»Ihr! ... Kommt mit mir!« befahl der Rescator barsch, indem er Angélique ein Zeichen gab, ihm zu folgen.

Mit großen Schritten überquerte er das Deck, erstieg die Treppe zur hinteren Schanze, danach die zur Deckskajüte.

»Geht in Deckung, Madame«, sagte Nicolas Perrot, der Mann mit der Pelzmütze, indem er Angélique zu den Räumen des Rescators unter der Deckskajüte wies.

Mit einem Lächeln fügte er hinzu:

»Unser Chef nimmt selbst das Ruder. Also werden wir entwischen.«

Dieses Vertrauen in die Geschicklichkeit desjenigen, der das Schiff führte, schien von der ganzen Mannschaft geteilt zu werden. Unter den Männern herrschte die größte Ruhe. Ein paar in die Toppen und Wanten gekletterten Burschen riefen einander sogar Scherzworte zu, den spöttischen Gleichmut dessen imitierend, der sie gelehrt hatte, allen Gefahren mit lächelnder Gefaßtheit entgegenzusehen.

»Aber das Fort Louis wird schießen«, stieß Angélique mit tonloser Stimme hervor.

»Das ist sogar sehr wahrscheinlich«, stimmte Perrot, der bei ihr blieb und offenbar mit ihrer Bewachung betraut war, in seinem merkwürdig akzentuierten Französisch zu.

Plötzlich dröhnte durch das Sprachrohr des Kapitäns Jason über ihren Köpfen eine Flut von Befehlen, die für die Leute in den Wanten bestimmt waren.

Im luftigen Gewirr der Taue, Rahen und Segel entwickelte sich alsbald eine fieberhafte Tätigkeit, und menschliche Silhouetten bewegten sich mit affenartiger Behendigkeit in schwindelerregender Höhe von einem Haltepunkt zum andern.

Im gleichen Augenblick, in dem die Rauchfahnen brennender Pfeile über dem Fort Louis aufstiegen, schwangen die Segel der Gouldsboro herum. Das Fahrzeug rührte sich kaum noch und schien angesichts des Forts und der auf sich gerichteten Kanonen unbeweglich verharren zu wollen.

»Werft den Anker!«

Unmittelbar darauf war das Rasseln der fallenden Kette und danach das Aufspritzen des Wassers zu vernehmen, das der Aufschlag des Ankers verursacht hatte.

Angélique warf ihrem Begleiter einen verständnislosen, beunruhigten Blick zu.

»Will der Rescator verhandeln?« fragte sie, von Panik ergriffen.

Er schüttelte den schweren Bärenschädel.

»Ist nicht seine Art«, brummte er. »Sieht eher so aus, als ob er meint, beim Pottfischfang in der Mündung des Saint-Laurent zu sein.«

Der Anker stieß auf Grund. Das Schiff lag still und drehte sich nur sacht in die Windrichtung.

Vom Land herüber drang das Donnern der auf Befehl zugleich abgefeuerten Kanonen des Forts. Doch im selben Moment schwang das Ziel unter dem Druck eines jähen Steuereinschlags geschmeidig um die Achse seines festsitzenden Ankers. Der Kugelschwarm pfiff dicht an ihm vorbei und wühlte die Stelle, an der die Gouldsboro noch drei Sekunden zuvor ihre Flanke dargeboten hatte, weißschäumend auf.

Wie ein geschickter Duellant war sie dem tödlichen Stoß ausgewichen.

Doch die Vernichtung war nur aufgeschoben. Bevor der Anker wieder heraufgeholt werden könnte, würde die zweite Salve ihr Ziel nicht verfehlen.

Kaum hatte Angélique diese Überlegung zu Ende geführt, als das Sprachrohr ertönte:

»Kappt den Anker!«

Wie durch Zauberei stand ein Amboß auf der vorderen Schanze bereit, und drei kraftvoll gerührte Hammerschläge genügten, um die Kette zu sprengen.

»Volle Segel! ... Kurs Nord-Ost!«

Das befreite Schiff beugte sich unter dem Druck des aufkommenden Windes. Die durch die Schnelligkeit des Manövers überrumpelten Kanoniere des Forts zielten vergeblich. Die Kugeln streiften zwar fast ihr Ziel, die Einschläge ließen es schwanken und überschütteten es mit aufspritzender Gischt, doch unbeschädigt setzte es seinen Weg fort.

»Hipphipphurra!« schrie Nicolas Perrot.

Vielstimmig wurde der Schrei von der Mannschaft aufgenommen.

»Zehn >Bälle< hätten uns die Schweinehunde in die Eingeweide gejagt, wenn unser Chef nicht der beste Skipper aller Meere wäre«, erklärte Perrot. »Wir wären sonst längst baden gegangen. Mein Wort drauf! ... Habt Ihr ihn am Steuer gesehen? ... Kehrt jetzt lieber in den Salon zurück, Madame. Wir sind aus diesem Wespennest noch nicht heraus.«

»Nein, ich will bis zum Schluß hierbleiben, bis ich das offene Meer vor mir sehe.«

»Nach Eurem Belieben, Madame! Manche ziehen es vor, dem Tod ins Gesicht zu sehen. Und schließlich ist es nicht die schlechteste Art, denn manchmal macht es ihm Angst, und er weicht zurück.«

Angélique begann so etwas wie Freundschaft für diesen Trapper vom fernen Saint-Laurent zu verspüren. Trotz seiner Fellmütze und seiner von Tätowierungen blauen Arme sah er nicht eigentlich wie ein glaubens- und gesetzloser Freibeuter aus.

Nach dem Akrobatenstückchen, mit dem sie sich den Salven des Forts Louis entzogen hatte, richtete sich die Gouldsboro wieder auf und schien zu schnauben wie ein Schlachtroß, das sich des bevorstehenden Kampfes bewußt wird. Ein leichtes Drehen des Windes nach Westen erlaubte dem Schiff, seinen Kurs fortzusetzen. Alle seine Segel waren gesetzt, es schien wie mit Leinwand bedeckt, um von der flüchtigen Huld seines Feindes, des Nordwinds, zu profitieren, und entfernte sich rasch von La Rochelle. Es gelang ihm sogar, das die Bucht beherrschende Kap zu passieren.

Um auf offene See zu gelangen, mußte es noch eine der engen Durchfahrten zwischen den Inseln hinter sich bringen. Der starke Wind aus Nord-West, der an diesem Tage blies, verlegte ihm den Zugang zur Enge von Antioche im Süden zwischen den Inseln von Ré, Aix und Oléron. Um aber die bretonische Enge, die schmälste und geschützteste Wasserstraße zwischen dem Kontinent und der Nordküste der Ile de Ré zu erreichen, mußte es noch den Kanal zwischen La Pallice und der Landspitze von Sablonceaux durchqueren.

Der Rescator schien sich für diese letztere Möglichkeit entschlossen zu haben. Das Sprachrohr Kapitäns Jasons erscholl:

»He! Ihr da oben! Geit die oberen Segel auf! Laßt Bugsprietsegel, Briggsegel und Stagsegel schießen!«

Mit entfalteten Untersegeln glitt die Gouldsboro in die Durchfahrt zwischen den beiden Vorgebirgen.

Angélique atmete kaum. Sie wußte, wie gefährlich der flache, von unsichtbaren Felsen durchzogene Kanal war, von dem die Matrosen im Hafen nur mit Besorgnis sprachen. Der in kurzen Stößen kommende Wind, der kleine, harte, heftige Wellen gegen die Schiffsflanke trieb, drohte, die Gouldsboro jeden Augenblick aus dem schmalen Fahrwasser zu drängen, außerhalb dessen ein Schiff von größerer Tonnage jämmerlich Schiffbruch erleiden mußte.

»Habt Ihr diese Durchfahrt schon einmal passiert?« erkundigte sie sich bei ihrem Bewacher.

»Nein, wir sind von Süden gekommen.«

»Dann braucht Ihr einen Lotsen. Unter meinen Freunden ist der Fischer Le Gall. Er kennt alle Fallen des Kanals.«

»Gute Idee!« rief der Mann mit der Pelzmütze. Er lief davon, um den beiden Kapitänen die Nachricht zu bringen.

Gleich darauf erschien Le Gall, von einem Matrosen geleitet. Angélique konnte ihrem Verlangen nicht widerstehen, ihm in die Deckskajüte zu folgen.

Noch immer maskiert, stand der Rescator am Ruder. Alle Geisteskräfte aufs äußerste angespannt, suchte er am leisesten Zittern des Schiffes, an dem winzigsten Anzeichen, das auf Untiefen schließen ließ, die schwierige Durchfahrt zu erkennen. Er wechselte einige Worte mit dem Schiffer, dann überließ er ihm seinen Platz.

Angélique verhielt sich so still wie möglich und veranlaßte auch Honorine dazu.

Das kleine Mädchen schien zu begreifen, daß die Brücke eines Schiffs in der Stunde der Gefahr kein Platz für Frauen und Kinder war, aber um nichts auf der Welt hätte es woanders sein mögen.

Die Gouldsboro glitt mit größerer Sicherheit vorwärts.

»Und wenn uns nun das Fort von Grand Sablonceaux beschießt?« fragte Le Gall, indem er einen Blick zur äußersten Spitze der Ile de Ré hinüberwarf, auf der die Umrisse der Festung zu erkennen waren. »Wie’s Gott gefällt«, antwortete der Rescator.

Der Horizont verlor seine durchsichtige Klarheit. Mit der Hitze des aufsteigenden Tages erhob sich goldener Dunst, der die Ufer verschleierte.

Eine Stimme drang vom Mastkorb herunter:

»Kriegsschiff voraus! Mit Kurs auf uns!«

Kapitän Jason stieß einen Fluch aus. Seine Stimme klang entmutigt.

»Wir sitzen im Loch wie die Ratten!«

»Damit war zu rechnen«, sagte der Rescator, als spräche er von der natürlichsten Sache der Welt. »Gebt Befehl, die Geschwindigkeit zu verringern .«

»Warum?«

»Um mir den Vorteil der Überlegung zu gönnen.«

Das Kriegsschiff, das bis dahin außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben war, erschien hinter der Landspitze von Sablonceaux. Seine entfalteten Segel hoben sich kreidig weiß vom diesigen Himmel ab. Da es den Wind im Rücken hatte, kam es rasch voran.

Der Rescator legte eine Hand auf die Schulter Corentin Le Galls.

»Die Flut beginnt zu fallen. Sagt, Monsieur, wenn die Durchfahrt bereits für uns schwierig wird, ist sie dann nicht unendlich gefährlicher für einen Gegner von größerer Tonnage, der sich auf uns zubewegt?«

Angéliques Blick fiel auf die Hand, die locker die Schulter des Seemanns umspannte. Eine zugleich muskulöse und rassige Hand, an deren Ringfinger ein schwerer Reif aus verziertem Silber saß. Sie fühlte sich erbleichen.

Sie kannte diese nackte Hand mit dem kraftvollen und doch zarten Gelenk. Wo hatte sie sie schon einmal gesehen? Zweifellos in Kandia, wo er den Handschuh abgestreift hatte, um sie zu einem Diwan zu führen. Aber es war nicht nur das. Sie erkannte sie wie etwas unendlich Vertrautes wieder, und es schien ihr, als ob das Nahen ihrer letzten Stunde ihre Sinne verwirre. Jenes Schicksal, das Osman Ferradji in den Sternen gelesen hatte - sollte sie sich in dramatischer Verkürzung seiner bewußt werden, während der Tod sich ihr näherte?

Doch gleichzeitig wußte sie auch, daß sie nicht sterben würde. Weil der Rescator es war, der ihr Geschick in seiner Hand hielt. Dieser rätselhaften Persönlichkeit haftete etwas von der Unverletzlichkeit des antiken Helden an. Mit kindlicher, närrischer Unbedingtheit glaubte sie daran, und bisher hatte sie sich in diesem unglaublichen Unternehmen nicht darin getäuscht.

Das Gesicht des Lotsen hellte sich auf.

»Wahrhaftig!« rief er aus. »Ihr habt tausendmal recht, Monsieur! Sie müssen verteufelt drauf aus sein, Euch zu erwischen, wenn sie sich um diese Stunde bis in den Kanal vorwagen. Bestimmt haben sie einen unserer guten Lotsen an Bord, aber ihre Position ist kitzlig.«

»Wir werden sie noch kitzliger für sie machen ... Und außerdem werden sie uns als Schild dienen, für den Fall, daß sich das Fort einmischen sollte. Ich werde sie zwingen, sich zwischen ihm und uns zu placieren ... Vorwärts! Bereitet Euch zum Kampf vor!«

Und während sich die Marsgäste in die Takelung stürzten, spritzte der Rest der Mannschaft aus der Back, wo er sich bis dahin aufgehalten hatte, Beile und Entersäbel wurden verteilt, und die Planen, die die Feldschlangen verbargen, wurden abgezogen.

Jeder hastete auf seinen Posten.

Mit Musketen bewaffnete Matrosen kletterten in die Körbe der drei Masten und hißten Kästen mit Granaten hinauf, die dazu bestimmt waren, aufs feindliche Deck geworfen zu werden.

»Sand auf die Decks?« fragte der zweite Offizier.

»Ich glaube nicht, daß es soweit kommen wird«, erwiderte der Rescator, das Auge fest ans Fernrohr gepreßt.

Und er wiederholte, unter seiner Maske ironisch lächelnd: »Sand auf die Decks ... Pah!« Angélique erinnerte sich dieser letzten, äußersten Vorbereitung aus dem Mittelmeer. Man bestreute die Deckplanken mit Sand, um zu verhindern, daß die nackten Füße der überlebenden Kämpfer im verströmten Blut ausglitten.

»Sie werden kentern, bevor sie uns einen einzigen Enterhaken zuwerfen können«, setzte der Pirat achselzuckend hinzu.

Er schien seiner Sache so sicher, daß während der folgenden Minuten, in denen sich die beiden Schiffe unausweichlich einander näherten, die Spannung nachließ. Übrigens war sehr schnell festzustellen, daß sich das Kriegsschiff in einer üblen Lage befand. Infolge des Gewichts seiner vierzig Kanonen und der Unklugheit, alle Segel zu setzen, vermochte es kaum seinen Kurs zu halten. Die Wellen trieben es gegen das Ufer.

»Und wenn es uns beschießt?« fragte Le Gall.

»Dieses Monstrum? . Es sitzt viel zu tief in der Tinte, um sich in Schußposition zu manövrieren. Und wir kehren ihm außerdem den Bugspriet zu. Das Ziel ist zu klein.«

Unerschrocken bewegte sich die Gouldsboro weiter voran. Das Kriegsschiff kämpfte mehr und mehr, um sich flott zu halten. Unwiderstehlich gegen die Felsen gedrängt, neigte es sich plötzlich, und ein dumpfes Krachen drang herüber.

»Gekentert!« schrie die Besatzung der Deckskajüte der Gouldsboro.

Die Matrosen schwenkten ihre Mützen und brachen in wildes Freudengeheul aus.

»Nehmen wir uns in acht, daß es uns nicht ebenso geht«, empfahl der Rescator. »Das Meer fällt gefährlich.«

Und er schickte Leute mit Meßruten zur Back.

Seinen Kurs verfolgend, glitt das Piratenschiff an seinem ohnmächtigen Gegner vorbei, von dem Beschimpfungen und Flüche zu ihnen herüberschallten.

»Schicken wir ihnen eine Salve?« fragte Kapitän Jason. »Wir sind in guter Position.«

»Nein! Es hat keinen Sinn, allzu böse Erinnerungen hinter uns zu lassen. Ganz abgesehen davon, daß wir uns noch nicht aus der Affäre gezogen haben.«

Auch Angélique dachte daran, daß andere Schiffe auftauchen und ihnen den Weg verlegen könnten. Aber es glückte ihnen, den Kanal ohne Gefährdung zu passieren und in die bretonische Enge einzulaufen.

Le Gall straffte sich, die Hände auf der Ruderpinne.

»Das Schwierigste liegt hinter uns, Monsieur. Ich würde vorschlagen, alle Segel zu setzen und der Nordküste bis zum Ausgang, der Spitze von Grouin du Gou, zu folgen.«

»Einverstanden.«

Das Manövrieren wurde leichter. Die Enge bot ihnen Schutz, und der Wind, dessen Heftigkeit nachgelassen hatte und der aus günstigerer Richtung blies, machte sich zu ihrem Verbündeten. Der leichte Dunst erlaubte es, die in weiter Kurve sich hinziehende Küstenlinie des Landes und die schneeige Kante der Salzteiche zu erkennen.

Doch auf der anderen Seite lag Saint-Martin de Ré, und bald lösten sich dort drüben die Schiffe der königlichen Flotte wie Gebilde eines Traums und steuerten ihnen, eins nach dem anderen, entgegen. Die Meute begab sich auf die Jagd.

In gespanntem Schweigen beobachteten sie ihr Vorrücken.

»So nahe dem Ziel«, murmelte Le Gall. »Wir sind schon an der Spitze von Arçay vorüber.«

»Setzen wir soviel Leinwand wie möglich! Der Wind hat sich leicht gedreht. Er hilft uns.«

»Ihnen auch.«

»Aber wir haben Vorsprung.«

Kurze Sätze, die dazu dienten, die Lage zu klären, die Chancen zu wägen und nicht die geringste ungenutzt zu lassen.

»Nachdem die vordersten Schiffe der Flotte mit beunruhigender Schnelligkeit größer geworden waren, schienen sie nun ihre Distanz zu bewahren. Die Gouldsboro befand sich noch außerhalb der Schußweite ihrer Kanonen.

Von neuem legte der Rescator eine Hand auf die Schulter des Rochellesers.

»Sehen wir zu, daß wir auf offene See gelangen, Freund. Auf die Ehre des Rescators verspreche ich Euch, daß wir draußen so vor den Wind gehen werden, daß keines der Schiffe Seiner Majestät uns einholen wird.«

»Wir werden hinausgelangen, Monsieur«, antwortete der Lotse, von der Zuversicht angesteckt.

Die Augen unverwandt auf die Wasserstraße vor ihm gerichtet, suchte er die leisesten Strömungen, die geringste Brise zu nutzen, um dem Schiff, das er führte, alle Möglichkeiten seiner Schnelligkeit zu verleihen. Ah, wie er dieses Gewässer kannte, wo er so oft singend seine Netze ausgeworfen und seine Hummernkörbe hochgezogen hatte, mit Liebe die klaren, vergoldeten Linien des Wassers, des Festlands und der Inseln um sich betrachtend, die die vertraute Landschaft seines Daseins bildeten! Von bretonischer Herkunft, war seine Familie vor drei Generationen in La Rochelle ansässig geworden, was sein Hugenottentum erklärte und die Hartnäckigkeit, mit der er seinem Glauben anhing wie ein katholischer Bretone dem seinen. Er dachte in dieser Stunde daran, daß er heute diese Landschaft seines Glücks durchfuhr, um sie zu fliehen, daß sich im Bauch dieses verfolgten Schiffes seine Frau und seine Kinder befanden und daß es schrecklich wäre, hier zu sterben, versenkt durch die Geschosse des Königs von Frankreich angesichts dieser Inseln und dieser Stadt.

Ihn quälte nicht so sehr die Furcht vor dem Tode, dem er so oft im Laufe seiner Fahrten ins Gesicht gesehen hatte, als vielmehr die Pein des Verrats.

»Oh, Herr, sieh, was wir in deinem Namen zu leiden haben! Warum? ... Warum?«

Angélique warf einen Blick zurück. Die Segel der Verfolger wuchsen von neuem hinter ihnen auf. Doch schon schien die Bewegung der See, schienen die schaumigen Kämme der Wogen die Nähe des offenen Meeres anzukündigen. Die Küste wich zurück, schrumpfte zu einem schmalen Streifen. Der Wind hinterließ einen bitteren Geschmack und wurde rauher. Der verschleierte Horizont ließ eine größere Weite ahnen.

Das Meer! . Aber war es nicht zu spät? .

Sie betrachtete den Rescator und bemerkte, daß auch er sie durch die Schlitze seiner Maske fixierte.

Sie nahm an, daß er ihr befehlen würde zu gehen, da ihr Platz nicht auf der Brücke sei, daß er sie mit der Ironie, die er so gut gegen sie zu spitzen wußte, verjagen würde.

Doch er sagte nichts. Das Gefühl stieg in ihr auf, daß er sie so ansah, weil die Dinge eine schlimme Wendung nahmen und der Augenblick von unheilvoller Bedeutung sei. Sie, die bisher Vertrauen bewahrt hatte, verspürte Furcht.

»Ist es zu spät?« fragte sie.

In diesem Moment reckte sich Honorine in ihren Armen auf und wies zum Horizont.

»Da!« rief sie mit freudiger Miene. »Viele Vögel!«

Die Vögel ... waren Schiffe. Sie tauchten über den Horizont und versperrten die Ausfahrt aus der Bucht.

Nach einigen Augenblicken schon schien ihre Zahl unendlich. Eingekreist zwischen ihre Annäherung und die Phalanx der königlichen Flotte, ähnelte die Gouldsboro einem in die Enge getriebenen, von allen Seiten umringten Wild, das nicht einmal mehr die Möglichkeit hat, sich den zu seiner Vernichtung versammelten Feinden entgegenzustellen.

Die auf ihren Gefechtsposten verharrenden Matrosen stießen ungläubige und bestürzte Rufe aus. Diesmal war die Übermacht zu groß. Sie würden kämpfen, aber nicht siegen, und alle Fluchtwege waren ihnen versperrt. Doch fast zugleich ließ der Rescator einen Ausruf hören und brach in wildes Gelächter aus. Er vermochte nicht zu sprechen, so sehr überwältigte ihn das Lachen, das schließlich in einem Hustenanfall erstickte.

»Er ist toll geworden«, sagte sich Angélique versteinert.

Endlich gelang es dem Piraten, zu Atem zu kom-men:

»Die Holländer!«

Die allgemeine Bestürzung verwandelte sich in einen wahren Freudentaumel.

»Hißt die englische Handelsflagge am Großmast!« brüllte Kapitän Jason auf englisch in sein Sprachrohr.

Er wiederholte den Befehl in französischer Sprache.

Im Winde knatternd, stiegen die Flaggen hoch: die mit dem roten Kreuz über einem weißen Andreaskreuz auf blauem Grund am Großmast und am Heck die rote, die in einer Ecke das gleiche dreifarbige Kreuzemblem trug.

Hart mitgenommen durch den Sturm der vergangenen Nacht, glitten die schwerfälligen Handelsschiffe mit feierlicher Langsamkeit in die bretonische Enge. Zwei mächtige Linienschiffe liefen ihnen mit ihren fünf Masten, drei Batteriedecks und zweiundsiebzig Kanonen voraus. Ihnen folgte ein Schwarm von rund vierhundert Kauffahrern aller Tonnagen, deren kleinster aber noch dreihundert Tonnen überstieg. Diese dickbauchige Flotte wurde von zwanzig Kriegsfahrzeugen eingerahmt, die jedoch den Vergleich mit den großen Dreideckern nicht aushielten.

Die Gouldsboro schmuggelte sich mit der Behendigkeit eines Hasen, der sich im dichten Unterholz eines Waldes verliert, in ihre Reihen. Nach wenigen Augenblicken befanden sich an die zehn Schiffe der riesigen Flotte zwischen ihr und ihren Verfolgern.

Den Offizieren Seiner Majestät war es unmöglich, auch nur den kleinsten Kanonenschuß abzufeuern, ohne ehrliche Handelsleute zu treffen, die sich anschickten, in französischen Gewässern zu ankern.

So waren sie gezwungen, auf die Bestrafung des kühnen Piraten zu verzichten, der sie an der Nase herumgeführt hatte.

An der veränderten Bewegung der See erkannten die im Zwischendeck eingeschlossenen Flüchtlinge, daß sie das offene Meer erreicht hatten. Endlose Stunden hindurch hatten sie auf die Geräusche gelauscht, hatten sie den knirschenden Kampf des Schiffes gegen den ungünstigen Wind verfolgt. Das Manöver vor dem Fort Louis hatte sie im dumpfen Gedröhn der Kanonen durcheinandergeworfen, und sie hatten ihre letzte Stunde nahe geglaubt. Dann folgte die langsame, schleppende Fahrt durch den Kanal, die jäh hereinbrechenden, unheimlichen Augenblicke der Stille, die lärmenden Kampf Vorbereitungen, das Gelaufe der nackten Füße über ihren Köpfen, das Warten. Stunden des Betens, dazwischen kurze Worte, um die Angst zu vertreiben oder die unruhig werdenden Kinder zu besänftigen ...

Und wie in der Arche >gab es kein Fenster, und sie sollten nicht wissen, was draußen geschah<.

Dann begann das Schiff in langen, regelmäßigen, ruhigen Bewegungen zu rollen. Und sie hatten den Druck der endlich ohne Zwang gerichteten, geblähten, gespannten Segel gespürt, und der befreiende Elan, der den Schiffsrumpf durchdrang, ließ die Planken erzittern, als sei er ein flinkfüßiges Vollblut, dem man die Zügel nachläßt.

Und Le Gall erschien auf der Schwelle, erschöpft, mit einem zugleich triumphierenden und verzweifelten Ausdruck in seinen blauen, keltischen Augen.

»Wir sind ihnen entkommen«, sagte er. »Wir sind auf dem Meer. Wir sind gerettet!«

Ein qualvoller Schmerz zerriß aller Herzen.

Adieu, La Rochelle, unsere Stadt! Adieu, unsere Heimat! Adieu, unser König! .

Sie fielen auf die Knie, die Augen voller Tränen.

»Die Küste ist noch sichtbar«, sagte der Rescator, während er sich Angélique näherte und sie hart durch die Schlitze seiner Maske fixierte. »Dreht Ihr Euch nicht um, einen letzten Blick auf diese Gestade zu werfen, die Ihr für immer verlaßt, Madame?«

Angélique schüttelte den Kopf, »Nein«, sagte sie.

»Ihr seid wenig gefühlvoll für eine Frau. Es muß schlimm sein, von Euch gehaßt zu werden. Ihr laßt also kein Bedauern dort drüben zurück, keine Erinnerung, kein teures Wesen?«

Ein totes Kind, dachte sie, ein kleines Grab am Waldrand von Nieul ... Das ist alles.

»Ich nehme alles mit, was mir teuer ist«, erklärte sie, Honorine an ihr Herz drückend. »Meinen einzigen Schatz.«

Und wie jedesmal, wenn sie sich der unmerklich bohrenden Neugier des Rescators unversehens bewußt wurde, hatte sie den Eindruck, als würde sie beobachtet, als bedrohe sie die seltsame Teilnahme, die er ihr entgegenbrachte.

Unermeßliche Müdigkeit sank auf ihre Schultern. Es war die Last der Stunden, die sie eben durchlebt hatte, es war die Last ihres ganzen Lebens in einem Augenblick, in dem das Schicksal eine Pforte hinter ihr schloß, die sich nicht mehr öffnen würde. Sie fühlte den Schmerz ihrer erstarrten Arme, mit denen sie - sie wußte nicht, wie lange - Honorine an sich gedrückt hatte.

»Ich bin müde«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Oh, so müde. Ich möchte schlafen ...«

Angélique wußte nicht mehr, was zwischen jenem Augenblick, in dem sie diese Worte gesprochen hatte, und jenem anderen, in dem sie im purpurnen Licht des Sonnenuntergangs erwachte, geschehen war. Ihr Gesichtsfeld war erfüllt von einer rubinfarbenen Sonne, die sich wie eine riesige Laterne vom glanzlossilbernen Hintergrund des Meeres und des Himmels abhob.

Sie berührte den Horizont, wurde mit bestürzender Schnelligkeit von ihm verschlungen, ließ während eines kurzen Moments noch ein rosiges, die Abendröte überstrahlendes Leuchten zurück, das nach und nach verblaßte.

Um sich fühlte Angélique die Bewegung des Schiffes, jenes rhythmische, unaufhörliche Schwanken, das sie um einige Jahre ins Mittelmeer zurückversetzte. Damals, selbst während ihrer Gefangenschaft auf der Hermes, war es zuweilen geschehen, daß ein Gefühl von Unendlichkeit ihr Herz anschwellen ließ und ihre leidenschaftliche Seele mit Zufriedenheit erfüllte. Das waren die Erinnerungen, die sie an diese Reise, während derer sie tausend Tode erlitten hatte, mit einer Art von Schmerz und Entzücken denken ließen.

An diesem Abend würde sie das Meer wiederfinden. Durch das verglaste Fenster der Kajüte bot ihr die Dämmerung ihren kurz aufflammenden Brand, danach das feierliche Mysterium des dunkelnden Abends, des Vorspiels der Nacht.

Sie vernahm die Brandung der Wellen gegen den Schiffsrumpf und dazwischen das trockene Knattern der Segel und das Äolslied der Brise in den Tauen.

Sich aufrichtend, blieb sie auf dem Rand des orientalischen Diwans sitzen, auf den man sie gebettet hatte, stützte die Arme auf, der Kopf leer, gedankenlos, doch mit der geschärften Wahrnehmungsfähigkeit des Glücks, das sie überflutete. Sie war frei.

Honorine schlief an ihrer Seite, dem Schlummer hingegeben, eine pausbäckige Rose, deren Färbung der letzte schwindende Sonnenschimmer noch vertiefte.

Mit unendlicher Zärtlichkeit beugte sich Angélique über sie.

»Ich nehme dich mit, mein Schätzchen«, murmelte sie. »Fleisch meines Fleisches, Herz meines Herzens .«

Die übermenschliche Freude wurde fast schmerzhaft. Ein alter Traum wurde Wirklichkeit.

Siefuhr übers Meer, einem neuen Leben entgegen.

Ihre Lungen füllten sich mit salziger Luft. Ihre Augen verschleierten sich, ihr schwindelte in der Trunkenheit eines Gefühls, das keinen Namen kannte. Ein ekstatisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Dort, allein im dunkelnden Licht des endenden Tages, bot Angélique dem Ozean wie einem wiedergefundenen Geliebten ihr Gesicht, das erwartungsvolle, hingegebene Antlitz einer Liebenden .

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