Heinz Konsalik Das einsame Herz

Kapitel 1

Durch den staubigen Sand der Landstraße mahlten die Räder. Knarrend schwankte der hölzerne, gelb lackierte Kasten der Postkutsche auf den ächzenden, morschen Achsen, um die der Staub wirbelte und die Steine hochgeschleudert wurden, während die beiden müden Pferde an der langen Deichsel die Beine kräftiger nach vorn warfen, die nahe Poststation und damit Ruhe und volle Tröge witternd. Der schläfrige Postillion auf dem breiten Bock, hinter dem sich die Koffer, Kisten und Säcke zu Bergen stauten, wohl verschnürt mit einem dicken Seil, das den ganzen Wagen kreuz und quer von dem Dach aus überspannte, griff widerwillig zu seinem Horn und setzte es an den Mund.

«Eine Pulle Schnaps wäre besser«, murmelte er und blies dann ins Horn, daß der Ton von den Bergen widerhallte und im langsam verebbenden Abendrot zitternd untertauchte.

Im Innern der Kutsche saßen, durch die hüpfenden Räder hin und her geschleudert, zwei Männer und eine ältere Frau, die durch eine Lorgnette hinaus in die abendliche Landschaft blickte und ab und zu ihre Mitreisenden durch schrille Ausrufe des Erstaunens oder des Schreckens aus einem gefühllosen Halbschlaf aufschreckte.

«Messieurs«, rief sie eben schrill.»Stimmt es, daß in dieser Gegend schon zweimal eine Postkutsche aus Chemnitz überfallen wurde? Mon Dieu — die Gegend ist so wild —, sehen Sie bloß die dunklen Berge, die schwarzen Wälder; wenn nun ein Dieb hinter der nächsten Biegung lauert.«

Und da die Herren keine Antwort gaben, zeterte sie:»Die Kutsche aus Chemnitz…«

«Wir sitzen in einer Kutsche aus Dresden«, sagte der ältere der Herren laut und grollend im Spott.»Das wissen die Räuber. Zudem sind wir zwei Männer, die mit der Pistole wohl umzugehen verstehen — meinen Sie nicht auch, Herr Nachbar?«

Der Angeredete war ein junger Mann von knapp zwanzig Jahren.

Unter den hellen blonden Haaren wölbte sich eine hohe Stirn, die dem blassen Gesicht mit den großen, fast immer erstaunt blickenden Augen die Form eines geistigen Träumers verlieh, während der schmale Mund über der leicht gebogenen, zartsatteligen Nase stets zu einem wehmütigen Lächeln bereit schien. Sein grauer Reiserock über den gestreiften, engen Hosen mit den Schuhstegen, die sauberen, gepflegten Lackschuhe und der zierliche biegsame Stock mit der Elfenbeinkrücke, der zwischen seinen Beinen stand, verstärkten den Eindruck eines vornehmen, aber in der Tiefe des Wesens ein wenig scheuen Edelmannes.

«Ich würde lieber eine Salbe mischen, als mit einem Revolver um mich schießen«, gab der junge Reisende zur Antwort.»Mir scheint aber, daß die Furcht der Dame unbegründet ist. Die Gegend ist zwar wild, denn unser Erzgebirge ist nun einmal ein von Menschen wenig betretenes Land, aber vor Räubern könnte man weniger Furcht haben als vor dem Zustand der schrecklichen Straßen.«

So schicklich er gesprochen hatte, so erregt war die Dame mit der Lorgnette. Sie betrachtete den Herrn eine Zeitlang, ehe sie wieder aus dem Fenster schaute und sich an dem Rahmen festhielt, als die Kutsche mit lautem Gepolter durch ein tiefes Loch der Straße holperte.

«Parbleu!«rief sie dabei.»Die Straßen in Deutschland sind greulich! Gibt es hier keinen Landesherren, der für das Wohl der Reisenden zu sorgen hat?«

«Die Straßen sind das Andenken des Herren Napoleon«, antwortete der Ältere giftig, indem er dem Jüngeren zublinzelte, sich an dem Gespräch zu beteiligen.»Wenn er heuer nicht auf St. Helena säße, würde man ihn wohl zwingen können, auch diese Straße wieder aufzubauen.«

Die Dame schwieg. Dann, nach einer ganzen Zeit, als besinne sie sich auf ihr Franzosentum, bemerkte sie laut:»Ich glaube, daß Napoleon, wenn er noch in Deutschland wäre, anderes täte, als Straßen aufzubauen.«

Die Pferde draußen in der Deichsel rissen kräftiger an den Seilen.

Die Straße stieg jetzt ein wenig an, um hinter dem Berg leicht abzufallen und auszulaufen in die nahe Poststation, einen kleinen Ort mit Namen Frankenberg, der indes als Kuraufenthalt und Erholungsstätte weithin gerühmt wurde. Der Postillion auf dem Bock schmetterte schon seinen Willkommensgruß über den Berg und schob den Lackzylinder in den Nacken, während er fester die Peitsche griff.

Das Abendrot war verblaßt, eine fahle Dämmerung schlich von den Bergen ins Tal, ein kühler, herbstlicher Wind rauschte in den Tannen und fegte den Staub von der Straße in kleinen Wirbeln fort.

Die Wiesen an den Hängen wurden bläulich-grün, und über den Himmel schoben sich violette Wolken, die an den Rändern schon begannen schwarz zu werden.

Im Innern der Post war das Gespräch weitergegangen.

Die Dame, immer noch in der Angst, überfallen zu werden, hatte sich den Herren als eine Frau von Colombique vorgestellt, während der ältere der Herren knurrend seinen Namen — Herr von Se-ditz — nannte. Allein der Jüngere erhob sich leicht, verbeugte sich mit allem Anstand und sagte, daß er Otto Heinrich Kummer heiße und geradewegs aus Dresden komme.

Die Dame blickte auf und musterte den Edelmann genauer.

«Kummer? Kummer?«Sie sprach das >u< wie ein >ü< und dehnte das >er< wie ein wohlgenährtes >ä< — Kümmääär.»Monsieur Kummer? Ich kannte einen Monsieur Kummer in Dresden. Einen — wie sagt man doch — einen Monsieur Münzmarschall.«

«Das ist mein Herr Vater!«rief der junge Reisende erfreut und stolz aus.»Sie kennen meinen Vater, Madame?«

«Excellent! Ein vorzüglicher Mann. Klug, witzig mit Esprit, wie er in Paris in den Salons zu finden ist. Ich lernte ihn kennen bei einem Hofball — er stand in der Hofloge und machte mir ein entzückendes Honneur.«

Die Dame lächelte und nickte dem Herren zu, sich wieder zu setzen.

Otto Heinrich Kummer, dem die Gesellschaft der Frau von Co-lombique in keiner Weise mehr belästigend war, warf sich in das harte Polster der Bank zurück und nahm den Stock wieder zwischen seine Knie. Knurrend blickte Herr von Seditz aus dem Fenster in die beginnende Dunkelheit.

«Ihr Herr Vater ist ein stattlicher Mann«, führte die Dame die Unterhaltung nach einer kurzen Pause fort.»Ganz anders als Sie, Monsieur. In meiner Heimat sagt man: Sie müssen mehr Klöße essen!«Sie lachte leise und klappte die Lorgnette auf und zu.

«Sie sehen so blaß und abgespannt aus — Sie fahren sicherlich zur Kur nach Frankenberg.«

«Mitnichten«, antwortete Otto Heinrich lächelnd.»Ich trete in Frankenberg eine neue Stelle an.«

«Oh — eine Stellung? In diesem Nest?«

«Die Wahl fiel auf Frankenberg, weil mein Herr Vater gute Verbindungen zu meinem neuen Herren besitzt. - Ich bin Apotheker, Madame — und Kranke gibt es in Frankenberg ebenso wie in Dresden.«

«Sehr edel«, nickte Frau von Colombique.»Apotheker. Soso — kennen Sie ein Mittel gegen den Schlagfluß?«

Herr von Seditz, der der Unterhaltung mit sichtlichem Widerwillen gefolgt war, nickte nun an des Jüngeren Stelle, und ein höhnisches Lächeln glitt über seine braungebrannten, männlich-herben Züge.

«Weniger essen«, sagte er laut, indem er die Dame musterte und einen langen Blick auf der rundlichen Fülle ihres Leibes und Busens haften ließ.»Essen ist zwar eine der angenehmsten Beschäftigungen — aber Frauen sollten sich mäßigen.«

Die Unterhaltung war durch diesen unliebsamen und ungalanten Einwurf beendet, sehr zum Bedauern des Apothekers, der gerne noch ein paar Kleinigkeiten über seinen Vater gehört hätte. Aber Frau von Colombique drehte den beiden Reisenden brüsk die Schulter zu, sah aus dem Fenster in die sternenlose Nacht hinaus und klammerte sich nur einmal am Fensterrahmen fest, als die nun abfallende Straße die Kutsche in einen holpernden Galopp brachte.

Herr von Seditz nickte in der Dunkelheit seinem Gefährten zu.

Dann beugte er sich vor, legte seine Lippen an das Ohr Otto Heinrichs und flüsterte:

«Sie sollten vorsichtiger sein, Herr Kummer. Ich kenne Ihren Herrn Vater besser als diese alte Schachtel — und ich kenne auch Sie!«Und als der Apotheker verwundert zusammenzuckte, zischte Seditz:»Psst! Das Weib reist ohne Paß — genügt Ihnen das? Sie mußte aus Dresden flüchten, weil sie eine unliebsame Staatsaffäre wegen — na sagen wir — Spionage aufgewirbelt hat. Ihr Herr Vater erkannte rechtzeitig den wahren Grund ihrer Anwesenheit, und nur mit List entging sie den Schergen. Jetzt reist sie ins Kursächsische und dann weiter nach Thüringen.«

«Aber warum verhaftet man sie dann nicht?«fragte Kummer ein wenig argwöhnisch.

«Sie hat durch den französischen Gesandten in Dresden einen >lais-sez passer< erwirkt, der sie für Sachsen sozusagen fangunmöglich macht!«

Dem Apotheker stand für einen Augenblick der Atem still, indem er in die dunkle Ecke starrte, wo er die Umrisse der fülligen Gestalt schattenhaft bemerkte.

«Und Sie, Herr von Seditz?«

«Ich bin ihr Schatten. Ich reise mit der Extrapost voraus, um sie in Thüringen in Empfang zu nehmen. Den Beweis haben wir erst, wenn sie in wenigen Tagen ohne Papiere über die Grenze zu kommen versucht.«

Er legte den Finger auf die Lippen und schwieg.

Das Rattern des Wagens und das knarrende Schwanken waren die einzigen Geräusche in der Dunkelheit, bis die Lichter eines Gasthauses um eine Wegbiegung erschienen.

«Frankenberg«, sagte Seditz und reckte seine große, kräftige Gestalt.

«Ja — Frankenberg«, sagte auch Otto Heinrich Kummer, und seine Stimme klang ein wenig traurig und belegt. Er schaute aus dem Fenster dem näher kommenden Licht entgegen, zog seine Halsbinde gerade und nestelte aus dem kleinen Gepäcknetz eine kleine Rei-setasche hervor. Er öffnete sie, entnahm ihr ein kleines Paket und steckte dies in die Tasche seines Reisemantels, den er gefaltet über seine Knie legte.

Auch Frau von Colombique wurde munter und schaute unruhig aus dem Fenster, als die Kutsche mit einem harten Ruck vor der hellerleuchteten Türe des Gasthofes hielt und der Wirt mit seinem runden Käppchen an den Wagenschlag trat.

«Willkommen in Frankenberg«, sagte er und riß die Tür auf.»Reisen die Herrschaften weiter?«

«Zum Teil«, antwortete Herr von Seditz.»Wann geht die nächste Post?«

«Morgen um fünf in der Frühe«, beeilte sich der Wirt zu sagen.»Es sei denn, Sie nehmen die Extrapost! Kommt in der Nacht an. So gegen zwölf.«

«Die nehme ich«, sagte Seditz, und auch die Dame nickte zustimmend.

Dann stiegen sie aus, während die Knechte schon die Pferde abschirrten und die Gepäckstücke abschnallten, eine mühevolle Arbeit, denn Frau von Colombique kam mit dem Zählen ihrer Koffer nicht zum Ende und vermißte laufend Stücke, die dann nach wenigen Minuten vom Dach der Kutsche gehoben wurden.

«Sie werden sicherlich erwartet«, sagte Seditz zu Otto Heinrich Kummer, der sich mehrmals umschaute.»Leben Sie wohl, junger Freund. Ich habe Ihren Herrn Vater schätzengelernt und würde mich für Sie freuen, wenn Sie einmal so würden wie er. Meine besten Wünsche sind bei Ihnen. Und wenn Sie einmal einen Freund brauchen, so schreiben Sie an mich nach Dresden.«

Er drückte dem verwunderten Apotheker die Hand und wandte sich dann ab, dem Wirte und der Frau von Colombique in die Wirtschaft zu folgen.

Kopfschüttelnd sah ihm Otto Heinrich Kummer nach, nahm seinen Koffer und seine Bündel auf, ging um den Gasthof herum auf die Straße, die nach Frankenberg hineinführte, und sah sich dann wieder wartend um, ob niemand gekommen sei, ihn nach der lan-gen Fahrt abzuholen.

Aber die Straße war leer, kein Mensch war zu sehen — nur in der Ferne verklang das Rollen eines Wagens.

Mit einem neuerlichen Kopfschütteln und einem resignierenden Achselzucken nahm der Apotheker seine Sachen auf den Rücken, klemmte den Stock in den Henkel des Koffers und schritt dann mit langen Schritten die Straße entlang nach Frankenberg hinein, der Zukunft, dem Ungewissen, dem Schicksal entgegen.

Am Fenster des Gasthauses verfolgte ihn Herr von Seditz mit einem langen, lächelnden Blick.

«Armer Junge«, sagte er leise vor sich hin.»Du bist alles andere als ein Apotheker. Zu zart, zu beseelt, zu — dichterisch. Auch ich war einst wie du — na — wirst deinen Weg schon gehen.«

Otto Heinrich Kummer trat unterdessen in den Schein der ersten Häuser Frankenbergs ein und fragte einen Bürger nach der Apotheke. Zwei Straßen weiter auf dem kleinen Markt mit dem winzigen Brunnen blieb er vor einem spitzgiebeligen Haus stehen, dessen Dach mit dem Nachthimmel verschmolz, setzte sein Gepäck ab und betrachtete lange seine neue Heimat.

Die Fensterläden waren geschlossen, die Malerei des Balkenschnitzwerkes leicht verwittert, und die breite eisenbeschlagene Tür sah mehr nach dem Eingang zu einer Schmiede als zu einer Apotheke aus.

Sinnend trat er ein paar Schritte auf den stillen Markt zurück, umfaßte mit einem langen Blick noch einmal das ganze, dunkle, große, spitze und schön verzierte Haus, dann setzte er sein Gepäck vor die Tür, zog an der laut bimmelnden Eisenklingel und wartete, bis er tappende Schritte die Stiege im Hause hinuntergehen hörte. Und er schalt sich einen Schwächling weil er spürte, daß sein Herz plötzlich schneller und weher schlug.

Ein baumlanger, hagerer, verschlafener, griesgrämiger Geselle öffnete spaltbreit die Tür.

«Wer da?«murmelte er und schien wenig Lust, die Tür ganz zu öffnen.

«Otto Heinrich Kummer«, sagte der Riesige laut.

«Wer?«

«Otto Heinrich Kummer aus Dresden«, wiederholte der Wartende, denn es schien, als erwecke sein Name keinerlei Erstaunen, Freude oder gar Verstehen.»Ich bin der neue Apothekergeselle!«

«Himmel — in der Nacht!«

Die schwere Tür flog auf, und Otto Heinrich sah eine gespenstige Gestalt in einem überlangen Nachthemd.

«Lieber Kollege — so spät hätte ich Sie nicht erwartet. Wenn das der Alte merkt, gibt es gleich zur Einführung einen Veitstanz! Kommen Sie schnell und leis hinein, hinauf, ins Bett, und rühren Sie sich nicht bis morgen.«

Damit nahm der Riese die Gepäcke wie eine Feder auf die Schulter, schlich die Stiege hinauf und vermied es krampfhaft, daß die Treppenstufen knarrten.

Verwundert über diesen Empfang, folgte ihm Otto Heinrich, erhielt einen bösen Blick, weil er bei einem Fehltritt auf der unbeleuchteten Treppe Lärm schlug, und trat dann in ein kleines Zimmer unter dem Dach ein, in dem neben zwei Betten nichts stand als ein Tisch, zwei Stühle und ein Regal mit Haken für die Kleidung.

Erst in der Kammer entzündete der Riese eine Kerze, warf das Gepäck auf das zweite, unbenutzte Bett, kratzte sich den Schädel, sah den Neuangekommenen an und sagte dann:

«Mein Name ist Bendler. Ich bin der erste Provisor.«

Dann, als erkenne er erst die Lage des Kollegen aus Dresden, rückte er ein Brot und etwas Käse auf den Tisch, lud mit einer Handbewegung zum Essen ein und meinte:

«Wundern Sie sich nicht, Kollege — Sie sind nicht mehr in der Dresdner Hofapotheke, sondern beim Apotheker Knackfuß in Frankenberg im Erzgebirge! Wenn Sie nicht wissen, was das heißt, so werden Sie das in spätestens einer Woche genau wissen! Sie dürfen sich nicht wundern, Sie dürfen nicht klagen, noch weniger etwas erwarten — Sie dürfen nur an das Vergängliche allen Fleisches denken, das ist das einzige, was Sie in Zukunft obenhalten kann! — So, und jetzt essen Sie, legen sich hin und schlafen. Wenn die Sonne scheint, werden Sie dem Meister vorgeführt. Er wird Sie zwar nicht fressen, aber anbrüllen bestimmt!«

Damit löschte er die Kerze aus, ohne Rücksicht, ob Otto Heinrich mit dem Essen zu Ende war, und wälzte sich mit einem Stöhnen auf das Bett, das sich für seine Länge als viel zu kurz erwies, so daß er stets krumm lag. Ein tiefes, gleichmäßiges Atmen ließ nach kurzer Zeit erkennen, daß der Riese Bendler eingeschlafen war.

Otto Heinrich Kummer saß noch lange im Dunkeln an dem Tisch und schaute durch das Lukenfenster hinauf in den fahlen Nachthimmel.

Frankenberg, dachte er.

Jetzt bin ich in Frankenberg.

In der Einsamkeit.

In der Fremde.

In der Verbannung.

Und dort, weit weg, hinter den Bergen und Wäldern, viele Tagesreisen durch Schluchten und Dörfer liegt Dresden, das sonnige, herrliche, mächtige, königliche Dresden.

Die Residenz des Königs.

Das Schloß. Der Traum des Zwingers.

Die weite, große Oper mit der Quadriga der Panther auf dem Dach.

Die breite Brühlsche Terrasse an der noch jugendlichen Elbe.

Könnte ich jetzt in den Gärten wandeln, am Nymphenbrunnen des Zwingers die Serenaden hören, durch die Gänge der Gemäldegalerie wandeln und im Grünen Gewölbe den Porzellan- und Goldschatz des Starken August bewundern. Nur durch die Straßen gehen, das Leben aufsaugen, das bunte, vielfältige und doch so einfältige Leben, die Straßen sehen, die meiner Kindheit Glanz und Erleben gaben.

Otto Heinrich Kummer stand auf und trat an das Fenster.

Traurig lehnte er den Kopf an den Rahmen und blickte hinaus in die ziehenden Wolken mit dem Wunsch, mit ihnen zu reisen, denn sie zogen in die Heimat und würden morgen vielleicht am glänzend blauen Himmel über dem weiten Bau des Zwingers hängen.

Auf dem Bette rührte sich die Gestalt des Riesen Bendler. Knurrend wälzte er sich herum und bemerkte den Stummen an dem Lukenfenster.

«Schon Heimweh?«sagte er halblaut.»Kenne ich. Habe ich auch gehabt, als ich vor fünf Jahren nach Frankenberg in die Fänge des alten Knackfuß kam. Geht schon vorüber, Kamerad — mußt die Zähne fest aufeinanderbeißen und den Kloß, der dir dabei im Halse steckt, einfach hinunterschlucken! Zu ändern ist doch nichts! Warum kommst du auch zu diesem Knackfuß!«

«Mein Vater hat es so bestimmt«, antwortete Otto Heinrich leise.

Bendler pfiff laut durch die Zähne.»Der Vater — das ändert vieles. Der Alte verkaufte dich also?! Kennt er den Knackfuß?«

«Ich weiß nicht. - Er hatte eine Empfehlung.«

«Empfehlung!«Der Riese lachte schrill.»Auf solch eine Empfehlung pfeife ich! Ich muß bleiben, ich habe kein Geld, um die Stellung zu sichern — aber du! Du bist was Feineres — habe ich gleich gesehen! Geh morgen erst gar nicht hinunter — fahre mit der nächsten Post wieder nach Dresden zurück! Hier vermißt dich keiner!«

«Ich muß bleiben — der Herr Vater befahl es. Befehle werden bei uns gehalten, auch wenn man daran zerbricht!«

«Herr Vater! Befehl! Bis man zerbricht! Blödsinn! Menschenschinderei! Die Französische Revolution hat die Freiheit des Individuums gelehrt! Du kannst das tun, was du willst, wenn du es verantworten kannst. Oder willst du hier zu Grunde gehen?«

«Wenn man es zu Hause will?«

«Hast du keinen Mut, zu leben?«

«Ich kenne nur Gehorsam.«

«Himmelstockschwerenot! Gehorsam hört da auf, wo Gehorchen Wahnsinn und Mord ist! Mach deinem Vater klar, daß Knackfuß ein Unhold ist — dann wird er schon einsehen, wer recht hat!«

Otto Heinrich schüttelte den Kopf.»Mein Vater ist Münzmarschall in Dresden. Er kennt im Leben nur ein Ideal: Dienen! Dienen bis zur Selbstaufgabe! Dienen, bis der Tod das letzte Siegel setzt. Und er verlangt es auch von mir. Kennst du den >Prinzen vom Homburg< des Dichters Kleist? Auch dieser Prinz wurde verurteilt, weil er einem Befehl nicht gehorchte und frühzeitig eine Schlacht begann. Er gewann die Schlacht, aber sein Urteil lautete auf Tod, weil er eigenmächtig handelte. - Wie dieser Kurfürst, so ist mein Vater! Hart, gerecht, eisern, aufgewachsen in der absoluten Pflicht — seine Liebe ist Gehorsam!«

Der Riese Bendler sann einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf, erhob sich, setzte sich auf den Bettrand und stützte den langen Kopf in die Hände.

«Das klingt schön«, sagte er,»aber ich komme nicht mit! Ich bin die neue Zeit, die Revolution, die Umwertung aller Werte — ich habe von Robespierre und Danton gelernt, von Napoleon und Stein — und der Rousseau, lieber Kollege, dieser Rousseau ist ein toller Bursche, ein Genie der Freiheit wie der brodelnde Beaumarchais! Mögt ihr in Dresden nach dem Marsch des alten Dessauer die Hacken wirbeln und Schritte üben — euer Preußentum ist morsch! Was einmal die Welt beherrschen wird, ist die große Freiheit aller gegen alle — der unteilbare Raum der Welt für eine große Bruderschaft!«

Otto Heinrich Kummer blickte hinaus in die Nacht.

Die Rede des Kollegen wühlte ihn auf.

Seine Hände klammerten sich an dem Fensterrahmen fest, während er den Kopf an die kühle Mauer lehnte.

«Ich habe auch einmal so gesprochen, damals, vor einem Jahr in Dresden. Mein Vater verstand mich nicht — er strafte mich durch Arrest! Dann zitierte ich Schiller. Freiheit, rief ich, Freiheit. Den Don Carlos trug ich vor — Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire! — und die >Räuber< nahm ich mit in die Kammer und las sie im Kerzenschein unter der Decke. - Was nutzte es? Ich kam nach Frankenberg…«

«Weil du Schiller lasest?«stammelte der Riese.

«Nein.«, antwortete leise der Sinnende.»Weil ich selbst ein Dich-ter bin.«

Daraufhin war es eine lange Zeit still im Raum.

Um den Dachfirst sang der Nachtwind.

Irgendwo in der Ferne bellte verschlafen ein Hund.

Lauter als Wind und Bellen aber war der Atem der beiden Männer, deren Herzen sich in dieser Nacht fanden.

«Ich habe so einfach du gesagt«, murmelte Bendler nach einer Weile.»Laß uns dabei bleiben — ich glaube, wir sind beide irgendwie am Leben gescheitert. Wir müssen jetzt hart sein, um uns durchzubeißen — wir haben viele Feinde — die ganze zivilisierte Welt, das ganze Bürgertum mit seinen satten Moralitäten, die Aristokratie und den Staat. Wir stehen einsam, junger Freund, aber es ist unendlich schön, zu wissen, daß unsere Zeit noch kommt und wir die Tränen jener Sturmflut sind, die einst das Morsche wegschwemmt!«

Er stand auf und trat zu Otto Heinrich Kummer, legte ihm den Arm um die schmale Schulter und starrte mit ihm hinaus in die Nacht und die ziehenden Wolken.

«So habe ich manche Nacht gestanden«, sagte er leise.»Und manchmal dachte ich: jetzt machst du Schluß! Aber dann war es manchmal nur ein Kinderlachen, das mich zurückrief in die Wirklichkeit, manchmal nur ein Vogel, der hier vor mir auf der Dachrinne sang, oder auch nur das Rauschen der Bäume, wenn sie im warmen Sommerwind von der Ewigkeit erzählen. «Er lächelte schwach und wendete sich ab.»Jetzt hast du mich elegisch gemacht. Ich bin nämlich ganz anders, rauh, ungeschliffen, ein Tölpel, wie der alte Knackfuß wohl zigmal am Tage brüllt. Ich muß es sein, Kollege — denn mit Weichheit kommt man zu nichts! Man muß hart sein, um bestehen zu können! Laß uns schlafen! Wir haben noch soviel Zeit, die Zukunft und die Sehnsucht anzuhimmeln. Gute Nacht, Kamerad!«

Er drückte Otto Heinrich Kummer die Hand und ging zum Bett zurück. Dort warf er sich mit einem Schwung auf die Decken, verschränkte die Arme unter dem Kopf, schloß aber nicht die Augen, sondern starrte an die weißgestrichene Decke.

Er wartete, bis der neue Freund sich entkleidet und niedergelegt hatte, drehte sich dann auf den Bauch und blickte zu dem anderen Bett hinüber.

«Noch eins, bevor du einschläfst. Der alte Knackfuß hat eine Tochter! So etwas von Tochter hast du noch nicht gesehen. Ein Mädel, bei dessen Anblick dir der Atem stehenbleibt. Eine Schönheit, wie du sie in der Dresdener Oper nicht sehen kannst. Das glatte Gegenteil von dem Alten. Wo er häßlich ist, blüht sie, wo er brüllt, streichelt sie. Sie ist die Sonne der Sonnen-Apotheke. Die Mutter ist schon lange gestorben — nun führt sie hier den Haushalt. Diese Tochter ist der Rubikon. Knackfuß wechselt jedes Vierteljahr die Gesellen, weil sie diesem Mädel schöne Augen machen. Er bekommt regelmäßig einen Tobsuchtsanfall, wenn er sieht, daß ein >Flegel< — so nennt er alle — seine Tochter anhimmelt! Nimm dich also in acht. Schau sie nicht so oft an. Am besten ist, du übersiehst sie. Sonst hast du hier die Hölle en person! — Das wollte ich noch sagen. Und nun schlaf selig!«Er drehte sich geräuschvoll herum, zog die Decke bis zum Hals empor und schloß die Augen.»Trudel heißt sie…«, murmelte er noch, dann ging sein Atem wieder gleichmäßig und schwer wie der eines Schlafenden. Lange noch lag Otto Heinrich Kummer wach in seinem Bett und starrte an die Decke.

Als am Morgen die Sonne durch die Dachluke in die Kammer schien — eine trübe Septembersonne, ohne Kraft und Glanz, überzogen von nebligen Streifen, die von den Wäldern der Berge emporschwebten und wie feine Fäden durch die Wolken sich webten — stand Willi Bendler, wie er eben seinen Vornamen verraten hatte, schon im Flur an der Waschschüssel und tauchte den langen Schädel in das kalte Wasser.

Otto Heinrich dehnte sich in seinem Bett, breitete die Arme weit aus und blickte sich zum erstenmal mit Bewußtsein in seiner neuen Heimat um.

Die Kärglichkeit seiner Umgebung kam ihm erst bei dem grausamen Tageslicht voll zum Erkennen, und das Gefühl trotz des neuen Freundes nun erst richtig verlassen zu sein, einsam mit all sei-nem Leid und der Sehnsucht nach Licht und Freiheit, drückte ihm in der Kehle, daß er tief schlucken mußte und schnell aufsprang, um die drängenden Tränen nicht hervorquellen zu lassen.

Von draußen drang das Schnaufen Bendlers in die Kammer, der in seiner Waschschüssel wie ein kleiner Junge prustete.

Otto Heinrich mußte lächeln.

Sein Kamerad verstand das Leben — er kapselte sich gegen alles ab und war nur der wirkliche Mensch, wenn er in der Nacht in den Himmel starrte und die Größe des Alls sich vermischte mit der Einsamkeit seines heißen Herzens.

Langsam zog er sich an, wählte aus dem Koffer eine neue Halsbinde und eine frischgebügelte Hose, die ihm die Mutter als Sonntagsstaat mitgegeben hatte, und trat dann hinaus in den Flur, wo der Riese sich an einem Rollhandtuch abtrocknete und neues Wasser in die Schüssel geschüttet hatte.

«Guten Morgen, Kollege!«begrüßte er Otto Heinrich mit einer wohltuenden Fröhlichkeit.»Hinein mit dem Kopf ins kalte Wasser — ein Apotheker muß kühl denken und seine Sinne nicht erregen!«

Er warf dem Freunde einen großen Waschlappen zu, schrubbte sich selbst mit einer Riesenbürste die blitzenden Zähne und schickte sich dann an, seine Halsbinde unter viel Geschnaufe zu winden. Lachend half ihm Otto Heinrich aus dieser morgendlichen Qual, was Bendler damit vergalt, daß er ein großes Schwarzbrot auf den Tisch warf und einen Klumpen Butter dazu.

«Wohlan, mein Freund, laßt uns speisen!«rief er und knallte den einen Stuhl an den Tisch.»Unten bei dem alten Geizkragen gibt es zum Kaffee nur zwei dünne Honigschnitten — nebenbei vom schlechtesten Abfallhonig — und, wenn es hoch kommt, eine runde, möglichst kleine Semmel. Da heißt es vorher in der Stille essen und in der Sonne des Herrn den Kaffee loben!«

Mit einem großen Messer — bei Willi Bendler schien alles riesenhaft

— säbelte er einen mächtigen Kanten von dem Brot und legte die Butter in Scheiben darauf. Lächelnd sah ihm Otto Heinrich zu, setzte sich aber doch nach dem Waschen zu ihm und aß einige Schnit-ten des würzigen Gebäckes.

«So«, sagte nach einer geraumen Zeit der Riese,»jetzt gehen wir hinunter. Wenn der Knackfuß dich anbrüllt, bleibe höflich und bis zu einem gewissen Grade unterwürfig — er kann nichts mehr hassen als eine eigene Meinung. Die Meinung macht bei ihm der Herrgott und der Staat — na ja, du kennst sie ja, die typischen Spießer!«

Noch einmal bürstete sich Otto Heinrich schnell über den Rock, nahm das kleine Paket, das er in der Kutsche von der Reisetasche in den Mantel gesteckt, in die Hand und folgte dem Freunde die steile Treppe hinunter, die sie durch einen Nebenflur verließen. Auf ihm kamen sie in eine schöne, holzgeschnitzte, mit Spiegeln verzierte Halle, deren gewundene Treppe mit dicken, roten Teppichen belegt war. An den Wänden hingen handgetriebene Tranleuchter, wertvolle Gobelins oder standen alte, zeitgeschwärzte, geschnitzte Möbel und Truhen, deren Wert nur ein Kenner abzuschätzen verstand.

Vor einer Tür am Fuße der Treppe hielt Bendler an, räusperte sich, warf einen langen Blick auf Otto Heinrich und klopfte dann mit seinen dicken Fingerknöcheln an. Es klang wie ein dumpfes Dröhnen durch die stille Halle.

Aus dem Kamin antwortete ein Knurren.

«Das heißt: bitte«, flüsterte der Riese und riß die Tür auf. Aber kaum hatte er den Griff niedergedrückt, als ihm schon eine herrische, harte Stimme entgegenschrie:

«Wie oft soll ich Ihnen sagen, daß meine Tür keine Pauke ist?! Können Sie nicht leise klopfen?«

«Guten Morgen, Herr Knackfuß«, antwortete Bendler vergnügt.»Wem Gott eine kräftige Gestalt gibt, dem schenkt er auch ein kräftiges Klopfen. «Er schob den zögernden Otto Heinrich ins Zimmer und postierte ihn vor den herumfahrenden, erstaunten, im ersten Augenblick verblüfften Apotheker.

Herr Knackfuß mochte Ende der Fünfzig zählen. Seine mittelgroße Gestalt war hager, aber nicht dünn, sein Gesicht knöchern, ohne unschön zu wirken, aber die Augen unter der hohen Stirn und den spärlichen Haaren waren dunkel und stechend, der Mund schmal und wie verkrampft, während die Finger unruhig auf der weißen Tischdecke hin und her fuhren.

Er trug einen mandelfarbenen Morgenrock mit kecken Verschnürungen, helle, graue Beinkleider mit Lackschuhen und ein Spitzenhemd, das in dieser morgendlichen Kühle durch einen leichten Seidenschal verdeckt wurde. Eine aus Porzellan kunstvoll geformte Pfeife lag in einem silbernen Pfeifenständer, daneben eine Tabaksdose aus schwarzem, geschnitztem Holz und ein aus Kupfer getriebenes Glühbecken mit kleinen, leicht qualmenden Kohlen darin. Das Geschirr aus gemaltem Porzellan war schon zurückgeschoben, der Brotkorb abräumbereit am Ende des Tisches, während die Kanne mit dem Kaffee noch neben der Pfeife stand.

Mit flackernden Augen blickte Herr Knackfuß von dem einen zum anderen, schob dann plötzlich mit einer hastigen Bewegung den Stuhl zurück und sprang auf, während sich sein etwas gelbes Gesicht in dünne Falten legte.

Er muß gallenkrank sein, dachte Otto Heinrich Kummer in diesem Augenblick und achtete weniger auf den Blick des neuen Chefs als auf das Spiel der Falten in dem schmalen Gesicht.

Da schreckte ihn sein Name aus der Betrachtung, und er straffte sich, den Herrn gebührend zu begrüßen.

«Das ist Herr Otto Heinrich Kummer«, sagte in diesem Augenblick der Riese Bendler.»Der neue 2. Provisor. Sie haben ihn aus Dresden kommen lassen.«

«Aha — der Kummer!«Herr Knackfüß versuchte ein Lächeln, das in den gelben Falten ertrank.»Wann eingetroffen?«

«Soeben«, rief Willi Bendler, ehe der Gefragte eine Antwort fand.»Er kam mit der Frühpost um halb sieben. «Dann atmete er auf, denn die größte Klippe war umschifft. Nun mochte der Apotheker fragen — der Wind war aus den Segeln.

«Sie haben eine gute Fahrt gehabt?«fragte Herr Knackfuß nach einem strengen Seitenblick zu Bendler.»Ihr Herr Vater hat Sie mir sehr warm empfohlen. Aber glauben Sie nicht, daß ich Sie deshalb engagierte. Fürsprachen nützen bei mir nichts — ich will Leistungen sehen.«

«Daran soll es nicht fehlen«, sagte Otto Heinrich schlicht.

«Nicht aufs hohe Pferd, junger Mann«, fiel ihm der Apotheker ins Wort.»Ich habe die besten Referenzen von der Hofapotheke in Dresden — das stimmt —, aber ich überzeuge mich lieber selbst, ehe ich ein Urteil fälle. «Und zu Bendler gewandt, brummte er:»Öffnen Sie den Laden, stauben Sie die Regale ab, machen Sie das Pulver für den Herrn Doktor und den Herrn Magister fertig. «Als aber Otto Heinrich mit dem Freunde das Zimmer verlassen wollte, winkte ihm Knackfuß zu und sagte:»Sie bleiben bitte noch hier, Herr Kummer. Ehe Sie die Apotheke betreten, ist noch manches zu bereden.«

Mit einem Kopfnicken ging Bendler aus dem Zimmer. Laut krachend flog die Tür ins Schloß.

Herr Knackfuß zuckte zusammen, warf ein Blatt Papier, das er gerade in die Hand genommen hatte, auf den Tisch zurück und setzte sich.

«Sehen Sie — am frühen Morgen geht es hier schon los«, sagte er hart.»Stelle ich diesen Bendler zur Rede, so sagt er, die Tür sei ihm aus der Hand gefallen. Er ist ein guter Apotheker, sonst säße er schon lange an der Luft. Das weiß er, der Flegel, und deshalb bringt er mich noch ins Grab! Werden Sie nicht so wie er! Er ist ein Revolutionär! Und was schlimmer ist — er ist ein Träumer! In seiner Kammer habe ich einmal Gedichte gefunden! Er leugnete, daß sie von ihm sind. Beweisen konnte man es nicht — aber ist es wahr, beim Satan, dann fliegt er! Ein Dichter revolutionärer Lieder in meinem Hause, das wäre das letzte!«Er sah den stillen Otto Heinrich Kummer scharf an und grollte:»Dichten Sie etwa auch?«

«Ich bin Apotheker, Herr Knackfuß«, antwortete er schlicht.

«Das ist gut! Sie könnten sonst mit der nächsten Extrapost nach Dresden zurückfahren! Man hat nichts als Ärger mit seinen Angestellten. «Er nahm die Pfeife aus dem Halter, stopfte sie aus der Dose mit einem würzigen Tabak und setzte sich mit einem Span aus dem Kohlenbecken in Brand.»Haben Sie schon gefrühstückt?«fragte er dann den noch immer vor ihm Stehenden.

«Ich hatte auf der langen Fahrt keine Gelegenheit dazu«, murmelte Otto Heinrich und schämte sich, daß es schon die zweite Lüge war, mit der er seinen Dienst antrat.

«So kommen Sie, nehmen Sie Platz und greifen Sie zu«, sagte Herr Knackfuß, selbst erstaunt über seine Freundlichkeit.»Brot, Honig und Kaffee finden Sie auf dem Tisch, und eine Tasse. Trudel!«rief er.»Trudel, noch ein Gedeck.!«

«Ja, Vater — sofort!«antwortete eine helle, noch kindliche Stimme aus dem Nebenzimmer.

Otto Heinrich setzte sich an den Tisch, Knackfuß gegenüber und fühlte in der Brust einen merkwürdigen Druck, einen Zwang, hastiger zu atmen.

Um sich zu beruhigen, verkrampfte er unter dem Tisch die Hände miteinander und sah nicht zu der Tür hin, aus der jetzt ein etwa zwanzigjähriges, zartes, aber in aller Lieblichkeit blühendes Mädchen trat und eine Tasse mit Teller und Messer vor Otto Heinrich hinstellte. Dabei machte sie einen Knicks vor dem Gast und eilte dann schnell wieder in den Nebenraum. Das letzte, was der Jüngling beim Aufblicken sah, waren schwere blonde Flechten, die rund um den schmalen Kopflagen.

Mit einem lauernden Blick hatte Knackfuß sein Gegenüber beobachtet, als seine Tochter eintrat, da es aber schien, als ob dieser gar nicht von dem Mädchen Notiz nähme, nickte er befriedigt, spürte aber im Innersten einen kleinen Stich in seinem Stolz, daß ein junger Mann die Schönheit seiner Tochter ignorierte.

«Ihr Vater hat mir viel von Ihnen erzählt«, begann der Apotheker die Unterhaltung weiterzuführen.»Ich kenne Ihren Herrn Vater von Dresden her, von der Hofapotheke. Als er noch Münzbuchhalter war und ich 1. Apotheker in Dresden, quittierte er mir die Rechnungen an den königlichen Hof. Einmal auch kam er zu mir, um in meinem Laboratorium eine neue Legierung auszuprobieren, denn Ihr Herr Vater ist ein großer Künstler. Den Namen Benjamin Kummer wird man sich einmal merken müssen — er hat viel zum Wohlstand Sachsens beigetragen. «Er hielt inne und beobachtete den jungen Mann beim Essen.»Er hatte damals schon eine große Neigung zum Apothekerberuf und ließ mich wissen, daß einer seiner Söhne — wenn es unbedingt sein müsse — auch Apotheker werden müsse.«

«Dieser Sohn bin ich«, sagte Otto Heinrich. Seine Stimme klang ein wenig traurig, daß Herr Knackfuß etwas strenger aufblickte und leicht mit dem Kopf schüttelte.

«Gefällt es Ihnen nicht in unserer Sparte?«fragte er und stieß aus der Porzellanpfeife eine dicke Wolke in Richtung des Essenden.»Wer nicht mit Leib und Seele Apotheker ist, der sollte sich erst gar nicht in unserem Metier versuchen.«

«Ich habe gute Zeugnisse«, antwortete Otto Heinrich und legte Herrn Knackfuß einen Packen Papiere auf den Tisch, die er seiner Innentasche des Rockes entnahm.»Ich habe nie gezweifelt, daß ich meinen Beruf vernachlässigen könnte.«

«Ich sagte schon einmal, junger Mann: nicht aufs hohe Pferd setzen. Was Sie sagen, das sagen alle, die zu mir kamen! Und was taten sie — sie bestahlen mich, wo sie nur konnten!«

Dem jungen Apotheker schmeckte das Brot nicht mehr. In einem Atem mit Dieben genannt zu werden, übertraf die Erwartungen, die er in bezug auf Herrn Knackfußens Unhöflichkeit einzustecken sich vornahm. Daß aber ehrliche Kollegen, die nur der Tochter dieses Haustyrannen schöne Blicke schenkten, als tief verwerflich hingestellt wurden, verscheuchte alle Achtung vor dem Meister aus der Seele Otto Heinrichs.

«Ich bin ein Kummer«, sagte er deshalb stolz.»Ich glaube nicht, daß diese Mahnung bei mir angebracht ist!«

Die Antwort war vermessen.

Dem Apotheker verschlug es die Stimme, aber er beherrschte sich, wohl weil er fühlte, daß er in seiner Strenge zu weit gegangen war. Er erhob sich vielmehr, klopfte die Pfeife am Kamin aus und wandte sich dann wieder zu dem neuen Hausgenossen um.

«Sie kennen Ihre Wohnung sicher schon durch Herrn Bendler. Über die Ordnung im Hause wird er Sie gleichfalls unterrichten. In erster Linie sind Sie mir verantwortlich, auch wenn Sie unmittelbar Herrn Bendler unterstehen und neben sich noch drei Gesellen und Lehrlinge haben. Ich dulde in meinem Hause keine Disziplinlosigkeiten und sehe sehr darauf, daß meine Anordnungen, kaum gesagt, auch befolgt werden. Sie haben bis zum Mittag Zeit, sich einzurichten. - Ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte.«

Er nickte und drehte sich schroff um.

Betreten ging Otto Heinrich aus dem Zimmer, zögerte an der Schwelle noch einen Augenblick, faßte das kleine Paket, das er noch immer in der Hand hielt, fester und wollte noch einmal anklopfen — dann aber besann er sich, schüttelte stumm den Kopf und ging durch den Flur in einen Seitengang, wo er auf den Riesen Bendler, der anscheinend schon eine lange Zeit hier gestanden und gewartet hatte, stieß.

«Zu Boden geschmettert und zu Tode betrübt?!«empfing er den Freund mit einem leisen Lachen. Er hieb ihm auf die Schulter, hakte sich dann bei ihm unter und zerrte ihn weg zu einer Tür, die in das Laboratorium führte.

«In einer Woche überhörst du seine Sticheleien«, sagte er, indem er in den weiten Raum trat, in dem schon die anderen Apotheker an den Geräten standen und mischten und kochten. Von einem Nebenraum, der wohl der Laden sein mochte, tönten Stimmen herein.

Kummer sah sich im Kreise um.

Das alte Bild der Flaschen, Retorten, Kolben und Gläser, Kocher, Salbentöpfe, Tiegel und Mörser brachte eine vertraute und sanfte Stille in sein erregtes Herz. Er trat an einen Mörser heran, nahm ihn hoch, roch intensiv an dem Inhalt und wandte sich dann lächelnd an den Riesen Bendler.

«Rötel, pulvrig zerstampft — zum Färben. Es war die erste Arbeit, die man mir als Lehrling gab. «Er schnupperte mit erhobener Nase im Raume.»Und der Geruch ist auch da… dieser eigentümliche, herbe Geruch der Arzneien. Bendler, ich glaube, ich lebe mich doch ein. «Und leiser fügte er hinzu:»Ich will mir alle Mühe geben, nicht auszubrechen…«

«Und wenn — lieber Kummer —, dann brechen wir gemeinsam! — So, und jetzt gehe ich erst den Kaffee trinken — und wenn der Alte noch so sehr toben sollte.«

Otto Heinrich, der den Vormittag nicht untätig vorübergehen lassen wollte, trat unterdes aus dem Haus und schlenderte die Straße entlang durch die Reihe der kleinen, aber sauberen Fachwerkhäuser, bis er zu einem kleinen Birkenwäldchen kam, das sich von einem leicht ansteigenden Hügel bis zum Stadtrand heranschob. Dort setzte er sich auf einen Baumstumpf, legte das kleine Paket auf seine Knie und begann es aufzuschnüren.

Ganz beschäftigt in der Auflösung der Knoten, bemerkte er nicht, wie ein Mädchen den schmalen Weg über den Hügel zu ihm hinunterstieg und hinter ihm anhielt, ihn eine Zeitlang beobachtend. Als sie sah, mit welch ungelenken Fingern er sich um die Knoten mühte, lächelte sie und trat dann einen Schritt vor, genau vor ihn hin.

Kummer schreckte auf. Aber noch mehr ergriff ihn ein Schrecken, als er erkannte, wer die Schöne war.

«Jungfer Trudel«, stotterte er.»Verzeihen Sie meine Überraschung — Sie hätte ich an diesem Ort am wenigsten erwartet.«

«Ich habe ein paar Beeren für den Mittagstisch gesammelt«, sagte das Mädchen und setzte sich ungeniert neben den Jüngling ins Gras.»Bekommen Sie den Knoten nicht auf? Darf ich Ihnen helfen?«

«Oh — ich danke bestens. Es geht schon. «Otto Heinrich, den der Liebreiz des ovalen Gesichtes und des jungen Körpers wie eine heiße Welle überspülte, fühlte sich täppisch und ungelenk. Im Innern schalt er sich selbst einen Tölpel, vermied es aber trotzdem, in die großen, fragenden Mädchenaugen zu sehen, die so nahe unter ihm glänzten.

«Das Päckchen ist von meinem Vater«, gestand er, nachdem er den Knoten gelöst hatte.»Ich sollte es dem Herr Knackfuß geben, wenn.«

Er schwieg wieder, erschreckt, daß er sich so weit versprochen hatte.

«Wenn…?«fragte Trudel langsam.»Was ist mit dem Wenn, Herr Kummer?«

«Sie kennen meinen Namen?«

«Mein Vater erwähnte ihn heute Herrn Bendler gegenüber.«

«Und Sie haben ihn behalten?«

Das Mädchen nickte, und es war, als verdunkelten sich ihre Augen.

«Wie leicht behält man solch einen Namen — der immer um mich ist.«

Der Apotheker wagte nicht, darauf etwas zu erwidern. Er packte geräuschvoll das Papier aus, öffnete den Karton und entnahm ihm ein Miniaturbild seines Vaters, an das ein Zettel geheftet war.

«Sollte mein Sohn Otto Heinrich bei Ihnen, verehrtester Herr Knackfuß, eine Heimat finden, so bitte ich Sie gnädigst, das beiliegende Bildlein in seiner Kammer anzubringen. Mit dem Ausdruck allervorzüglichster Hochachtung Ihr Benjamin Kummer, Münzmarschall.«

Der Jüngling schloß die Augen. Bebend preßte er das Bild an sein Herz.»Vater.«, stammelte er.»Guter, lieber Vater. ich habe keine Heimat mehr, ich bin einsam, so grenzenlos einsam unter all diesen Menschen. Keiner versteht mich. Und ich liebe doch so die Freiheit. Eine Heimat? Was ist eine Heimat? Die Kindheit, die Erinnerung, die Sehnsucht, die Hoffnung, die Liebe; Dinge, ungreifbar, unfaßbar, hoch über dem, was sich Mensch nennt. O Vater. Vater.«

Er preßte das Bild an die Lippen und öffnete die Augen.

Als er sah, daß das Mädchen noch immer neben ihm im Grase saß und erschreckt zu ihm aufschaute, spülte eine tiefe Scham über sein Gesicht, und er erhob sich mit einem jähen Ruck.

«Entschuldigen Sie, Jungfer Trudel, daß ich mich vergaß. Ich lie-be meinen Vater, auch wenn er mich nicht versteht und schuld ist, daß ich hier in diese Einsamkeit verbannt wurde.«

«Sie wollten das Bild meinem Vater geben, wenn Sie hier eine Heimat finden. - Ist es so bitter bei uns, Herr Kummer?«

«Ich bin einsam«, antwortete der Jüngling.

«Auch, wenn Sie mit mir sprechen?«

Otto Heinrich lächelte.»Jungfer Trudel — es gibt Menschen, die nicht wissen, warum sie leben. Oder haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welch einen Sinn Ihr Leben hat?«

«Nein«, antwortete das Mädchen zögernd. Aber dann raffte sie sich auf und meinte:»Ich glaube, ich lebe, um anderen Menschen Freude zu machen.«

«Sie werden stets der Sklave dieser Menschen sein.«

«Wenn ich ihnen damit helfen kann.«

«Das ist doch kein Leben!«rief der Jüngling erregt.»Leben ist doch eine Aufgabe, nicht ein Aufgeben des Ichs, sondern das Aufquellen der im Menschen verborgenen Möglichkeiten! Leben ist doch kein Martyrium, sondern eine Mission, den Menschen von Leben zu Leben zu veredeln! Aber veredelt sich der Mensch? Er verroht, er verliert die letzte Seele, er wird ein Apparat, der atmet, arbeitet, ißt, trinkt, schläft und alle körperlichen Funktionen wie ein Uhrwerk ausführt! Wo ist denn noch ein Mensch, der sagen kann: Seht, ich bin nicht vollendet, denn vollendet ist nur Gott — aber ich bin ein Mensch, der eins erkennt: die Menschlichkeit!«

Otto Heinrich Kummer ging erregt vor dem Baumstumpf hin und her und verkrampfte die Hände auf dem Rücken.

«Die neuen Geister der neuen Ordnung verbannte man! Schiller mußte flüchten, Kleist schoß sich eine Kugel durch den Kopf, Grillparzer verhungert in Wien, Grabbe ist dem Wahnsinn nahe, Hölderlin trieben die Menschen in den Irrsinn«- und plötzlich schrie er —,»und das alles, weil sie die Wahrheit sagten, ungeschminkt, grell, ein Fanal der Freiheit des Individuums! Wer kann an den Menschen glauben, wenn dieser Mensch die Rufer der Menschlichkeit in die Erde tritt?! Wo ist denn hier noch Sinn, eine aufbauende Logik in diesem faulenden Stückchen Leben, wenn die Kraft der neuen Sittlichkeit im Wahnsinn stirbt?! O glauben Sie mir, es ist manchmal unendlich schwer, nicht selbst zur Pistole zu greifen, um Schluß zu machen mit diesem Mummenschanz bürgerlicher Moral, um Schluß zu machen mit dem schmerzenden, kleinen, armen, eigenen Leben, das keinen Sinn hat, weil die Welt überhaupt nur leben kann, wenn sie im Sinnlosen sich gefällt!«

Erschöpft hielt er inne und legte den Kopf weit in den Nacken. Mit starren Augen blickte er hinauf in die trübe Sonne, vor der blauweiße Wolken in langen Streifen schwammen.

Da legte ihm das Mädchen leicht die Hand auf den Arm.

«Sie sind ein armer Mensch«, sagte sie mit einer traurigen Stimme, in der die unterdrückten Tränen weinten.»Sie müßten einen Menschen finden, der Ihren Kopf in den Schoß nimmt, mit Ihnen draußen sitzt in der Natur und Ihnen zeigt, wie herrlich das Leben im Kleinen und Großen ist, wie sehr ein Käfer um sein kostbares Leben bangt und die Blume mit allen Poren das Licht der Sonne trinkt.«

«Sonne!«Otto Heinrich Kummer lächelte bitter.»Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns. Sagte es nicht Schiller? Die Sonne Homers! Vielleicht ist sie die letzte Sonne, die mich zu halten vermag, die Sonne der Genien. die Sonne Griechenlands. die Sonne der Musen. «Er steckte das Bild in die Tasche seines Rockes und wandte sich zu dem Mädchen um.»Gute Jungfer Trudel — Sie haben Kummer in den Augen. «Er lachte gequält und wischte sich mit der Hand über die Augen, als ob er einen Schatten verscheuchen wollte.»Es ist besser, wenn wir nicht weiter darüber sprechen«, sagte er.»Ihr Leben ist so licht und rein, daß es eine Sünde wäre, es mit meinem Dunkel zu vergiften. Lassen Sie uns nicht darüber sprechen, lassen Sie uns diesen Vormittag vergessen und… Fremde sein. Es ist besser für Sie und — mich. Und außerdem — Ihr Vater könnte uns sehr grollen.«

Er beugte sich über die Hand des Mädchens, küßte sie leicht und ließ das tief errötende Mädchen stehen. Mit langsamen Schritten bummelte er in den Birkenwald hinein, erklomm einen kleinen Hang und setzte sich dort auf eine ausgegrabene Wurzel.

Lange blickte er hinab auf das Städtchen, das still und fast ausgestorben in einer Senke zwischen zwei Bergen lag, und es war ihm, als sei diese Erde so weit von ihm entrückt und wesenlos, und sein Blick schweife von einem anderen Stern bewundernd über das Leben unbekannter Welten.

Er legte sich nach hinten in das hoch wuchernde Gras, starrte in die ziehenden Wolken und träumte von der Weite des Lebens.

Er vergaß Frankenberg und Knackfuß, Willi Bendler und Jungfer Trudel und träumte sich zurück in das väterliche Haus, in die weiten Zimmer des Münzmarschalls von Dresden, in denen er vor wenigen Jahren noch spielend der Mutter zu Füßen saß und die Nek-kereien der Geschwister mit Tränen oder Streichen heimgalt.

Er sah die Prager Straße vor sich, den Schloßturm und das Ko-sel-Palais, er sah sich auf dem weiten Opernplatz spielen und flache Steine über die Elbe schnellen, daß sie mehrmals aus dem Wasser hüpften, ehe sie versanken.

Er sah seine Gespielen wieder, den kleinen Grafen von Don-nersmarck, den Baron von Puttkammer und den Baron de Lou-mierais, er sah die goldene Hofkutsche wieder durch das breite Tor ziehen, die Wache unter das Gewehr treten und hörte ganz deutlich das Fanfarensignal, wenn die Königskutsche in den Schloßhof einfuhr.

Die hohe Kuppel der Frauenkirche glomm aus dem Dunst des Septembertages hervor, die mächtige Kuppel, in die ein französisches Geschütz eine Kugel jagte und die im Steine haften blieb.

Otto Heinrich Kummer schloß die Augen.

Die Mundwinkel zuckten leicht, die Lider zitterten, und die Flügel der schmalen Nase bebten.

Und mit einer jähen Bewegung drehte sich der Jüngling auf den Bauch, vergrub den Kopf zwischen seine Arme und lag so, stumm, ohne sich zu rühren, wie ein Toter, bis aus dem Tal die Kirchenuhr die mittägliche Stunde schlug und einen fremden hellen Ton in diese herbstlich trübe Stille trug.

Bisweilen schnitt die Erinnerung wie mit Messern in sein Bewußtsein, nie jedoch vermochte er sie abzuschütteln, sie war der Schatten, der ihn überall begleitete — die Erinnerung an die Nacht vor zwei Jahren.

Mit Fehlin zusammen, dem dicken, blonden Fehlin, seinem liebsten Studienfreund, war er Elbaufwärts zum alten Fährhaus geschritten, wo an diesem Abend die Versammlung des Bundes stattfinden sollte. Drei Tage vor dem Geburtstag seiner Mutter war es. Vierzehnter Oktober.

Und welche Nacht!

Die Türme der Stadt wie aus Silber gegossen. Ein Licht, wie aus den unendlichen Weiten des Alls herangeweht, ein transparentes Leuchten, das selbst die Schatten der Bäume auf den Weg zeichnete, so klar und stark, daß die Lichter der Kutschen und Laternen, die sich langsam über die Brücke bewegten, gelb und trübe wirkten.

Otto Heinrich sog die kühle Luft in sich ein, lauschte den Worten, die in ihm wach wurden, er mußte sprechen, ehe sie ihm die Brust sprengten, sie wollten hinaus, in den Abend würde er sie schreien, dem Winde mitgeben. Welche Verse!

Otto Heinrich Kummer drehte eine Pirouette, rannte Fehlin voraus, warf die Hände zu diesem Mond, der dort über allem unbeteiligt am Himmel stand, und deklamierte:

«Deutscher Sänger! Sing und preise.

Deutsche Freiheit, daß dein Lied unseren Seelen sich bemeistere und zu Taten uns begeistere.«

Eine Hand legte sich auf seine Schulter: Fehlin.

Hatte er Angst? Hatte er Angst, daß diese Verse, die Verse Heinrich Heines, des Mannes, den er verehrte wie kaum einen anderen

Deutschen, des Dichters, der die Heimat verlassen mußte, weil er die Diktatur der Reaktionäre und Soldatenstiefel nicht mehr ertrug, hatte sein Freund Fehlin Angst vor dem Wort?

Otto Heinrich lachte, legte den Arm um Fehlins Schulter, deutete mit erhobenem Zeigefinger hoch zum Mond und zitierte weiter, so laut, so volltönend, so dramatisch er das nur vermochte.

«Girre nicht mehr wie ein Werther, welcher nur für Lotten glüht, was die Glocke hat geschlagen, sollst du deinem Volke sagen, redet, Dolche, redet, Schwerter…«

Und Fehlin, der gute, der treue Fehlin hielt ihm den Mund zu.

«Nun schrei nicht so, Herrgott noch mal.«

«Angst, Fehlin? Selbst hier? Allein am Uferweg?«

«Allein?«knurrte Fehlin.»In dieser gottverfluchten Stadt ist man niemals allein. «Vorsichtig blickte er über die Schulter zurück. Da waren nur Schatten.»Das ist es ja nicht. Ich leide, weil du so schauerlich falsch deklamierst. Deine Stimme verwundet mein ästhetisches Empfinden. Du magst hundertmal selbst Gedichte schreiben, aber die der anderen brauchst du deshalb noch lange nicht zu verstümmeln.«

«Girre nicht mehr wie ein Werther!«rief Otto Heinrich erneut.»Das gilt Goethe! — Heine hat es in Paris geschrieben, Hans. Im Paris der Juli-Revolution. Ach, wenn ich dort sein könnte! Aber ich seh' ja alles vor mir. Ich brauch' nicht dort zu sein. Ich sehe Alexandre Dumas, Stendhal, und beide tragen die Tricolore in der Hand, beide singen beim Sturm auf den Louvre. Und sie singen die Marseillaise. Und sie siegen, Hans. Denk doch, die Marseillaise! Atmet nicht jede ihrer Zeilen Heines Geist?«

«Kann ja sein. Aber wenn du nicht aufpaßt, fällst du noch hin. Du stolperst ja schon die ganze Zeit. Und überhaupt.«

Fehlin blieb stehen und drehte witternd den breiten Schädel. Hat-te da nicht was geknackt? Dort hinten.

«Ach, verdammt noch mal. «Fehlin dämpfte die Stimme und zog den Freund weiter.»Nun komm doch endlich mal in die Wirklichkeit zurück. Auch wenn's hier nicht so toll ist wie in Paris. Ist ja alles schön und gut, aber weißt du — du mit deinem ewigen Überschwang, du gehst mir manchmal auf die Nerven.«

«Überschwang? Überschwang, das bedeutet Gefühl, Hans. Und Gefühle sind nicht zu ketten. Jedes Gefühl, das echt sein will, anerkennt keine Grenzen.«

«Na, vielleicht. Aber deine Gefühle brodeln wie in einem deiner Apotheker-Kolben, wenn sie zu lange über dem Feuer hängen.«

Otto Heinrich lachte. Dann ging er weiter und wurde nachdenklich. War es so, wie Fehlin sagte? Schimmerte nicht ein Funken Wahrheit hinter seinem Spaß? Bestand er tatsächlich nur aus Emotionen? Was war es, das ihn Heines Freiheits-Verse in die Nacht schreien ließ? Sein eigenes Bedürfnis nach Freiheit? Wie sollte er es nicht mitfühlen, was in diesem großen Dichter vorging? Heine hatte man die Heimat entzogen. Und Goethe? Der erlauchte, der größte, der göttliche Goethe ging nach Karlsbad zur Kur und erholte sich bei seiner jungen Geliebten Ulrike, während um ihn die Welt zu Bruch ging.

Und all dies sollte kein Gefühl erregen?

«Sie haben längst angefangen«, sagte Fehlin.

Schon von weitem, ehe sie die Pappeln erreichten, die den flachen Ziegelbau des Ausflugslokals verbargen, waren Stimmen zu hören. Männerstimmen. Singen. >Gaudeamus igitur< Das Lied der Burschenschaft.

Die Kameraden. Na also.

Fehlin lachte. Fehlin rannte. Rannte ihm sogar voran. Und so stießen sie endlich, lachend und außer Atem, die Türe des Schankraums auf.

Da waren sie! Alle. - Da waren die geröteten Gesichter, lagen die Studenten-Mützen: Alemannen, die von >Germania<, das schwarzrot-goldene Band um die Brust gespannt. Da blitzten die endlosen

Reihen der Gläser durch den grauen Tabaksqualm, rannten die beiden Schankmädchen mit geröteten Gesichtern zwischen Bankreihen hin und her. Und da war auch Sartorius, der ihnen lachend, einen Bierhumpen in der Hand, entgegenkam:»Los, Brüder! Trinkt!«

Und Otto Heinrich trank, trank mit zurückgebogener Kehle, als habe er nie etwas Köstlicheres über die Zunge rinnen gefühlt wie diesen prickelnden, braunen, schäumenden Gerstensaft.

Die anderen johlten.

Er wußte nicht, woher er den Mut nahm. Heiß war seine Stirn, sein Herz pochte, das Feuer glühte, in ihm sang es, und in einem Fieber, das stärker war als alles, was er je gespürt hatte, sprang er auf den Tisch, riß beide Arme hoch, sah sie an, hörte Sartorius':»Silentium! Unseren Dichter hat wieder mal die Muse geküßt.«

«Nicht mich!«rief Kummer.»Einen Helden! Einen der großen deutschen Geister, die Tyrannei und Willkür außer Landes jagten — Heine!«

Er griff in die Tasche. Er brauchte die Abschrift nicht zu lesen. Jedes Wort, jedes einzelne hatte sich ihm eingegraben. Aber er schwenkte sie wie eine Siegesstandarte:»Hier, sein letztes Gedicht! Alles, was uns, die wir mit dem Worte streiten, bewegt — hier ist es ausgedrückt.

Deutscher Sänger! Sing und preise, deutsche Freiheit, daß dein Lied unserer Seelen sich bemeistere und zu Taten uns begeistere.

Girre nicht mehr wie ein Werther, welcher nur für Lotten glüht, was die Glocke hat geschlagen, sollst du deinem Volke sagen, redet, Dolche, redet, Schwerter!

Sei nicht mehr die weiche Flöte, das idyllische Gemüt,

sei des Vaterlands Posaune, sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, töte…«

Ihre Blicke galten nur ihm. Und dann das jähe Schweigen, das sie alle ergriff.Und die Arme, die hochflogen, die Hände, die zu Fäusten sich ballten.

Und der Chor, der wie ein Echo sein Herz ausfüllte:

«. sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, töte!«

Kurz nach elf war es, als Kummer sich zusammen mit Hans Fehlin wieder auf den Weg nach Hause machte: Ein schwieriger Weg. Zwar hielt die Begeisterung, die die Versammlung des Bundes getragen hatte, noch an, ja, noch zitterte der Zorn in ihm, der sie gegen die Reaktion, gegen Presse-Zensur und Fürsten-Willkür vereinigte, aber der Treibstoff der Gefühle, das viele Bier machte sich unliebsam bemerksam. In Kummers Knien. Im unsicheren Gang. Die Humpen, die sie tranken, waren das Siegel der Brüderschaft gewesen. Nun aber.

«Weiter links. - Hier rennst du doch gegen eine Mauer. «Fehlin stützte den Freund. Doch Otto Heinrich stolperte, und hätte Fehlin ihn nicht gehalten, wäre er gestürzt.

«Bin das nicht gewohnt, Hans.«

«Ja, richtig. Und deshalb mußtest du beweisen, daß du der größte Zecher bist.«

«Ich bin nichts als ein Idiot, Hans.«

«Du bist ein lieber Kerl. Und ein romantischer Schwärmgeist. -Aber beim Bier würde ich zu mehr Vorsicht raten.«

«Beim Bier?«

Der Mond hatte sich hinter dunkle Wolken verzogen. Das Wasser unten am Ufer rauschte leise und unbeteiligt an ihnen vorüber. Der Weg war nichts als ein graues Band, die Pappeln und Erlen dro-hende Schatten.

«Wenn ich dich nicht hätte. «Dankbar umfaßte Otto Heinrich die Hand des Freundes. Hans Fehlin zog ihn weiter.

Als sie endlich die Residenz-Brücke erreicht hatten, war es Otto Heinrich ein wenig besser. Ihre Absätze klangen auf dem harten Stein. Wo waren nur all die Visionen, die Träume von einer besseren, nein, einer neuen Welt? Vielleicht war es stets das gleiche. Vielleicht folgte auf jeden Überschwang die Ernüchterung, vielleicht folgte dem Traum von der großen Reform, nein, der Revolution stets der Absturz in die bittere Realität.

Hinter ihnen klirrten Hufe, rumpelten Räder.

Ein schwarzer, großer Wagen rollte vorüber. Die Männer, die das Gefährt begleiteten, trugen lange Stangen. Eine Wolke stechenden Gestanks hüllte nun alle ein, die einsamen Spaziergänger wie die Arbeiter, die die Latrinen der Stadt leerten.

Der Eimerwagen.

Hastig drehte sich Heinrich um. Seine Hände umklammerten die Steinbalustrade der Brücke. Sein Magen krampfte sich zusammen, revoltierte, nur die Furcht vor der Demütigung hinderte ihn, sich auf der Stelle zu übergeben. Er würgte. Unter ihm zog schwarz und glitzernd die Elbe.

Er atmete tief, zog das Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Der Wind, der über den Fluß wehte, reinigte die Nacht.

Deutsche Dichter? dachte er. - Wie albern, wie lächerlich, wie armselig. Wir alle sind von der Feigheit und Furcht der Pestilenz durchtränkt.

Sie erreichten die Stadt. Fehlins Eltern bewohnten ein palaisartiges, nobles Haus am Opernplatz. Baron Fehlin, Bankier und Grundbesitzer, liebte eine standesgemäße Herberge, wenn er nach Dresden kam. Und die Kommilitonen witzelten über die >teuerste Studentenbude Deutschlands<, wenn sie daran vorüberkamen.

«Schaffst du's allein?«

«Ja, ja. Danke, Fehlin. Hab' ich mich sehr blamiert?«

«Warum? Was wären wir schon ohne einen guten Trunk? Langweilige Gesellen vermutlich. Ich habe manchmal den Verdacht, ohne Wein und ohne Bier würde in dieser Welt sich nichts verändern, denn nicht wahr: So alleine in der Stille unserer Arbeitszimmer macht sie sich ganz anders, schrumpft gewissermaßen wieder auf uns selbst zurück.«

Er schlug Kummer auf die Schulter und drehte sich um. Otto Heinrich sah ihm nach und beneidete ihn: Fehlin; er ruhte in seinem Fleisch, war stets auf die gleiche Art ironisch und distanziert, selbstsicher und gelassen. Und du? Dich bestürmen Worte, du versuchst sie zu bändigen, verbringst deine Tage in der Universität und bildest dir ein, bei all dem Gerede über Zusammensetzung und Veränderung der Stoffe ein Nachfolger der großen Alchimisten zu sein. Zu Hause spielst du den gehorsamen Sohn und liest heimlich die revolutionären Verse der Emigranten, inszenierst dein ureigenes, persönliches kleines Welt-Theater. Und dann, beim ersten ordentlichen Trink-Comment kommt schon der Zusammenbruch.

Ins Bett! Den Kopf unter kaltes Wasser. Und morgen, morgen wirst du nachdenken. Morgen.

Breit hingelagert, einer Festung gleich, lag mit flachansteigendem Giebel das Haus des Münzmarschalls Kummer.

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