Otto Heinrich war stehengeblieben. Er spürte das Klopfen des Herzens hoch oben am Hals. Dort, rechts? Im ersten Stock schimmerten drei erleuchtete Fenster. Das Arbeitszimmer seines Vaters.
Gerade noch Revolutionär — und nun schon Feigling. Aber diese Furcht ließ sich nicht unterdrücken. Wenn er dich in diesem Zustand erwischt. wäre zuviel, als daß es der Magen noch ertragen könnte.
So ließ er den Schlüssel in der Tasche der Samtjacke und näherte sich dem Dienstboteneingang von einer Seitengasse.
Hier stand die Türe offen.
Die Glutreste in der Küche zeigten ihm den Weg zur Hintertreppe. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, fluchend, wenn ihm der Gleichgewichtssinn erneut einen Streich spielte, erreichte Kummer schließ-lich den zweiten Stock. Als er den Korridor durchging, am großen Treppenhaus vorbei, um zu seiner Tür zu gelangen, vernahm er hinter sich ein Geräusch.
Er blieb stehen. Licht drang durch die geöffnete Tür. Eine helle Mädchenstimme rief leise:»Otto Heinrich.«
Mein Gott, das war Anna Luise, seine Schwester. Den Leuchter trug sie in der Hand. Die dunklen Augen in dem schmalen Mädchengesicht unter der Nachthaube wirkten riesengroß und beschwörend, das weiße Leinen des Nachthemds reichte bis zum Boden, bedeckte ihre Füße, so daß sie wie eine kleine, weiße Säule wirkte, die sich näherte.
«Wo warst du bloß? Gut, daß ich dich gehört habe.«
«Wieso denn?«
Sie zog die Brauen zusammen.»Was ist denn mit dir?«
«Was soll sein?«
«Du schwankst so komisch.«
«Aber nein. Sag mir lieber, ist irgend etwas geschehen?«
«O ja, es ist etwas geschehen. Der Vater ist außer sich. Den ganzen Abend wartet er schon.«
«Auf was denn?«
«Auf was? — Auf wen, mußt du fragen. Auf dich. Da waren zwei Herren da. Und einen kannte ich. Er ist ein hoher Kommissär bei der Polizei. Sie wollten Vater sprechen. Und dann mußte Mama ins Zimmer, und als sie herauskam, sagte sie, es gehe um dich.«
«Um mich?«
«Ja. Vater ist noch nicht einmal zum Abendessen erschienen. Und Mama war ganz aufgeregt. Du kennst sie doch, in solchen Momenten bekommst du kein vernünftiges Wort von ihr. Sie rannte nur hin und her und hatte das Taschentuch vor dem Mund und sagte >mon dieu, mon dieu<, und das in einem fort. Was ist bloß? Otto Heinrich, was hast du angestellt?«
Anna Luises dunkle Kinderaugen.
Und kein vernünftiges Wort, kein vernünftiger Gedanke in seinem Schädel. Doch die Alkoholnebel existierten nicht mehr. Verflogen waren sie, als sei ein Vorhang zerrissen.
«Es ist was Schlimmes, nicht wahr?«
«Aber nein.«
Von unten schallte durchs Treppenhaus die Stimme des Münzmarschalls:»Ist da jemand? Otto Heinrich, bist du das?«
Er beugte sich über das Geländer:»Da. Bin gerade zurückgekommen.«
«Ach nein? Wirklich? — Hättest du dann vielleicht die Güte, dich zu mir zu bemühen?«
Es klang wie purer Hohn, nein, wie nackter Zorn.
Gotthelf Kummer erwartete den Sohn nicht an der Türe; schmal und steil aufgerichtet, im engen, braunen Schlafrock, das Kinn emporgereckt, die Augen im bleichen Gesicht dunkel und brennend, stand er hinter seinem Schreibtisch.
Sacht, ganz vorsichtig schloß Otto Heinrich die Türe, blieb nichts als ein Schatten, der den Lichtkreis der Öllampe um den Schreibtisch scheute.
«Komm näher.«
Leise war jetzt die Stimme des Münzmarschalls.»Steh nicht herum wie der Idiot, der du bist.«
Leise Worte, schmerzhaft wie Peitschenhiebe.
«Es gibt viel, was ich bei einem jungen Menschen zu ertragen bereit bin, Otto Heinrich. Doch auch meiner Geduld sind Grenzen gesetzt. Versuchte ich die eigenen Gefühle außer acht zu lassen, so würde es noch schlimmer. Dann müßte ich sagen: Du verdienst es nicht, in diesem Haus zu wohnen, du verdienst nicht, die Luft dieser Stadt und dieses Staates zu atmen und schon gar nicht deine Ausbildung und die Bemühungen deiner Lehrer, dich als Apotheker zu einem geachteten Mitglied unserer Gesellschaft zu machen. Dies soll zuvor einmal klargestellt sein. Hast du das verstanden?«
«Nein, Herr Vater«, hörte er sich sagen.
«Nein? Was soll das heißen?«
An den Schläfen des Münzmarschalls schwollen die Adern. Das quadratische Gesicht färbte ein verräterisches Rot, die Hand zuckte über den Schreibtisch, nahm ein Papier und riß es anklagend hoch:»Willst du mich auch noch belügen? Hier! Ein Protokoll. Und die Polizei hat es mir selbst ins Haus gebracht. Rat Wallerscheid hat sich dieser Mühe unterzogen. Und das nur, weil er ein Freund ist, ein wahrer Freund. Aber diese Sache ist so himmelschreiend, daß auf ihn nicht länger zu zählen ist. Ich tu's auch nicht. Denn dies ist ein Dokument der Schande, ich sagte ja, dies ist für mich eine Blamage, die zum Himmel stinkt.«
Otto Heinrich fühlte, wie sich sein Rücken verkrampfte. Sein Herz, wie es klopfte! Und auch der Kopf begann wieder zu schmerzen. Er versuchte nachzudenken. Er vermochte es nicht zu glauben. So wenig Zeit war vergangen. Wie sollte sein Vater jetzt schon einen Bericht von dem Burschenschafter-Comment im Fährhaus bekommen haben? Oder hatten die Polizei-Spitzel Fehlin und ihn bereits auf ihrem Weg verfolgt? Waren sie tatsächlich überall?
Sein Hals war trocken. Er brachte keinen Ton heraus. Und sein Vater sah ihn noch immer mit denselben dunklen, drohenden Augen an. Doch dann kamen die Zeilen in grellem Spott herausgeschleudert.
«Sei nicht mehr die weiche Flöte, das idyllische Gemüt, sei des Vaterlands Posaune, sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, töte!«
Gotthelf Kummer warf das Blatt verächtlich auf den Tisch.
Schweigen.
Dann sprach der Münzmarschall, leise, ungläubig, als könne er der eigenen Stimme nicht vertrauen:»Mein Sohn! Und was predigt er? Mord und Totschlag. «Plötzlich fing er an zu brüllen:»Das ist Aufstand! Jawohl, was ist das anderes als Aufstand? Revolution! — Und wer predigt das?«
«Ich habe nicht gepredigt, Herr Vater.«
«Ach nein?! Und was steht hier?«Die Faust des Münzmarschalls donnerte auf das Polizei-Protokoll.»Willst du vielleicht.«
«Ich will gar nichts. Ich will nichts, als die Wahrheit feststellen. Ich habe ein Gedicht deklamiert. Und dieses Gedicht stammt aus der Feder eines Mannes, den ich, und ich scheue mich nicht, dies Ihnen zu sagen, aus tiefstem Herzen verehre.«
«Nun hör.«
«Nein, Herr Vater. Ich bitte, daß Sie mich hören. Dieser Mann kann als einer der kühnsten und größten deutschen Geister gelten. Und wo muß er leben? In Paris. Und warum? Weil ihn Reaktion und Presse-Zensur aus dem Land gejagt haben. Ihn, einen Mann, dem nichts höher ist als die Freiheit.«
«Freiheit? Reaktion. Presse-Zensur. Schon die Wortwahl sagt alles.«
Wieder holte Otto Heinrich Kummer tief Luft.»Bei allem Verständnis, das ich aufzubringen vermag, wenn ich an Ihr Amt denke, Herr Vater — aber der Geist der Freiheit war auch Ihnen vertraut. Ja, er wohnte auch in Ihrem Herzen. Warum haben Sie denn bei Leipzig gekämpft?«
Nein, seine Stimme schwankte nicht. Und alle Zweifel, sie waren verflogen. Stolz war Otto Heinrich, stolz darauf, nicht nur zum ersten Mal in seinem Leben dem Vater die Stirne zu bieten, stolz auch, weil er sich angesichts der Gefahr zu solchen Gefühlen bekannte.
«Das ist also aus dir geworden? Ein Jakobiner.«
«Ich sprach von der Freiheit.«
«Freiheit, Freiheit!«Nun schrie der Münzmarschall völlig außer sich:»Jawohl, Freiheit! Wir haben dafür gekämpft. Wir haben gekämpft, um dem deutschen Volk seine Freiheit zurückzugeben. Aber auch seine Ordnung. Doch nicht, damit ein aufrührerisches Gesindel, eine Mischung aus Hitz- und Dummköpfen, Burschenschaftlern und anderen Verrückten dieses gottgefügte Gesetz wieder zerstört. Deshalb doch nicht! — Nun wirst du gleich sagen, daß die Ordnung nicht von Gott, sondern von Menschen gefügt werde.«
Otto nahm den Kopf noch höher.»Ja. Das sage ich. Und ich sage mehr: Daß es nicht nur die Gesetze der Obrigkeit gibt, sondern ein anderes Gesetz — das, das in einer Brust wohnt.«
«O Gott! Auch noch.«
Der Münzmarschall schüttelte den Kopf, preßte die Fäuste gegen die Schreibtischplatte, schüttelte wieder den Kopf, ließ sich in seinen Sessel fallen, lehnte sich zurück, schloß die Augen, und eine Art Lächeln, ein ironisch-überlegenes Lächeln entspannte sein Gesicht.»Weißt du, was am unerträglichsten ist? Diese ewige Überspanntheit. Normal könnt ihr wohl nicht mehr reden? Sobald man euch hört, sitzt man im Theater. Jeder sein eigener Schiller! Und was bist du? Ein Apotheker. Das willst du zumindest werden. Und daran will ich dich erinnern. Ein Apotheker, der sich seines Berufes schämt und deshalb nach hohlen Phrasen sucht. Gesetz in deiner Brust? Soll das Kant sein? Aber nicht einmal den hast du gelesen. Denn wenn du Kant wirklich kennen würdest, würdest du auch wissen, was er von euresgleichen gehalten hat. Daß es kein größeres Verbrechen gibt, als Aufruhr zu predigen. Daß das Volk nur eines zu tun hat, zu gehorchen. - Na, Herr Philosoph, was sagen Sie dazu?«
Dem Zorn war er gewachsen, der Spott war ihm zuviel. Otto Heinrich spürte, wie vor diesen kalten, distanzierten Augen die Selbstsicherheit zerbrach. Und ganz so, als nähme er jetzt erst die Situation wahr, sah er sich vor dem Schreibtisch stehen, vor einem Vater, der ein Gericht inszenieren wollte, ohne den Angeklagten dabei ernst zu nehmen, der von >Schuld< sprach, ohne die Gründe zur Kenntnis zu nehmen.
Er preßte die Hand gegen den schmerzenden Magen, als könnte er so den Schwall von Übelkeit aufhalten, der in seine Kehle hochkriechen wollte.
«Und jetzt?«vernahm er die eisige Stimme des Münzmarschalls.»Ich warte. Warum zitierst du nicht die >Räuber Warum schreist du nicht?«
Otto Heinrich umklammerte die Stuhllehne.
«Was seid ihr schon anderes, ihr Studenten mit euren Revoluti-onsideen, was seid ihr anderes als ein Haufen großmäuliger Laffen! Armselige Wichte, die sich Bedeutung zumessen, indem sie sich mit unverstandenem Zeug aufblasen. Und mein Sohn ist dabei. Was heißt dabei? In vorderster Front.«
Schweigen. Von irgendwo kam der Klang einer Kirchenglocke. Dann der Ruf einer Männerstimme, der Ruf der Nachtpatrouille. Der Klang der genagelten Soldatenstiefel drang herauf ins Zimmer. - Und sein Vater saß da und schüttelte den Kopf.
«Geh! Geh ins Bett, wo du hingehörst. Und geh mir aus den Augen.«
«Das werde ich tun. «Otto Heinrich sog tief die Luft ein.»Ich werde gehen. Nicht für diese Nacht, für immer. Ich werde dieses Haus verlassen.«
Nichts regte sich im Gesicht des Münzmarschalls. Nur der Blick wurde aufmerksam.
Weit, so unendlich weit wurde ihm der Weg zur Tür. Schweigen. Kein Ruf hielt ihn zurück. Nichts war um ihn. Nur Stille.
Sacht zog er die Tür hinter sich ins Schloß.
In dieser Nacht, im Hause seines Freundes Fehlin, schrieb Otto Heinrich einen langen Brief an seinen Vater. Er schrieb ihn nach einem Glas Wein, das seinem Geist wieder Kraft und Geschmeidigkeit verlieh. Es war ein Brief voll glühendem Pathos, voll Beschwörungen seiner Vision, erfüllt von dem Drang, sich erklären zu wollen.
Aber der wichtigste Satz stand ganz am Anfang.
Der Brief begann mit den Worten:»Ich habe keinen Vater mehr.«
Nach dem Mittagessen, das alle Angestellten gemeinsam mit Herrn Knackfuß einnahmen, während die Tochter die Speisen auftrug und anscheinend in der Küche aß, führte der Apotheker den neuen Gesellen selbst in sein neues Amt ein und übergab ihm — der Riese Bendler und die übrigen Kollegen waren stumm vor Erstaunen — den Schlüssel zu dem Heiligtum der Apotheke: dem Giftschrank.
«Sie haben in einer der ersten Apotheken Deutschlands gelernt, lieber Kummer«, sagte Knackfuß bei dieser feierlichen Handlung.»Ihnen allein vertraue ich an, was nur ich allein bisher in der Verwaltung hatte. Es mag Ihnen und Ihren Kollegen beweisen, daß ich ein hohes Vertrauen in Sie setze.«
Otto Heinrich fühlte eine tiefe Scham in sich aufsteigen.
Hatte er dem rauhen Mann doch unrecht getan?
War dieser Knackfuß etwa nur ein Haustyrann, weil er im Grunde seines Wesens weich und zu nachgiebig war?
Gerührt drückte er dem Chef stumm die Hand, keines Wortes mächtig, und Knackfuß nickte ihm auch nur zu, klopfte ihm auf die Schulter und schritt ohne weiteres Reden aus dem Laboratorium.
Willi Bendler sank auf einen Stuhl und kratzte sich den Kopf.
«Der Alte ist verrückt«, sagte er nach einer Weile.»Glaube mir, Kummer — der Alte leidet an zu hohem Blutdruck. Fünf Jahre bin ich jetzt hier und merke zum erstenmal, daß Knackfuß auch vernünftig — oder besser, nach seiner Art unvernünftig — reden kann! Und dann der Schlüssel zum Giftschrank! Das verschleierte Bild zu Sais in dieser Apotheke! Mensch, Kummer, Freund — das wird der Alte bis zu seinem Lebensende bereuen!«
Otto Heinrich antwortete ihm nicht, sondern ging still in die Ecke, schloß den Schrank auf und studierte die einzelnen Flaschen, Töpfe, Tiegel und Mörser, die in säuberlicher Ordnung, gepflegt und behütet, in den langen Regalen standen. Auf jedem Etikett stand ein Totenkopf mit dem Wort Gift, während der Grad des Giftes durch besondere Schildchenfarben angezeigt war. Schwarz war demnach das stärkste und gelb das leichteste Gift, und es rann eine große Beglückung durch die Seele des Jünglings, diese Kostbarkeiten als einziger verwalten zu dürfen.
Das Leben eines Apothekers begann nun abzurollen. Wie in der Hofapotheke kamen die Patienten und wünschten dies oder jenes, eine Medizin, eine Farbe, einen Rat auch nur, und das Mischen und Kochen, Wiegen und Schütteln hinter der Holzwand des kleinen Laboratoriums war so gewohnt wie die fast sich immer wiederholenden Bitten der Käufer.
Am Abend, nach dem Abendessen, das wieder gemeinsam eingenommen wurde und bei dem Otto Heinrich die Jungfer Trudel keines Blickes würdigte, sehr zur Freude des Vaters, dessen Gedanken sich aber schon damit beschäftigten, zu ergründen, warum der neue Geselle so ohne Zeichen eines Interesses für seine Tochter sei, gingen Bendler und Kummer noch ein wenig im Garten des Hauses spazieren.
Der Garten, der sich hinter dem Gebäude hinzog und an den Garten des Bürgermeisters stieß, beherbergte in einer Ecke eine hölzerne Laube mit einem in den Boden gerammten Holztisch und einer Rundbank, während eine Öllampe von der Decke hing, deren Schirm schon arg verblichen war.
In diese Laube traten die Freunde, entzündeten sich eine Pfeife mit einem Tabak, den Bendler in seiner Dose anbot, und lustig qualmend sahen sie in den Abend und lauschten auf ein Spinett, das aus dem Fenster des Bürgermeisterhauses tönte.
«Das ist die Marie«, erklärte Bendler und zeigte mit dem Pfeifenstiel in Richtung der schwirrenden Töne.»Eine Freundin der Jungfer Trudel. Netter Kerl, schwarzlockig, sprühlebendig — ein Springbrunnen von einem Mädchen. Was sie über alles liebt, ist Mozart. >Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich…< kann sie stundenlang spielen. «Bendler lachte.»Aber als ich ihr anbot, diesen Wunsch en person zu erfüllen, schalt sie mich mächtig aus!«
«Kann die Jungfer Trudel auch spielen?«fragte Kummer sinnend.
«Ich glaube. Gehört habe ich es nicht. Im Hause ist ja kein Instrument, weil der Alte jegliche Art von Kunst von sich fernhalten will. Es kann aber sein, daß sie bei Marie spielt oder übt.«
«Es wäre schön, wenn sie es könnte. «Kummer träumte ein wenig vor sich hin und spielte mit der Pfeife.»Man könnte dazu singen… das gäbe einen guten Klang. Abends, nach der Arbeit, wenn draußen im Sommer die Grillen das letzte Lied summen, würden dann die Töne des Liedes mit dem Abendwind rauschen.«
«Ihn hat's gepackt!«schrie der Riese auf.»Heilige Einfalt — der Kerl ist verliebt! Habe ich dich nicht gewarnt?! Seit Jahr und Tag geht es so. Ein Geselle kommt, sieht die Jungfer Trudel, schmachtet in der Laube und sitzt am nächsten Tag vor der Tür! Kreuzsakra-mentnochmal — könnt ihr Jammerlappen euer Herz nicht ein wenig in die Hand nehmen! Soll es mit dir genauso gehen? Sieben Gesellen zogen binnen einem Jahr hier ein und zogen umgehend auch wieder hinaus, alle wegen Jungfer Trudel! Und jetzt fängt der Kerl auch an. Lieder am Abend! Spinett. Grillengesang, sommerlicher Abendwind! Mein Gott — laß ihn nüchtern werden!«
Otto Heinrich Kummer schüttelte lächelnd den Kopf. Er legte dem Freunde den rechten Arm um die Schulter und blickte nachdenklich empor an das Dach der Hütte. Tief atmete er auf.
«Es ist nicht Liebe, Bendler, alter Brummbär. Es ist ein bißchen Sehnsucht nach dem Leben, das ich nur in der Fantasie kenne. Ein wenig Träumen nach der Seele, die man so selten findet. Wie könnte ich lieben? Ich, ein Mensch, der nicht weiß, warum er lebt?! Könnte ich lieben, so könnte ich auch das Leben bejahen — aber weil ich das Leben, so, wie es ist, verachte, kann ich auch nicht lieben. «Und leise sagte er:». auch wenn ich es möchte.«
Willi Bendler blickte ihn von der Seite an.
«Hast du einmal etwas von Maltitz gehört?«fragte er.
«Maltitz? Nein.«
«Es ist ein revolutionärer Dichter. Gotthilf August Freiherr von Maltitz, ein feuriger Geist, der kein Pardon mit der Fäule unserer Zeit kennt. Er hat einen Band politischer Gedichte geschrieben. Pfefferkörner nennt er ihn. Und sie sind gepfeffert und gesalzen, daß den Bürgern und Speichelleckern die Augen tränen!«
«Ich habe nie von ihm gehört«, sagte nachdenklich Otto Heinrich.
«Ein Feuergeist, wie ich schon sagte. Man sollte seine Gedichte in aller Munde bringen!«
«Man müßte sie erst lesen«, antwortete Kummer vorsichtig.
«Sollst du, sollst du — ich habe zwei Bücher bestellt. Sie sollen mit der nächsten Post aus Dresden kommen. Selbst in Berlin erregt dieser Maltitz die Gemüter mit seinen spöttischen Liedern, ein zweiter Posa, der das Ideal des Staates aufruft!«
«Es gibt so viele Worte«, sagte Kummer sinnend.»Was die Zukunft braucht, sind Taten!«
«Am Anfang stand das Wort«, sagte Bendler laut.
«Das Wort. Wer hörte auf Schiller? Auf Kleist? Einen Schubart ließ man auf der Festung verfaulen, einen Körner schickte man in die Schlacht, wo er zur rechten Zeit fiel, einen Grabbe verschreit man als irr, und einem Fichte hört man zu wie einem guten Advokaten. Das Volk saugt ihre Worte auf, ja, es wäre bereit, die Fahne der Freiheit selbst in die Hand zu nehmen und die Draperien von überlebten Etiketten zu reißen. Aber sie kommen nicht dazu. Jene, die kraft ihres Namens oder ihres Beutels die Fäden der Völker ziehen, lassen sich nicht bestimmen durch Worte und Gesänge — sie rechnen nur, sie haben das Hauptbuch der Völker aufgeschlagen und addieren und subtrahieren mit der Nüchternheit eines Herrn Knackfuß! Glaubst du, du könntest ihn mit deinem Maltitz bekehren?«
«Ich säße morgen vor der Tür!«
Kummer lächelte.»Was nützt dir da das feurigste Gedicht?«
Der Riese Bendler schien es einzusehen.
Sinnend starrte er vor sich auf den Sand, trommelte mit dem Pfeifenstiel auf seinen breiten Fingernägeln und hatte die Unterlippe nach vorn geschoben, daß sie wie eine Schaukel wirkte.
«So geht das Leben aber nicht weiter«, murmelte er.»Die Französische Revolution fegte die Klassen der Gesellschaft hinweg. Napoleon war ein Rückfall, der den deutschen Geist endlich erweckte — beide starben sie an ihrer inneren Erweichung. Aber was blieb von allem in Deutschland zurück? Lebt der Geist Rousseaus noch? Wo ist die Freiheit des Individuums? — Ich könnte mich übergeben, sehe ich mir den deutschen Bürger an!«
«Wir ändern es nicht«, antwortete Kummer und erhob sich.»Das
Morsche braucht seine Zeit, ehe es zusammenstürzt. Vielleicht Jahrzehnte noch, vielleicht auch Jahrhunderte — das Bürgertum, die sogenannte privilegierte Klasse stirbt aus, und was sich erheben wird, ist das Recht des Menschen auf Individualität und Gleichheit vor dem Rhythmus des Lebens. Was wir können, ist, unser Leben heute schon zu leben zum Trotz der stehenden hohlköpfigen Ordnung der premiere classe!«
Plötzlich drehte sich Kummer um, fegte mit der Hand durch die Luft und lachte dem sinnenden Bendler ins Gesicht.
«Wir sind zwei dumme, lächerliche Träumer, Bendler! Statt den Abend zu genießen, machen wir uns unnütze Gedanken über die Verbesserung einer an sich wertlosen Welt. Komm, Freund — laß uns an der Hecke lieber dem Spiel der entzückenden Marie lauschen. «Er hob leicht die Hand, zeigte zum Nebenhaus und legte den Kopf lauschend zur Seite.»Hörst du — ein Rondo von Haydn. Kunst, lieber Freund, ist doch der einzige Trost in dieser jammervollen Welt.«
«Und gerade die Künstler sterben massenweise an Hunger.«, vollendete Bendler finster den Satz.
Dann traten sie aus der Laube, gingen zur abgrenzenden Hecke und hörten still dem Spiel des Spinetts zu, bis die Kühle der Nacht sie zwang, ins Haus zurückzugehen.
Traumlos schlief Otto Heinrich Kummer diese zweite Nacht in seiner neuen Heimat.
Ein leichter Regen, der in dieser Nacht fiel, trommelte leise an das Fenster der Luke, rauschte in der Rinne und schuf in dem kleinen Raum unter dem Dach die behagliche Wärme des Geborgenseins.
Die Wochen gingen mit angestrengter Arbeit in Apotheke und Laboratorium dahin.
Herr Knackfuß zeigte sich Kummer gegenüber von einer zwar strengen, aber keineswegs unangenehmen oder ungerechten Seite, wie er sie manchmal bei den anderen Gesellen, vor allem bei Bendler, aufsteckte, sondern behandelte den Jüngling mit einer sonst fremden
Höflichkeit. Und doch schien es Kummer, als sei diese ganze Behandlung nur ein Abtasten, ein Abwarten, eine Stille vor einem gewaltigen Sturm, ein Spionieren nach der schwachen Stelle, wo Knackfuß ihn tödlich treffen konnte.
Da er dieses Gefühl nie los wurde, lag er beim Eintritt des Chefs und bei den gemeinsamen Mahlzeiten ständig wie ein Raubtier auf der Lauer und vermied alles, was ihm eine Blöße geben konnte. Das Gefühl, in einer neuen Heimat zu sein, wich deshalb auch sehr bald dem zähen Gedanken eines unterirdischen Kampfes, eines Postenstehens, das ermüdet und hart im Herzen macht.
Mit Jungfer Trudel hatte er in den vergangenen Wochen nicht wieder gesprochen, sie höchstens lässig gegrüßt, wenn er ihr auf der Treppe oder im Laden begegnete. Auf die an einem Abend plötzlich hervorgeschossene Frage Knackfußens, was ihm an seiner Tochter mißfiele (denn der Stolz des Vaterherzens hatte durch die lang ersehnte hochmütige Behandlung seiner Tochter unmerklich einen starken Stoß erhalten), entgegnete ihm Otto Heinrich klug, daß sein Herz an ein Mädchen in Dresden bereits gebunden und es nicht Sitte sei, dann noch andere Jungfern mit schönen Blicken zu bedenken.
Wenn Knackfuß diese Antwort auch nur halb gelten ließ und instinktiv fühlte, daß es ein Ausweichen war, hob sie doch den jungen Provisor sehr in seiner Achtung, und er schrieb an den Herrn Münzmarschall nach Dresden einen Brief, daß er mit dem Herrn Sohn sehr zufrieden sei und sein Können nicht überschätzt wurde.
Willi Bendler war in den Wochen ziemlich still geworden, wenn er außerhalb der Ladentheke und des Gesichts der anderen Kollegen war. Mit Kummer hatte er in letzter Zeit manche besinnliche Stunde, die immer um den Gedanken kreiste, auszubrechen und als Gegner der gesellschaftlichen Ordnung ein Märtyrer der Idee zu werden!
Wenn dann am Abend die wilden Herbstwinde um das Dach stöhnten und die Schindeln klapperten, saß er oft auf dem Rand seines Bettes, angetan mit seinem überdimensionalen Nachthemd, und philosophierte von der Freiheit der Menschen und kam zu keinem Entschluß, weil — wie er sagte — sein Vater nur ein kleiner Dorfschullehrer und kein Minister war.
Sonst ging das Leben ziemlich still seinen altgewohnten, gut eingespielten Verlauf. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger und die Herzen schwerer, wenn die dunklen Wolken von den Bergen herniederstiegen.
An einem Sonntag war es, als Otto Heinrich Kummer sich einen Tagesurlaub erbat und eine kleine Reise nach Augustusburg unternahm, einem alten, herrlichen, weiten Schloß auf den Höhen des Erzgebirges, dem Sitz des Freiherrn Ritter von Günther, einem Kämmerer des Königs und Freund des Staatsministers.
In dem kleinen Ort Augustusburg, das am Fuße des Burgberges lag, wohnte eine Tante Otto Heinrichs, und um diese zu besuchen, klapperte er mit einem Bauernfuhrwerk durch die Schluchten und Hohlwege und scheute nicht die beschwerliche Fahrt durch das Gebirge.
Nachdem er seinen schicklichen Besuch gemacht und alle Grüße ausgerichtet hatte, spazierte er den Burgberg hinauf, umging das mächtige Schloß und bewunderte die schönen Bildhauereien der Toreinfahrt, sprach mit der kostbar uniformierten Wache einige freundliche Worte und ließ sich von dem Leben des üppig hausenden Freiherrn von Günther berichten, dann ging er in den nahen Park, setzte sich auf eine Steinbank nahe des Steilhanges und blickte hinab auf den kleinen Ort und das Flüßchen Zschopau, das den Flecken durchfloß.
Ganz sich der Ruhe hingebend, lehnte er an den kühlen Stein der Bank, als er bei einem Seitenblick über den weiten Platz hinter der Burg in einer Steingrotte einen Mann sitzen sah, der in einem auf seinen Knien liegenden Buch las. Ein Zierdegen mit vergoldetem Korb hing an seiner Seite, und das gepflegte Haupthaar sowie die von einem ersten Schneider gefertigte Kleidung ließ einen wohlhabenden Mann erkennen. Die langen, etwas knochigen Hände blätterten die Seiten des Buches wie in Gedanken um, während die Augen unter den buschigen Brauen in dem asketischen Gesicht beim Lesen fast geschlossen waren.
Die merkwürdige Erscheinung des Fremden zog den Jüngling ungemein an.
Er konnte nicht sagen, was ihn an diesem Manne interessierte, denn sein Äußeres war weder schön noch häßlich, sondern von jener Allgemeinheit, die nirgends auffällt. Und doch strömte die Ruhe und das ganze Bild dieses lesenden Mannes in der Grotte eine solche Macht auf Otto Heinrich Kummer aus, daß er sich unwillkürlich erhob und dem Manne näher trat.
Um ihn nicht zu brüskieren, ging er erst ein paarmal um die Grotte herum, betrachtete dann ein Steingebilde am Eingang und trat schließlich näher, als wolle er das Innere besichtigen.
Als sein Schatten auf das Buch fiel, blickte der Leser auf, und ein forschender, heller Blick traf den vermessenen Jüngling.
«Pardon«, murmelte Kummer und zog seinen Hut.»Ich wollte Sie nicht stören.«
«Was mich allein stört, ist, daß Sie sich als Deutscher auf französisch entschuldigen«, antwortete ihm der Fremde mit einer dunkel klingenden, weichen Stimme.
Er klappte das Buch zusammen, legte es zur Seite und musterte von unten herauf den verlegenen Apotheker.
Ein Lächeln flog einen Augenblick über seine harten Züge.
«Belustigen Sie sich auch an dem Völkertreiben des Herrn von Günther?«fragte er nach einer kleinen Weile des Schweigens.»Die Bauern im Tale hungern — aber dem Herrn Ritter von Günther müssen sie die Hühner bringen!«
«Es ist vielleicht sein Recht«, wagte Kummer zaghaft einzuwenden, obgleich er keinerlei Lust empfand, den unbekannten Edelmann zu verteidigen. Nur etwas sagen wollte er, um die Pause der Verlegenheit zu überwinden.
Der Fremde neigte ein wenig den Kopf auf die Seite und schlug mit der Faust der rechten Hand in die flache Linke.
«Recht! Fragt heute jemand noch, was Recht ist? Tut es der kleine Mann, so ist es Revolte, tut es der große Mann, so ist es Gesetz — tut es aber der Aristokrat, so ist es eine Regierungsbildung! Es ist das Recht der Bauern, zu verhungern, weil es das Recht des Herrn von Günther ist, sie auszusaugen. Das ist eine praktische Kausalität, eine Logik, an der die alten griechischen Philosophen scheiterten. Eine solche Auslegung des Rechts konnte weder der Humanismus noch der Absolutismus, noch die Französische Revolution verbessern. Und da sprechen Sie vom Recht, junger Mann!«
Die Art zu sprechen zog Kummer ungewollt an. Er setzte sich neben den Fremden auf die Steine der Grotte und stützte sich auf seinen Stock.
«Verzeihen Sie, wenn ich eine Frage an Sie richte«, sagte er mit Betonung.
«Bitte.«
«Was halten Sie vom Recht des Individuums?«
«Nichts! Denn es muß erst geboren werden.«
«Und wenn es geboren ist?«
«Dann wird es nicht wirksam sein, weil die Masse nie stärker wird als der Kopf des Staates. Man redet heute viel von einer Demokratie. Volksrecht nennt man es, Volksvertretung, Volksherrschaft, die höchste Staatsgewalt geht vom Volke aus! Lassen Sie mich lachen, junger Freund — oder glauben Sie wirklich, daß im Jahre 1834 eine Demokratie möglich ist? Bei dem Königtum!«
Er schüttelte den Kopf und steckte das neben ihm liegende Buch in die Rocktasche.
Kummer sann einen Augenblick vor sich hin, ehe er eine Antwort gab. Dann sagte er langsam und bedächtig:
«Ich glaube, daß diese Welt einmal untergeht, weil sie sich überzüchten wird!«
«Und diese Überzüchtung beginnt bei der Vormachtstellung des Intellektualismus!«rief der Fremde laut und leidenschaftlich aus.»Junger Freund, Sie haben einen guten Gedanken gefaßt! Überzüchtung! Das ist es! An ihr starben Ägypten, China, Karthago, Rom, Griechenland, die Phönizier und Perser. Überzüchtung ist der Untergang aller Völker gewesen — der geschichtliche Untergang, von dem es keine Erholung gibt. Wehe dem Deutschland, das einmal so herrisch ist, sich übervollendet zu nennen! Er könnte sterben, ohne die Auferstehung der schöpferischen Kräfte nochmals zu erleben!«
Otto Heinrich Kummer hatte mit leuchtenden Augen zugehört. Jetzt ergriff er in einer freudigen Aufwallung die Hand des Fremden und drückte sie.
«Sie sprechen die Wahrheit, Herr. Sie sprechen mir aus der Seele. In langen Nächten habe ich gegrübelt, ob ich wohl einen Menschen finde, der mich versteht. Ich ging nach hier in die Verbannung, weil ich angeblich träumte, ich nahm das schwerste Los auf mich — die Heimatlosigkeit und Einsamkeit —, und ich finde auf der Augustusburg einen Menschen, der mit mir eines Gedankens ist!«Er ließ die Hand los, verbeugte sich und sagte:»Gestatten Sie mir, daß ich als der Jüngere meinen Namen nenne: Otto Heinrich Kummer aus Dresden, weiland Apotheker in Frankenberg.«
Der Fremde nahm seinerseits den Hut von den schon leicht ergrauten Haaren, verbeugte sich leicht und antwortete:
«Ich danke Ihnen, junger Freund. - Von Maltitz.«
Mit aufgerissenen Augen prallte Kummer zurück.
«August Freiherr von Maltitz«, stammelte er.»Der Dichter der Pfefferkörner?!«
«Setzt Sie das so in Erstaunen? Die meisten verlassen meine Nähe, wenn sie meinen Namen hören. Mein Name hat für das Bürgertum und die Aristokratie etwas wie den Pestgeruch an sich. «Er lachte schallend, indem er seinen Hut wieder aufsetzte und einige Schritte aus der Grotte trat.»Da Sie den ersten Schreck überwunden haben, lieber Herr Kummer, werden Sie mir einen kleinen gemeinsamen Spaziergang wohl nicht abschlagen?«
«Ich wüßte nicht, was mir eine größere Ehre wäre.«, stammelte der erfreute und im ersten Augenblick betroffene Jüngling.
«Bitte, werden Sie jetzt nicht konventionell«, rief Herr von Maltitz ernst.»Sprechen Sie so weiter wie bisher. Ich hasse billige Konventionen und gelernte Moralsprüche. Denken Sie an Luther: Man muß dem Volke aufs Maul sehen! Maul sagte er, nicht Mund oder gar Lippen. Plebejisch Maul! Das ist eine Visitenkarte für den ganzen Mann, den ich für den größten Revolutionär seit Christus halte!«
Langsam schritten sie nebeneinander durch den Park und verließen den Komplex der weitausladenden Augustusburg. Unter hohen Tannen wandelten sie in den trüben Oktobertag hinein, bis sie an einer Quelle, die aus einer Felsspalte unterhalb des Schloßparkes entsprang, anhielten und sich auf die Stöcke stützten.
«Denken Sie nicht«, nahm Maltitz die Unterhaltung wieder auf, die den Weg über geruht hatte,»daß ich Ihnen Unterricht in der Behandlung neuer Lebensformen geben möchte. Nichts liegt mir ferner als das! Aber es ist wohltuend, auch für mich, einmal einen Menschen aus der Zukunft Deutschlands zu sprechen, der nicht auf dem Boden des billigen Hurrapatriotismus steht. Für diese Jugend habe ich meine >Pfefferkörner< geschrieben und mein Drama >Schwur und Rache<. Nicht Rache an der Borniertheit dieser Spießer, sondern Rache an dem absolutistischen, ekelhaft nationalen deutschpreußischen Geist, den der sogenannte Befreiungskrieg erst richtig entfesselte und zu einer geschichtlich lächerlichen Manie werden ließ. Auch Kleist überwand ihn nicht — er war mehr sein Verfechter auf idealer Basis. Aber mit diesen Idealen baut man keine neue Weltanschauung! Das nämlich ist der Grund allen modernen Staatswesens: Wir müssen lernen, die Welt und ihre Gesetze anders zu schauen — wir müssen eine Weltanschauung haben, eine objektive Sicht unserer Grenzen und Pflichten. Wir müssen aus dem kreisförmigen Denken heraus in ein flächenförmiges Denken übergehen. Wir dürfen nicht sagen: hier Deutschland — dort Frankreich oder England oder Belgien! Wir sind eine europäische Gemeinschaft, eine große Schicksalsgemeinschaft, die einmal an ihrem Rubikon stehen wird! — Das wollen die Herren in Berlin und Dresden, München und Stuttgart und wo sie alle residieren, nicht wissen. Das sehen sie in ihrem Serenissimustum nicht ein, denn noch steht ihr Thron und gibt es Mätressen genug, die ihnen den realen Sinn umnebeln. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß auch Rom und Griechenland, Weltreiche wie die der Pharaonen und der Chinesen einfach untergingen und geschichtlich starben mit allen Werten ihrer hochentwickelten Kultur, weil sie von innen heraus verfaulten an der Trägheit einer sich von Fall zu Fall wandeln müssenden Anschauung des gemeinsamen Schicksalsraumes — eben der Welt!«
Herr von Maltitz schwieg und fing mit der Hand spielerisch einige Wassertropfen auf, die von der Felsenquelle zu ihm emporspritzten. Otto Heinrich Kummer, der der Rede mit wachsendem Erstaunen und fiebernder Begeisterung gefolgt war, stieß nun den Stock in den Rasen und lief vor der Quelle hin und her.
«Alles Worte, Worte — Herr von Maltitz! Sie dringen nicht tief genug in das Volk, um es aufzureißen. Ich habe mit meinem Vater schon einen Disput über dieses Thema gehabt. Er nannte mich einen billigen Schwätzer und drohte mir mit einer Verbannung, wenn ich in seinem Hause weiter solche Revolten anzünde.«
«Ihr Herr Vater?«Maltitz betrachtete Kummer von der Seite und wiegte den Kopf.»Aus Dresden kommen Sie? Ich kenne in Dresden nur einen Kummer, der einen solchen Sohn hervorbringen könnte.«
«Mein Vater ist Benjamin Kummer, der.«
«Natürlich — der Münzmarschall!«rief laut lachend Herr von Maltitz.»Wie konnte ich nicht von Anfang an darauf kommen?!«Er trat an den jungen Apotheker heran und legte ihm die Hand auf die schmale Schulter.»Allerdings — bei einem solchen königstreuen Beamtenvater haben Sie es schwer, die neue Zeit zu proklamieren. Wer kennt in Dresden nicht den Münzmarschall Kummer! Man darf ihm seinen Patriotismus nicht verübeln. Ein Mann, als Mensch ebenso groß wie als Künstler, wuchs er in dieser strengen Atmosphäre auf und kann die Haut nicht wechseln, ohne sich selbst aufzugeben. Die Hochachtung des Alten und Erprobten ist der letzte Halt seiner Sittlichkeit als Beamter. Das ist selbstverständlich. Um so schwerer wiegt es, daß sein Sohn ein Sucher ist, ein Tastender, ein Rufer.«
«Und ein Einsamer«, fiel Kummer ins Wort.»Ein grenzenlos Einsamer, Herr von Maltitz.«
«Das sind wir alle, wir Glücksucher für die Menschheit. Oder kennen Sie einen Propheten, dem das eigene Volk zujubelt? Wie sagt doch Kleist? — Das Leben nennt der Derwisch eine Reise. Mein lieber Kummer, in dieser Kutsche sitzen wir nicht auf weichen Polstern!«
«Aber manchmal wird es unendlich schwer, ein Ausgestoßener der Gemeinschaft zu sein.«
«Es ist das Los aller Gladiatoren, ob in der Arena oder auf dem schlüpfrigen Pflaster der Politik. Das >Ave, Imperator, morituri te salutant< wird unsterblich sein, wie das >ecce homo< des Christentums! Daran müssen Sie sich gewöhnen, junger Freund — man kann nur Großes schaffen, wenn man Feinde hat, die einen zur doppelten Kraft anspornen. Und allein an der Masse der Gegner erkennt man, wie weit oder wie nahe man dem Ziele ist. Wenn eine ganze Welt gegen einen steht, kann man sicher sein, den Sieg bald errungen zu haben. Das ist das merkwürdige Gesetz dieses kosmischen Planeten: eine Größe wird erst groß durch Verdammnis!«
Mit einem resignierenden Achselzucken bedeutete Maltitz, daß er das Thema für beendet betrachtete, und wandte sich ab, hinab ins Tal nach Augustusburg zu gehen.
«Ich darf Sie doch für den heutigen Tag als meinen Gast betrachten, Herr Kummer«, sagte er, und als er sah, daß der Apotheker zögerte, machte er eine wegwischende Handbewegung und fügte seiner Einladung hinzu:»Mir schwant, daß wir manches noch zu bereden und uns noch von mancher Seite zu beschnuppern haben. Das kann am tröstlichsten geschehen bei einer Flasche Wein und einem dicken Kotelett. «Und mit einem dionysischen Lächeln zwinkerte er Otto
Heinrich zu.»Merken Sie sich eins, junger Freund — man darf über alle Ideale nicht die schönste aller Realitäten vergessen: das Essen!«
Lachend und in angeregtem Gespräch stiegen sie den Burgberg hinab und kletterten auf steilen Bergwegen durch dichte Tannen hinunter in die Stadt, überquerten das Flüßchen auf einer mäßig geschwungenen Steinbrücke und schritten durch die schmucke Hauptstraße dem Hause des mit alten Sprüchen verzierten Ratskellers zu.
Dort trafen sie ein, suchten sich einen Tisch in einer der holzgetäfelten Ecken, bestellten bei der drallen Kellnerin einen halben Liter Wein und zündeten ihre Pfeifen an, es sich in dem behaglichen Raum gemütlich zu machen.
Als der Wein in einer Karaffe auf dem Holztisch stand und der erste Schluck probiert war, lehnte sich Maltitz weit in seiner Bank zurück und blies den dicken Rauch aus seiner Pfeife gegen die mit breiten Balken verzierte, hölzerne Decke.
«Wir haben beide nicht erwartet, heute noch in Augustusburg eine angeregte Stunde zu verbringen«, sagte er.»Am allerwenigsten ahnte ich, daß ich einen jungen Menschen treffe, der, aus einem inneren Drang heraus, selbständig denkt. Das tun nämlich heute die wenigsten. Sie glauben, was ihnen von oben herab in die Ohren geblasen wird, und bekränzen die Dummheit, wenn sie laut genug schreit.«
Er nahm das Glas auf, trank einen kräftigen Schluck, kaute den Wein ein wenig, wie es Kenner bei einem guten Tropfen lieben, und lehnte sich dann wieder zurück.
«Die Literatur hat mir den Krieg angesagt. Meine Dramen >Schwur und Rache<, >Hans Kohlhaas< — nach der Kleistschen Geschichte — und >Oliver Cromwell< möchte man am liebsten von der Liste streichen, weil der Atem der Revolution in ihnen weht. Die >Pfefferkörner< und die humoristischen Raupen< liegen den Herren wie ein Stein im Magen! Als ich in Berlin einmal bei der Aufführung von >Schwur und Rache< trotz des königlichen Verbotes die vom Zensor gestrichenen Stellen doch spielen ließ, wurde ich des Landes verwiesen und mußte nach Dresden ziehen!«Er legte die Pfeife auf den Tisch und faltete die Hände über der Jacke.»In Deutschland einen Zensor! Das ist die royale Freiheit! Die Polizei auf der Bühne, der Knüppel des Gesetzes in der Literatur! Ist nicht die Kunst, ganz gleich, in welchen Formen sie auch auftritt, frei und darf gestalten, was das Individuum ergreift?! Wenn der Staat nicht stark genug ist, sich gegen eine Kritik zu schützen, wenn ein Staat nichts anderes kann, als mittels eines Dogmas die Opposition auszuschalten, ein solcher Staat ist reif, daß er zusammenbricht. Das wahre Glück der Völker beginnt bei dem Recht der freien Wahrheit. Nur der ist ein guter Herrscher, der die Wünsche und Klagen der Masse erhört und aus ihnen lernt. Wir alle sind ja nur Lehrlinge auf dieser Erde, Unfertige, die nie fertig werden, denn es ist das Schicksal des Menschen, stets an der Schwelle der Erfüllung zu sterben. Gibt es aber einmal einen Menschen, der von sich sagen kann: Seht, ich bin so weit, daß ich mir Erde, Himmel und selbst Gott unterordnen kann — so wird er an der eigenen Größe ersticken und wie der Turm zu Babel durch das eigene Gewicht zusammenstürzen!«
Er schwieg und blickte sinnend in das halbgeleerte Glas.
«Ich habe das in alle Lande laut hinausgerufen. Glauben Sie, lieber Kummer, die Menschen haben mich verstanden? Sie sehen nur die gefüllte Speisekammer und schreien Hurra und Vivat, wenn die goldene Staatskalesche durch die Straßen rattert. Mich nennen sie«-er lächelte schwach —»einen Dilettanten! Das ist die bequemste Art, einen Menschen zu ignorieren. Dilettantismus ist etwas Schreckliches! Wenn Sie nur einmal einen dramatischen Verein oder eine Dichterlesung der Literaturfreunde miterlebt haben, wünschen Sie sich Dantes Inferno in diesem Kreise der Aftertalente. - In diese Gruppe hat mich die moderne Literatur kategorisiert. Sie glaubt mich damit totzuschweigen. Aber die Pfefferkörner sind in ihren monarchensüßen Teig gestreut, und Pfeffer neben Zucker ist kein gutes Konglomerat.«
Otto Heinrich Kummer hatte bisher, ohne Maltitz zu unterbrechen, mit fiebernden Augen zugehört. Jetzt, in der kleinen Atempause, rief er laut:
«Und ist keiner da, der zu Ihnen steht, Herr von Maltitz?!«
«Wenige, lieber Kummer. Man scheut sich, mit mir in den Bann zu treten. Man achtet die gesellschaftliche Hohlheit höher als die Freiheit des Geistes von morgen!«
«So lassen Sie mich einer Ihrer Freunde sein«, rief der junge Apotheker mit leuchtendem Blick.»Ich habe nichts zu verlieren, nur zu gewinnen! Ich spüre es, daß Sie genauso einsam sind wie ich. Daß Sie allein stehen, weil Sie sich nicht beugen können vor dem, was Ihr Geist nicht anerkennt. - Nehmen Sie meine Hand«- er streckte ihm die Rechte hin —,»Sie sollen in mir einen Genossen haben, dessen glühende Liebe zur Freiheit und Kunst nie erlischt.«
Die schwärmerische Rede des Jünglings entlockte dem Dichter ein gütiges Lächeln. Aber mit einer freudigen Bewegung schlug er in die dargebotene Hand ein und drückte sie in aller Herzlichkeit.
«Mein lieber Kummer«, sagte er dann,»es sind nicht die schlechtesten Bünde, die zwischen Überschwang und Bedacht geschlossen werden. Lassen Sie uns das kleine Fest feiern und unter der Burg eines der Tyrannen mit kräftiger Lunge unseren neuen Kommers singen!«
Mit einem Schwung schob er die Karaffe zur Seite, klopfte mit dem Pfeifenkopf auf die Tischplatte und rief:
«He — Bedienung!«Und als sich der Kopf der Kellnerin hinter der Theke zeigte, lachte er.»Holdes Wesen — fahrt Wein und guten Brand auf!Laßt Euch nicht lumpen mit Eurem Keller — heran, wir sind durstig und haben einen sonnigen Tag zu feiern!«
Nachdem der Wein in verstaubten Flaschen aus dem Keller auf den Tisch getragen war, begann eine lustige Becherei, die Maltitz mit schnurrigen Versen und Erzählungen zu würzen verstand. Der Abend war unterdessen hereingebrochen, und der Ratskeller füllte sich mit den biederen Augustusburger Bürgern, denen die lustige Gruppe in der Ecke auffiel und ein wenig Neid erweckte beim An-blick der bestaubten Flaschen.
So füllte sich der Raum mehr und mehr, dichter Tabaksqualm nebelte bald die weite Sicht ein, bis es schier unmöglich war, die Theke aus der Ecke noch zu erkennen, während die Stimmen lauter und die Bewegungen schwerer wurden, denn der Ratswirt zapfte einen guten, gegorenen Tropfen und einen höllischen Brand.
«Die Bürger von Augustusburg mögen leben!«rief Herr von Maltitz plötzlich laut in den Raum hinein. Und als sich alle Köpfe wie an einem Zugband zu ihm umwandten, hob er sein Glas und prostete ihnen zu.
«Beim guten Wein läßt sich's gut leben!«rief eine Stimme aus der Menge, und helles Gelächter flatterte auf.
«Der Wein ist für jeden!«rief Maltitz zurück.»Wer mein Freund ist, komme heran und trinke mit uns! Wer aber ein blöder Spießer ist, der verlasse den Keller!«
Ein Bürger will nie ein Spießer genannt werden, wie es ja überhaupt wenige Leute gibt, die ihren richtigen Namen zu schätzen wissen. So kamen denn auch etliche Ehrenmänner an die Ecke heran, schoben ihren Stuhl an den Tisch der beiden und griffen ungeniert zum Weine. Selbst der Bürgermeister von Augustusburg, der sonst streng auf die Wahrung der Distanz sah, ließ sich die Chance nicht entgehen, einen sonst nur im Traum erahnten Tropfen aus der Flasche zu genießen, und rückte keck neben den Herrn von Maltitz, der sich, der Ehre nicht bewußt, bezecht an ihn lehnte.
«Meine Freunde!«hob er zu sprechen an.»Wir sind zwei fahrende Gesellen. Scholaren der Politik, Magister des Wortes und Famuli bei den Künsten der Musen!«Er zeigte auf Otto Heinrich Kummer und klopfte dem leicht Schwankenden auf die Schulter.»Mein junger Freund hier ist ein Dichter. Vor einer Stunde hat er mir's gestanden! Wohlan, Kollege — eine Probe wollen diese Herren hören!«Und als sich Kummer sträubte, hieb Maltitz die Faust auf den Tisch und schrie:»Ist keiner unter euch, der diesen Dichter bittet, uns zu erfrischen?!«
Während die Freunde noch miteinander verhandelten, wer zuerst auf den Tisch steigen solle und seine Verse vortrage, trug der Ratswirt Krug um Krug in die nun weite Runde und trug mit ihnen eine dicke Trunkenheit in die Gehirne der vergnügten Zecher.
«Zuerst der Junge!«rief der Bürgermeister.
«Siehst du«, sagte Herr von Maltitz.»Der Bürgermeister sagt es auch!«
«Was soll ich denn deklamieren!«rief der junge Kummer.»Ich habe doch nur ernste Lieder!«
«Was, ernst?!«Ein dicker Mann — es war der Schmied — donnerte seine Stimme durch den Qualm.»Ein Trinklied, Bürschchen, oder ich hole den Amboß und schlage so lange den Takt, bis dir ein Ver-schen kommt!«
«Ein Trinklied!«johlte die Menge.»Ein Trinklied!«
Und Maltitz stand schwankend auf, zerrte Kummer mit sich empor und schrie:»Ein Trinklied! Ein Trinklied!«
Ehe es sich der Jüngling versah, stand er schon auf dem Tisch, umringt von einer johlenden, rauschenden, trunkenen Menge, von dicken, glänzenden Gesichtern, wässerigen Augen und blauen Nasen, fleischigen Händen und dröhnenden Stimmen. Und während er sich noch besann, sammelten sich die Stimmen zu einem grölenden Chor und brüllten:
«Ein Trinklied! Hussei! Ein Trinklied! Ein Trinkliiiied!«
Da hob Kummer die Hand. Von irgendwoher warf man ihm eine Laute in den Arm, er preßte sie an seine Brust, schlug die Saiten laut zu einem Akkord und begann dann, so, wie ihm die Verse wie ein Kobold in den Mund sprangen, zu singen:
«Freunde, laßt uns heut vergessen, was im Herz uns schmerzhaft rührt, laßt im Punsche uns vermessen suchen, was die Freude spürt!
Greift mit kühner Hand zum Becher, dieser Griff sei euch erlaubt,
selbst der ält'ste Herzensbrecher wird im Rebensaft entstaubt!
Hoch die Gläser, hohl die Kehlen, trinkt, o trinkt, eh es zu spät, jeder Tropfen wird euch fehlen, wenn's juchhei zur Hölle geht.
Hoch die Gläser, hohl die Kehlen, schüttet, Freunde, haltet Schritt — ich versprecht' euch: wenn ich sterbe, nehm' ich meinen Becher mit!«
«Das nenne ich ein Trinklied!«schrie Maltitz, als Kummer die Laute in die klatschende Menge warf und mit einem großen Sprung vom Tisch setzte.»Das nenne ich Feuer im Blut. Trinklied, beim Punsche zu singen — Otto Heinrich, Freund, Bruder auf den Wegen der Verachtung — das ist der rechte Geist: vom Scherze singen, während Tränen in der Kehle drücken. «Er riß den Jüngling in seine Arme, drückte ihn an seine breite Brust und streichelte ihm über das blonde Haar, während die betrunkenen Bürger lärmend und lachend umherstanden und das Sichfinden zweier Seelen mit einem plumpen Scherz verwechselten.
«Noch ein Lied!«grölten sie und trommelten mit den Fäusten den Takt auf die Tische.
«Noch ein Lied!«brüllte der Schmied.»Zur Hölle geht's ja allemal! Da hat er recht! — Ein Lied!«
Doch Kummer schüttelte den Kopf und sah Maltitz flehend an.
Maltitz verstand, warf einen Säckel mit Geld auf die Theke, schob den Apotheker zur Tür, riß sie auf, daß die kühle Luft der Herbstnacht in den Qualm und Weindunst der Wirtschaft schoß und die blauweißen Schwaden zu brodeln und kreiseln begannen, und wandte sich dann an die nachdrängenden, protestierenden Bürger:
«Freunde«, rief er.»Genug des Singens! Nur selten leuchtet ein Genie auf — es ist ein Stern, der sparsam mit dem Licht ist!«Und als er sah, daß diese Rede an den stieren Augen, offenen Mündern und rülpsenden Kehlen vorbeiging, schrie er:»Sauft weiter! Noch ist's nicht Morgen! Wir geh'n nur einmal um das Haus und kommen dann wieder!«
«Ein Lied will ich haben!«brüllte der Schmied.»Ich lege euch über den Amboß — beim neunzigschwänzigen Satan —, ich will ein Lied!«
«Sing dir's allein!«lachte Maltitz zurück, während er Kummer durch die Tür ins Freie schob.»Oder besser: singt alle!«Und er sang laut:
«Wirt, ein Glas her! Wirt, 'ne Flasche, meine Kehle ist schon wund, zapft vom Faß mir die Karaffe, gebt mir einen Schlauch zum Mund…«
Mit lautem Grölen fielen die Bürger von Augustusburg ein, hieben auf die Tische, umarmten sich und schrien, an der Spitze der Wirt und der Schmied, deren mächtige Bässe wie Orgelpfeifen die Runde übertönten. Mit den Füßen den Takt stampfend, ließen sie die Kanne von Mund zu Mund gehen und jagten die Kellnerin hin und her.
Maltitz war währenddessen dem Freunde gefolgt, faßte ihn nun unter und ging mit ihm durch die kühle, frische Nacht.
Hinter ihrem Rücken klang schwach der Rundgesang aus der Wirtschaft, vor ihnen strahlte mit Hunderten Lichtern die Augustusburg auf ihrem mächtigen Felsen, und vom sternenklaren, glitzernd übersäten Himmel drang beängstigend sanfter Frieden in die Seele der beiden Wanderer.
«Ich habe Ihnen eine schöne Nacht und einen noch schöneren Tag zu danken«, sagte Kummer nach langer Schweigsamkeit.»Ich nehme die Nachtpost, Herr von Maltitz — ich muß morgen frisch im Laboratorium stehen.«
«Nicht Sie dürfen mir danken, bester Freund«, erwiderte Maltitz und legte seinen Arm um Kummers Schulter.»Sie haben mir für wenige Stunden die Lust zum Leben gegeben. Ihre Jugend, Ihr Glau-be an das Kommende, Große, Ewige, Menschliche hat auch mich entzündet. Dafür muß ich Ihnen danken… denn es ist viel, sehr viel…«
Vor dem Rathaus, wo die Nachtpost wartete, drückten sie sich lange die Hand und sahen sich tief in die Augen.
«Leben Sie wohl«, sagte Kummer mit belegter Stimme.»Ich werde im Geiste stets bei Ihnen und Ihrem großen Werke sein.«
«Auf Wiedersehen«, antwortete Maltitz leise.»Ja, auf Wiedersehen… mein Freund Kummer.«
Rasselnd verschwand die Kutsche in der Dunkelheit.
Das Leben in Frankenberg ging seinen altgewohnten, streng dem Gesetze des Berufes vorgeschriebenen Gang.
Nach seiner Rückkehr aus Augustusburg hatte Otto Heinrich es vermieden, mit Bendler in eine neue Aussprache zu kommen, sondern in dem unerklärlichen Gefühl, daß sein Weg in die Freiheit nicht über die Verachtung des Individuums, sondern über das dichterische Wort eines aufreißenden und mahnenden Vorbildes des Ichs führte, schaute er oft mit einer Art Angst und Mitleid auf den riesigen Freund, wenn Bendler verbissen und mit den Fingern an die Scheibe trommelnd am schmalen Fenster stand und in die Weite starrte.
«Man ist wie ein Tier«, sagte er einmal in einer solchen Stunde.»Wie ein Tier, das die Freiheit kennt, aber hinter Gittern bleibt, um das pünktliche Fressen nicht zu verlieren.«
Otto Heinrich vermied es, darauf eine Antwort zu geben. Doch in der Stille verstanden sie sich besser und fühlten, daß ihr Ziel das gleiche war, nur, daß der eine den Menschen verachtete und der andere als letzte Rettung seiner Seele ihn suchte und rief.
Mit Jungfer Trudel kam der junge Apotheker seit der Begegnung in dem Wäldchen nicht mehr zusammen. Tunlichst vermied er alle Möglichkeiten, sie allein zu treffen, schickte einen Lehrling in die
Küche, wenn er etwas Feuer oder Kohlen für das Laboratorium brauchte, und nur bei Tische, wenn alle Gesellen vor den Blicken Knackfuß' sich verkrochen, sah er ihre dicken, blonden Flechten und starrte gesenkten Kopfes auf den Teller, um ihre Augen nicht zu sehen und die große Frage, die Willi Bendler mit einem halb verlegenen, halb hilflosen Grinsen ablas.
Und doch verging kein Tag, an dem Otto Heinrich nicht an einem der Fenster in der Apotheke oder im Laboratorium stand, hinaus auf die Straße blickte und wartete, bis Trudel aus dem Hause trat, den Einkaufskorb am geflochtenen Henkel um den linken Arm gehängt, und über den Markt ging. Dann sah er ihr mit seinen großen, sehnsüchtigen Augen nach, bis sie im Gewühl der Marktgänger verschwand oder sich die Tür eines Geschäftes hinter ihrer schlanken, in einen pelzverbrämten Mantel gehüllten Gestalt schloß.
Mit einem müden Lächeln, manchmal auch mit einer zitternden Bewegung seiner Hand über die blonde Locke über seiner Stirn, wandte sich dann Otto Heinrich wieder den Kolben und Tiegeln zu und schaute auch einmal mit einem schaudernden Gedanken auf die schwarzen Totenköpfe der Giftflaschen in dem hohen Schrank, um sich dann mit einem Seufzer abzuwenden und in das brodelnde Kochen seiner Säuremischungen zu starren.
Von diesen Augenblicken des täglichen Wartens und Sehnens ahnte weder Willi Bendler noch Jungfer Trudel etwas.
So kam der trübe, grau verhangene Tag, an dem der erste Schnee sich über die Berge ins Tal wagte, das Städtchen in der Senke wie in Watte packte und eine sanfte Stille von den kahlen, weißen Wäldern durch die Straßen kroch. In den Zimmern der geduckten Bürgerhäuser, in deren Außenschnitzereien sich der Schnee zu kleinen Puppen backte, krachten die Scheite in den breiten Kaminen, die Vorstimmung des nahen Festes trug in die Augen jenen warmen Glanz, den Menschen haben, wenn sie fühlen, daß sie glücklich sind, und in der Apotheke wurden Watte und aus dünnstem Glas geblasene, bemalte Kugeln mehr gefragt als Magenpflaster, Hustensaft oder Salbe gegen frosterstarrte Glieder.
An diesem ersten Tage des ersehnten Schneefalls rief Herr Knackfuß um die Mittagszeit Otto Heinrich Kummer in sein kleines, hinter dem Laden gelegenes Kontor. Mit der leisen Scheu, die der junge Apotheker immer fühlte, wenn ihn sein Herr für ein paar Worte zu sich bat, ging er durch das langgestreckte Laboratorium, verzögerte bei Willi Bendler etwas seinen Schritt, wollte ein Wort, vielleicht nur einen Anruf sagen, schüttelte dann aber den Kopf und trat hinaus auf den kleinen Flur, der zwischen Kontor und Apotheke lag.
Als er nach einem leisen Klopfen und einem energischen» Herein!«in das Zimmer trat, schritt Herr Knackfuß mit weiten Schritten durch den Raum, beide Hände gekreuzt über den Rücken gelegt. Er bot Otto Heinrich einen Platz neben seinem Schreibtisch und eine Pfeife Tabak an, lächelte dem Jüngling zu und klappte das dicke Hauptbuch mit einem dumpfen Knall zu.
«Mein lieber Kummer«, sagte er in einer ihm fremden, fast leutseligen Art und setzte sich ihm gegenüber in den breiten Lehnsessel,»seit Wochen sind Sie nun Geselle in meiner Apotheke. Es sollte eine Probezeit sein, sie ist nun überstanden, und wir können ernsthaft von der Zukunft sprechen. Ich bin — doch werden Sie nicht stolz, junger Mann — leidlich mit Ihnen zufrieden. Ich sage leidlich, das bedeutet viel. Kurz, lieber Kummer — ich stelle Sie bei mir nicht als Geselle, sondern als meinen Hauptprovisor ein. - Sie sind doch einverstanden?«
«Als Hauptprovisor?«Otto Heinrich Kummer sah Herrn Knackfuß mit jener Ungläubigkeit an, als habe er die Worte falsch verstanden. Dann aber, als der Apotheker ihm ermunternd zunickte, sprang er auf, ergriff in einer Aufwallung freudigen Dankes die Hand seines Prinzipals und rief:»Sie haben Vertrauen zu mir — möge das Schicksal fügen, daß ich Sie nie, nie enttäusche.«
Doch so plötzlich, wie der Überschwang seiner Jugend ihn danken ließ, trat er einen kurzen Schritt zurück und senkte ein wenig betreten den Kopf.
«Sie setzen mich, den Jüngsten, über alle in der Apotheke«, sag-te Otto Heinrich leise.»Ich weiß nicht, Herr Knackfuß. Ihre Handlung mag gerecht sein. Sie haben Ihre Gründe, bestimmt haben Sie sie… Ich wagte nicht, in die Entscheidung einzugreifen, wenn nicht… wie soll ich sagen… verzeihen Sie, wenn ich es erwähne. «Er stockte einen Augenblick und sagte es dann klar heraus:»Die Beförderung stände Herrn Bendler als dem Älteren eher zu als mir. «Und als ob er den Freund vor einem Angriff schützen müßte, fügte er schnell und treuherzig hinzu:»Er ist ein wirklich guter Apotheker, der Willi Bendler.«
Eine scharfe Unmutsfalte zuckte für einen Augenblick über die Stirne Knackfuß'.
«Er ist ein Frevler gegen Ordnung und Moral. Ich wünsche keine Worte mehr darüber! — Sie nehmen an?«
«Ja.«
«Rückwirkend auf den 1. Dezember.«
«Wie Sie wünschen, Herr Prinzipal.«
«Sie ziehen damit auch aus Ihrer Kammer und bewohnen ein neues Zimmer im zweiten Stockwerk.«
Otto Heinrich zuckte auf. Er sollte von Bendler getrennt werden, von ihm, der sich an ihn klammerte in seiner Sehnsucht nach einem Menschen und der in seinem nagenden Haß auf das Bürgertum auch für Otto Heinrich unbewußt zur Stütze seiner Hoffnungen wurde? Getrennt von einem Freund, der einen Menschen in dieser Einsamkeit brauchte, vor dem er sich ausschreien konnte und der mit ihm empfand, daß draußen sich das Leben täglich änderte und formte, daß Geister revoltieren und neue Werte aus der Urkraft in die Völker strömten und daß sie hier in dieser bürgerlichen Stille, in diesem engen Kreis verstaubter Etiketten zu Mumien und Puppen ohne eigenen Willen wurden!
«Ich bitte, in der Kammer bleiben zu dürfen«, sagte Otto Heinrich leise, aber fest.»Ich habe einen Freund gefunden, den ich nicht verlassen möchte.«
Mit einem kurzen, scharfen Ruck seines vertrocknet wirkenden Kopfes blickte der Apotheker zu dem Jüngling empor.
«Es geht nicht um Freundschaften«, antwortete er hart, während durch die Haut seines Gesichtes ein gelber Schimmer flog.»Es geht um die Distance. Was wäre das Leben ohne Ehrfurcht?! Was wäre die Ehrfurcht ohne das Bewußtsein des menschlichen Unterschiedes?! — Was reden wir! Meine Tochter richtet das Zimmer bereits her!«
«Eine Freundschaft überwindet den Dünkel eines Standes. Die Herzen finden sich nicht in der Enge der Klassen, sondern in der Weite der Erkenntnis vom Wert des Menschen. - Ich muß die Jungfer Trudel bitten, ihre Bemühungen einzustellen und meinen Dank zu nehmen.«
Das Gesicht des Apothekers wurde kantig. Nervös zuckten die Wimpern über den starren Augen. Und plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie:
«In welchem Tone sprechen Sie mit mir!? - Sie beziehen das Zimmer! Kein Wort mehr! In meinem Hause, über das Gesinde und die Angestellten bin ich der Herr!«
«Sie mögen es sein«, sagte der Jüngling mit ruhiger, aber in der zurückgedrängten Erregung gepreßter Stimme.»Sie vergessen aber, daß ich keine Anlagen besitze, ein Sklave zu sein. Ich habe ein Eigenleben, das ich mit allen Mitteln verteidige, ich habe ein Recht, über mich selbst zu verfügen, ich habe auch die Kraft, meine Wünsche an das Leben durchzusetzen. Ich liebe die Freiheit des Geistes und der Person. «Und mit lauter Stimme schrie er dem zurückprallenden Knackfuß ins Gesicht:»Die Freiheit aber ist das letzte, was Sie mir stehlen können.«
Schwer atmend standen sich die Männer gegenüber.
Eine Welt lag zwischen ihnen.
«Ich werde Ihrem Vater schreiben«, zischte der Prinzipal durch die aufeinandergepreßten Lippen, die wie ein Strich sein Gesicht durchschnitten.»Ich werde Sie züchtigen lassen, bis Sie sich bei mir entschuldigen. - Gehen Sie! Ich will Sie heute nicht in meinem Hause sehen! Das andere findet sich.«
Mit einer scharfen Wendung drehte sich Otto Heinrich um und ging hinaus.
Laut krachend fiel die Tür ins Schloß. Auf dem Gang entfernten sich seine Schritte.
Sie klangen ruhig, fest und siegesfroh.
Ein Mensch hatte sich gefunden. Er hatte gespürt, wie die Fesseln rissen und sich von seinem Herzen lösten.
Die Freiheit lag vor ihm, der Weg ins kalte, unbekannte, ferne Nichts.
Die große Hoffnung Otto Heinrichs, frei zu sein und in das weite Leben hinauszustoßen, wurde am Abend dieses schicksalhaften Tages jäh zerstört. Zwar beachtete ihn der Prinzipal am Tische nicht und sah durch ihn hindurch, doch verkündete er den aufhorchenden Gesellen und dem mit weit offenem Munde von Kummer zu Knackfuß starrenden Bendler, daß mit dem heutigen Tage der Kollege Otto Heinrich Kummer als Hauptprovisor anzusehen sei und er — der Prinzipal — die nötige Achtung von jedem in der Apotheke fordere.
Sonst nichts. Das Abendessen wurde in stiller Hast genommen, manch schräger Blick traf das gesenkte Haupt des neuen Vorgesetzten, und nur der Riese Bendler belebte mit seiner lauten Stimme hie und da die Tafel, wenn er, mit einem Blick auf Jungfer Trudel, ein Anekdötchen aus dem Leben in der Apotheke preisgab.
Knackfuß aß langsam, stumm, zusammengeduckt auf seinem Stuhl. Mitten im Essen schob er den Teller plötzlich von sich fort, stand auf, schob seinen Stuhl unwirsch zur Seite, nickte kurz und stampfte aus dem Zimmer in das von allen ängstlich gemiedene Kontor.
Ein dumpfes Schweigen blieb am Tisch zurück.
Nur Willi Bendler wechselte seinen Platz, setzte sich neben Otto Heinrich und stieß ihn mit dem Ellbogen leicht in die Seite.
«Dicke Luft, was? Der Alte merkt, daß sich die Jugend an das Licht drängt! — Mensch, Otto Heinrich — Provisor —, rechte Hand des Geiers. das ist dem Alten schwergefallen und nagt an seiner Würde.
Daß er's getan hat, ist das neue Rätsel von Frankenberg!«Er lachte leise und beugte sich zu dem Freunde hinüber.»Du hast Glück, lieber Junge, ich gönne es dir. Doch merke dir — der Alte gab dir heute seine rechte Hand — und mit der linken schlägt er dich zu Boden.«
Mit einem Satze sprang Otto Heinrich auf, legte dem Freunde kurz die Hand auf die Schulter und eilte dann aus dem Zimmer.
Die Hände tief in die Taschen vergraben, wanderte er mit verhaltenen Schritten durch den weiten Garten hinter dem Haus, hob das Haupt, damit der kalte Wind in seinen Locken spiele und die heiße Stirn kühle, und schob mit den Spitzen seiner Lackschuhe den Schnee als kleine Hügel vor sich her, ehe er sie mit einem kräftigen Schwung des Beines zerstäubte.
Vorbei an den tief im Schnee vermummten Zwergtannen wanderte Otto Heinrich, den Kopf tief gesenkt.
Plötzlich stand er vor der Laube, deren Dach ein hoher Schneehut zierte. Mit einem leisen Frösteln trat er ein, verwundert, daß die Kälte in dem engen Räume nachließ, und setzte sich, indem er den Kragen seines Rockes hochschlug, auf die Holzbank hinter dem vermorschten Tisch.
Ein fades Halbdunkel klebte in der Laube. Von draußen leuchtete schwach der Schnee. Da schloß der Jüngling die Augen, lehnte sich zurück, legte den Kopf weit in den Nacken und ballte die in der Tasche vergrabenen Hände zur Faust.
O diese Einsamkeit… diese sanfte Stille. Wie schön war sie, und doch, wie grausam stach sie in das Herz, das sich Leben, Glück und einen Hauch von Liebe wünschte.
Der Einsame in seiner zugeschneiten Laube fror. Ein Zittern rieselte durch seinen Körper.
Plötzlich zuckte er auf und richtete sich im Sitzen hoch.
Ein leichter, im Schnee knirschender Schritt näherte sich der Hütte. Eine Hand tastete nach der Klinke, leise knarrend schwang die
Tür auf, und ein schmaler Schatten huschte in den engen, dunklen Raum.
Otto Heinrich hielt den Atem an und rührte sich nicht.
Doch auch der Schatten, im Dunkel verschwommen, trat nicht näher, sondern verharrte in einer Ecke des Zimmers.
«Ist jemand hier?«fragte der Apotheker nach einer langen Weile des Schweigens und Wartens.
«Ich wußte, daß Sie hier sind«, antwortete leise eine helle, klingende Stimme, die Otto Heinrich emporzucken ließ und ihm die Worte von den Lippen nahm. Bebend strich er sich mit den halberstarrten Händen über das Haar, versuchte stotternd einen neuen Anfang und murmelte dann nur in fassungslosem Staunen:
«Jungfer Trudel.?«
Das Rauschen eines Mantels klang kurz auf, dann faßte seine Hand warme, zarte Mädchenfinger, und aus dem Dunst von Dunkelheit tauchte das Antlitz Trudels unter einer Mütze aus dickem Pelze auf. Ein paar blonde Locken ringelten sich unter ihrem Rand hervor, während ihre großen Augen traurig und verweint auf den Jüngling blickten.
«Ich weiß, daß Sie allein sind, daß Sie Sehnsucht haben nach einem Leben, das Sie gar nicht kennen und das Sie nur aus Büchern und idealen Schilderungen lieben. - Ich möchte Ihnen helfen, Otto Heinrich.«
Der junge Apotheker sah zu Boden, löste seine Hand aus ihren wärmenden Fingern und trat einen halben Schritt zurück. Wie um Halt zu suchen, lehnte er sich mit dem Rücken an die Holzwand der Laube und schob die Hände wieder in die Tasche.
«Es ist nicht gut, daß Sie gekommen sind. Wenn es der Prinzipal erfährt, beginnt für Sie und mich die Hölle.«
«Mein Vater ist nicht schlecht«, sagte das Mädchen leise.»Er ist verbittert.«
«Er ist herrisch, hart, voll Dünkel und voll Unrecht.«, unterbrach sie Otto Heinrich.
Das Mädchen schüttelte den schmalen Kopf, und eine Träne glit-zerte in ihren halbverschlossenen Augen.
«Mein Vater lernte früh, wie hart das Schicksal ist. Ich war zwei Jahre alt, als er die Frau verlor… verlor an einen fahrenden Komödianten, der sie mitnahm in die lockende Ferne. Diese Frau war meine Mutter.«
«Aber ihr Vater. «Der Jüngling stockte erschreckt über die Offenbarung des Mädchens.»Ihr Vater sagte doch, daß Ihre Mutter starb, als Sie.«
«Sie starb für ihn. Ihr Weggang war für ihn ihr Tod! Seit dieser Stunde haßt er alle Künstler, alle Sehnsucht nach der Weite, nach dem heißen Leben. Er kennt nur Pflicht und Arbeit, Ehre und Besinnung auf das Muß — er lebt in einer Höhle wie ein Eremit. «Und leicht, mit einer zärtlichen Bewegung, legte ihm das Mädchen ihre Hand auf seinen Arm und sagte leise:»Auch er ist einsam in der Welt, die er sich schuf — ein Mensch, der lebt, weil jeder andere Gedanke Sünde ist.«
Sie schwieg, und auch der Jüngling fühlte, daß diese Stille eine Brücke in das Schicksal wurde. Langsam hob er den Arm, legte ihn dem Mädchen auf die Schulter und zog es nahe zu sich heran. Willenlos folgte es dem Drucke seines Armes und sah ihm mit großen Augen ins Gesicht.
«Das wußte ich nicht«, sagte Otto Heinrich nach langer Pause.»Ich danke Ihnen, Jungfer Trudel — «Er stockte und blickte über sie hinweg in den matt schimmernden Schnee hinaus.»Wenn Sie mir helfen wollen, so habe ich nur ein Bitte. Lassen Sie mich allein in meiner Einsamkeit.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
«Sie sagten einst zu mir: Leben ist eine Aufgabe, nicht das Aufgeben des Ichs. Ich habe es behalten. jeden Satz. ich habe sie gesammelt und mir täglich vorgesagt und wußte dann bei jedem Wort, wie ich es heilen könnte; denn Ihre Worte waren krank, gebrochen, fiebrig. und so arm, daß mir die Tränen kamen. Sagten Sie nicht damals, daß das Leben eine Mission sei, den Menschen von Leben zu Leben zu veredeln.?«
«Auch das haben Sie behalten?«
«Alles, Otto Heinrich Kummer! — Veredeln, sagten Sie. Wie kann ein Mensch den Adel seiner Menschlichkeit erkennen, wenn er die Einsamkeit anbetet und die Menschen flieht? Am Menschen selbst nur wird der Mensch gesunden… das sagt mir mein Gefühl, nicht, wie Sie sagten, eine Logik.«
Der Jüngling sah in ihre Augen und streichelte dann mit seinen kaltgefrorenen Händen über ihre frostgeröteten Wangen.
«Gott segne dieses Gefühl. Es wäre herrlich, in der Liebe zu gesunden…«
«Sie sehen dieses Leben falsch«, flüsterte das Mädchen.»Sie sitzen nachts in einer zugeschneiten Laube und träumen von der Herrlichkeit des Lebens. Und draußen jubelt unterdessen diese Herrlichkeit aus allen Augen, allen Herzen, allen Mündern, geht draußen eine Schönheit dieses Lebens nach der anderen für Sie verloren, weil Sie in Ihrer Einsamkeit von etwas träumen, was Sie wünschen, während der Wunsch nur auf Sie wartet, daß Sie kommen. Wie bequem ist das, den Weltschmerz vor sich herzutragen!«
«Sie reden ungerecht.«
«Ich rede, wie ich fühle! Da draußen liegt der Schnee! Warum nehmen Sie nicht eine warme Hand und gehen in die Wälder? Da ächzen die Stämme, und Hase, Fuchs und Schneehuhn huschen durch das stäubende Weiß. Da lebt das Leben weiter unter einem Leichentuch, da spüren Sie den Atem ewig neuer Kraft! — Und auf den Bergen, wenn der Nordwind weht, wenn hoch am Himmel sich die Wolken jagen. da sehen Sie die Macht des Lebens. Geh'n Sie hinunter in die Straßen! Blicken Sie nur einmal in die großen, sehnsuchtsoffenen Kinderaugen, wenn sie die bunten Sachen in den Läden sehen und an das Christfest denken mit dem Lichterbaum. Da sehen Sie Ihr Urteil in den Augen dieser Kinder, das Urteil über Ihre Einsamkeit, in der Sie sich gefallen wie ein eitler Fratz! Ja, gehen Sie zurück zu Ihrer Kindheit, lernen Sie noch einmal, kleinste Dinge wie ein Wunder zu betrachten. Glauben Sie denn nicht, daß man den Menschen heilen kann, indem man ihn zurückführt in das Mär-chenland der Kinder?«
Der Jüngling sah zu Boden.
«Sie sprechen hart«, murmelte er.»Hart… aber fern… so fern.«
«Sie stehen fern, weil Sie in Träumen gaukeln und die Umwelt nicht erkennen! Dort draußen schneit es — waren Sie schon einmal auf der Rodelbahn?«
«Als Kind.«
«Nein, hier? Sie schütteln Ihren Kopf und können mir nicht sagen, warum Sie es verpaßten. Sie kennen doch die Eisbahn unten auf dem See?«
Der Jüngling schüttelte den Kopf und wandte sich ein wenig ab.
«Nicht? Nach der Schanze wagte ich Sie nicht zu fragen. Warum auch Rodelbahn, Eislauf und Schanze? Warum auch Musik, lachende Gesichter, Frohsinn und Lebensfreude?! Man ist ja einsam, ein Philosoph des Weltschmerzes, der Verneinung, des verkannten Ichs! Warum denn Frohsinn suchen, wo man weiß, daß alles nur ein Schein ist und das Leben im Grunde schlecht und faul und sinnlos. Sie Narr! Sie Narr, Otto Heinrich Kummer. Sie. Sie. Mörder an der eigenen Seele.«
«Schweigen Sie!«schrie da der Jüngling auf und preßte die Handflächen an seine Ohren, während ein Zittern durch seinen schmächtigen Körper flog.»Warum quälen Sie mich? Sie sind so grausam, so kalt, so erschütternd wie der Tod.«
«Und es ist nur die Wahrheit.«, sagte das Mädchen leise.
Da blickte Otto Heinrich auf und sah in ihren Augen eine Bitte und eine jagende Angst, und er lächelte, nickte, strich ihr über die Wangen und zog sie nahe zu sich heran.
«Trudel«, sagte er sanft, während sie in seinen Händen bebte.»Trudel. gib mir einen Kuß.«
Da stellte sie sich auf die Zehenspitzen, spitzte die Lippen, schloß mit einem Lächeln in den Augen, duldete es, daß sie sein Arm umfing, und empfing den Druck seiner eisigen Lippen mit dem Schauer, den das erste Erlebnis durch den wartenden Körper jagt.
Als sie sich aus seinen Armen löste, war ihr Herz schwer von Jubel, Glück und dem Bewußtsein einer großen, schweren Pflicht.
«Was soll nun werden?«fragte Otto Heinrich leise und ging zur Tür. Er starrte in die vom Himmel herabtanzenden Flocken, streckte die Hand hinaus und fing einige Kristalle auf.»Sie schmelzen nicht in meiner Hand«, lächelte er und zeigte Trudel seine frostigen Finger.»Es ist so kalt in dieser Welt.«
«Ich will dir eine Sonne sein«, sagte das Mädchen schlicht, und das hohe Wort verlor alles Pathos und wurde ein Schwur, der sie verband.»Du sollst im Frühling wieder Blumen blühen sehen. Liebster. diese Welt ist schön, wenn man ein Auge hat, sie ganz zu sehen.«
Sie küßten sich. Es waren scheue Küsse, kindlich noch und huschend, doch süßer, als kein Kuß mehr sein kann.
«Wir müssen ins Haus«, sagte der Jüngling nach einer Weile gemeinsamen stummen Sinnens, in der ein jeder seine Wünsche baute zu einem stolzen Schloß, in dem sich herrlich leben ließ.»Die Glocke muß schon elf geschlagen haben. Dein Vater könnte dich vermissen.«
«Er schläft schon. Du aber frierst und mußt ins Warme. Daß ich daran nicht dachte. So ohne Mantel in der Kälte. Liebster, Liebster. «Sie drohte lächelnd.»Ich muß dich nächstens überwachen, wenn du ausgehst.«
«Tue es. Ich will auf deine Worte hören, wie ein Kind. «Und leise fügte er hinzu:»Du bist ein herrliches, ein schönes Mädchen.«
Wieder errötete sie leicht und wandte sich ein wenig zur Seite. Verlegen schabte sie ein wenig hereingewehten Schnee mit der Schuhspitze von der Schwelle in den Garten.
«Wir müssen, bis der Vater seine Ansicht ändert, fremd vor den Augen aller Leute sein, fremd wie bisher«, sagte sie nach einer Weile.»Nur abends und in seltenen Stunden auch am Tage, irgendwo, wo wir uns finden, gehören wir nur uns und unserer Zukunft. Wir sind ja noch so jung.«
«So jung und doch vom Leben so geschlagen.«
«Liebster, sprich nicht wieder so. Es soll ja alles licht und frei, so schön und glücklich um dich werden. Habe doch Geduld, vielleicht nur noch wenige Wochen.«
«Ich habe ja Geduld«, flüsterte Otto Heinrich an ihrem Ohr und nahm die Pelzkappe von ihren Haaren, küßte die schweren, blonden Flechten und drückte dann den schmalen Kopf an seine Brust.»Du sollst nicht klagen über mich. Du sollst mich nur noch lieben.«
«Ich hab' dich lieb«, flüsterte sie und schloß die Augen.»So lieb. «Und plötzlich blickte sie zu ihm empor und flehte:»Und zu dem Vater sei nicht böse. bitte, bitte. auch, wenn er schimpft. Er meint es nicht so. Er ist so einsam und zerrissen, so verbittert und verlassen. wie du.«
Der Jüngling nickte.»Hab' keine Angst. Und bitte, geh jetzt. Ich komme nach. man könnte uns belauschen und verraten.«
Noch einmal küßten sie sich, dann eilte Trudel aus der Laube, huschte den Weg hinab und nickte im Laufen einmal kurz zurück. Der Jüngling sah ihr nach, bis ihr wehender Mantel und die flatternden, blonden Haare sich in dem Vorhang rieselnder Flocken auflösten und der lautlose Fall des Schnees ihre Spuren verwischte.
Dann trat er aus der Laube, preßte den Kragen seines Rockes fest an den Nacken und eilte mit langen Schritten dem dunklen Hause zu.
Als Otto Heinrich am nächsten Morgen in seiner kleinen Kammer erwachte und ein langfadiger Dezemberregen gegen die klappernden Schindeln des Daches und das schmale, halbblinde Lukenfenster perlte, fand er das Bett Willi Bendlers schon verlassen, die Decken säuberlich gefaltet und hergerichtet. Die mit neuem Wasser gefüllte Waschschüssel war in die Nähe von Kummers Liegestatt auf einem hölzernen Hocker gerückt, das Rollhandtuch war von der Stange auf dem engen Flur abgenommen und gefaltet neben das Seifenschälchen gelegt, und sogar die kleine Vase mit ein paar bunten Strohblumen, die Bendler einmal von der Jungfer Trudel aus den unteren Räumen zugesteckt erhielt, stand auf dem Hocker — wie ein
Gruß!
Mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst erhob sich Kummer und ging zum Bette Bendlers, auf dessen Kopfkeil er jetzt ein zusammengefaltetes Papier sah.
Ein rasendes Herzklopfen erstickte plötzlich den Atem des Provisors. Ein leeres Bett, ein Brief auf der Decke und draußen ein grauer, regnender Winterhimmel, der den Schnee von gestern erweichte, zusammenschmelzen ließ zu einer laufenden, breiigen Masse, zu Schlamm und kaltem, grauem Morast. mein Gott. Willi Bend-ler. Bendler. das ist doch nicht möglich.!
Otto Heinrichs Hand griff nach dem Brief, dann zuckte er zurück und ließ das Papier liegen. Die immer schwerer werdende Angst schnürte die Kehle zu.
«Mein Gott. das kann doch nicht sein!«stammelte Kummer und starrte auf den weißen Brief. Zögernd trat er wieder auf das Bett zu, nahm mit einem tiefen Atemzug das Papier von der Decke, zögerte wieder und entfaltete es dann entschlossen mit schnellen, überhastigen Griffen.
«Mein lieber Otto Heinrich«, las er, dann verschwammen die Buchstaben einen Augenblick vor seinen Augen, er setzte sich auf Bendlers Bett und starrte vor sich auf den Bretterboden. Nach einer langen Pause erst nahm er den Brief wieder auf und begann ihn langsam zu lesen.
«Das Leben ist wie der Stall des Augias, für den sich kein Herakles findet«, stand da in Bendlers klotziger Schrift.»Ich aber bin kein Mensch, der in der Stille sitzt und zusieht, wie der Kot sich häuft und höher, immer höher steigt, bis er den Mund erreicht und wir an unserem eigenen Dreck ersticken. Ich muß hinaus, ich bin ein Raubtier, das die Freiheit kennt und in den Käfigen der allgemeinen Sitte zur Flöte bürgerlicher Angstmoral tanzen und feixen muß. Ich liebe Menschentum, wenn es sich dehnt und seine Kräfte kennt und segenbringend nutzt. Ich liebe dieses Leben, wenn es den Zweck ergreift, den Menschen zu ver-edeln und zu heben. Ich liebe alles, was mich Mensch sein läßt in einer Freiheit, wo die Kräfte spielen und die Wahrheit mehr ist als ein Anstandswort des bürgerlichen Katechismus. Und darum gehe ich! Nenn' mich jetzt untreu, unmoralisch, einen Schuft — einst wirst Du sehen, daß es mehr gibt als die Pflicht von Mann zu Mann — die Pflicht zum Leben und die Verantwortung vor unserem Menschentum. - Verzeih, wenn ich so gehe. Ich wollte Dich nicht sprechen, weil ich dann nicht hätte gehen können. Nun bist Du einsam — ist die Einsamkeit zu groß, so komm zu mir. Ich bin Dir stets ein Freund. Du findest mich überall, wo sich das Neue Bahn bricht. Leb wohl, ich weiß, daß Du einst kommst. Wir dürfen unser Leben nicht erträumen — wir müssen es entdecken und erobern. Immer.
Dein Willi Bendler.«
Und ganz am Rande stand, eiligst hingeworfen, ein Satz, der so voll Willi Bendler war, daß Otto Heinrich trotz der Bestürzung seines Herzens lächeln mußte:
«Dem Prinzipal gib als meinen letzten Gruß das schöne Drama unseres Goethe >Götz von Berlichingen<. Er wird die Stelle kennen, die ich ihm zum Abschied sage — zum Gurgeln hinterher empfehle ich dann Salbeitee.«
Allein in einer schmalen Kammer unter klappernden Ziegeln, im Hause ein Mann, der einen haßte mit aller Glut und Inbrunst, die in den Hirnen aufgescheuchter Eremiten spukt, ein Mädchen, das man liebt und küßt und das auf ihrer Seele noch den Glanz der Unschuld trägt und das so weit ist, unerreichbar, sternenhaft nur wünschenswert, weil dieses Leben Schranken setzt und die Vernunft in Hohn verwandelt. O wie grausam, wie ekelhaft, wie sinnlos ist doch das Leben.
Otto Heinrich Kummer stöhnte zwischen den Händen, mit denen er seinen Kopf hielt. Er ahnte plötzlich, wie nahe der Wahnsinn bei der Wahrheit liegt. Er zitterte bei dem Gedanken, zu le-ben, um stündlich, von Minute zu Minute, im Ticken des Sekundenzeigers, diesem abscheulichen, erbarmungslosen, perversen Ticken der Uhr, sich dem Grabe zu nähern und am Ende des Wan-derns zu sehen: das Leben war schön, aber jetzt, wo der Sprung ins Dunkel, ins ewige Vergehen, in das Ausgelöschtsein beginnt, sinnlos in seiner Hast und seinen Idealen, denn was sind 60 oder 70 oder 80 Jahre, wenn das Dunkel kommt und kein Erinnern, kein Beschauen seines Lebens?! Warum sich quälen, wenn der Lohn der Qual das Nichts ist?
Otto Heinrich Kummer bedeckte die Augen mit den Händen und warf sich auf das Bett des Freundes, das Gesicht in die Decken gepreßt. So lag er eine lange Zeit, bis er sich mühsam aufrichtete, den Brief faltete und an das kleine Lukenfenster trat.
«Man könnte sich vom Dache in den Garten fallen lassen«, dachte er schaudernd und wandte sich ab, wusch sich, kleidete sich an, richtete das Bett, lüftete das Zimmer, alles mit seelenlosen, mechanischen Griffen. Dann steckte er den Brief Bendlers in die Rocktasche, ging die steile, knarrende Treppe hinunter, öffnete die Tür zum Vorderhaus, ging den teppichbelegten Flur entlang, blickte auf halbem Wege in den breiten Trumeau-Spiegel, neben dem zu beiden Seiten Jagdtrophäen verstaubten, und zögerte erst vor der Tür des Wohnzimmers des Prinzipals.
Ein leichter Schritt auf dem Teppich ließ ihn herumfahren.
Trudel schlüpfte aus der Küche, gab ihm einen schnellen Kuß und flüsterte mit einem Blick auf die Zimmertür:
«Der Vater ist wütend! Bendler hat den Laden nicht aufgeschlossen und die Decken vom Schaufenster genommen. Die Gesellen standen vor der Tür und konnten nicht herein. Man dachte in der Stadt schon, es sei etwas geschehen. Und auch du warst nicht da und kommst erst jetzt! Der Vater schiebt die Schuld dir zu: du seiest als Provisor sein Stellvertreter. Er wird schimpfen. «Und plötzlich zuckte die Angst durch ihren Blick.»Denk an gestern nacht, Liebster. Nimm es dem Vater nicht übel. Schweige, ertrage es. es geht vorüber. Denk an uns. Du weißt ja, was mit Vater ist… nicht wahr… du denkst daran?«
Otto Heinrich würgte es in der Kehle. Er nickte, strich ihr über die blonden Flechten, knickte den Zeigefinger und klopfte hart an die Tür.
Ein lautes, herrisches, zorniges» Herein!«tönte durch das Holz. Schnell verschwand Trudel in der Küche.
Mit einem Ruck öffnete Otto Heinrich die Tür und trat ein.
Am Tisch saß zornrot der Prinzipal und hob die Hand.
«Herr Kummer. ich.«
Doch eine Armbewegung Kummers ließ ihn schweigen. Stumm sahen sich die Männer an. Dann sagte Otto Heinrich:
«Willi Bendler ist heute nacht geflüchtet — in die Freiheit!«
Dann drehte er sich brüsk um und verließ den Raum.
Starr sah ihm der Apotheker nach, ungläubig, erschreckt, sprachlos.
Und er starrte noch immer auf die geschlossene Tür, als unten im Laden das Leben begann.