten .«

»Packt ein, was Ihr wollt, Sarah, und stoßt zu uns, wann Ihr könnt, aber beeilt Euch wenigstens diesmal«, antwortete der Reeder mit der weisen Miene eines Philosophen.

Das junge Ehepaar folgte ihm. Eine seiner Töchter lief hinter ihm her und erreichte ihn, als er eben die Straße betreten wollte.

»Vater, ich will mit Euch gehen.«

»Komm, Deborah!«

Neben Jérémie war sie sein Liebling.

Er hatte die Kraft, die Schwelle zu überschreiten und in die Straße einzubiegen, ohne den Kopf zu wenden.

In der Nähe des Saint-Nicolas-Tor beschloß die aus dem Reeder, seinem Sohn und seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und dessen Frau sowie aus Angélique und den drei Matrosen bestehende Gruppe, sich zu trennen. Joseph Garret, der Offizier, passierte als erster mit Jenny und Jérémie, ihm folgte Manigault, von den drei Seeleuten umgeben. Auf die Fragen, die ihnen gestellt wurden, antwortete einer der Matrosen des Piratenschiffs in englischer Sprache. Es traf sich, daß der Posten kein Sterbenswörtchen davon verstand, aber wußte, daß ein englisches Schiff seit dem vorhergehenden Tage im Hafen lag. Mit einer Geste, die bedeuten sollte, daß er sehr wohl begriffen habe, gab er den sich offenbar auf einem Spaziergang befindlichen Ausländern den Weg frei. Zwei Schöne aus der Gegend - Angélique und Deborah - schienen sie zu begleiten. Sobald ihnen die Genehmigung erteilt worden war, durchschritten sie sichtbar frohgemut das Tor, ohne sich die Mühe zu machen, Namen und bürgerliche Stellung zu nennen, und die Soldaten wagten es nicht, sie zurückzurufen.

Die Gruppe entfernte sich, von nachsichtigen Blicken gefolgt.

»Das Schwerste haben wir hinter uns«, raunte Angélique Manigault zu, »Man hat Euch nicht erkannt.«

Sie reihten sich einer hinter den andern, um schneller voranzukommen. Der Wind blies lebhaft. Blendend weiße, an den Rändern fedrig zerfaserte Wolken segelten rasch über ihnen dahin. Die dunkel wirkende Reede schien sich vom zornigen Aufruhr der Nacht noch nicht erholt zu haben.

»Und unsere Mutter?« fragte Deborah. »Meine Schwestern?«

»Sie werden uns folgen oder auch nicht .«

Der Blick ging weit über die Ebene, schon tauchten die Hütten von Saint-Maurice auf.

»Da seid Ihr endlich!« riefen ihnen die Flüchtlinge entgegen.

Sie traten aus den Häusern, an deren Herdfeuern sie gewartet hatten.

Maître Berne hatte es nicht leicht gehabt, sie zur Geduld zu mahnen und ihr Vertrauen zu erhalten.

Man hatte ihnen von einem Schiff erzählt. Wo war es? Jeder wurde sich bewußt, daß er irgend etwas Wichtiges vergessen hatte.

»Raphaëls Schal!«

»Meine Börse. Sie enthielt noch fünf Livres!«

Dank Gabriel Bernes Eingreifen war die Ruhe dennoch einigermaßen bewahrt worden. Man hatte den Kindern frische Milch zu trinken gegeben, dann hatte der Pastor Beaucaire Gebete angestimmt, und die rauhen Bewohner von Saint-Maurice hatten sich zu ihnen gesellt, da sie trotz des Namens ihres Dorfes allesamt Hugenotten waren.

Außer Madame Manigault und ihren beiden ältesten Töchtern fehlte niemand mehr.

»Gehen wir trotzdem«, entschied einer der Matrosen der Gouldsboro, der französisch mit seltsamen Akzent sprach und auf den Namen Nicolas Perrot hörte. »Die Flut wird bald zu steigen beginnen. Fangen wir immerhin schon an, die Passagiere einzuschiffen. Einer meiner Kameraden wird hierbleiben, um die Verspäteten zu erwarten und zum Ankerplatz zu führen.«

Man rief die Kinder zusammen, die, ganz und gar wach und entzückt von der unvorhergesehenen Landpartie, allerlei Spiele veranstaltet hatten.

Nach Familien geordnet, schlugen sie den von dem französisch sprechenden Matrosen bezeichneten Weg ein, als ein aus der Heide herüberdringender Ruf sie von neuem am Boden festwurzelte.

Eine Art orangene, von Gebüsch zu Gebüsch hüpfende Flamme näherte sich in unglaublicher Geschwindigkeit. Schließlich erkannten sie den alten Neger Siriki, der, wie eine Antilope fliehend, in seiner goldbetreßten Livree aus amarantfarbenem Satin auf sie zukam.

»Mein Herr! Wo ist mein Herr?«

»Ah, mein Sohn!« rief Manigault, den alten Sklaven ans Herz drückend.

Siriki hatte seine hochhackigen Schuhe abgestreift, um sich rascher fortbewegen zu können. Er drehte seinen von schneeiger Leinwand umwundenen Kopf nach allen Seiten und schüttelte seine Goldringe. »Du wirst nicht gehen ohne mich, Herr! Ohne dich ich sterben.«

»Was haben die Wachen gesagt, als sie dich passieren ließen?« fragte Angélique.

»Wachen? . Nichts sagen. Ich nur lief, immer nur lief!«

Und seine weißen Zähne zeigend, brach er in schallendes Gelächter aus.

»Schnell! Beeilen wir uns«, befahl Angélique, indem sie ihre Begleiter auf dem Pfad voranstieß.

Sie hatte Honorine an die Hand genommen. Die vordersten Gruppen hatten schon die Heide betreten. Bis zu den ersten Dünen nahe dem Meer war die Landschaft flach und ohne Deckung. Die Ebene schien unendlich, nackt. La Rochelle mit seinen Türmen und Wallen war noch ganz klar zu erkennen. Angélique fühlte ihre Unruhe wachsen. Der seinem Herrn gefolgte Sklave Siriki mußte Verdacht erregt haben.

»Kommt«, sagte sie zu den Manigaults. »Jetzt dürfen wir keinen Augenblick mehr verlieren.«

Doch sie zögerten. Der Reeder schwankte offensichtlich zwischen der Versuchung, sich endlich im guten von seinem Hausdrachen befreit zu sehen, der ihm seit fünfundzwanzig Jahren das Dasein sauer machte, und dem Verdruß, seine Frau und seine beiden Töchter zurücklassen zu müssen.

»Sie wird sich schon aus der Affäre ziehen«, ermutigte er sich. »Sie wäre sogar imstande, meinen treulosen Teilhaber zu bändigen. Wenn man sie aber ins Gefängnis würfe, die arme Sarah, die das gute Leben so liebt ... Sie würde zugrunde gehen.«

Auf dem Wege war das Geräusch holpernder Räder zu vernehmen, und gleich darauf erschien Madame Manigault schwitzend und atemlos, wie ein Esel an die Deichsel eines Karrens gespannt, in dem sich in wildem Durcheinander Teppiche, Brokatstoffe, Kleidungsstücke, Truhen und natürlich das berühmte Geschirr Bernard Palissys häufte, an dem ihr Herz vor allem hing. Ihre beiden Tochter und eine Magd stießen die Räder voran.

Die Anstrengung hatte ihr nicht den Rest gegeben, im Gegenteil. Denn kaum daß sie ihren Gatten bemerkt hatte, brach sie in Beschimpfungen und Vorwürfe aus.

»Jetzt seid Ihr an der Reihe!« ächzte sie, indem sie die Deichsel ihrem Schwiegersohn überließ. »Und du Faulenzer«, rief sie Siriki zu, »hättest du nicht auf mich warten können, anstatt dich wie eine Schwalbe davonzumachen?«

»Habt Ihr das Saint-Nicolas-Tor mit diesem Fuhrwerk passiert?« fragte Manigault, rot vor Zorn.

»Und warum nicht?«

»Haben sie nichts zu Euch gesagt?«

»Doch. Sie haben mir allerlei gesagt. Aber ich habe diesen Lümmeln das Maul gestopft. Den möcht’ ich sehen, der mich daran hindern will, meiner Wege zu gehen!«

»Da Ihr nun hier seid, haltet uns nicht auf. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, drängte Angélique aufgebracht.

Die dicke Frau hatte bei der Durchfahrt durch das Saint-Nicolas-Tor sicherlich einen Skandal verursacht. In dieser Aufmachung, zu Fuß, wie eine Zigeunerin einen Karren hinter sich herziehend! In ihrem Zorn mochte sie durchaus fähig gewesen sein, ihnen zuzuschreien, daß sie fortginge, daß sie sich einschiffen und niemals zurückkehren würde, daß sie von La Rochelle und allen seinen Einwohnern genug habe. Zudem war es auch noch ein Thema, das sie liebte, denn sie stammte aus Angouleme und hatte sich niemals daran gewöhnt, in einer Hafenstadt zu leben.

Honorine in ihren Armen, schlug Angélique den Klippenweg ein. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich um und drängte die Manigaults, die gemeinsam den Karren zogen und unablässig dabei stritten, zur Eile.

Danach wandte sie ihren Blick der Stadt zu.

Langhingestreckt, blendend weiß über flachem, grauem Land, ähnelte La Rochelle mehr denn je einer Krone mit tausend Kleinodien. Doch vermochte sich Angélique der Freude an diesem Anblick nicht hinzugeben. Ein Staubwölkchen beunruhigte sie, das sich am Fuße der Wälle in der Nähe des Saint-Nicolas-Tors zu bilden schien.

Sie beschleunigte ihren Schritt und gesellte sich zur Familie des Bäckers.

»Die Manigaults haben natürlich einen Karren genommen«, sagte die Frau mürrisch. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich unseren Handwagen beladen.«

»Die Manigaults können mit ihrem Karren unseren Untergang heraufbeschwören«, erwiderte Angélique trocken.

Sie lief an der Kolonne der Flüchtlinge entlang, bis sie Maître Berne erreichte.

»Schaut dort hinüber! Was seht Ihr?« fragte sie atemlos.

Der Kaufmann, der Laurier an der Hand hielt, folgte mit dem Blick der Richtung, die sie ihm bezeichne-te, ohne sein schnelles Tempo zu verlangsamen.

»Ich sehe Staub, der von einer Gruppe von Reitern aufsteigt«, antwortete er.

Nach einem Augenblick intensiver Beobachtung

fügte er hinzu:

»Reiter in roten Uniformen. Sie kommen gerade auf uns zu.«

Der Matrose, der an der Spitze der Kolonne marschierte, hatte sie gleichfalls bemerkt. Zwei Kinder unter jeden Arm nehmend, begann er zu laufen. Dabei rief er den ihm Folgenden zu, sich in den Dünen zu verbergen.

Angélique kehrte zurück, um die Manigaults anzufeuern.

»Schnell, beeilt Euch! Laßt Euren Karren zurück! Die Dragoner sind hinter uns her.«

Nun liefen alle, durch den grundlosen Sand des Weges behindert. Die Röcke der Frauen verfingen sich an den Zweigen der Stechginsterbüsche. Schon begann man das dumpfe Getrappel der galoppierenden Pferde zu vernehmen.

»Schnell! Schnell! Laßt Euren Karren, um Himmels willen!«

Manigault riß seine Frau von der Deichsel los. Sie wehrte sich, suchte sie von neuem zu packen und kreischte wütend, als er sie rücksichtslos voranstieß.

Angélique hatte Jérémies Hand ergriffen, der zum Unterschied zu seinen Eltern flink wie eine Elfe war und, von der Angst vorwärtsgetrieben, mit der ganzen Kraft seiner kleinen Beine lief. Joseph stützte die erschöpfte Jenny.

»Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie.

Als die Dragoner die Flüchtlinge entdeckten, stießen sie wilde Schreie aus. Man hatte ihnen gesagt, daß sie fliehende Hugenotten zu verfolgen hätten. Es war nur eine Vermutung gewesen, aber nun sahen sie sie vor sich, über die Heide verstreut, wie toll gewordene Hasen dem Meer zustürzend. Teufel, dieses Gezücht von Ketzern würde ihnen, den »gestiefelten Missionaren«, nicht entrinnen! Sie hatten schon andere aufgespießt, im Poitou und in den Cevennen.

Sie rissen die Säbel aus den Scheiden und setzten auf Befehl des Leutnants zum Angriff an.

Im Vorbeireiten stieß ein Säbel in den verlassenen Karren der Manigaults und warf ihn um. Die Stoffe entfalteten sich, die schönen Fayencen zerbrachen klirrend unter den Hufen der Pferde.

Angélique hörte sie herangaloppieren.

»Diesmal sind wir verloren«, sagte sie sich.

Der wahnwitzige Lauf erinnerte sie an jenen anderen mit Colin Paturel in den Mauern Ceutas. Jérémie stolperte, sie zog ihn am Arm mit sich fort, schließlich gelang es ihr, ihn wieder auf die Füße zu stellen. Dicht an ihrem Ohr stieß Honorine betäubende Schreie aus. Sie lachte, über die wilde Jagd entzückt ... Angélique erreichte die Dünen. Im Schutz der ersten Sandwelle warf sie sich nieder. Ein unsicherer Schutz!

Die Dragoner waren nur noch einige Pferdelängen entfernt. Unmittelbar vor sich hatten sie die beiden Manigaults und Joseph und Jenny, die die Nachhut bildeten.

Plötzlich, als sie bereits die mörderischen Klingen auf sie niedersausen zu sehen glaubte, vernahm Angélique den scharfen Knall mehrerer Musketenschüsse. Pulvergeruch stieg ihr beißend in die Nase. Rauchschwaden zogen über sie hinweg.

Von irgendwoher war die Stimme Nicolas Perrots zu vernehmen:

»Bleibt nicht da! Zieht Euch vorsichtig zum Rand der Klippe zurück! Man wird Euch helfen, auf den Strand zu gelangen!«

Eine Hand berührte sie an der Schulter. Es war der dunkelfarbige Matrose, der offenbar den Befehl erhalten hatte, bei ihr zu bleiben, was auch kommen mochte. Seltsamerweise wurde ihr nun klar, zu welcher Rasse er gehörte, während sie sich am Vortag vergeblich den Kopf darüber zerbrochen hatte.

»Natürlich, ein Malteser!«

Ein wenig zur augenblicklichen Lage passender Gedanke. Er machte ihr ein Zeichen, daß auch sie sich kriechend zurückziehen sollte.

Angélique hob leicht den Kopf über den unter dem Wind sich beugenden Strandhafer. Sie bemerkte inmitten des Rauchs die wiehernden Pferde und auf der Erde reglose rote Uniformen.

In ihrer Verfolgung durch das Musketenfeuer aufgehalten, waren die Dragoner hinter den kümmerlichen Dünen verschwunden und sammelten sich in einiger Entfernung von neuem.

Angéliques Herz füllte sich mit Jubel. Er hatte daran gedacht, daß man sie verfolgen könnte! Er hatte seine bewaffneten Piraten hinter jede Bodenwelle versteckt, um den Zugang zum Einschiffungsort zu verteidigen.

Langsam begann sie zurückzukriechen, die Kleinen ermunternd, ihr zu folgen ... Wenn sie sich umwandte, sah sie bereits die Mastspitzen des in der Bucht mit entfalteten Segeln wartenden Schiffes. Der zum Strand hinunterführende Pfad war nahe.

»Ihr seid nicht verletzt, Dame Angélique?«

Maître Berne glitt neben sie. Er hielt eine Pistole in der Hand.

»Warum seid Ihr zurückgeblieben?«

»Dieser Narren wegen«, antwortete sie mit einer verdrossenen Geste zu den Manigaults.

Diese krochen schwerfällig durch den weichen Sand heran.

»Ich bin verletzt! Ich bin verletzt!« stöhnte Madame Manigault.

Es mochte wahr sein. Sie stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihren Gatten, der sie mit sich zog und dabei wie ein Korsar fluchte.

»Wo ist Laurier?« fragte Angélique.

»Die Matrosen sind schon dabei, die Kinder in die Schaluppe zu tragen.

Aber ich war Euretwegen unruhig. Ich bin wieder heraufgestiegen. Gott sei gelobt! Der Kapitän dieses Schiffes hat daran gedacht, uns Deckung zu geben! ... Er ist unten am Strand und leitet das Einschiffen.«

»Er ist da!« wiederholte Angélique. »Ist er nicht ein außerordentlicher Mensch?«

»Da habt Ihr recht! Ein Maskierter, soviel ich gesehen habe, Anführer einer Bande von Freibeutern!«

Wieder rollte eine Salve Musketenschüsse über die Dünen. Die zurückgewichenen Dragoner hatten einen neuen Angriff versucht, der wiederum im Feuer zusammenbrach.

Einzelne warfen sich jedoch von ihren Pferden und begannen gleichfalls, den Dünen zuzukriechen, um ihre Gegner im Kampf Mann gegen Mann zu überwältigen.

Die auf den Klippen verteilten Matrosen der Gouldsboro zogen sich nun zurück, um den Anschluß an die ihren nicht zu verlieren.

Solange sie auf dem Klippenrand blieben und die Einschiffung der protestantischen Flüchtlinge deckten, würde es den Dragonern schwerfallen, sich zu nähern. Sobald jedoch der letzte der Schützen auf dem Strand angelangt wäre, konnten die Soldaten des Königs sie von der Höhe der Felsen aus ungestört unter Feuer nehmen.

Schon holten sie zu einem Umgehungsmanöver aus, und die Klippen rings um die Bucht bevölkerten sich mit roten Uniformen. Glücklicherweise war die Mehrzahl der Dragoner nicht mit Musketen, sondern mit Pistolen und Säbeln bewaffnet. Auf einen Befehl des Leutnants versuchten zwei der Rasendsten, direkt auf den Strand hinunterzuspringen. Aber sie brachen sich beim Aufprall die Beine, und ihr Schmerzgeheul dämpfte den Kampfeseifer ihrer Kameraden so nachdrücklich, daß sie nicht weiter auf diesem taktischen Einfall bestanden.

Der einzig mögliche Zugang blieb weiterhin unter der Kontrolle der Mannschaft der Gouldsboro. Andere Matrosen ließen die Kinder und Frauen von Hand zu Hand gehen und stopften sie in die Schaluppe, die alsbald dem noch vor Anker liegenden Schiff zuruderte. Die Rahen waren mit Matrosen besetzt, die mit Tauen in den Händen bereit standen, die Segel völlig schießen zu lassen und für das Absegeln parat zu halten.

Langsam zogen sich Maître Gabriel und Angélique, die Honorine an der Hand hielt, zurück. Der Malteser hatte Jérémie übernommen. Ebenfalls kriechend und sich duckend, vollzogen die Musketenschützen des Piratenschiffs ihren Rückzug.

Die Stimme des Leutnants schallte herüber:

»Keine Angst, Dragoner! Sobald die Banditen unten sind, werden wir sie nach unserem Belieben abknallen können ... Ihr dort drüben, feuert auf die Schaluppe!«

Er wandte sich an die Soldaten, denen es weiter zur Rechten geglückt war, die Kante der Klippenwand zu erreichen. Sie waren zu weit entfernt, um die Flüchtlinge und Piraten aufs Korn nehmen zu können, solange diese im Schutz der überhängenden Felsen blieben. Doch sobald die Schaluppe vom Ufer abstieß, um dem Schiff zuzusteuern, bot sie trotz ihrer Entfernung guten Schützen ein erreichbares Ziel.

Kugeln begannen rings um das Boot ins Wasser zu spritzen, und aus der Schar der Frauen und Kinder, die zusammengepfercht darin saßen, erhoben sich Schreckensschreie. Trotz der Proteste der Besatzung erhob sich Pastor Beaucaire. Mitten im Tumult stimmte seine geborstene Altmännerstimme ein geistliches Lied an.

Die Matrosen in der Schaluppe beeilten sich, aus der gefährlichen Zone herauszukommen. Diesmal glückte es ihnen, ohne daß jemand an Bord verwundet worden wäre. Aber sie mußten noch einmal zurück, um die an Land Gebliebenen zu holen.

Die Dragoner würden inzwischen Zeit genug haben, sich auf ihr Ziel einzuschießen.

»Sie können uns nicht entwischen! Mut! Das nächstemal werden wir sie uns kaufen!« brüllte der Leutnant. »Bereitet Euch vor, Dragoner!«

Das Schnappen der Musketenhähne war zu hören, das Klappern der Ladestöcke, mit denen die Läufe gereinigt wurden, und das der Pulverhörner, die gegen die Ketten schlugen, an denen sie hingen.

Ermutigt durch den nahen Erfolg, stürzten ein paar Soldaten vor, um sich derjenigen zu bemächtigen, die noch auf dem Klippenrand geblieben waren.

Angélique begann sich eben auf den steil abwärtsführenden Pfad zurückzuziehen, als sie das schnurrbärtige Gesicht eines Dragoners vor sich auftauchen sah, der schon den Säbel erhoben hatte. Gabriel Berne warf sich vor sie, schoß, und der Mann brach zusammen. Doch in einer letzten konvulsivischen Bewegung hatte er zugeschlagen. Der Kaufmann taumelte, an Schläfe und Schulter verwundet. Er wäre über die Klippe hinuntergestürzt, wenn Angélique ihn nicht im letzten Augenblickgehalten hätte. Durch das Gewicht des großen, leblosen Körpers gezogen, drohte sie ihrerseits in den Abgrund zu rutschen. Das Gesicht vom Pulverdampf geschwärzt, kam ihr einer der Matrosen der Gouldsboro zu Hilfe. Den Schwerverletzten mit sich ziehend, geleitete er sie so gut es ging den Ziegenpfad hinab.

Vom Strand rief eine Stimme einen Befehl in englischer Sprache. Zweifellos war es ein Rückzugsbefehl, denn die letzten Piraten, die sich noch zwischen den Dünen verborgen gehalten hatten, sprangen wie Affen zum Klippenrand und kletterten hastig das schmale Felsband hinab, um sich mit ihren Kameraden zu vereinigen.

»Der Weg ist frei! Ihnen nach!« schrien die Dragoner, sich zum Angriff sammelnd.

In einer kleinen Lawine aus Gesteinsschutt erreichte Angélique den Strand. Während des Abstiegs hatte sie versucht, den blutenden Kopf Maître Bernes zu stützen.

»Er ist tot! Er ist tot! Oh, mein armer Freund! Er darf nicht tot sein!«

Zwei Hände packten sie um die Taille und zwangen sie, sich umzudrehen. Der Rescator stand vor ihr.

»Da seid Ihr endlich! Natürlich als letzte! Unverbesserlich, wie Ihr nun einmal seid!«

Sie hätte schwören mögen, daß er unter seiner Maske lachte. Als ob der Augenblick nicht schmerzlich genug gewesen wäre, als ob er selbst und seine Matrosen sich nicht in verzweifelter Lage auf einem Strand befänden, dem sich die Schaluppe angesichts der Dragoner über ihren Köpfen nicht nähern konnte, als ob nicht schon zahlreiche Verletzte das Geröll des Ufers mit ihrem Blut befleckten, als ob ihre letzte Stunde nicht kurz bevorstände .

Er lachte und preßte sie an sich, als ob er sie liebte, sie, die in Kandia gekaufte Sklavin, mit einer wilden, durch die Kränkungen und Schwierigkeiten, die sie ihm bereitet hatte, noch gesteigerten Leidenschaft.

Doch Angélique, von einer neuen, bedrängenden Sorge überwältigt, wehrte sich gegen seine Umarmung und wandte den Kopf verzweifelt nach allen Seiten.

»Honorine! Wo ist Honorine? . Ich ließ sie los, um Maître Berne zu halten, als er verwundet wurde . sie muß dort oben geblieben sein!«

Sie wollte sich losreißen, um hinaufzulaufen. Er hielt sie mit eiserner Faust zurück.

»Wohin wollt ihr? ... Bleibt hier, Unglückliche! Die Kanonen werden schießen. Nur Brei wird von Euch übrigbleiben.«

In der Flanke der Gouldsboro öffneten sich die maskierten Stückpforten und enthüllten die schwarzen Mündungen von zehn Kanonen.

Der rauhe Schrei eines getroffenen Tieres stieg aus Angéliques Kehle. Sie hatte Honorines grünes Mützchen auf der Klippe entdeckt. Das kleine Mädchen befand sich dem Absturz gefährlich nahe. Im allgemeinen Tumult waren ihre Schreie nicht zu vernehmen, aber es war ersichtlich, daß sie vor Schreck dort oben brüllte, winzig gegen das Blau des Himmels, eingezwängt zwischen den sich nähernden Dragonern und dem Rand des Felsens, auf dessen Grund sie ihre Mutter bemerkte.

»Meine Tochter!« schrie Angélique außer sich. »Mein Kind! Rettet sie! Sie werden sie töten! Sie wird abstürzen!«

Unerbittlich hinderte sie die stählerne Hand, sich loszureißen.

»Laßt mich! Es ist meine Tochter, mein Kind! Honorine! . Honorine!«

»Bleibt hier! Rührt Euch nicht. Ich werde sie holen.«

Vor Entsetzen gelähmt, sah sie den Rescator der Steilwand zuspringen und mit überraschender Behendigkeit den abschüssigen Pfad hinaufklettern. Einer der Soldaten des Königs war bei dem Kind angelangt. Die Pistole des Rescators entlud sich mitten in dessen Gesicht, während er mit der anderen Hand das Kind wie ein Bündel packte. Der getroffene Dragoner schwankte, stürzte vornüber und prallte mit dumpfem Geräusch wenige Schritte von Angélique entfernt auf die Felsen.

Gleichzeitig hatten die Kanonen der Gouldsboro mit ohrenbetäubendem Krachen eine Salve abgefeuert.

Angélique glaubte den Rescator und Honorine unter dem herniederprasselnden Regen von Erdklumpen und Gesteinssplittern für immer begraben. Allmählich unterschied sie jedoch die Gestalt des Piraten, der aus dem von Staub und Rauch gebildeten Dunstschleier auftauchte.

»Da habt Ihr Eure Tochter. Laßt sie nicht wieder los.«

»Ist sie verletzt?«

»Ich glaube nicht. Und nun zum Boot.«

Die Verwirrung nutzend, die die Salve bei den Dragonern hervorgerufen hatte, war die Schaluppe zum Ufer zurückgekehrt. Die letzten der Matrosen der Gouldsboro trugen die leblosen Körper Maître Bernes und eines der ihren, der gleichfalls verwundet worden war, durchs flache Wasser hinüber. Auch Angélique wurde ohne Umschweife hineingestoßen und erhielt die Anweisung, sich auf dem Boden des Bootes auszustrecken.

»Eine weitere Fahrt ist unmöglich«, sagte die Stimme des Rescators. »Keiner darf diesmal zurückbleiben.«

Er selbst betrat das Boot als letzter mit einer theatralischen Geste zu den weißen Mauern der Klippen hinüberdeutend:

»Adieu, ihr wenig gastlichen Gestade!«

Aufrecht am Heck der Barke stehend, bot er ein ausgezeichnetes Ziel.

Zum Glück dachten die Soldaten, demoralisiert durch die unvorhergesehene und mit zahlreichen Verlusten verbundene Kanonade, nicht mehr daran zu schießen. Ihr Leutnant war ernstlich verletzt worden.

Der Adjutant brüllte einander widersprechende Befehle, die das Echo bis zu den Flüchtlingen hinübertrug.

»Jemand galoppiere zum Fort Louis und bitte um Feuerunterstützung!«

»Verständigt die Flotte von Saint-Martin de Ré und das Fort auf der Landspitze von Sablonceaux .«

»Diese Banditen dürfen nicht entkommen!«

Mit lautem Kettengerassel hob sich der Anker der Gouldsboro. Gleichzeitig lockerten die Marsgäste die Segel, die der Wind alsbald prall füllte. Von der Brücke kamen die Befehle Kapitän Jasons, die so ruhig erteilt wurden, als ob er unter den Blicken der Müßiggänger feierlich im Hafen ablegte. Flink liefen die Matrosen die Rahen entlang und kletterten an den Masten empor, hier und da ein Tau oder eine Schote anziehend .

Das Schiff erbebte, bereit zur Fahrt.

Indessen hatte die überladene, vom Gewicht ihrer menschlichen Fracht tief ins Wasser gedrückte Schaluppe das Schiff umrudert. Sie war nun vor jedem Angriff sicher, und die Übernahme ihrer Besatzung konnte ohne jede Störung vonstatten gehen, während die Gouldsboro langsam aus der Bucht zu gleiten begann.

Ein Matrose nahm Honorine auf den Arm, um mit ihr die Strickleiter hinaufzuklettern. Ertrug ein schwarzes Pflaster über einem Auge und rief Angélique das wenig einnehmende Gesicht Corianos, des zweiten Offiziers d’Escrainvilles, ins Gedächtnis zurück. Wie auch immer, hatte er offensichtlich Honorines Herz gewonnen, denn sie schmiegte sich ganz fest an ihn und sagte kein Wort, während er sie nach oben brachte.

Der Transport der Verwundeten erwies sich dafür als um so schwieriger und gefahrvoller.

Endlich befanden sich alle an Bord, und die Barke konnte hochgehißt und an der Reling festgezurrt werden. Alle diese Manöver wurden ohne Überstürzung und dennoch mit beispielloser Schnelligkeit durchgeführt.

Das sichere Deck unter ihren Füßen fühlend, hob Angélique die Augen.

Die Klippen, von deren Höhe ihnen die roten Dragoner mit den Fäusten drohten, wichen bereits zurück. Unwiderstehlich von der Brise vorwärtsgetrieben, verließ die Gouldsboro ihren Schlupfwinkel und glitt in die Meerenge zwischen den Inseln hinaus.

Zur Linken entfaltete La Rochelle seine Wasserfront. Über dem Meer in der Sonne funkelnd, schien es sehr nah mit seinen geschleiften, doch noch immer majestätischen Türmen: Saint-Nicolas, dem Kettenturm, dem Laternenturm. Das Schiff nahm Kurs in diese Richtung.

Der Rescator hatte als letzter den Fuß auf Deck gesetzt. Mit einem raschen Rundblick prüfte er die Lage. Nicolas Perrot, der neben ihm stand, nickte mit dem Kopf.

»Der Wind kommt von Norden! ... Schlecht für uns .«

»Teufel!«

Selbst Angélique konnte feststellen, daß der Wind sie auf die Stadt zutrieb. Auf der Brücke schrie sich Kapitän Jason die Lungen aus, um einige Segel zu hissen und andere reffen zu lassen, Maßnahmen, durch die er den Kurs verändern und sein Fahrzeug dem Kanal von La Pallice näherzubringen hoffte.

Ein Matrose trat auf den Rescator zu und reichte ihm das Fernrohr. Der Pirat hob die Hand zu seiner Maske, als ob er sie abnehmen wolle. Er besann sich jedoch eines anderen und sah sich kurz um.

»Die Verwundeten und Passagiere in den Schiffsraum! Nur die Mannschaft bleibt auf Deck!«

Er hob das Fernrohr, beobachtete einige Augenblicke Küste und See und die Bemühungen der Gouldsboro, sich trotz des Gegenwindes vom Land zu lösen.

»Nein, nicht Ihr«, fuhr er fort, ohne sich umzuwenden.

Ohne Zweifel hatte er die Bewegung gespürt, mit der Angélique sich anschickte, fügsam der Gruppe der Flüchtlinge zu folgen, die durch eine Luke ins Schiffsinnere hinabstieg.

Der Rescator ließ das Fernrohr sinken und wandte sich der jungen Frau zu. Er musterte sie.

Sie stand vor ihm, das Gesicht noch immer von der Erregung der letzten Stunde gezeichnet, ihre Tochter fest an sich drückend. Der Wind zauste Honorines Haar und verwandelte es in glühende Flammen.

»Eure Tochter«, sagte er mit seiner dumpfen Stimme. »Es ist wahr ... Sie ähnelt Euch. Welcher dieser Hugenotten, die wir soeben an Bord genommen haben, ist ihr Vater?«

War es der rechte Augenblick, solche Fragen zu stellen?

Angélique schien es, als ob die Stadt sich näherte. Es fehlte nicht viel, und man hätte die Neugierigen in den Fenstern und auf den Wällen bemerken können, die zusammenliefen, um das verzweifelte Manöver dieses unbekannten Schiffes zu beobachten.

»Sein Vater«, sagte sie, ihn wie einen Wahnwitzigen anstarrend. »Stellt Euch vor, es ist Gott Neptun selbst ... Ja, man hat es mir gesagt. Und nun achtet lieber darauf, wo wir uns befinden. Wir werden das Fort Louis in Schußweite passieren. Wenn die Garnison benachrichtigt worden ist, sind wir verloren.«

»Das könnte sehr gut möglich sein, meine Liebe.«

Der Gouldsboro war es nicht geglückt, das Kap zu umsegeln. Sie blieb weiterhin in Sicht La Rochelles und des mit Zinnen besetzten Forts, in dem man eine verdächtige Bewegung bemerken konnte.

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