Es ist Sonntag, der 1. Februar 1835.
_Durch Frankenberg rasselt mit schnaubenden Pferden eine Extrapost, wirbelt den Schnee in den engen Gassen auf und läßt die
Bürger in die Haustüren flüchten.
In der Kutsche klammern sich an den Lederbügeln vier Herren in grauen Reiseanzügen und dunkelgrauen Zylindern auf den Plätzen fest und blicken ab und zu hinaus in den aufstäubenden Schnee.
Kalt steht die Morgensonne schräg über den Bergen.
Der Schnee leuchtet.
Die Pferde legen sich ins Geschirr, es kracht in den Deichseln, und der Kutscher auf dem Bock hat den Schal über den Mund gezogen, damit die Kälte ihm nicht die Lippen aufreißt.
Vor der Apotheke in Frankenberg hält mit einem Ruck die Kutsche, und die graugekleideten Herren springen aus dem hölzernen Kasten.
Hinter den Scheiben der Läden und des Laboratoriums kleben die Gesichter der Neugierigen, am Brunnen auf dem Markt stauen sich die einkaufenden Frauen — Herr Knackfuß selbst eilt aus seinem Kontor in den Laden und kommt gerade zurecht, als die vier Herren durch die klingelnde Tür eintreten.
«Eine königliche Post aus Dresden«, flüstern die Frauen draußen am Brunnen.»Eine Extrapost für Knackfuß! - Der Alte hat ein Glück!«
Aber es war nicht das Glück, das mit dieser Post aus Dresden kam, sondern im Privatkontor, in das Herr Knackfuß die Herren bat, zeigten die vier Reisenden ihre königlichen Ausweise.
Der Apotheker erstarrte.
Erbleichend hielt er sich am Stehpult fest und brauchte eine längere Zeit, sich zu fassen.
«Die Herren sind vom Geheimdienst Seiner Majestät?«stotterte er und blickte von einer grauen Gestalt zur anderen.»In meinem Hause? Ich… wüßte nicht, was Sie hier an Geheimem zu suchen hätten. Meine Gifte sind die für jede Apotheke zugelassenen Destillate — der Schlüssel zum Giftschrank steht Ihnen sofort zur Verfügung —, und Gift wurde nur abgegeben auf Rezept unter genauer Notierung des Namens und des Datums. Sie werden keine Verfehlungen finden, meine Herren! Für die Verwaltung der Gifte trägt mein Provisor jede erdenkliche Sorge!«
Die grauen Herren nickten.
«Ihr Provisor ist es, der uns interessiert«, sagte der größte der Reisenden.»Ein Herr Kummer, wenn ich nicht irre?«
«Sehr recht. - Otto Heinrich Kummer.«
«Sein Vater ist der Münzmarschall Benjamin Friedrich Gotthelf Kummer aus Dresden?«
«Ja.«
«Sie kennen ihn?«
«Flüchtig. Ich lernte ihn in Dresden kennen, als ich den Herrn Kollegen von der Hofapotheke besuchte. Dort empfahl man mir auch den Sohn des Herrn Münzmarschalls.«
Die grauen Herren nickten. Sie blickten in einige Notizhefte und notierten etwas. Herrn Knackfuß überlief es heiß.»Das ist ein Verhör«, dachte er erschreckt.»Ein regelrechtes Verhör. Diese Schande! Man ist in Frankenberg kompromittiert! Und alles wegen dieses Kummers!«
«Ist der Herr Provisor im Haus?«fragte der eine Herr wieder.
«Sehr wohl! Er steht zu Ihrer Verfügung. Nur — wenn ich bitten dürfte — Sie verstehen — Kleinstadt, die Bürger, der Klatsch, die Ehre des Geschäftes.«
«Keine Besorgnis!«Der Herr lächelte leicht.»Wir werden so diskret wie möglich sein.«
«Untertänigsten Dank. «Knackfuß ergriff eine kleine silberne Handglocke und läutete. Der helle Ton zitterte durch das ganze Haus.
Ein Gehilfe im beschmutzten, weißen Mantel trat ein.
«Ich lasse den Herrn Provisor zu mir bitten«, sagte Knackfuß und ärgerte sich, wie dumm der Gehilfe die grauen Herren anstarrte.
Er schob ihnen einige Stühle zu und lächelte gezwungen.
«Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, meine Herren.«
«Gehorsamsten Dank — aber wir stehen lieber!«war die kurze Antwort.
Es klopfte.
Die Tür sprang auf.
Otto Heinrich trat ein und stutzte.
Da hob der Wortführer der Grauen die Hand und schloß das eine Auge. Es war eine schnelle Bewegung, die Knackfuß übersah, aber für Otto Heinrich war sie ein Aufatmen von einer würgenden Bedrückung.
Langsam trat er näher und verbeugte sich kurz.
«Kummer«, sagte er leise.
«Von Seditz«, sagte der eine Herr und verbeugte sich gleichfalls. Die anderen drei nickten stumm und traten etwas zurück.»Ich komme im Auftrag des Geheimdienstes Seiner Majestät des Königs von Sachsen. Ich bedauere die Störung, aber ich bin ermächtigt, an Sie einige Fragen zu stellen.«
Das klang alles sehr förmlich und streng, aber die Augen Seditz' blinzelten und begrüßten den jungen Freund.
Knackfuß, der im Rücken der Herren stand, sah dies nicht. Er krampfte die Hände ineinander und wartete ängstlich und neugierig auf die kommenden Dinge.
Otto Heinrich nickte leicht.
«Ich bin bereit.«
«Sie kennen eine Vera Veranewski Bulkow aus Moskau, die unter dem Namen Madame de Colombique durch Sachsen reiste?«
«Ja. Ich fuhr zufällig mit ihr in der gleichen Kutsche nach Frankenberg.«
Die drei anderen grauen Herren hatten ihre Notizbücher herausgenommen und schrieben Frage und Antwort mit. Knackfuß stand hinter dem Pult und bebte vor Erregung. Eine Frau, dachte er. Wegen einer Frau also — meine arme Trudel. Er war so erregt, daß sein Atem durch die Lippen pfiff.
«Sie wissen, daß diese Dame eine Spionin ist?«fragte von Seditz weiter.
«Ich erfuhr es erst in Dresden.«
«Ah — Sie waren in Dresden?«
«Ja — zu Weihnachten!«
«Und Sie wissen auch, daß Ihr Herr Vater in diese Spionage ver-wickelt ist?«
«Ja.«
Knackfuß schnaubte hinter seinem Pult. Der ehrsame, hochgeachtete Münzmarschall! Sieh, sieh. und der Sohn ist in seiner Apotheke Provisor! Spionage also. Landesverrat, Revolution.? Knackfuß trommelte leise mit den Knöcheln auf die Platte des Stehpultes, stellte dieses Klopfen aber sofort ein, als ihn der mißbilligende Blick eines der Herren traf.
«Was wissen Sie über das Verhältnis Ihres Herrn Vaters zu besagter Madame de Colombique?«
Otto Heinrich zögerte. Diese Frage hatte er nicht erwartet, sie war ihm fremd. Vorsichtig blickte er von Seditz an und sah, daß dieser ein Auge schloß.
«Ich verweigere darüber die Aussage«, antwortete er schnell und atmete erleichtert auf.
Knackfuß, der atemlos das Verhör verfolgte, hatte diese Antwort nicht erwartet. Er schoß hinter seinem Pult hervor an die Seite von Seditz'.
«Herr Kummer«, zischte er.»Sind Sie von Sinnen?! Sie haben den Herren zu antworten!«
«Sie sind nicht mein Vormund«, sagte Otto Heinrich laut.»Ich antworte dort, wo ich es verantworten kann!«
«Mischen Sie sich bitte nicht in das Verhör«, wandte sich Seditz an den Apotheker.»Ich verhöre Sie später genau!«
Dieser letzte Satz machte Knackfuß kampfunfähig. Gesenkten Hauptes ging er wieder hinter sein Stehpult, stützte den Kopf in beide Hände und grübelte nach, daß es seit drei Generationen das erstemal war, daß sein ehrbarer Name in einer Gerichtsakte stand.
Unterdessen hatte Seditz ein Taschenbuch aus dem Mantel genommen und blätterte darin herum.
«Ihr Herr Vater stand unter einem gefährlichen Verdacht«, sagte er dabei.»Seine Majestät haben ihm zeitweilig Seine Gnade entzogen. Die Spionage der Madame de Colombique, die Ihr Herr Vater in den Hof einführte, umfaßte nicht nur die militärischen, sondern auch die staatshaushaltlichen Geheimnisse. Eine böse Affäre für Sachsen!«Er machte eine Pause und blickte dann auf.
«Sie kennen einen Willi Bendler?«
Der Name Bendler riß den sinnenden Knackfuß empor.
«Ein Volksaufwiegler«, rief er.»Flüchtete, um.«
«Ich fragte Herrn Kummer«, unterbrach ihn hart von Seditz.
«Erlauben Euer Gnaden — aber ich kenne ihn besser. Er ist ein Revolutionär, ein gefährliches Subjekt. Ich fand auf seinem Tisch die berüchtigten >Pfefferkörner< des Freiherrn von Maltitz!«
«Ein großer Irrtum«, man merkte es Seditz an, daß es ihm eine tiefe Freude war, den Apotheker zu belehren.»Die >Pfefferkörner< sind nicht berüchtigt, sondern berühmt, und außerdem sind sie hervorragend und dürften Ihnen zeigen, daß eine neue Zeit sich abzeichnet. Aber das verstehen Sie vielleicht nicht!«Und zu Otto Heinrich gewandt, fuhr er fort:»Sie kennen Willi Bendler?«
«Ja. «Kummer nickte, sah aber fragend auf Seditz, da er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte.»Wir wohnten hier im Hause zusammen in einer Bodenkammer. Er war ein guter Kamerad mit einem wahren Charakter, der nichts mehr haßte als das Spießertum! Mit dem Prinzipal lag er ständig im Streit.«
«Das kam so«, unterbrach Knackfuß mit einem wütenden Blick auf Kummer eilig.»Besagter Bendler, impertinent.«
«Ich fragte Herrn Kummer«, schnitt von Seditz ihm das Wort ab.»Ich darf Sie um Ruhe ermahnen. Es sollte mir leid tun, Sie aus Ihrem eigenen Kontor weisen zu müssen. - Erzählen Sie weiter, Herr Kummer.«
«Diese Streitigkeiten aber waren stets nichtiger Natur. Mehr plagte ihn der Drang nach menschlicher und seelischer Freiheit, der Drang nach einem Ideal, das der Idee der Französischen Revolution ein Denkmal setzt: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Aus diesem Drang heraus floh er eines Nachts. Seitdem hörte ich nichts mehr von ihm.«
«Danke, das genügt mir. «Seditz wandte sich an seine drei Begleiter.
«Haben Sie die Aussage, meine Herren?«
«Wort für Wort.«
«Danke. «Er wandte sich wieder an Otto Heinrich und lächelte.»Ich habe Ihnen in diesem Zusammenhang eine Mitteilung zu machen. Auf der Route Potsdam — Küstrin fand man vor wenigen Tagen eine Leiche, die man offensichtlich in einer Postkutsche erstach und aus dem fahrenden Wagen warf. Der Körper zeigte einige Schleifwunden und einen exakten Stich in das Herz. An die Leiche geheftet fand man einen Zettel mit den Worten: >Tod allen Verrätern und Spionen! Es lebe die freie Gerechtigkeit, es lebe die Zukunft der Wahrheit. B.< Unsere Forschungen mit den Berliner Kollegen ergaben, daß ein Willi Bendler der Führer einer Art Freikorps ist, das sich als Ziel nimmt, gegen das Unrecht zu kämpfen. Wir vermuteten, und das erwies sich als richtig, daß die Leiche ein Opfer dieser Freischar war. Es wird Sie aber noch mehr erstaunen, wer das Opfer war: die Madame de Colombique!«
Ein Ruf des Erstaunens flatterte aus Kummers Lippen. Aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr Seditz fort.
«In der Innentasche, eingenäht in das Futter des Mantels, fand man einen Packen wichtiger Geheimpapiere, Spionageberichte, Aufträge, Korrespondenzen und Adressen, die es uns ermöglichten, ein breitangelegtes Spionagenetz einzuziehen und alle Auftraggeber der interessierten fremden Macht zu kennen. Bei den Papieren fand man aber auch den Beweis, daß in Dresden der Hofkämmerer Baron von Kracht die Spionage mit Nachrichten versorgte. Die völlige Unschuld Ihres Herrn Vaters ist damit geklärt.«
«Herr von Seditz. «Otto Heinrich stammelte. Er fühlte, wie sich gegen seinen Willen seine Augen mit Tränen füllten.
«Und noch eines ist geklärt: der unschuldige Verdacht! Baron von Kracht war ein alter Feind ihres Herrn Vaters. Es müssen da persönliche Dinge aus der Jugendzeit eine Rolle spielen. Der Baron verstand es durch seine hohe Hofstellung geschickt, den Verdacht auf Ihren Herrn Vater zu lenken. «Seditz lächelte wieder.»Heute denkt er auf dem Königstein über sein Urteil nach — während der Herr Münzmarschall vergangenen Sonntag von Seiner Majestät huldreich empfangen und wieder in alle Ämter eingesetzt wurde!«
Otto Heinrich bebte. Er drückte Seditz stürmisch die Hand und begleitete ihn hinaus.
Mit einem kurzen Gruß verabschiedeten sich die grauen Herren von dem verdutzten und enttäuschten Knackfuß. Mit Dienern geleitete er sie zur Tür.
Otto Heinrich ging mit Seditz bis zur Kutsche und reichte ihm noch einmal die Hand.
«Ich danke dir«, sagte er leise.»Die kleine Komödie hat dem Alten mächtig die Knochen geschüttelt, und selbst ich wußte manchmal nicht, was Spaß und Ernst ist. Nur eines bedrückt mich: Was wird man mit Bendler machen, wenn man ihn fängt?«
«Man wird ihn des Mordes anklagen! Die Preußen sind ihm schon auf der Spur!«
«Mein Gott — wenn man da helfen könnte!«
«Zu spät. «Seditz lachte.»Seit zwei Tagen ist er in Sachsen, ging bei Lützen über die Grenze! Seit gestern hat ihn mein Geheimdienst in Verwahr!«
«Und du wirst ihn ausliefern?«
«Ich werde ihn nach Bayern abschieben! Seine Art der Gerechtigkeit ist mir zu handwerklich! Brutalität hat selten eine Erlösung gebracht — unsere Zukunft liegt im Geist! Einen Bendler kann es öfter geben. - Blut fließt so leicht — aber das Genie, das uns ein neues Ideal gibt, das heißt es suchen!«
Otto Heinrich nickte.
«Ich bin so glücklich, daß der Vater gerettet ist! So glücklich, Seditz! Ich habe dir viel zu danken.«
«Du beschämst mich, Heinrich. Laß uns davon schweigen — Freunde sind immer füreinander da!«Er blickte sich um. Die drei Begleiter saßen bereits in dem hölzernen Verschlag, die Pferde waren unruhig und klirrten im Geschirr.»Es wird Zeit, Heinrich. Noch einmal deine Hand — so —, und nun leb wohl und beiße dich durch! Man hat dich in Dresden nicht vergessen.«
«Grüß mir alle, Seditz«, sagte Otto Heinrich mit stockender, be-legter Stimme.»Vater, Mutter, die Geschwister — und Maltitz, Caspar Friedrich, Bruneck, Puttkammer, du weißt schon — alle! Und grüße mir Dresden, das Schloß, die Oper, die Frauenkirche und die Brühlsche Terrasse. Den Zwinger und den großen Garten. Und die Elbe, Seditz, die Elbe.«
Der Wagen ruckte an, knarrend und knirschend mahlten sich die Räder in den verharschten Schnee.
Noch einmal drückte er dem Freund durch das Fenster die Hand, lief ein Stück nebenher und blieb dann mitten auf dem Markt stehen und winkte.
Als der Wagen um die nächste Ecke bog, ging er gesenkten Hauptes zur Apotheke zurück. Die Blicke der tuschelnden Frauen am Brunnen folgten ihm.
Langsam öffnete er die Tür und trat ein.
Im Flur stand zornrot und bebend Knackfuß.
Und ohne ein Wort ging Kummer an ihm vorbei in das Laboratorium.
Die Antwort Otto Heinrichs, er verweigere die Aussage in Sachen seines Vaters, war ein Dorn in der Seele Knackfuß'. Nicht wissend, daß die Aufnahme des Protokolls nur eine Komödie des Herrn von Seditz war, der seiner Nachricht an Kummer einen für den Apotheker gewichtigen Rahmen geben wollte, trat er von diesem Tage an immer auf dieser Verweigerung herum und nannte seinen Provisor ehrlos, einen Schandbuben und einen Menschen, der Meineide schwört, wie man Butterbrote ißt.
Otto Heinrich dagegen antwortete mit der dringlichen Forderung, die Suche nach einem neuen Provisor zu beschleunigen, da es ihm unmöglich sei, neben einem zänkischen und tyrannischen Kracher — er sagte wirklich Kracher und brachte Knackfuß damit an den Rand eines Schlaganfalls — zu leben und erst recht zu arbeiten.
So zankten sich die beiden zum Gaudium der anderen Apothekergesellen durch die Tage, vergällten sich die Abende durch böse
Worte und schlossen ihre Herzen gegen alles ab, was von außen her an sie herandrang.
Von Trudel hatte Otto Heinrich seit der gewaltsamen Trennung nichts mehr gehört. Wohl ging er ab und zu des Abends in die Laube und träumte von dem kurzen Glück, lauschte wohl auch auf das zarte Spinettspiel der Bürgermeistertochter Marie und dachte an das Gespräch, das er vor Monaten dabei mit Willi Bendler geführt hatte — aber den größten Teil seiner Freizeit und der Abende saß er hinter der Tranlampe oben in seiner Kammer, hatte den Tisch nahe an den Ofen gerückt und schrieb die halbe Nacht hindurch an einem kleinen Buch voll Gedichten. Er hatte es gleich nach seiner Rückkehr aus Dresden im Januar begonnen und nannte es >Vermischte Kleinigkeiten<, eine kleine Sammlung lyrischer und philosophischer Gedichte, ab und zu auch eine scharfe Satire — aber die Mehrzahl der Verse atmeten den Eishauch seines einsamen Herzens und die ungestillte Sehnsucht nach Licht, Luft und Freiheit seiner gequälten und getretenen Seele.
Wenn er dann erschöpft den Gänsekiel in den Halter steckte, sich reckte und die brennenden Augen rieb, war es meist der Weg durch den nächtlichen Garten, der seinen müden Körper erfrischte. Die Kälte des Schnees, mit dem er oft sein heißes Gesicht rieb, die Stille, die alles umgab, und nur das leise Knirschen seiner Schritte belebten ihn neu und senkten ihm Ruhe in die aufgewühlten Gedanken.
So war es auch in dieser Nacht vom 7. zum 8. Februar 1835.
Otto Heinrich, der die Enge seiner Kammer verlassen hatte und den Kopf mit den noch ungeborenen, verwirrten Versen kühlen wollte, schritt langsam zu der dunklen Laube und lehnte sich von außen an die morsche Tür.
Ein klarer Himmel zog sich über die Berge. Unübersehbar glitzerten die Sterne, die Milchstraße spannte sich in weitem Bogen über bewaldete Kuppen. Klirrender Frost krachte in den Hölzern der Bäume.
«Eine schöne Nacht«, murmelte Kummer und schaute in den Himmel.»Eine Märchennacht, wenn sie zwei Liebende erleben.«
Er stockte, als schmerze ihn der Gedanke. Er fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen, klinkte die Tür der Laube auf und trat ein.
Kaum hatte er den ersten Schritt in die Dunkelheit des Raumes gesetzt, blieb er stehen und lauschte.
Das unerklärliche, prickelnde Gefühl, nicht allein zu sein, kletterte in ihm empor bis zur Kehle.
Er hielt den Atem an und lauschte.
Ein fremder, leiser Atem stand in der Dunkelheit.
«Ist dort jemand?«fragte er mit zugeschnürter Stimme.
«Otto Heinrich?«antwortete ihm ein Flüstern von der Stelle, wo sich die schmale Holzbank hinter den Tisch zog.
Das Flüstern war dunkel. Ein Mädchen war es nicht… der sekundenschnelle Gedanke, es könnte Trudel sein, verflog.
Otto Heinrich tastete sich bis zum Tisch vor und versuchte aus der Dunkelheit einen Schatten herauszuschälen.
«Wer bist du?«fragte er ein wenig sicherer.»Maltitz?«
«Nein. - Willi Bendler!«
«Bendler!«
Otto Heinrich rief es laut und stürzte nach vorn dem Freund in die Arme.
«Pssst!«Bendler drückte Kummer an seine Riesenbrust und hielt ihn dann von sich ab.»Nicht so laut, mein Freund. Ich bin vogelfrei — juchhe —, ein jeder kann mich abknallen und bekommt für diesen Mord auch noch Dukaten!«
Er schwieg und setzte sich auf die Bank. Otto Heinrich lehnte sich vor ihm an den Tisch.
«Wie gefällt es dir in der Freiheit, Bendler?«fragte er langsam.
«Wie ein Hirsch in der Brunst! Nur sollten die Jäger das Jagdverbot erhalten. Du wirst durch Seditz schon gehört haben, was ich treibe!«
«Du hast meinen Vater gerettet.«
«Ungewollt.«
«Wenn auch — ich stehe tief in deiner Schuld! Du hast mit der Spionin ein gutes Werk getan.«
Der Riese neigte den schweren Kopf. Er fuhr sich über das Kinn, und das Kratzen verriet, daß er seit Tagen unrasiert war.
«Ob gut oder nicht gut — man kennt meine Spur! In Preußen war es heiß, nach Bayern will ich nicht — dort sind die Bäume so hoch —, und in Sachsen trifft mich das neue Friedensgesetz des Königs! Was tun? sprach Zeus! Ich wandere des Nachts und schlafe am Tage unter dem Stroh in den Scheunen und fange mir in Schlingen das Wild, um etwas zwischen den Zähnen zu haben. Ein Leben, bester Freund, das Schiller gekannt haben mußte, als er seine >Räuber< schrieb. Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne. dieser Idealist! Aber was rede ich — seit Stunden sitze ich hier wie ein Huhn auf der Stange und warte auf dich. Ich wußte, daß du kommst, denn ich beobachtete dich seit zwei Tagen. Gehst des Nachts in den Garten und starrst in die Sterne! — Großer Weltschmerz, mein Freund?«
Otto Heinrich schüttelte den Kopf.
«Hui!«Bendler pfiff durch die Zähne und reckte sich.»Hat man dir endlich doch den Ast, auf dem du sitzt, abgesägt? Ist aus dem Träumer endlich der Logiker geworden?«
«Man kann schlecht sagen, was man fühlt. «Kummer steckte die bloßen Hände in die Manteltaschen. Er fror.»Ich weiß nur eins: ich lebe ohne Sinn!«
«Bravo! Die Töne liebe ich! Auch wenn es falsche Töne sind, denn selbst der Unsinn hat noch einen gewissen Sinn. Das Leben aber ist nicht sinnlos — die Menschen, die mit dem Leben nichts anzufangen wissen, machen es zum Unsinn! In Wahrheit aber, das glaube mir, leben wir nach Gesetzen, die weder Kaiser noch Papst regieren können. Unser tiefstes und strengstes Gesetz ist die Natur. Das merkst du erst, wenn du wie ich mit dem Winde läufst.«
Bendler schwieg. Auch Otto Heinrich gab keine Antwort. Plötzlich, nach einigen Minuten Schweigen, fragte er:»Wo ist deine Freischar, Bendler?«
«In alle Richtungen zerblasen!«Der Riese hieb mit der Faust auf den Tisch.»Nach dem Affärchen mit der Vera aus Moskau hat man die Hunde auf uns gehetzt! Da sagte ich zu meinen Kerlen: Jungs, ab in die Wälder und hinein nach Böhmen! Sie werden jetzt wohl noch dort sein und auf mich warten. Aber ich wollte noch einmal mit dir sprechen, Heinrich, und sehen, ob du zu uns gehörst!«
«Zu euch? Wie meinst du das?«
«So, wie es klingt! Komm mit und sei frei wie die Lerche unter der Sonne.«
Otto Heinrich zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete.
«Es geht nicht, Bendler«, sagte er.»Ich bin nicht feig — nein, denke das nicht von mir —, aber ich scheue das Blut! Ich mag nicht die Freiheit lieben mit der Pistole in der Faust, ich kann nicht morden, um zu leben.«
«Morden?«Die Frage Bendlers war lang und gedehnt.
«Ja, morden! Denn was ist euer Tun anderes als Mord? Niemand hat das Recht, des anderen Leben zu nehmen, weil er das Leben von einer anderen Warte sieht! Niemand, außer Gott, ist absoluter Herr über Sein oder Nichtsein — auch wenn es um mein Volk geht! Ihr aber maßt euch an, Richter zu sein über die Ungerechten in euren Augen! Eure Freiheit ist Blut der Unterdrückung. Nein, Bend-ler — das kann ich nicht, ich suche die Seele in den Menschen, die große, aufbauende Seele, nicht die Stelle, wo ein Stich oder Schuß tödlich ist!«
Eine lange Zeit war Schweigen in dem dunklen Raum. Dann sagte der Riese langsam:
«Ist das deine wirkliche Meinung, Heinrich?«
«Ja, Bendler!«
«Mein Gott!«Bendler sprang auf und packte Kummer an den Mantelaufschlägen,»du Träumer, siehst du denn nicht, was um dich her vorgeht? Die Fürsten verhuren das Geld des Volkes, sie bauen Schlösser und Residenzen, während den Armen die Hütten über den Köpfen verfaulen! Auf der Straße ziehen die Schlangen der Heimatlo-sen, die kräftigsten Männer fängt man vom Felde, zerrt sie aus dem Stall, reißt sie aus der Stube, wirft sie aus dem Bett und preßt sie in Uniformen, verleiht sie untereinander als Söldner, verkauft sie an fremde Staaten… jahrzehntelang. Sklavenhandel mit Weißen, Deutschen, mit unseren Brüdern! Mensch, Kummer, predige diesen Seelenhändlern Moral mit deinen Gedichten — sie stecken dich in eine Uniform, und einen Monat später bewunderst du in Marokko die Palmen! Die Seele im Menschen, der Geist der Erneuerung — daß ich nicht lache! Hier, die Faust ist eine Macht! Setze sie einem unter die Nase, ramme sie in einen feisten Spießermagen, und du wirst der ordnende Herr sein, der Herakles im Augias-Stall! Die Welt gehorcht nur dem Stärkeren, nicht dem, der sie süß besingt! Einen Dante belächelte man und machte ihn unsterblich — aber ein Ma-chiavelli brauchte nur zu winken, und die Nacken krachten zu Boden und schrien Vivat und dreimal Hurra! Das Leben respektiert nur die Muskeln, nicht den Geist!«
Otto Heinrich schüttelte den Kopf und befreite seinen Mantel sacht aus den Händen Bendlers.
«Man kann die Welt auch anders sehen. Ein Aristoteles hat mehr geleistet als ein Alexander! Die Faust regiert den Augenblick, aber der Geist baut die Entwicklung!«
«Es wird dir keiner dafür danken.«
«Auch Sokrates trank seinen Schierlingsbecher — aber sein Geist des menschlichen Ideals wird ewig sein!«
«Phantast!«Willi Bendler stapfte durch die enge Laube und lehnte sich dann an die feuchte Holzwand.»Du willst den realen Weg nicht sehen! Du steckst, auch wenn du's leugnest, zu fest im behäbigen Bürgertum!«
«Nein, Bendler. «Kummer wandte sich zu ihm um.»Aber ich halte Distanz von allem, was gegen Gesetz und Sitte ist! Ich achte den Menschen, auch wenn ich ihn als Kreatur hasse. Das ist nicht Widerspruch, sondern eine eurem Geiste unmögliche Konsequenz. Der verstoßene Liebhaber wird die Immergeliebte hassen — und trotzdem weiterlieben —, ich, der Verachtete, achte die Menschen, die mich verstoßen. Denn — und das ist die letzte Wand, die uns trennt — ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele, an den weiten Raum des ordnenden Geistes!«
Langes Schweigen folgte nach diesen Worten. Bendler hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, lehnte an die kalte Holzwand und sann. Otto Heinrich schlug den Mantel enger um den frierenden Körper und starrte durch das kleine Fenster in die Sterne.
«Laß uns nicht mehr davon sprechen«, sagte Bendler endlich langsam.»In wenigen Tagen bin ich in Böhmen. Wir gehen dann unsere Wege. Vielleicht treffen wir uns irgendwo einmal, dann soll die kurze Stunde der Erinnerung gehören und mit der Nacht verblassen. Ein jeder Mensch muß ja sein eigenes Leben leben, am Ende, bester Freund, stirbt jeder doch für sich allein! — Nur einen Wunsch noch habe ich: Verberge mich diese Nacht und den Tag über bei dir. Wenn es wieder dunkelt, werde ich in den Wäldern untertauchen — für immer!«
Otto Heinrich nickte. Er streckte dem Freund die Hand hin und fühlte einen dankbaren Druck.
«Komm, Bendler«, sagte er.»Du sollst das Wiedersehen nicht bereuen!«
Als Bendler in die kleine Kammer trat, blieb er einen Augenblick stehen und sah sich um.
«Nichts hat sich verändert«, sagte er leise.»Der Tisch, die Lampe, der Ofen, die alte Waschschüssel und die steinharten Betten. «Er ging zu seiner früheren Bettstelle.»Heinrich, Heinrich, mir graut vor dir!«rief er lachend.»In dieser Umgebung kannst du atmen?! Ich würde hier ersticken, wenn ich es länger als einen Tag aushalten sollte!«
Otto Heinrich kniete vor dem Ofen und versuchte die glimmende Glut anzublasen. Er legte einige Scheite trockenes Holz darauf und blies so lange, bis sich eine kleine Flamme emporringelte. Dann schloß er schnell die Ofentür vor dem beißenden Qualm.
«Du willst dich sicherlich waschen und rasieren«, sagte er zu Bend-ler, den er erst jetzt im Schein der Lampe richtig betrachten konnte.»Du siehst aus wie ein Vagabund.«
«Bin ich auch.«
«.und Ruhe brauchst du auch! Wasser, mein Rasiermesser, Seife und alles, was du brauchst, kannst du nehmen!«
Bendler nickte und begann sich zu entkleiden.
Nachdem er sich gewaschen und rasiert hatte, griff er nach einem Flacon und träufelte sich ein Parfüm auf die Handfläche, mit dem er sein geschabtes Kinn einrieb.
«Pariser Düfte.«, er lachte.»Der Segen der Kultur. habe ich lange und gern entbehrt!«
«Aber du nimmst es doch!«
Bendler zuckte die Achseln.
«Der Mensch ist von Natur aus schwach für alle Reize.«
Er lachte wieder schallend, riß die Decken seines Bettes zurück und warf sich mit dem ganzen Körper hinein, wie es bei ihm Gewohnheit war. Laut krachte das Gestell in allen Fugen.
«Gute Nacht«, sagte er noch und drehte sich auf die Seite.»Und vergiß nicht, mich morgen einzuschließen. Es wäre für Knackfuß ein Herzschlag, wenn er mich hier fände!«Er gähnte laut.»Diese Müdigkeit — zwei Tage und Nächte auf den Sohlen, das geht in die Knochen, und endlich ein Bett. Heinrich, du bist eine treue Seele.«
Er schwieg und atmete tief. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.
Otto Heinrich löschte die Lampe und lag noch lange wach.
Er unterdrückte in seiner Brust das Gefühl, mitschuldig an der Flucht eines Mörders zu werden.
Doch dieser Mörder rettete durch seinen Mord den Vater.
Aber Mord bleibt Mord! Auch der Mord als edle Tat!
Otto Heinrich fror und zog die Decke bis zum Hals.
Warum denken… wie seltsam ist das Spiel des Schicksals. Ein Freund ist in Gefahr, darf man da zögern.?
Im Dunkel der folgenden Nacht tauchte Willi Bendler unter.
Noch einmal umarmten sich die Freunde, dann hastete der Riese in langen Sätzen dem Walde zu. Über Lauterstein und Marienberg wollte er an die Grenze und von dort nach Brüx an der Bie-la. Sein Freikorps, das sich bei Klostergrab sammelte, würde dann bei Burg Purschenstein wieder über die sächsische Grenze treten und versuchen, die Freiberger Mulde hinauf nach Meißen zu ziehen. Von dort aus sollten die Dinge ihren weiteren Lauf nehmen.
Voller Gedanken ging Otto Heinrich in das Haus zurück und stieß auf dem unteren Flur gegen den Apotheker Knackfuß.
Er trug über dem Nachthemd einen verschnürten Schlafrock und hielt eine lange Unschlittkerze in einem silbernen Leuchter in der Hand.
Bebend vor Erregung trat er auf Kummer zu und hielt ihm eine Kerze ins Gesicht. Geblendet von dem plötzlichen Lichtschein prallte der Jüngling zurück.
«Wo waren Sie?«brüllte Knackfuß. Seine Stimme überschlug sich und wurde grell.»Welches Frauenzimmer lassen Sie da nachts heraus?!«
«Herr Prinzipal!«Kummer reckte sich und verstärkte seine Stimme.»Ich muß schon bitten.«
«Halten Sie den Mund! Mein Haus ist kein Bordell, merken Sie sich das! Nicht genug, daß Sie die Geheimpolizei ins Haus locken und als Feigling die Aussage verweigern, kompromittieren Sie meinen ehrsamen Namen durch Ihre nächtlichen Dirnen. Sie sind ein ehrloser Lümmel!«
Otto Heinrich, über den der Wortschwall wie eine heiße Woge einstürzte, hielt sich am Rahmen der schweren Eichentür fest, um dem Wütenden nicht ins Gesicht zu springen. Vor seinen Augen flimmerte es, aber das Versprechen, Trudels Vater zu ehren, hielt ihn ab, seine Faust in das schreiende Gesicht zu setzen.
«Ehrlos sind Sie«, sprach er hart.»Sie spionieren mir nach, Sie überwachen mich wie einen Verbrecher.«
«Und mit Recht! Mit Recht!«Knackfuß schrie und stellte den
Leuchter mit einem Krach auf die Konsole, die an der Längsseite des Flures stand.»Die Reinheit meines Hauses lasse ich mir nicht beschmutzen! Vor Ihnen gibt es nichts Heiliges. Nicht einmal die Unschuld eines Mädchens.«
Kummer zitterte am ganzen Körper. Er preßte die Hände an die Brust und zwang sich, ruhig zu sein.
«Lassen Sie Trudel aus dem Spiel, Sie Satan! Es wird ein ewiges Wunder der Natur sein, daß ein Teufel der Vater eines Engels ist!«
Der Apotheker keuchte. Seine faltige Haut wurde wieder gelb, die Augäpfel standen starr in den Höhlen. Jetzt kommt ein Anfall, dachte Otto Heinrich schnell, aber ich lasse ihn diesmal liegen, wenn er umfällt.
«Schuft!«geiferte Knackfuß.»Lump und Betrüger! Lügt sich die Feigheit aus dem Körper und hurt in meinem Hause! Oder bog kein Mantel um die Ecke?!«
«Ja.«
«Ah, ja! Sie gestehen! Sie sagen mir dreist ins Gesicht, daß Sie aus meiner Apotheke ein Bordell machen?! Ich setze Sie vor die Tür, heute nacht noch — Sie packen Ihre Sachen und ziehen dem Frauenzimmer nach!«
«Es war keine Frau — es war ein Mann!«
Knackfuß erstarrte. Ungläubig zwinkerte er mit den Wimpern und dämpfte seine Stimme.
«Ein Mann?«
«Ja, ein Mann.«
«In der Nacht? Heimlich?«
«Es gibt im Leben Dinge, die sich nur im Dunkeln abspielen!«
«Gewiß, gewiß!«Ein gehässiges, breiiges Lachen durchschüttelte die Gestalt des Apothekers. Voller Hohn nahm er die Kerze und wandte sich um.»Wenn es so ist. Ich werde es Trudel schreiben, daß sie ihre Liebe an einen Falschen verschwendete. Der Herr Geliebte hat lieber hübsche Männer als hübsche Weiber im Bett!«
Einen Augenblick stand Otto Heinrich wie gelähmt. Unfähig, auch nur ein Glied zu rühren, starrte er Knackfuß an und brauchte eine
Zeitlang, die Ungeheuerlichkeit zu begreifen. Dann aber sprang er mit einem großen Satz auf den Apotheker zu, riß ihn herum, schlug ihm die Kerze aus der Hand und krallte sich in seinen Morgenmantel fest.
«Das nehmen Sie zurück, Sie Schwein«, zischte er und schüttelte die um sich schlagende Gestalt hin und her.»Das nehmen Sie zurück. oder. oder. ich bringe Sie um!«
«Lassen Sie mich los!«schrie Knackfuß und versuchte in der Dunkelheit Kummers Kehle zu ergreifen.»Ich überliefere Sie der Polizei! Lassen Sie mich los, gebrauchen Sie Ihre Kraft bei Ihren männlichen Liebchen!«
Vor Otto Heinrichs Augen zischte eine Flamme auf. Sie wurde größer und größer, wuchs ins Riesenhafte und blendete die brennenden Augen. Der Atem stockte ihm.»Luft!«wollte er schreien,»Luft!«und sah plötzlich in dem Meer von Feuer eine grinsende Fratze!
Mit aller Wucht seiner Faust schlug er der Erscheinung mitten ins Gesicht und taumelte zurück an die Wand.
Langsam erlosch die Flamme vor seinen Augen.
Fahle Dunkelheit umgab ihn.
Zu seinen Füßen lag, lang hingestreckt, der Apotheker.
Ein stechender Schreck jagte Kummer zum Herzen.
Er hatte Knackfuß zu Boden geschlagen.
Er hatte seinen Prinzipal geschlagen.
Das Ungeheuerlichste, Niegeahnteste war geschehen: er hatte sich an seinem Herrn vergriffen!
Mit einem lauten Stöhnen wandte er sich ab und jagte die Treppe hinauf in seine Kammer, warf sich auf sein Bett und vergrub sein Gesicht in die Decken.
Du bist ein Schuft, schrie es in ihm, du hast dich nicht beherrscht, du bist ein Lump, der seinen Meister schlägt. Den Apothekerstand hast du besudelt, du, in deiner Ehre gekränkter Fant, du, Otto Heinrich Kummer, Sohn eines ehrbaren, hochgeachteten Vaters. Dein Name ist beschmutzt, alles, alles, hast du mit diesem Schlag erschlagen… den Beruf, die Heimat, die Liebe und Ehre der Eltern, das Recht auf Achtung, die Stimme des Gewissens, die Schönheit einer erträumten Zukunft.
Lautes Weinen erschütterte den schmalen, gequälten Körper. Die Finger krallten sich in die Decken und rissen an dem Tuch.
«Vergebung«, stammelte Kummer.»Wenn keiner vergibt, du, Herr im Himmel, verzeih mir.«
Schluchzend lag er die halbe Nacht und horchte auf jedes Geräusch im Hause. Aber nichts rührte sich.
«Ich habe ihn erschlagen«, stammelte er.»Ich habe ihn ermordet. ich bin ein Mörder.«
Doch er wagte es nicht hinunterzugehen und nachzusehen. Er lag auf seinem Bett, starrte an die Decke und wand sich in der Qual seines Gewissens.