Als der Morgen graute, saß er am Tisch, der Kopf lag auf einem Blatt Papier, schlaff hingen ihm die Arme an den Seiten herunter. Ein Gänsekiel, der aus seinen Fingern geglitten war, lag zwischen seinen Füßen. Die blonden Haare waren zerwühlt und naß von Schweiß. Bleich schimmerte die zarte Haut seines Gesichtes.
Otto Heinrich schlief.
Erschöpft, zusammengebrochen, vernichtet.
Als die trübe Sonne über die vereisten Schindeln spielte, packte Otto Heinrich Kummer seine Koffer.
Der Weg in die unendliche Freiheit lag vor seinem Blick.
Mit zusammengepreßten Lippen packte er. Wie gehetzt eilte er umher.
Im Geist sah er vor sich das lange Band der Straße.
Eine Straße durch Hügel, Wälder und Täler.
Die Straße nach Böhmen.
Es war um die Mittagszeit, als Otto Heinrich von der Posthalterei die Nachricht erhielt, daß wegen des hohen Schnees erst am 20. Februar eine Post nach Dresden fuhr. Auch die Straßen nach Chem-nitz und Böhmen seien unpassierbar, und eine Extrapost verkehre nur zwischen Dresden und Meißen mit Anschlüssen nach Berlin.
Eine Fahrt sei deshalb bis zum 20. Februar von Frankenberg ab unmöglich.
Ratlos saß Kummer in seinem Zimmer auf dem umgestülpten Koffer und stützte das Kinn in die auf das Knie gestemmte Hand.
Der Fluchtweg war ihm abgeschnitten.
Wie Willi Bendler zu Fuß oder heimlich hinter Kutschen zu reisen, war ihm nicht möglich. Sein Körper war die Rauheit nicht gewöhnt und mußte schon nach wenigen Stunden zusammenbrechen.
Aber auch im Haus bleiben konnte er nicht mehr! Wenn Knackfuß ihn der Polizei nicht überlieferte, so war es klar, daß er die Apotheke heute noch verließ.
Jedoch wohin sich wenden? In einem Gasthof wohnen? Man würde Fragen stellen, der Klatsch der kleinen Stadt würde hohe Wogen schlagen, sie würden ihn ersticken unter Worten. es war unmöglich, wenn er seine Ehre wahren sollte.
So saß er ohne Essen bis zum Abenddämmern auf seiner Kammer und blickte aus dem kleinen Fenster. Er sah Knackfuß einmal durch den Garten gehen und fühlte in sich eine heiße Reue, diese alte, fast zerknittert wirkende Gestalt geschlagen zu haben. Doch dann dachte er wieder an die ungeheuerlichen Beschimpfungen und empfand einen großen Triumph, seinen Namen von Unrecht gereinigt zu haben.
Leise klopfte es an die Tür.
Otto Heinrich fuhr herum und lehnte sich an die Wand.
«Ja?«rief er und wartete.
Ein Apothekergeselle trat ein und musterte Kummer ängstlich.
«Der Herr Prinzipal läßt sagen«, stotterte er,»daß Sie bis zum Ende des Monats den Nachtdienst übernehmen. Sie müßten wach bleiben und im Labor sich aufhalten. Am Tage hätten Sie dann frei und könnten schlafen. Und«- der Geselle stockte —»am 1. März käme ein neuer Provisor.«
Er nickte und trat aus dem Zimmer. Schnell schloß er die Tür hin-ter sich.
Otto Heinrich setzte sich auf sein Bett.
Nachtdienst!
Sonst eine Ehre — heute die Verbannung in das Dunkel, und das Verbot, sich am Tage in der Apotheke sehen zu lassen.
Verbannt in die Nacht.
Die Schatten werden zum Schicksal.
Langsam packte Otto Heinrich wieder die nötigsten Sachen aus seinem Koffer aus und legte sie über das zweite Bett. Bis zum Ende des Monats, hatte der Apotheker gesagt — noch 18 Tage Marter und Qual, Folter der Seele und Pein des Gewissens.
«Nein«, sagte Otto Heinrich laut.»Das ertrage ich nicht! Das kann kein Mensch ertragen. «Er ging in seiner Kammer hin und her und krampfte die Finger ineinander.»Ich fahre mit der Post am zwanzigsten. Ich flüchte nach Dresden und von dort zu Bendler! Mein Leben ist gestorben. ich kann den Eltern nicht mehr in die Augen sehen.«
Er hieb mit der Faust an die schräge Wand, immer und immer wieder, bis seine Hand rot wurde und anschwoll.
Später dann lag er wieder gedankenlos und leergebrannt auf seinem Bett, starrte an die Decke und spielte sinnlos mit einigen ausgerupften Fäden.
Grauenhaft schnell zerfiel sein Körper.
Entsetzlich stürzend verwirrte sich sein Geist.
Er sprach vor sich hin und ekelte sich vor seiner eigenen Stimme.
Er sah sich im Spiegel und schrie vor Grauen.
Er ersehnte nur eins, er hatte nur eine große, herrliche Liebe: den Tod!
Und so schlich er die Treppe hinunter an Knackfuß' Tür vorbei, wie ein Verbrecher, und schloß sich in der Nacht im Laboratorium ein.
Hielt Zwiesprache mit den Kolben, Retorten und Reagenzgläsern.
Sprach auch mit den Mörsern, Tiegeln und Pfannen.
Berauschte sich noch einmal an brodelnden Mischungen und dampfenden Analysen.
Spielte mit Säuren und Basen wie ein Kind mit dem Kreisel.
Als die nahe Kirchenglocke die Mitternacht schlug, saß er vor dem geöffneten Giftschrank und las mit leuchtenden, irren Augen die Namen unter den warnenden Totenschädeln.
Papaver somniferum, Mohn, Opium.
Atropa belladonna, Tollkirschensaft.
Oxalsäure, Kleesalz, Strychnin, Cyan, Kreosot, Urari, Curare.
Gift. Hunderte Gifte.
Ein Gramm nur, Otto Heinrich Kummer, ein Gramm nur… ist schnell geschluckt.
Cyan. Urari. Curare.
So saß er, bis die erste Morgenstunde vom Turme schlug. Er bediente die seltenen nächtlichen Kunden. Gab Hustentropfen aus, ein Schlafpulver, eine Brandsalbe, ein Blutstillmittel, ein Magenpflaster.
Gewissenhaft, freundlich, gewandt.
Und träumte von Gift.
Am Morgen schlich er wieder in seine Kammer, warf sich auf sein Bett und schlief.
Er aß in der Kammer, ein Geselle brachte ihm die Speisen.
Er saß am Fenster, starrte sinnend vor sich hin.
Leer, gebrochen, einsam.
Wenn es dämmerte, schlich er sich hinab ins Labor.
Er sprach mit keinem, er sah niemanden, nur den Gesellen mit dem Essen.
Er fühlte sich in einem weiten Grab.
Und des Nachts saß er vor den Giften und träumte seinen Tod.
Er schauderte bei dem Gedanken und empfand doch eine fremde Wollust.
Und mit gräßlicher Gewißheit spürte er von Nacht zu Nacht: Sein Herz schwieg.
Vorsichtig, damit sie nicht qualmen und rußen, löschte Otto Heinrich die Tranlampen und Unschlittkerzen im Laboratorium und im Laden. Nur eine kleine Lampe ließ er an seinem Tisch neben dem Giftschrank brennen.
Es war die Nacht zum Freitag, den 13. Februar 1835.
Ein trüber Tag war in einen feuchtkalten Abend übergegangen, der die Schneedecke in einen breiigen Morast verwandelte, grau, unansehnlich, häßlich, unter den Schuhen quietschend. Nun, in der Nacht, brach der Mond durch.
Eine widerliche, kalte Feuchtigkeit lag in der Luft. Sie drang durch die Kleider, durch die Ritzen der Fenster und Türen und schien sich wie eine unsichtbare Wand selbst um den Ofen zu legen.
Fröstelnd ging Otto Heinrich noch einmal durch alle unteren Räume, dann setzte er sich im Laboratorium unter die Lampe und las in einem dicken, in Leder gebundenen Buch über das Wesen der Toxikologie.
Eintönig tickte aus einer Ecke eine Uhr.
Vor dem schmalen Fenster, das auf die Straße führte, geisterte gleich das Mondlicht und floß über die Fensterbank ins Zimmer.
Noch sieben Tage, dachte Otto Heinrich, und die Post fährt mich nach Dresden und Böhmen. Noch sieben Tage, und du hast aufgehört, ein Mensch zu sein, der unbescholten ein Tropfen des großen Menschenmeeres ist.
Er klappte das Buch zu und stützte den Kopf in die Hände.
Was würde der Vater sagen, wenn er es erfährt?
Die Mutter würde weinen. die gute, gute Mutter.
Kummer starrte vor sich auf den Dielenboden und schloß die Augen. Er sah Dresden vor sich, das große Haus in der Rampschen Gasse, die Freunde Maltitz und Seditz, den Maler Caspar David Friedrich und den Baron von Puttkammer.
O Mutter, liebe, liebste Mutter… warum ist das Leben nur schön, wenn man ein Kind ist.?
Langsam sank Otto Heinrichs Kopf auf die Platte des Tisches. Unbewußt schob er die Hände unter, so daß sein Gesicht wie auf ei-nem Kissen lag.
Versunken im Gestern schlief er und träumte von einem fernen Paradies, durch das er schritt, ohne es geahnt zu haben.
Plötzlich schreckte er auf und lauschte.
Klopfte es nicht an der Tür?!
Schlaftrunken ging er durch den Laden und öffnete das kleine Klappfenster, das in die Tür eingeschnitten war.
Eine junge Frau im langen Umhang stand zitternd auf der Straße.
Otto Heinrich öffnete die Tür, mit schnellen Schritten trat die Frau ein.
«Meinem Kind geht es schlecht«, stammelte sie, als müsse sie sich für die nächtliche Störung entschuldigen.»Es hat Magenkrämpfe. Der Doktor ist bei ihm. Er gab mir ein Rezept, das ich sofort besorgen muß. «Sie nestelte unter dem Umhang einen Zettel hervor und gab ihn Otto Heinrich. Ihre Hände waren lang, schmal und blaugefroren.»Sie möchten es sofort mischen, Herr Apotheker. Der Doktor wartet.«
Kummer nahm das Rezept mit zur Lampe und las die kritzelige Schrift. Es war ein Narkotikum, vorsichtig dosiert, gefährlich in größeren Mengen.
«Das Rezept steht unter dem Giftgesetz«, sagte Otto Heinrich und fühlte bei dem Wort Gift einen merkwürdigen Schauder.»Ich darf es nur geben, wenn Sie mir durch einen amtlichen Ausweis bekannt sind.«
Die junge Frau stammelte etwas und schüttelte den Kopf.
«Ich bin aus einem Dorf bei der Stadt. Mit dem Wagen bin ich über die Straße gehetzt wie der wilde Jäger. Mein Kind, Herr Apotheker, es stöhnt so… es wälzt sich im Bett. Mit Krämpfen! Herr Apotheker, da dachte ich nicht an Ausweise. Helfen. dachte ich nur. helfen, und der Doktor wartet und sagt, es sei schlimm! Wenn ein Doktor das sagt. muß es schlimm sein. «Und plötzlich brach sie in Weinen aus und lehnte sich an die Wand.»Helfen Sie mir, Herr Apotheker. ich bin ja ganz allein. mein Mann ist gestor-ben. Ich habe doch nur das eine Kind… helfen Sie mir… mein Kind.«
Das Weinen erstarb in einem haltlosen Schluchzen.
Otto Heinrich schwankte. Er trat an das Fenster und blickte hinaus. Am Brunnen auf dem Markt stand ein vierrädriger Bauernkarren. Das Pferd in der Deichsel zitterte an allen Gliedern nach der tollen Fahrt.
«Warten Sie einen Augenblick«, sagte er zu der jungen Frau und schob ihr einen Stuhl hin.»Ich werde Ihnen die Tropfen mischen.«
«Haben Sie Dank, Herr Apotheker.«, schluchzte sie und sank auf den Stuhl.
Ein Häufchen Leid.
Eine Mutter.
Mutter.
Wie in einem Traum ging Kummer ins Laboratorium und öffnete die Klappen des Giftschrankes.
Hohl stierten ihn die vielen Zeichen der Totenköpfe an. Und das Wort Mutter vor seinen Augen wurde zum grinsenden Schädel.
Mechanisch sah er auf das Rezept, zog einige Flaschen heraus, stellte die Feinwaage ein, legte die Schälchen zurecht und maß die Mengen der Arzneien ab.
Langsam ging er dann wieder zum Giftschrank.
Bleich fiel das Mondlicht auf die Totenköpfe.
Sie schienen zu leben.
Aus ihren Augenhöhlen leuchtete es schwach.
Gebannt sank Otto Heinrich auf den Stuhl und starrte auf die Flaschen.
«Was wollt ihr?«flüsterte er.»Ruft ihr mich?«Seine Stimme war heiser und hohl, als spräche sie in einem weiten, leeren Raum.»Könnt ihr nicht länger warten.?«Er tastete mit den Blicken über die Totenköpfe, zitternd bewegten sich seine Lippen.»Wie schön ihr seid.«, flüsterte er endlich und lächelte.
Gift. Gift. Hunderte Gifte.
Cyan. Urari. Curare. Belladonna. Kleesalz. Gift!
Mit zitternden Händen griff er nach einer Flasche.
Was stand auf dem Rezept. Belladonna. 0,02. Belladonna.
Die Etiketten verschwammen vor seinen Augen, eine bleierne Müdigkeit, fast eine Lähmung drückte ihn herab.
Ein wilder Wirbel zuckte vor seinem Blick. Cyan. Kreosot. Belladonna. Kleesalz. Oxalsäure. Ein Wirbel, ein toller Wirbel. die Flaschen tanzten durcheinander.
Mit großer Anstrengung griff Kummer aus dem Tanz der Flaschen Belladonna.
Er wog die Menge ab, gewissenhaft, exakt.
0,02 g.
Er mischte die Arzneien, schüttelte sie und tropfte die Flüssigkeit in eine Flasche.
Eine würgende Übelkeit drückte ihm auf den Magen.
Achtlos schob er die Flasche Belladonna zur Seite und verpackte die fertige Medizin. Das Rezept legte er in den Giftkasten.
Dann trat er wieder in den Laden, gab der jungen Frau das Fläschchen und wünschte dem Kind gute Besserung.
«Wie soll ich Ihnen danken?«schluchzte die Frau und trat auf die Straße. Eisige Luft strömte in den Laden.»Wenn Sie jemals ein Kind besitzen werden, werden Sie wissen, was Dankbarkeit ist.«
Sie eilte zu dem Wagen, sprang auf den Bock und schnalzte laut mit der Zunge.
Hart zog das Pferd an und jagte mit dem klappernden Wagen über den Markt.
Erst als er am Ende der Hauptstraße in der Nacht verschwamm, trat Otto Heinrich in den Laden zurück und schloß sorgsam die Tür.
Der Druck in seinem Gehirn hatte nachgelassen, nur die Glieder waren noch schwer wie Blei.
Er stellte den Stuhl wieder an die Wand und ging dann ins Laboratorium.
Bedächtig wusch er die Schalen, stellte die Feinwaage unter Glas und nahm dann die Flasche Belladonna, um sie wieder in den Gift-schrank zu stellen.
Als er sie hochhob, stutzte er und drehte das Etikett zu sich herum.
Auf der Flasche stand: Curare.
Für einen Augenblick verschwamm vor Otto Heinrich die Umwelt in einen feurigen, brennenden Nebel. Eine prickelnde Lähmung rieselte durch den Körper. Dann wurde der Nebel leichter, und wie durch einen Schleier sah er den Giftschrank geöffnet vor sich.
In der zweiten Reihe, die dritte Flasche von links, stand Belladonna!
Ein schüttelfrostartiges Zittern überfiel ihn, schlaff sank die Hand mit der Curare-Flasche auf den Tisch. Dann zuckten die Hände empor und krallten sich vor die Augen.
«Unmöglich«, stammelte er.»Unmöglich.«
Er ließ die Arme sinken und starrte wieder auf die Flasche vor sich.
Da schrie er, gellend, tierisch, schrie und klammerte sich an den Giftschrank, schüttelte ihn und wimmerte. Er riß das Rezept aus dem Kasten, las wohl einen Namen, aber keine Adresse. Der Arzt war bei dem Kinde, er war nicht zu erreichen, und die Mutter jagte durch die Nacht und brachte das Gift, das grauenvolle, lähmende Gift. den Tod!
Den Tod aus seiner Hand!
Da wimmerte er wieder, hilflos, ratlos. denn was nützte ein Wagen, wenn er nicht wußte, wo die junge Frau wohnte; und wenn er ihr nachfahren könnte — sie wäre längst vor ihm da und hätte dem Kind die Medizin gegeben.
Die Medizin!
Das Gift!
Curare!
«Nein!«schrie Otto Heinrich.»Nein! Nein.«
Er stürzte auf den Giftschrank zu und riß die Flaschen heraus. Einzeln, hintereinander schleuderte er sie in die Ecke, wo sie zerschellten und die Gifte, der tausendfache, schreckliche, entsetzliche Tod, sich zu einer Lache stinkender Flüssigkeit vermählten.
«Satan!«schrie Kummer, wenn Flasche nach Flasche zersplitter-te.»Satan! Satan!«
Dann wimmerte er wieder, irrsinnig vor Schuld und Gewissen, Entsetzen und Grauen, sah die junge Frau vor sich und hörte ihre Worte:»Sie werden wissen, was Dankbarkeit ist, wenn Sie einst ein Kind besitzen.«, und trommelte wieder an den Giftschrank, ohnmächtig in Schmerz und Wut.
In der Ecke tickte hart die Uhr.
«Aufhören!«schrie er.»Aufhören!«
Er sprang in die Ecke und stellte sich unter das tickende Pendel, stierte auf das Zifferblatt und sah das Schleichen des großen Zeigers.
«Jetzt kommt sie an«, flüsterte er.»Sie tritt ein, lächelt, nimmt ein Glas, öffnet die Flasche, zählt die Tropfen, eins. zwei. drei. vier. fünf. sechs. sieben. acht. neun. zehn. bis zwanzig. Sie beugt sich über das Kind, streichelt ihm über die schweißnassen Haare, hält das Köpfchen gerade und. und. nein. Halt! Halt!«Otto Heinrich schrie und hieb mit der Faust die Uhr herunter.»Halt! Nicht geben, nicht geben. «Wimmernd lehnte er an der Wand.»Es ist der Tod.«
Dann sank er ohnmächtig um.
Lang hingestreckt lag sein Körper auf den Dielen.
In der Lache der hundert Gifte auf dem Boden spiegelte sich trüb der Mond.
Ein scharfer, ätzender Geruch lag wie eine Wolke im Raum, abgestanden und kalt, widerlich und breiig.
Und auf den Bergen rauschten die Wälder im Wind.
Otto Heinrich erwachte, als die nahe Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Dumpf hallten die Schläge durch die bleierne Nacht.
Der Mond lag unter einer dicken, schwarzen Wolkendecke.
Die Tranlampe war niedergebrannt.
Ächzend erhob sich Kummer vom Boden und wankte an das Fenster, preßte die Stirn an die Scheibe und schloß vor der Kälte, die seinen Körper durchzuckte, die Augen.
Sterben, dachte er, jetzt muß ich sterben. Es gibt keinen Ausweg, natürlich muß ich sterben. Ich gab der Frau Curare statt Belladonna, das Kind ist nun längst gestorben, und morgen früh kommen die Gendarmen und führen mich ab. Es wird einen großen Prozeß geben, mein Name wird in aller Munde sein, in allen Akten, in allen Verwünschungen. Und Vater wird man verhören, die Mutter, die Geschwister und die Freunde.
Was wird der König sagen, wenn der Sohn seines Münzmarschalls ein Mörder ist!
Er wird den Vater in Ungnade werfen.
Das Studium des Bruders ist gefährdet.
Die Mutter würde zerbrechen an dieser Schande.
Und wo sie hingehen, wo man sie sehen würde, flüsterten die Leute: Der Kummer ist der Vater eines Mörders!
Mörder! Mörder!
Otto Heinrich stöhnte. So ist also das Ende, dachte er, natürlich, das ist einfach das Ende. Eine große Liebe, eine große Einsamkeit, eine große Schuld und ein einfaches Sterben. Wo ist da die herrliche Unsterblichkeit, wo das Ewige, das ich im Traume sah?
Leben, lieben, leiden, sterben — aus!
Wie lächerlich einfach das alles ist!
Er richtete sich aus seiner verkrampften Haltung am Fenster auf, riß seinen Mantel vom Haken, schloß die Tür des Ladens auf und trat hinaus auf den Markt.
Langsam schritt er zum Brunnen, umkreiste ihn, ging dann hinüber zu den Schaufenstern der Läden, schaute hinein und sah in dem blanken Glas schwach sein gequältes, bleiches Gesicht. Die Augen waren stumpf und leblos, die Haare wirr und strähnig.
«Das also bin ich jetzt«, murmelte er.»So sehe ich aus. So sieht ein Mörder aus?«Er schloß das eine Auge und blinzelte unter dem Lid des anderen auf sein Spiegelbild. Den Kopf legte er ein wenig zurück. Er sah in der Scheibe so aus, als spiegele sich das Antlitz eines Toten.
«Schön«, flüsterte Kummer,»wunderschön. Dieser Friede, wenn die Augen geschlossen sind. «Und plötzlich riß er die Augen wieder auf und prallte vor dem stumpfen Blick zurück, der ihm entgegenstarrte.»Ekelhaft«, murmelte er.»Ekelhaft diese Augen, dieses Leben, das nicht will, aber muß! - Ich kann mich nicht mehr sehen.«
Er schlug mit der flachen Hand gegen sein Spiegelbild und schrie:»Du Mörder!«Dann eilte er mit schnellen Schritten weiter über den Markt und tauchte im Schatten der Häuser unter.
Ziellos durchstreifte er Frankenberg, eilte durch Gassen, die er noch nie gesehen hatte, umkreiste den Weiher, auf dem die Jugend am Tage Schlittschuh lief, schlich sich zur Posthalterei und legte das Ohr an die Stalltür, lauschte auf das Scharren der Pferde und das Klirren der Ketten, lief dann zurück in die Stadt und wanderte von Laden zu Laden, in jedem Fenster sein Gesicht ansehend und» Mörder!«rufend.
Als er die Stadt durchwandert hatte, kletterte er den steilen Berghang hinauf, ächzte durch die froststarren Tannen und sank auf die Kuppe eines Hügels auf einem Baumstumpf nieder, müde, matt und nach Luft ringend.
Der Eiswind spielte in seinen Haaren, griff durch die Kleidung an seinen Körper und schüttelte ihn.
Mörder. Mörder. Mörder.
«Sterben!«schrie er da grell, sprang auf und klammerte sich an den Stamm einer Tanne.»Sterben! Ja, ich will sterben!!«
Zitternd hetzte er den Berg herab, stolperte über Wurzeln und Stümpfe, wankte im Tale durch die Straßen, riß die Tür der Apotheke auf und sank über dem Ladentisch zusammen.
Mörder. Mörder. Mörder.
«Ich halte das nicht aus!«schrie Kummer und schlug um sich, als könne er die Gesichter zertrümmern.»Ich werde irrsinnig… irrsinnig!«
Auf einmal war alles vorbei.
Verwundert ließ er die Hände sinken und blickte sich um. Sein Blick war klar, merkwürdig ruhig schlug sein Herz.
Auch seine Gedanken schwiegen. Er konnte nicht mehr denken, er sah nur einen sinnlosen Befehl vor sich, den ihm sein Herz gab und der sein ganzes Inneres berauschte.
Wie ein Greis schlurfte er in das Laboratorium, entzündete mit Feuerstein und Zunderschwamm ein Feuer, steckte eine große Unschlittkerze an und ging zu dem Tisch, auf dem einsam die Flasche mit Curare stand.
Lange betrachtete er sie, schüttelte die Flüssigkeit und setzte dann die Flasche wieder auf den Tisch. Aus der Lade des Giftschrankes nahm er das Rezept der jungen Frau, holte die Feinwaage wieder aus der Glasglocke, stellte Schalen und Becher zurecht und begann, die gleiche Medizin zu mischen.
Peinlich genau wog er die zehnfache Menge der Gewichte ab, schüttelte und ließ die Mischung abstehen und griff dann nach der Flasche Curare.
Schwach blinkte im Kerzenlicht der grinsende Totenschädel.
Seine Augen schienen zu blinzeln.
«Alter Freund«, flüsterte Otto Heinrich,»nun ist es soweit.«
Mit ruhiger Hand hob er den Glasstöpsel, schüttete eine große Dosis des starken Giftes in den Mischbecher und schüttelte dann die Flüssigkeit gut durcheinander.
Er ließ den Trank abstehen, nahm ein Trinkglas aus dem In-strumentenschrank, füllte es bis zum Rand mit dem Gift und schleuderte dann die noch halbvolle Flasche Curare in die Ecke zu der Lache der anderen Gifte, wo sie mit dumpfem Knall zerschellte.
Im Osten, über der Kuppe der Berge, schimmerte schwach in dem Schwarz der Nacht ein hellgrauer, langgezogener Streifen.
«Der Morgen«, murmelte Otto Heinrich und trat an das Fenster.»Die Sonne! Sei mir gegrüßt, du Tag der Erlösung.«
Langsam ging er zum Tisch zurück, besann sich kurz und trat an die Stirnwand des Zimmers.
Ein auswechselbarer Kalender hing dort in einem hölzernen Rahmen.
Mit einem Lächeln steckte Kummer die Blätter um für den neu-en Tag.
Für den 13. Februar 1835.
Dann setzte er sich an den erkalteten Ofen und nahm das Glas in beide Hände.
Kurz dachte er an Dresden, an den Vater und die Mutter, an die kleine Anna Luise, an Maltitz, Bendler und Seditz.
Ein Zittern durchrieselte ihn, eine gellende Angst vor dem Gift.
«Mutter.«, stammelte er.»Mutter. Vater. Verzeiht mir. ich kann nicht anders. Seid gütig und verzeiht. «Einen Augenblick dachte er auch an Trudel, doch dann verschwamm das liebliche Bild, und sein Blick fiel auf das Glas in seiner Hand.
Es blinkte und glitzerte.
Zuckend huschte der unruhige Kerzenschein über die blanke Fläche.
Der dunkle, leise sich bewegende Trank lockte.
Mit bleichen Händen führte er das Glas an die Lippen und stürzte das Gift hinunter.
Als es durch seine Kehle rann, sprang er auf und griff wie ein Blinder um sich. Eine irre Angst schrie in ihm, ein plötzliches Bewußtsein, was er getan hatte.
«Nein!«schrie er.»Ich will nicht!«Er sah auf das Glas in seiner Hand, schrie auf und ließ es zu Boden fallen.»Was habe ich getan! Ich will nicht sterben.! Vater. Mutter. Mutter. ich will nicht! Mutter! Rette mich doch, hilf mir! Ich sterbe ja. ich sterbe. «Er stürzte zu einem Schrank in der Ecke, riß ein Gegengift aus den Fächern und taumelte zu den Gläsern zurück.
Eine plötzliche Lähmung hinderte ihn, die Arme zu heben.
Mit grauenvoll aufgerissenen Augen starrte er um sich. Er wollte zu dem Stuhl gehen, aber auch die Beine waren gelähmt, er wollte schreien und merkte, wie seine Zunge schwer wurde und die Kehle sich zusammenschnürte.
«Der Tod.«, röchelte er.»Der Tod. «Er fühlte, wie sein ganzer Körper einzeln starb, Glied um Glied, und wie der Tod an ihm emporstieg, grauenhaft langsam und unaufhaltsam. Die Kerze begann vor seinen Augen zu verblassen, die zuckende Flamme wurde fahl, versank in einem Nebel und erlosch.»Blind«, röchelte er.»Komm, komm doch… Tod. «Er fühlte ganz entfernt, daß er zu Boden fiel, und wollte rufen, doch er hörte nichts mehr. Es war dunkel und stumm um ihn. Nur denken konnte er noch. Klar und schrecklich denken. Und er dachte. Mutter. dachte immer nur Mutter. Mutter. liebe Mutter.
Und Mutter dachte er, als auch das Denken erlosch.
Über die Berge schob sich der Tag herauf.
Und es begann zu regnen.
An einem offenen Grabe, ausgelegt mit holländischen Tulpen, Christrosen und Veilchen aus den königlichen Treibhäusern, stand ein schlanker Mann in schwarzer Robe.
Das weite Rund der Trauernden schwieg. Der Pfarrer war zurückgetreten. Am Rande der Gruft stützte der Münzmarschall Kummer seine leise weinende Frau, das gebrochene Dorchen.
Und der Mann am offenen Grab streute Blumen auf den Sarg und warf eine kleine Rolle beschriebenen Pergamentes den Blüten nach.
Dann blickte er stumm in die Gruft, lange, als sänne er ein ganzes Leben zurück und sagte langsam mit einem Zittern in der tiefen Stimme:
«Wie kurz ihm auch den Lenz der Jugend die Parze des Geschickes spann, er lebte als ein Held der Tugend und starb entschlossen als ein Mann.«
Noch einmal blickte er auf den Sarg, grüßte hinab und trat dann gesenkten Hauptes zurück.
Da trat der Münzmarschall zu ihm, ergriff seine schlaffe Hand und drückte sie fest und innig.
Groß blickten sich die beiden Männer an. Stumm, aufgerissen, unendlich traurig.
«Ich danke Ihnen«, sagte der Münzmarschall endlich mit zitternder Stimme.»Seien Sie auch mein Freund, Freiherr von Maltitz.«
Als die Trauernden gegangen waren, schaufelten vier Männer das blumenüberfüllte Grab zu.
Freiherr von Maltitz.
Der Herr von Seditz.
Ritter von Bruneck.
Und Willi Bendler.
Und über den stillen Friedhof sang der erste warme Wind, spielte mit den Blüten und taute die Erde auf für den kommenden, sprießenden Samen.
Da warf der Riese Willi Bendler seine Schaufel hin, bedeckte die Augen mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.
«Ich kann nicht mehr«, stammelte er.»Er starb für nichts, für gar nichts! Das Kind hatte das Gift nicht genommen, weil dem Arzt der Geruch auffiel und er ihm die Tropfen nicht gab! Für nichts, für gar nichts — das!«
Maltitz schüttelte den Kopf und legte beide Hände auf Bendlers Schulter.
«Er suchte einen Grund zum Sterben. Er war ein Mensch, der frühvollendet sterben mußte! Er war die letzte Stufe eines Menschen, die ich kenne: ein einsames Herz!«
Die Wolken am Himmel zerrissen, der Wind wehte die Fetzen davon. Hell brach die Sonne durch und spielte über die Kreuze, Steine und Blumen.
«Die Sonne«, sagte Willi Bendler leise.
«Ja, die Sonne«, Maltitz blickte auf den frischen Hügel.»Sie wird ewig über seinem Grabe stehen, unsterblich wie die Seele, die ihr entgegenfliegt.«