GREENWICH

12

Der Greenwich Palace offenbarte sich als Ansammlung von Türmchen und spitzen blauen Schieferdächern, eingerahmt vom südöstlichen Bogen der Themse. Von der Anhöhe aus, wo wir hielten, um unsere Pferde verschnaufen zu lassen, bot dieser Palast – ein abgeschiedenes Anwesen in waldiger Gegend, weit genug entfernt vom Durcheinander Londons – einen viel lieblicheren Anblick als der gigantische Steinhaufen von Whitehall. Man konnte sich kaum vorstellen, dass hier irgendeine Bedrohung lauern sollte. Und doch glaubte Cecil, der Herzog habe den König hier gefangen gesetzt und beabsichtige, von hier aus gegen Elizabeth vorzugehen.

»Sie ist in Greenwich geboren«, unterbrach Robert meine Gedanken. »Am siebten September 1533.« Er lachte. »Was für ein Theater das war! König Henry marschierte schon seit Monaten durch die Gegend, drosch auf zahllose Köpfe ein, ließ nicht wenige davon abschlagen und posaunte überall herum, dass seine geliebte Königin ihm einen Sohn schenken würde. Doch als Anne Boleyn niederkam, brachte sie nichts weiter zur Welt als eine, wie Henry es ausdrückte, ›wertlose Tochter‹.«

Ich warf ihm einen Seitenblick zu. »Eine wunderschöne Geburtsstätte, Mylord. Sie muss diesen Palast sehr lieben.«

»O ja. Schon als Kleinkind hatte sie hier auf Königin Annes ausdrücklichen Wunsch ihre eigenen Gemächer. Anne wollte ihre Tochter in ihrer Nähe behalten, ganz gleich, was Henry davon hielt.« Robert richtete sich im Sattel auf. »Ob sie wohl schon eingetroffen ist? Es würde ihr ähnlich sehen, uns warten zu lassen.«

Das konnte ich nur hoffen. Je länger die Prinzessin eine Begegnung hinauszögerte, desto mehr Zeit hatte ich, die Lage zu erkunden. Cecil hatte gesagt, es sei anzunehmen, dass Edward im Palast selbst untergebracht war, und zwar in den sogenannten Geheimgemächern, einer Reihe von bewachten, durch einen langen Gang verbundenen Zimmern, die dem Monarchen Ruhe und Ungestörtheit bieten sollten. Je mehr ich über Edwards tatsächlichen Aufenthaltsort in Erfahrung brachte, desto eher konnte Cecil sich über die Pläne des Herzogs klar werden. Außerdem musste ich möglichst bald von Peregrine erfahren, wer mir folgte und warum.

»Dann mal los!«, rief Robert. »Der Letzte am Ziel muss die Pferde füttern!«

Hell auflachend gab er seinem Apfelschimmel die Sporen. Auch Cinnabar reagierte auf den leisesten Schenkeldruck, froh über die Gelegenheit, seine Kraft zu demonstrieren. An tägliche Ausritte in der Umgebung der Dudley-Burg gewöhnt, konnte mein Prachtross sich nur schwer mit den langen Stunden im Stall abfinden. Den Wind im Gesicht, von Cinnabars starken Flanken getragen, überließ ich mich ganz dem Moment, schwelgte in der Erinnerung an die Tage, da ich als Junge ohne Sattel über die Felder geritten war und mich für kurze Zeit so gefühlt hatte, als hätte ich keinerlei Sorgen.

Der Palast türmte sich vor mir auf, roter Backstein, mit grotesken Stuckfiguren gespickt, achteckige Schornsteine, aus denen würziger Rauch quoll, und Irrgärten, die nach Kräutern und Immergrün dufteten. Mit herrischen Gesten, sein Pferd wie einen Keil vorwärtstreibend, steuerte Robert uns zwischen den am Haupttor versammelten Höflingen hindurch. Vorbei an einem Wächter ritten wir in einen gepflasterten Hof, der von Bauten in Tudor-Grün und Weiß umgeben war.

Knechte führten schweißnasse Pferde in die Stallungen, während Edelleute in Ledercapes die Handschuhe abstreiften und sich ins Innere des Palastes begaben.

Robert sprang aus dem Sattel und löste seine Taschen vom Sattel. »Ich habe die Wette gewonnen«, verkündete er. »Kümmere du dich um die Pferde, und warte dann in meinen Räumlichkeiten am Innenhof auf mich. Ich muss mich erst bei meinem Vater melden.« Damit ließ er mich bei den schnaubenden Rössern stehen. Natürlich hatte er nicht bemerkt, dass ich Cinnabar absichtlich gezügelt hatte, um hinter ihm zurückzubleiben.

Ich führte die Pferde in einen Stall. Gehetzte Knechte versorgten eine Unmenge von Reittieren, sattelten sie ab, rieben sie trocken, häuften ihnen Heu und Hafer in die Futterkrippen.

Keiner nahm von einem weiteren Knecht unter ihnen Notiz. Ich erkannte den schimmernden Rappen des Herzogs, der gesondert von den anderen in einer eigenen Box untergebracht war, von wo es durch ein Seitentor zu einem weiteren Wildpark hinausging. Ich führte auch unsere beiden Pferde hinein. Wie sein Sohn hatte Northumberland es verschmäht, zu Wasser zu reisen. Ich konnte es ihnen nachfühlen; große Flussläufe waren mir von jeher unheimlich gewesen – eine Kindheitsangst, die ich nie so recht hatte überwinden können.

Ich begrüßte den Rappen mit einem Zungenschnalzen, als ich Roberts Apfelschimmel und meinen Cinnabar neben ihm einstellte. »Genieße deinen Aufenthalt«, murmelte ich Cinnabar zu. »Wer weiß, wo wir das nächste Mal unterkommen.« Dankbar für den Auslauf schnaubte er.

Ein livrierter Reitknecht näherte sich mir. »Werdet Ihr Futter brauchen?«

Ich nickte und angelte in meinem Wams nach einer Münze. »Ja, bitte, und …« Ich stockte, starrte den Burschen an. »Wo, in Gottes Namen, hast du die grüne Weste her? Gestohlen?«

Peregrine grinste. »Geborgt. Die Knechte hier in Greenwich sind ja so leicht zu bestechen. Die ziehen sich nackt aus, wenn sie ein Goldstück glänzen sehen.«

»Tatsächlich?« Ich wandte mich zu den Pferden um und senkte die Stimme. »Hast du ihn gefunden?«

Meinem Beispiel folgend, machte Peregrine sich ebenfalls bei den Pferden zu schaffen und schüttete ihnen Heu auf.

»Ja, er ist hier.«

»Im Palast?«

»Ja. Als du mich fortgeschickt hast, bin ich ihm zu einer Taverne gefolgt, wo er sein Pferd angebunden hatte. Er hat sich nicht mal die Zeit genommen, etwas zu trinken, und hat sich gleich auf den Weg gemacht. Prompt ist er im Zug der Bediensteten aus Whitehall stecken geblieben. Das bot mir eine Gelegenheit, auf einen Karren aufzuspringen. Er ritt neben uns her, hielt aber Abstand, als ob er besser riechen würde. Dabei hatten wir es richtig lustig, mit Bier in rauen Mengen und Gesang. Gleich nach der Ankunft begab er sich in die Gemächer der Königin. Die Wachen am Tor haben ihn ohne Kontrolle durchgewunken. Er muss wohl einen besonderen Status haben.«

»Die Gemächer der Königin?«, fragte ich. »Aber Seine Majestät ist doch gar nicht verheiratet.«

Peregrine schüttelte den Kopf, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall. »Ja, schon, aber man nennt sie eben so, weil die Ehefrauen vom alten Henry dort gewohnt haben. Und rate mal, wer jetzt dort untergebracht ist? Jane Grey und ihre Mutter, die Herzogin von Suffolk. Sicher steht unser Mann im Sold der Suffolks.«

Ich ließ mir meine Unruhe nicht anmerken. Hatte die Herzogin einen ihrer Untergebenen auf mich angesetzt? Wenn ja, dann hörte sie gerade von meinem Zwangsbesuch in Cecils Herrenhaus.

»Wie sieht er denn aus? Groß oder klein? Dick oder dünn?«

»Etwas größer als du«, meinte Peregrine, »und irgendwie spitzgesichtig wie ein Frettchen.«

»Ein Frettchen?« Ich musste grinsen. »Das kann ich mir gut merken. Ausgezeichnet, Peregrine. Tut mir leid, dass ich dir die Münze nicht zurückzahlen kann, die du für die Weste ausgegeben hast, aber was nicht ist, kann ja noch werden, stimmt’s?« Ich fuhr ihm durch das Haar und wollte mich schon abwenden, als ich ihn höhnisch auflachen hörte.

»Ich will dein Geld nicht. Münzen kann ich mir genug beschaffen. Es gibt immer Lords und Ladys, die für Spitzeldienste bezahlen. Was ich will, ist, für dich zu arbeiten. Ich hab genug vom Stallausmisten. Ich glaube, du würdest einen guten Herrn abgeben.«

Ich war verblüfft, obwohl ich es natürlich hätte kommen sehen müssen. Der Junge hatte seit unserer ersten Begegnung an mir geklebt wie eine Klette. Ganz gleich, wie ich meine Lebensumstände einschätzte, für ihn war ich jemand, den zu beeindrucken sich lohnte – der Junker des Sohns des Herzogs, der ihm verpflichtet war, weil er mich vor einem möglicherweise bösen Verfolger gerettet hatte, und der stets ein paar Münzen für ihn übrig hatte.

Aber dann fiel mir eine Lösung ein.

»Sehr schmeichelhaft.« Ich lächelte. »Aber leider kann ich mir dich nicht leisten.«

»Wieso nicht? Ich koste nicht viel, und du bekommst doch sicher ein ordentliches Gehalt. Sekretär Cecil bezahlt seine Leute immer gut, und … Hör auf!« Er duckte sich vor der wohlverdienten Kopfnuss.

Ich sah mich um. Die Stallknechte waren zu beschäftigt, um auf uns zu achten, zumal uns die Zwischenwände der Boxen verbargen. Trotzdem war nicht auszuschließen, dass sich ein Lauscher in der Nähe befand.

Ich zog Peregrine dicht an mich heran. »Ich habe dir nie gesagt, wer mich entlohnt«, zischte ich.

Er zuckte zurück. »Ach, nein? Ich … ich muss mir gedacht haben …« Er kaute auf der Unterlippe. Ich konnte förmlich beobachten, wie sein helles Köpfchen sich die Ausreden zurechtlegte. »Du wurdest zu seinem Haus gebracht …« Er stockte. Das klang nicht überzeugend, und er wusste es.

Ich musterte ihn mit regloser Miene, bis er zum Boxentor schaute. In der Sekunde, bevor er losrannte, bemerkte ich die Panik in seinem Gesicht. Ich sprang vor und packte ihn am Kragen. Obwohl er aus kaum mehr als Haut und Knochen bestand, war er erstaunlich kräftig, aber schließlich schaffte ich es, ihn mir unter den Arm zu klemmen wie einen ungebärdigen Welpen.

»Ich glaube«, keuchte ich, »es ist an der Zeit, dass du mir sagst, für wen du arbeitest.«

»Für niemand!«

Ich verstärkte den Druck und griff mit der freien Hand demonstrativ nach meinem Dolch. »Ich darf’s nicht sagen!«, wimmerte er in schrillem Diskant. »Wenn ich’s tue, bringt er mich um!«

Das klang schon besser. Ich lockerte den Griff und wartete noch einen Moment, bevor ich ihn losließ. Es sprach für ihn, dass er nicht noch einmal zu flüchten versuchte.

»Ich bin enttäuscht von dir. Ich dachte, du wärst mein Freund.«

»Ich bin dein Freund«, erwiderte er mit eindrucksvoller Entrüstung. »Ich hab dir doch geholfen, oder nicht? Ich hab dich gewarnt, dass dich jemand beschattet, und ich bin diesem Knecht der Suffolks bis hierher gefolgt. Niemand hat mich dafür bezahlt.«

»Ach so? Wenn ich mich recht entsinne, habe ich dich bezahlt. Vier Mal, wie mir scheint.«

»Immerhin habe ich mein Leben riskiert.« Er warf sich in Pose. »Und wofür? Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht gibst du doch keinen so guten Herrn ab.«

Ich lächelte kalt. »Walsingham war es also, nicht wahr? Er hat dir aufgetragen, mich in den Hohlweg zu lotsen, wo ich überwältigt werden sollte. Du hast meine Entführung nicht zufällig mit angesehen. Du wusstest schon vorher davon. Hat er dir aufgetragen, so zu tun, als wolltest du mich bestehlen, oder ist dir das selbst eingefallen? Gute Idee übrigens – entwaffnend naiv, und doch hervorragend geeignet, um ins Gespräch zu kommen und Freundschaft zu schließen.«

Peregrine scharrte mit den Füßen im Stroh und schlug die Augen nieder, ein Bild der Zerknirschung, das ich ihm keine Sekunde lang abkaufte.

»Dann bist du mir nachgeschlichen«, fuhr ich fort, »und bist angeblich auf diesen gedungenen Suffolk-Mann gestoßen, der sich um uns herumdrücken soll. Gibt es ihn wirklich? Oder ist das auch wieder nur einer von Walsinghams Winkelzügen?«

»Aber sicher gibt es ihn!«, begehrte er wütend auf. »Warum sollte Walsingham uns reinlegen? Ihr arbeitet doch beide für Cecil.«

»Mag sein, aber ich hätte nie gedacht, dass du mir etwas vormachen würdest.«

»Hab ich doch gar nicht!« Sein Protest tönte so schrill durch den ganzen Stall, dass die Pferde nervös mit den Hufen stampften und die Knechte hochschreckten. Betroffen senkte er die Stimme. »Ich hab dir nichts vorgemacht. Und ich bin nicht Walsinghams Lakai. Ja, es stimmt, dass er mir befohlen hat, dich zu dem Hohlweg zu lotsen. Er wusste, dass du im Heu geschlafen hattest, keine Ahnung, woher. Aber ich arbeite nicht für ihn und habe auch kein Geld von ihm bekommen. Er hat mir einfach nur gedroht: Entweder ich tue, was er von mir verlangt, oder … Und als diese Männer dich verschleppten, dachte ich, jetzt geht es dir an den Kragen. Darum bin ich dir gefolgt – für alle Fälle.«

»Für den Fall, dass du meine Leiche aus dem Fluss fischen und meine Börse stehlen könntest?«

Er funkelte mich wütend an. »Für den Fall, dass du mich brauchst! Ich … ich mag dich.«

In seinem Bekenntnis klang so etwas wie unbeabsichtigte Ehrlichkeit durch. An seiner Stelle hätte ich mich genauso verhalten. Ich wusste, wie es sich anfühlte, Angst zu haben und alles zu verlieren. Und Walsingham war nicht einer, der sich mit einem Nein abspeisen ließ, schon gar nicht von einem Dreikäsehoch, den er ebenso gut mit Tritten hätte traktieren können.

»Also gut, nehmen wir mal an, ich glaube dir.« Ich seufzte. »Aber anstellen kann ich dich trotzdem nicht. Ich besitze keine Reichtümer, von denen ich zehren könnte. Und wer weiß, was passiert, wenn dir das nächste Mal jemand ein paar Münzen in die Hand drückt?«

»Von mir aus arbeite ich auch umsonst, um mich zu bewähren. Ich fürchte mich vor nichts. Ich gehe überallhin, wo du mich hinschickst, finde alles heraus, was du wissen willst. Du musst es mir nur sagen.«

Ich milderte meinen Tonfall. »Es tut mir wirklich leid, aber die Antwort ist nein. Dieser Auftrag, den man mir anvertraut hat … das könnte sehr gefährlich werden. Diesem Risiko will ich dich nicht aussetzen.«

»Die Gefahr begleitet mich schon mein Leben lang. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Das weiß ich. Aber ich kann es nicht zulassen.«

»Wieso denn nicht? Das sieht doch jeder, dass du jemanden brauchst, der dir hilft. Du kannst unmöglich hoffen, die Prinzessin zu retten, wenn nicht …« Peregrine schlug sich die Hand auf den Mund und sprang zurück in Cinnabars Box. Zu seinem Glück hatte mein Pferd ein sanftes Gemüt und schlug nur aus, wenn es provoziert wurde.

»Woher weißt du das?«, fuhr ich ihn an. »Und wage es nicht, mich wieder zu belügen, sonst wirst du es bereuen, mich kennengelernt zu haben.«

»Ich habe es zufällig aufgeschnappt. In Cecils Haus stand ein Fenster offen.«

»Du hast alles mit angehört?«

»Ja. Unser Verfolger hätte mich fast gesehen. Er schlich an der Hecke vorbei, in der ich mich versteckt hielt. Ich hätte den Arm ausstrecken und ihn am Umhang packen können.«

Ich erstarrte. »Er hat ebenfalls alles mit angehört?«

»Ich weiß nicht. Sicher nicht alles. Dafür war er nicht lange genug dort. Als Cecils Frau und Sohn in den Garten kamen, hat er sich aus dem Staub gemacht.«

»Cecils Frau und Sohn? Du wusstest, wer sie waren? Du bist wirklich eine kleine Schlange, was?«

Er lachte nervös. »Ja! Bin ich. Siehst du? Die kleine Schlange kann dir von Nutzen sein.«

»Nicht so schnell. Was weißt du sonst noch? Sag’s mir lieber gleich. Ich hasse Überraschungen.«

»Nichts. Ich schwöre es dir bei der Seele meiner Mutter, möge sie in Frieden ruhen, wer auch immer sie war.«

Wer auch immer sie war

Ich zögerte. Ich hätte ihn nach Whitehall zurückschicken sollen, zurück in sein anonymes Halunkenleben, das immer noch harmloser war als alles, was ihm hier blühen mochte.

Doch ich wusste, dass ich das nicht tun würde. Ich sah mich selbst in ihm, das Kind, das ich einst gewesen war. Er hatte eine Chance verdient. Ich hoffte nur, keiner von uns würde Grund haben, es zu bereuen.

»Ich erwarte von dir, dass du deinen Unterhalt auch verdienst«, sagte ich. »Und dass du mir in allem gehorchst.«

Er deutete eine unbeholfene Verbeugung an. »Sehr wohl, Herr. Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Und lass den Unsinn mit dem Herrn. Mein Name genügt.«

Peregrine strahlte so glücklich, dass es mir das Herz erwärmte. Es war sicher eine ungewöhnliche Art, einen Freund zu gewinnen, aber genau das hatte ich eben getan.

13

Wie sich weiter erwies, war mein Freund außerordentlich gut mit Greenwich vertraut. Schließlich war er schon mehrmals dort gewesen, jeweils mit verschiedenen Aufgaben, unter anderem als Küchenjunge. Da er auch auf Frachtbooten gearbeitet hatte, die Vieh von London die Themse hinauftransportierten, und die Tiere persönlich zu ihren neuen Eigentümern geführt hatte, konnte er auf Anhieb meine Fragen über den Palast beantworten. Und nicht nur das. Er wusste sogar zu berichten, dass der Greenwich Palace – wie die meisten der von den Tudors bevorzugten Residenzen – auf den Überresten einer verfallenen Burg errichtet worden war. Als ich das hörte, erkundigte ich mich natürlich sofort nach den Geheimgemächern und deren Zugängen.

»Die Gentlemen of the Privy wachen über diese Gemächer«, klärte mich Peregrine auf, als wir in den inneren Burghof traten. »Sie haben die Aufgabe, die Galerie zu den königlichen Gemächern zu sichern und jedem Unbefugten den Zugang zu verwehren. Natürlich kann man auch sie bestechen, aber das zu versuchen ist nicht ungefährlich. Verrät ein Gentleman of the Privy den König, kann ihn das leicht seine Stellung und den Kopf kosten, je nachdem, wie wütend der König darüber ist.«

»Kennst du irgendwelche von Edwards Leibdienern?«

»Du kennst einen. Dein Herr, Lord Robert, gehört dazu.«

»Ich meine, einen, dem wir trauen können.«

Er überlegte. »Da wäre Barnaby Fitzpatrick. Er ist seit frühester Kindheit mit dem König befreundet. Hin und wieder hat er Edward in die Stallungen begleitet. Er hat nie viel geredet, sondern hat einfach nur dagestanden und über Edward gewacht. Allerdings weiß ich nicht, ob er noch im Palast ist. Ich habe gehört, dass die meisten von Edwards Vertrauten wegen seiner Erkrankung verbannt worden sein sollen. Angeblich hätten sie Seine Majestät einer Ansteckung ausgesetzt, obwohl er mir noch ganz gesund erschien, bevor ihn der Herzog in die Finger bekam.«

»Peregrine, du bist eine wahre Goldmine, was Wissen betrifft.« Ich setzte meine Kappe auf. »Wenn du je auf die Idee kommst, mich zu verraten, bin ich verloren.«

Er bedachte mich mit einem enttäuschten Blick. »Soll ich Barnaby suchen? Vielleicht kennt er einen zweiten Zugang zu den Geheimgemächern, oder willst du nun doch nicht dort rein?«

Verstohlen blickte ich über die Schulter. Im selben Moment erkannte ich, dass das Ausspähen der Umgebung bei mir zur zweiten Natur geworden war. »Sprich leise. Doch, ja, Fitzpatrick könnte nützlich sein. Such ihn, aber verrate ihm nichts. Ich weiß nicht, wo du mich antreffen wirst, aber …«

»Ich werde dich finden. Das ist mir ja schon einmal gelungen. So groß ist Greenwich schließlich nicht.«

Ich nickte. »Dann viel Glück. Aber was immer du tust, halte dich von Ärger fern.«

In seiner Ausstattung für den Stalldienst, wenn auch ohne die Schürze, jagte Peregrine durch den Hof und eine Treppe hinauf. Ein Stoßgebet für seine Sicherheit flüsternd, marschierte ich in die entgegengesetzte Richtung, wo sich der Flügel für die adeligen Herrschaften befand. Ich hatte mich entschlossen, den Sattel und mein Gepäck in einem von Stroh bedeckten Versteck in Cinnabars Nähe zu lassen, wo niemand es stehlen konnte, ohne zertrampelt zu werden. Bei aller Gutmütigkeit hatte mein Pferd etwas gegen Fremde, die seine Box durchsuchten. Nur meinen Dolch hatte ich mitgenommen, der sich gut im Stiefel unterbringen ließ, sodass ich mich frei von jeder Last bewegen konnte.

In den Gängen war es ruhig. Mir gegenüber entdeckte ich eine Reihe identischer Türen, die teils geschlossen, teils weit offen waren. Ich hätte Robert fragen sollen, welche davon seine Kammer war, hielt ich mir vor. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als mein Glück mit den Riegeln zu versuchen und in die Kammern zu spähen. Sie waren ähnlich geschnitten und durch einen Leder- oder ausgebleichten Stoffvorhang in einen kleinen Vorderraum und eine Schlafkammer unterteilt. Von Letzteren waren ein paar sogar mit primitivem Abort ausgestattet. Wie im Whitehall-Palast waren die Wände weiß getüncht und die Holzdielen schmucklos. Die karge Einrichtung der Kammern – Hocker oder Holzbank, Tisch, abgenutztes Bett oder Liege auf wackeligen Füßen – war zweckdienlich, nicht mehr. Für höfische Verhältnisse waren die Kammern nicht luxuriös, aber wenigstens frei von Flöhen, Nagern und den in den Burgen überall ausgestreuten, süßlich riechenden Binsen.

Es bedurfte mehrerer Versuche, bis ich Roberts Gemach am hinteren Ende dank seiner Satteltasche und eines aus Whitehall mitgebrachten Lederbeutels identifizieren konnte. Sein mit Schlamm bespritzter Reitumhang hing schief über einer Stuhllehne, als hätte er ihn in aller Eile darübergeworfen.

Er selbst war nicht da. Anscheinend erstattete er gerade seinem Vater Bericht. So hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was ich als Nächstes tun sollte, und vielleicht seine Abwesenheit auszunutzen und seine Statteltaschen nach Hinweisen zu durchwühlen?

Plötzlich schreckte ich hoch. Schritte näherten sich. Mit einem gewaltigen Satz rettete ich mich in die Schlafkammer hinter dem Vorhang, kauerte mich mit angehaltenem Atem nieder und spähte durch ein Loch in dem von Motten zerfressenen Stoff.

In der Tür erschien eine verhüllte Gestalt. Eine Sekunde lang befiel mich die lähmende Angst, das wäre mein eigener Schatten. Ich musste mich zwingen, trotz meiner Furcht hinauszuschauen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich erkannte, dass diese Person trotz Kapuzenmantel und abgewetzten Stiefeln kleiner und schmaler war als ich. Wenn Peregrine sich nicht getäuscht hatte, konnte das unmöglich der geheimnisvolle Unbekannte sein.

Die Gestalt blickte sich in dem Zimmer um. Dann zog sie einen zusammengefalteten Bogen Pergament unter ihrem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch. Damit er dem Bewohner gleich beim Eintreten auffiel, schob sie die dort stehenden Kerzenständer zur Seite. Danach verließ sie den Raum so zügig, wie sie gekommen war.

Ich zählte lautlos bis zehn, ehe ich in den vorderen Teil huschte. Das Pergament war sehr zart und demnach aus teurem Material. Aber es war das Siegel, das meinen Blick bannte. Jenes filigran ausgeschmückte E, das wie von Weinranken umrahmt wirkte, konnte nur einer Person gehören. Ich musste an mich halten, um das Siegel nicht auf der Stelle zu brechen. Darin konnte etwas enthalten sein, das ich wissen musste, etwas, das von Bedeutung für meine Mission sein konnte. Andererseits konnte ich einen Brief von der Prinzessin an Robert doch nicht einfach lesen! Es sei denn …

Mit dem Fingernagel kratzte ich das Wachs am Rand des Siegels weg. Es war noch frisch und ließ sich leicht anheben. Mit hämmerndem Herzen entfaltete ich das Pergament. Von aristokratischer Hand waren zwei kurze Sätze niedergeschrieben worden, und darunter prangte die unverkennbare Initiale.

Mylord, mir scheint, es liegt eine Angelegenheit von einiger Bedeutung vor, die wir erörtern müssen. Wenn es nach Eurem Ermessen möglich ist, dann antwortet bitte auf dem bewährten Wege, und wir treffen uns nach dem zwölften Glockenschlag im Pavillon.

E

Atemlos stand ich da. Das Stakkato der durch den Gang donnernden Schritte hörte ich erst, als sie fast schon die Tür erreicht hatten. Gerade noch rechtzeitig rettete ich mich in mein Versteck.

Diesmal stürmte Robert herein. Er trug immer noch seine Reitausstattung. Seine Züge waren verzerrt. »Warum muss immer ich der Dumme sein, der ihm die Schmutzarbeit abnimmt?« Wütend riss er sich die Handschuhe herunter und schleuderte sie zu Boden.

Hinter ihm erschien, gelassen und makellos wie immer, seine Mutter, Lady Dudley.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Mit fahrigen Fingern brachte ich hastig das Siegel wieder über dem Brief an. Mit einem leisen Klicken schloss sie die Tür. »Robert, lass das. Du bist kein Kind mehr. Einen solchen Wutanfall werde ich nicht dulden. Dein Vater kann dich um Gehorsam bitten, aber ich verlange ihn.«

»Ihr habt ihn. Ihr habt ihn ja immer gehabt. Ich habe sogar diese dumme Robsart-Schlampe geheiratet, weil Ihr und Vater das für das Beste hieltet. Ich habe immer alles getan, was Ihr von mir verlangt habt. Immer.«

»Niemand hat bestritten, dass du ein mustergültiger Sohn bist.«

Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Verzeiht mir, wenn ich Euch bitte, widersprechen zu dürfen. Meiner Erfahrung nach werden Mustersöhne nicht auf absurde Botengänge geschickt.«

»Das ist keine absurde Mission.« Lady Dudleys ausdrucksloser Ton hatte etwas Gespenstisches. »Im Gegenteil, das, worum wir dich bitten, setzt hohes Vertrauen in deine Fähigkeiten voraus.«

»Welche Fähigkeit denn? Diejenige, von einem Moment zum nächsten loszureiten, um eine alte Jungfer zu verhaften, die jeder Schwachkopf mit einer halben Eskorte im Handumdrehen finden könnte? Es ist ja nicht so, als ob sie kämpfen würde. Ich gehe mit Euch jede Wette ein, dass sie nicht mehr als ein halbes Dutzend Soldaten dabeihat, wenn überhaupt.«

»Gewiss.« Zu meiner Erleichterung hatte Lady Dudleys Stimme wieder die gewohnte Strenge und Kälte angenommen. »Und doch könnte ebendiese alte Jungfer deinen Ruin bedeuten.« Ihre Blicke bohrten sich in seine Augen. »Mary hat einen ausführlichen Bericht über den Gesundheitszustand ihres Bruders, des Königs, verlangt. Bleibt der aus, droht sie, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, dass das nur eines heißen kann: Sie erhält Informationen von jemandem hier am Hof.«

»Zweifellos. Sie ist ja nicht dumm. Es gibt hier immer noch genügend Papisten, die mit ihr sympathisieren.«

»Allerdings«, erwiderte Lady Dudley. »Und das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist, dass einer dieser Papisten ihr zur Flucht außer Landes verhilft, damit sie sich ihrem Cousin, dem Kaiser, an die Brust werfen und sich ihm auf Gedeih und Verderb ausliefern kann. Mary muss verhaftet und zum Schweigen gebracht werden, und du bist der Einzige, den wir damit beauftragen können. Keiner deiner Brüder hat die dazu erforderlichen Fähigkeiten. Du dagegen bist schon in Schlachten geritten, kannst Männer befehligen und deinen Willen durchsetzen. Die Soldaten werden deine Anweisungen nicht infrage stellen und Mary anstandslos festnehmen.«

Ich presste die Zähne aufeinander. Sie sprachen über Prinzessin Mary, die ältere Schwester des Königs. Mir fiel wieder ein, was Cecil über sie gesagt hatte, über ihren eisernen Katholizismus und warum sie eine Bedrohung für den Herzog darstellte. Ich beugte mich näher zum Vorhang und verbarg Elizabeths Schreiben unter meiner Jacke. Mir war durchaus bewusst, dass ich in diesem Augenblick den Initiationsritus zur Aufnahme am Hof, den Cecil erwähnt hatte, zum zweiten Mal absolvierte. Der Unterschied war nur: Wenn ich diesmal ertappt wurde, konnte ich die Hoffnung vergessen, lebendig davonzukommen.

»Das alles kann ich ja verstehen.« Als Robert sich verzweifelt mit einer Hand durch das wirre Haar fuhr, musste ich unwillkürlich an einen unsicheren Jüngling denken, der, gefangen zwischen dem eisernen Willen seiner Eltern und seinem eigenen Drang nach etwas ganz anderem, nicht mehr ein noch aus wusste. »Ich weiß, wie viel wir zu verlieren haben. Aber Vater und ich sind uns darin einig, dass Mary keine unmittelbare Gefahr darstellt. Sie hat keine Armee, keine Barone, die bereit wären, sie zu unterstützen, und kein Geld. Vielleicht hegt sie einen Verdacht, aber sie hat keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Elizabeth dagegen ist hier in Greenwich. Mehr als alles andere ist sie jemand, der immer auf die Füße fällt. Ich weiß, dass sie die Vorteile unseres Vorschlags erkennen wird. Und haben wir erst einmal ihre Einwilligung, bleibt uns mehr als genug Zeit, um ihre lästige Schwester zu jagen.«

Ich verharrte regungslos in meinem Versteck und wagte kaum zu atmen, während ich auf Lady Dudleys Antwort wartete.

»Mein Sohn«, sagte sie mit einem leichten Flackern in der Stimme, als müsste sie ein Gefühl unterdrücken, das sie sonst womöglich überwältigt hätte, »dein Vater vertraut mir dieser Tage nichts an. Doch ich weiß, dass er ein gewaltiges Risiko eingegangen ist. Er lenkt dieses Königreich, seit Lord Protector Seymour das Schafott bestiegen hat, und beliebter hat ihn das wahrlich nicht gemacht. Nachdem er zuvor als die rechte Hand des Lord Protector gegolten hat, sieht man ihn jetzt als diejenige Hand, die seinem Herrn den Kopf abgeschlagen hat. Auch wenn ich dir zugestehe, dass dein Vorschlag wohlbegründet ist, müssen wir uns trotzdem immer noch gegen die Suffolks und den Kronrat durchsetzen. Fürs Erste stellen sie nur Fragen. Bald werden sie jedoch Antworten verlangen.«

»Sobald wir Elizabeth haben, haben wir auch Antworten. Das habe ich Vater zu sagen versucht, aber er wollte einfach nicht hören. Sie ist der Schlüssel zu allem. Mit ihr kommen wir an alles heran, was uns noch fehlt.«

»Du bist zu ungeduldig«, tadelte Lady Dudley ihn. »Ohne die Einwilligung des Kronrats kannst du deine Hoffnungen auf eine Annullierung deiner Ehe mit Amy Robsart begraben. Und solange du ihrer nicht ledig bist, gibt es keine Hoffnung auf mehr als eine bloße Freundschaft mit Elizabeth Tudor.«

Aus Roberts Gesicht wich alle Farbe. »Aber Vater hat es mir versprochen!«, brachte er in wütendem Flüsterton hervor. »Er hat mir versprochen, dass sich weder die Suffolks noch der Kronrat mir in den Weg stellen werden. Er hat gesagt, dass die Annullierung kein Problem sein wird und er ihnen zur Not die Klinge seines Schwertes an die Kehle pressen wird, bis sie unterschreiben.«

»Die Umstände ändern sich nun mal«, sagte sie. »Beim jetzigen Stand der Dinge kann dein Vater keine weiteren Zugeständnisse erzwingen. Es steht einfach zu vieles auf dem Spiel. Elizabeth hätte nie nach London kommen dürfen. Damit hat sie das Feuer unter unseren Füßen nur angefacht. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hat, den Kronrat zu bitten, sie ihren Bruder besuchen zu lassen, oder – Gott behüte – das vor aller Öffentlichkeit von uns zu verlangen, dann …« Sie verstummte und ließ die unausgesprochenen Folgen eines solchen verhängnisvollen Schritts bedeutungsschwer zwischen ihnen schweben.

Dann fügte sie hinzu: »Dein Vater braucht Zeit, Robert. Wenn er entschieden hat, dass es besser ist, noch nicht mit Elizabeth zu sprechen, dann musst du seinem Urteilsvermögen trauen. Er tut nie etwas ohne Grund.«

Während sie sprach, sah ich, wie ihre Augen sich ein wenig hoben und vorbei an Robert zum Vorhang blickten. Das Blut gefror mir in den Adern, denn in diesem Moment erkannte ich die Tücke in ihrem Blick. Genau so hatte sie ausgesehen, als sie mich der Herzogin von Suffolk vorgeführt hatte. Wie ein Blitzschlag traf mich die Erkenntnis, dass sie ihrem Sohn ins Gesicht log. Sie führte ihn absichtlich in die Irre.

»Er hat dich nicht im Stich gelassen.« Ihr Ton war auf einmal sanft geworden. »Nur hält er es einfach für klüger, sich erst um Mary zu kümmern. Wer kann bei ihr schon vorhersagen, was sie als Nächstes anstellt? Du sagst, dass sie weder Geld noch Unterstützung hat, aber irgendjemand am Hof füttert sie offenbar mit Nachrichten, und der spanische Botschafter hat immer Geld, wenn sie welches braucht.«

Mir schnürte sich der Magen zu. Warum vermengte sie Lügen mit der Wahrheit? Aus welchem Grund konnte ihr daran gelegen sein, Robert vom Hof und von Elizabeth zu entfernen? Welchen Vorteil versprach sie sich davon, ihren begabtesten Sohn, noch dazu den einzigen, der mit Elizabeth auf vertrautem Fuß stand, in einer Zeit der größten Gefahr für ihre Familie fortzuschicken?

Robert starrte seine Mutter an, als sähe er sie zum ersten Mal. Es lag auf der Hand, dass auch er den Verrat witterte, nur war ihm nicht klar, worin er bestehen mochte. Sein Zögern steigerte die Anspannung bei beiden, bis er sie mit einem spöttischen Lachen auflöste.

»Der einzige Schaden, den Mary anrichten kann, besteht darin, dass sie sich lächerlich macht. Sie hätte schon vor Jahren verheiratet werden sollen – und zwar mit einem Lutheraner. Der hätte ihr dann schon Vernunft in ihren katholischen Dickschädel geprügelt.«

»Sei es, wie es wolle«, konterte Lady Dudley, »du musst zugeben, dass sie ein Hindernis darstellt. Solange sie frei ist, kann sie durch das Land ziehen und Anhänger hinter sich scharen. Der Pöbel liebt verlorene Sachen. Ich meinerseits würde beruhigter schlafen, wenn ich sie im Tower wüsste. Ein, zwei strenge Tagesritte, eine etwas unfreundliche Behandlung von ein paar Stunden Dauer, und die Angelegenheit ist erledigt. Danach kannst du an den Hof und zu deiner Elizabeth zurückkehren. Bis dahin wird sie gewiss nicht eingehen.«

Ich beobachtete die zwiespältigen Gefühle auf Roberts Gesicht, die die Worte seiner Mutter auslösten, und war nicht überrascht, als er schließlich – wenn auch widerstrebend – nickte und missmutig brummte: »Das wird sie mit Sicherheit nicht. Diese Dame ist stur wie ein Esel, ganz wie ihre Schwester. Sie wird sich nicht vom Fleck rühren, solange nicht jede ihrer Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortet ist. Wenn ich Mary ins Gefängnis stecken muss, damit dieser hohlköpfige Kronrat Vernunft annimmt, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich bringe sie in Ketten nach London.«

Lady Dudley neigte den Kopf. »Es erfreut mich, das zu hören. Dann sage ich deinem Vater Bescheid. Er beratschlagt gerade mit Lord Arundel. Sie werden dir selbstverständlich verlässliche Männer an die Seite stellen. Sobald die Vorbereitungen abgeschlossen sind, wirst du alles Weitere erfahren. Möchtest du dich bis dahin nicht noch ein wenig ausruhen? Du siehst so müde aus.« Die Geste, mit der sie ihm die Hand an die Wange legte, hätte zärtlich sein sollen. Doch das war sie nicht.

»Du bist das begabteste von unseren Kindern«, murmelte sie. »Geduld. Deine Zeit kommt schon noch.« Damit drehte sie sich um und rauschte mit wehenden Kleidern davon.

Kaum hatte sie die Tür geschlossen, ergriff Robert den Kerzenhalter und schleuderte ihn an die Wand. Putz spritzte nach allen Seiten. In der Stille, die nun eintrat, keuchte er wie ein in die Enge getriebenes Tier.

In meiner Magengrube breitete sich ein flaues Gefühl aus. Ich gab mir einen Ruck, zerzauste mir kurzentschlossen das Haar, löste die Schnüre meiner Jacke und trat herzhaft gähnend hinter dem Vorhang hervor.

Robert wirbelte herum. »Du? Du warst hier? Du … hast alles gehört?«

»In dieser Situation hielt ich es für das Beste, mich nicht blicken zu lassen, Mylord«, murmelte ich.

Seine Augen verengten sich. »Du erbärmlicher Köter hast mich belauscht!«

Ich senkte die Augen. »Vergebt mir, aber ich war so müde. All der Wein gestern Abend, der Ritt hierher … Da bin ich auf dem Bett Eurer Lordschaft eingeschlafen. Bitte verzeiht mir. Es wird nie wieder vorkommen.«

Er musterte mich scharf. Dann baute er sich vor mir auf und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Benommen taumelte ich zurück. Einen sich ewig hinziehenden Moment lang starrte er mich stumm an. Schließlich knurrte er: »Du hast geschlafen, sagst du? Dann solltest du lernen, den Wein zu vertragen. Oder weniger zu trinken.« Erneut verstummte er.

Ich wagte nicht zu atmen. Meine Ausrede war durchaus plausibel, wenn auch nicht unbedingt überzeugend. Aber immerhin hatte sie ihm eine Blamage erspart. Und vielleicht nahm er in seiner Überheblichkeit tatsächlich an, dass ich von dem Wortwechsel zwischen ihm und seiner Mutter kaum etwas verstanden hatte. Sehr viel Intelligenz hatte er mir schließlich noch nie zugetraut, und ich hatte mich nie zu meinem Wunsch geäußert, mehr zu erreichen, als seiner Familie zu dienen. Freilich war die Gefahr nicht gebannt, dass er mich am Ende doch umbrachte, falls ich eine Bedrohung für seine Sicherheit darstellte. Ich konnte nur zu Gott beten, dass er mich auch weiter als einen Hund betrachtete, der die Hand, die ihn fütterte, nie beißen würde.

Zu meiner Erleichterung begnügte er sich mit einem Tritt gegen den Kerzenständer und stürmte zum Tisch. »Zum Teufel mit meinem Vater! Gerade jetzt, wo ich die Karten so schön in der Hand hatte. Allmählich frage ich mich, ob er mir absichtlich einen Strich durch die Rechnung macht. Erst schickt er mich mit irgendeinem dummen Auftrag zum Tower, während er sie an den Hof lädt, und jetzt hat er schon wieder eine Ausrede gefunden, um mich hinzuhalten.«

Ich bekundete Verständnis, während ich fieberhaft versuchte, die Fragmente zusammenzusetzen, die ich gerade in Erfahrung gebracht hatte.

Zum einen schien die vielgepriesene Einheit der Familie Dudley zu zerbröckeln. Lady Dudley hatte verkündet, dass ihr Gemahl kein Vertrauen mehr zu ihr hatte, obwohl sie stets sein Halt gewesen war, die Eisenstange, an der seine Seidengewänder hingen. Was immer der Herzog mit Elizabeth vorhatte, Robert war jetzt davon ausgeschlossen, obwohl er wiederholt ein Versprechen erwähnt hatte, das ihm offenbar gemacht worden war. Ich traute mich fast zu wetten, worauf diese Zusage hinausgelaufen war.

Darüber hinaus hatte Lady Dudley die Suffolks erwähnt, mit denen die Dudleys jetzt verschwägert waren. Konnte es sein, dass sie, als Blutsverwandte des Königs, sich der für Guilford geplanten Verbindung widersetzten? Jane Grey war eine Großnichte von Henry VIII. Dank ihrer Mutter, der Tochter von König Henrys Schwester, floss Tudor-Blut in ihren Adern. Damit ließe sich erklären, warum der Herzog sich entschieden hatte, Robert auf Mary zu hetzen. Die Einkerkerung der Thronerbin im Tower könnte sich als schlagendes Argument gegen die Vorbehalte der Suffolks erweisen. Oder steckte hinter diesen Machenschaften gar ein noch teuflischeres Motiv?

Ich wollte diese Aspekte noch mehr erforschen, insbesondere, was die Suffolks betraf. Sie spielten hier eine wichtige Rolle, allen voran die Herzogin. Ich musste unbedingt ergründen, welche Absichten sie verfolgte. Elizabeths Sicherheit und auch meine eigene konnten davon abhängen. Doch ein Diener, der nichts erlauscht hatte, sollte auch keine Fragen zum besseren Verständnis stellen.

Schließlich wagte ich die Antwort: »Initiativen wie die von Mylord verdienen Lob.«

Es war ein schwacher Versuch, doch wie die meisten, die verletzt worden waren und nach Rache dürsteten, ging Robert begierig darauf ein. »Eben! Das sollte man meinen. Aber mein Vater sieht das offenbar anders. Und was meine Mutter betrifft … Himmelherrgott, da weiß ich, dass sie nur einen Liebling hat: Guilford. Der Rest von uns könnte von ihr aus auf der Stelle sterben, wenn sie sich zwischen ihm und uns entscheiden müsste.«

Darauf antwortete ich nicht direkt. »Ich habe gehört, dass Mütter ihre Kinder eines wie das andere lieben.«

»Und deine?«, höhnte er. »Hat sie dich etwa nicht zum Sterben vor dem Häuschen unter unserer Burg ausgesetzt?«

Das war eine rhetorische Frage, die nicht nach einer Antwort verlangte. Ich schwieg und ließ ihn weiterreden.

»Sie schert sich einen feuchten Kehricht um mich. Guilford war von Anfang an ihr Liebling, weil er der Einzige ist, den sie beherrschen kann. Sie hat mit Macht seine Vermählung mit Jane Grey betrieben. Vater hat gesagt, dass sie sogar auf Janes Mutter losgegangen ist, als die Herzogin sich am Anfang weigerte, das überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ihre Tochter sei von königlichem Geblüt, soll sie gesagt haben, wohingegen wir Emporkömmlinge wären, die sich höchstens auf die Gunst des Königs berufen könnten. Aber irgendwie hat meine Mutter die Herzogin dann doch noch dazu gebracht einzulenken. So, wie ich sie kenne, hat sie der alten Hexe wahrscheinlich das Messer an die Kehle gehalten.«

Seine Worte gingen mir durch Mark und Bein. Ein Messer an der Kehle der Herzogin: Plötzlich war mir, als wäre ich in einem dunklen Netz gefangen – ohne Aussicht, mich je daraus befreien zu können.

Robert knüpfte sein Wams auf und warf es aufs Bett. »Schande über sie! Schande über sie alle, sage ich! Ich habe jetzt meine eigenen Pläne und bin nicht bereit, sie aufzugeben, bloß weil sie sich das einbildet. Soll sie Mary doch selbst verfolgen, wenn sie meint, dass diese Papistin eine Bedrohung ist. Ich bin kein Lakai, den man nach Belieben herumkommandieren kann.« Er blickte sich im Zimmer um. »Gibt es in diesem gottverlassenen Loch denn nichts zu trinken?«

»Ich bringe Euch Wein, Mylord.« Ich lief sogleich zur Tür, auch wenn ich nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, wo ich welchen finden würde. Aber wenigstens würde ich Zeit gewinnen, um meine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen.

Doch Robert hielt mich zurück. »Nein, vergiss den Wein. Hilf mir beim Entkleiden. Hat keinen Sinn, mir den Verstand zu benebeln. Ich finde schon einen Weg, Elizabeth zu treffen, gleichgültig, ob mit oder ohne Zustimmmung meines Vaters. Ich treffe sie und bekomme ihre Einwilligung, und wenn ich sie habe, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als uns seinen Segen zu geben. Das wäre ja gelacht.«

Ich zog Robert Hose, Hemd und Stiefel aus. Aus seiner Satteltasche nahm ich dann ein Tuch, mit dem ich ihm den Schweiß vom Oberkörper tupfte. »Sie werden aus allen Wolken fallen!«, rief er. »Vor allem Guilford und meine Mutter. Ich kann es kaum noch erwarten, ihre Gesichter zu sehen, wenn ich ihnen die Nachricht mitteile.« Unter dröhnendem Lachen spreizte er die Beine, damit ich die Lederriemen lösen und seine Strumpfhose herunterziehen konnte. »Was ist? Hast du gar nichts dazu zu sagen?«

Während ich seine Unterwäsche zusammenfaltete und auf die Truhe legte, antwortete ich: »Es genügt mir vollauf, Eurer Lordschaft so zu dienen, wie Ihr es für das Beste erachtet.«

Er lachte auf. »Vorwitz und Mut, Prescott, nur damit kann man in dieser Schlangengrube, die wir Leben nennen, vorankommen. Nicht, dass du eine Ahnung davon hast.« Nackt wandte er sich zu seinem Bett um. »Am Nachmittag kannst du tun, was du willst. Sieh nur zu, dass du rechtzeitig wieder da bist, um mir beim Ankleiden für heute Abend zu helfen. Und dass du dich diesmal nicht verläufst! Mein Äußeres muss heute tadellos sein.«

»Mylord!« Einem Impuls folgend, griff ich unter mein Wams. Die Würfel waren gefallen. Niemand sollte Elizabeth Rede und Antwort darüber stehen müssen, warum Lord Robert auf ihre Botschaft nicht reagiert hatte. »Ich habe das hier bei meinem Eintreten auf dem Tisch entdeckt.« Ich hielt ihm die Nachricht entgegen.

Robert riss sie mir aus den Fingern. »Kluges Kerlchen. Es wäre wahrlich nicht gut gewesen, wenn meine Mutter das hier gesehen hätte. Du hast dein Nickerchen gerade zur rechten Zeit gehalten.« Er riss den Brief auf. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. »Was habe ich dir gesagt? Sie kann mir nicht widerstehen! Sie schreibt, dass sie mich heute Nacht an keinem anderen Ort als dem alten Pavillon treffen will. Das ist doch etwas! Sie hat wirklich einen makabren Humor, unsere Bess. Es heißt, dass ihre Mutter ihre letzte Nacht in Freiheit in diesem Pavillon verbracht und vergeblich auf Henry gewartet hat.«

»Und das ist eine gute Nachricht?« Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund.

»Eine gute Nachricht? Herrgott, es ist die beste, die ich seit Langem gehört habe! Steh nicht herum wie ein Ölgötze. Hol mir aus meiner Tasche Tinte und Papier. Ich muss ihr gleich eine Antwort schicken, bevor sie es sich anders überlegt.«

Er kritzelte seine Mitteilung, streute Sand über den Bogen und brachte sein persönliches Siegel darüber an. »Bring ihr das. Sie ist vor wenigen Stunden eingetroffen und hat Gemächer mit Blick auf den Garten verlangt. Nimm die Galerie, die zum Burghof führt, lauf zur Treppe hinüber, und steige zur Galerie hinab. Du wirst sie nicht zu Gesicht bekommen. Am Nachmittag schläft sie gerne. Aber ihre Hofdamen werden auf den Beinen sein. Eine davon ist Kate Stafford. Die hat ihr Vertrauen.« Er feixte. »Ein richtiger Leckerbissen. Was immer du tust, gib den Brief bloß nicht diesem Drachen von Ashley! Sie hasst mich, als wäre ich der Leibhaftige.«

Ich steckte den Brief unter mein Wams. »Ich werde mein Bestes tun, Mylord.«

Er bedachte mich mit einem grausamen Grinsen. »Sieh zu, dass du dein Wort hältst. Denn wenn alles nach Plan geht, könntest du bald Junker des nächsten Königs von England sein.«

14

Sobald ich Roberts Gemach verlassen hatte, rannte ich durch die Galerie, um an einer menschenleeren Ecke stehen zu bleiben und das Siegel auf Lord Roberts Antwort zu untersuchen. Ich stieß einen Fluch aus. Das Wachs war noch nass. Wenn ich jetzt versuchte, das Siegel zu brechen, würde ich das Papier zerstören. Mit dem Vorsatz, so lange zu trödeln, bis es hinreichend trocken war, trat ich in den Hof.

Jetzt nur nicht überstürzt handeln, hielt ich mir vor. Alles, was ich unternahm, konnte sich gegen mich wenden. Dennoch konnte ich Roberts Antwort nicht einfach überbringen und dann abwarten, was als Nächstes geschehen würde. Die Jagd hatte begonnen. Wenn ich mich nicht täuschte, würde Elizabeth die erste von den zwei königlichen Schwestern sein, die im Tower endete. Das war sogar unausweichlich, wenn Robert erfuhr, dass sie nie einem Komplott zustimmen würde, das auf den Tod ihrer beiden Geschwister hinauslief. Dringend wollte ich jetzt mit Cecil sprechen, hatte aber keine Ahnung, wie ich den Sekretär erreichen konnte – was nicht gerade für meine Fähigkeiten als frischgebackener Spion sprach.

Ich würde Elizabeth also bei der Übergabe des Briefs warnen müssen.

Das bedeutete freilich, dass ich eine persönliche Begegnung bewerkstelligen musste.

Ich durchquerte den Hof und trat in einen kurzen Gang, der zu der von Robert erwähnten Treppe führte. Schon begann ich wieder, mir den Kopf über das Siegel zu zerbrechen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Einen Moment lang verharrte ich regungslos. Dann bückte ich mich und zog meinen Dolch aus dem Stiefel. Lautlos huschte ich weiter zu einer offen stehenden Tür, durch die ich eine Gestalt hatte schlüpfen sehen.

Den Dolch in der Faust, schlich ich weiter. Obwohl ich durch die Nase atmete, klang selbst dieses Geräusch schrecklich laut in meinen Ohren. Wer immer sich hier versteckte, konnte in diesem Moment eine Waffe zücken, die noch viel tödlicher war als meine Klinge, und mir den Schädel spalten, sobald ich mich über die Schwelle wagte. Oder trachtete er mir am Ende gar nicht nach dem Leben? Immerhin war er mir schon durch ganz London gefolgt und hätte gewiss mehrmals die Möglichkeit gehabt, mich zu töten. Wahrscheinlich war er mir nach Greenwich gefolgt. Und jetzt lauerte er in diesem Zimmer.

Ich verharrte. Kalter Schweiß perlte über meine Stirn. Ein Schritt noch, und ich wäre drinnen, doch zu meinem Entsetzen erkannte ich, dass ich einfach nicht den Mut aufbrachte, die Tür aufzustoßen und frech auf mich aufmerksam zu machen.

Feigling! Geh rein! Stell den elenden Kerl zur Rede, und bring’s hinter dich!

Ich streckte die Hand aus, jeden Finger bis an die Schmerzgrenze gespannt. Dann berührte ich Holz. Mit erhobener Klinge und einem gedämpften Schrei trat ich endlich die Tür auf und sprang ins Zimmer.

Dort stand ein ganz in Schwarz gehüllter dürrer Mann.

»Himmel!«, keuchte ich wütend. »Ich hätte Euch umbringen können!«

Walsingham erwiderte meinen zornigen Blick. »Das bezweifle ich. Schließt die verdammte Tür. Ich möchte nicht gesehen werden.«

Ich trat die Tür mit dem Fuß zu. Dieser Mann war der Letzte, mit dem ich gerechnet hätte.

Ein leichtes Kräuseln seiner Lippen mochte als Lächeln durchgehen. »Ich bin hier, um Eure Meldung zu hören.«

»Meldung? Was für eine Meldung?«

»Für unseren gemeinsamen Auftraggeber natürlich. Es sei denn, Eure zweifelhafte Treue gilt wieder der Meute von niederträchtigen Verrätern, die Euch aufgezogen haben.«

Ich blickte ihm fest in die Augen. »Ich bin Euch keine Rechenschaft schuldig.«

»Ach nein? Das sehe ich anders. Mehr noch, unser Auftraggeber hat mir Euer Wohlergehen anvertraut. Ab sofort nehmt Ihr Eure Weisungen von mir entgegen.« Walsingham machte eine Kunstpause. »Das bedeutet, dass Ihr, was immer Ihr zu melden habt, mir persönlich berichtet.« In der Dunkelheit des Raumes wirkte er noch größer und so mager, dass man meinen konnte, der geringste Lichtstrahl könnte seine Haut durchdringen und jede Kante seines kadaverhaften Gesichts entblößen. Seine eingesunkenen Augen waren schwarz und matt wie kalte Asche, die Augen eines Mannes, der Dinge gesehen und getan hatte, von denen mir jede Vorstellung fehlte.

Widerstrebend steckte ich den Dolch ein. Ich traute diesem Mann nicht. Er strahlte einen Mangel an Moral und eine Verderbtheit aus, die er wie eine zweite Haut trug. Er war wohl wirklich dazu fähig, ohne lang zu fackeln alles zu tun, was seinen Zwecken diente. Gleichwohl war er Cecil gegenüber verantwortlich, und in meiner momentanen Notlage blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad. Während meine linke Hand immer noch Roberts Brief umschloss, erklärte ich: »Ich bin gerade erst angekommen und habe nichts zu melden.«

»Ihr lügt.« Sein Blick durchbohrte mich. »Ich mag keine Mätzchen von Grünschnäbeln und halte auch nichts davon, sie in meine Dienste zu nehmen. Aber ich werde dem fehlgeleiteten Vertrauen unseres Auftraggebers in Euch Rechnung tragen, fürs Erste zumindest. Darum frage ich Euch noch einmal: Was habt Ihr zu berichten?«

Ich zögerte so lange, bis ich sah, wie er die Zähne aufeinanderpresste. Erst dann öffnete ich, mein Missfallen deutlich bekundend, die Hand und offenbarte das zerknüllte Schreiben. »Gut, da habt Ihr es.«

Er nahm es mir ab. Eigentümlicherweise hatte er die Hände einer Frau, weich und weiß, aber mit Sicherheit eisig kalt. Geschickt schob er einen langen Fingernagel unter das Siegel und löste es mit der Präzision eines Fachmannes vom Papier. Sobald er den Brief überflogen hatte, faltete er ihn wieder zusammen und klebte das Siegel zurück an seinen Platz.

Mit den Worten »Ein idealer Ort für ein Schäferstündchen« gab er mir das Schreiben zurück. »Abgelegen, einsam und doch nahe einer Geheimpforte ins Freie. Ihre Hoheit versteht sich vortrefflich auf dieses Spiel.«

Die kühle Bewunderung in seiner ansonsten leidenschaftslosen Stimme überraschte mich. »Ihr billigt das? Aber … ich dachte …« Ich stockte. Mir war selbst nicht klar, was ich dachte. Ich war angewiesen worden, mir Roberts Vertrauen zu bewahren, zu lauschen und alles zu melden und – falls möglich – der Prinzessin bei der Flucht zu helfen. Plötzlich begriff ich, dass niemand mich fürs Denken angeworben hatte, und sah mich auf einmal als genau das, was er mich genannt hatte: ein Grünschnabel und eine Marionette, die an den Fäden eines unbekannten Puppenspielers hing.

Walsingham musterte mich. »Habt Ihr etwa geglaubt, wir hätten tagelang Zeit, um unsere Pläne auszutarieren? Das beweist nur wieder, wie ungeeignet Ihr seid. In Angelegenheiten wie dieser hängt der Erfolg von zügigem Handeln ab. Ein erfahrener Spion würde das sofort verstehen.«

»Hört zu!« Zu meinem Verdruss schaffte ich es nicht, ein Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich habe nicht darum gebeten, in diese Geschichte verwickelt zu werden. Ihr habt mich da hineingezwungen, oder habt Ihr das vergessen? Weder Ihr noch Cecil habt mir eine Wahl gelassen. Wenn ich mich nicht damit einverstanden erklärt hätte, Euch zu helfen, läge ich jetzt zweifellos am Grund des Flusses.«

»Wir haben immer eine Wahl. Ihr habt Euch einfach für die Seite entschieden, die Euch die meisten Vorteile bietet. Jeder würde so handeln. Gibt es sonst noch etwas, worüber Ihr Euch beschweren wollt?«

Erneut nahm er mir den Wind aus den Segeln. Mir fiel beim besten Willen niemand ein, bei dem es mich noch mehr gestört hätte, ihm meine Informationen mitzuteilen. Aber sie für mich zu behalten wäre für Elizabeth nicht hilfreich. »Ich habe ein Gespräch zwischen Lady Dudley und Robert belauscht«, teilte ich ihm in unpersönlichem Ton mit. »Seine Lordschaft wird Robert entsenden, damit er Lady Mary ergreift. Außerdem hat er Roberts Bitte abgeschlagen, Ihre Hoheit zu treffen und ihr seinen, wie er das nennt, ›Vorschlag‹ zu unterbreiten. Ihr solltet Cecil sagen, dass der Herzog vielleicht eine ganz andere Absicht verfolgt als diejenige, die wir vermuten.«

Ich verstummte. Walsingham gab immer noch keine Regung preis.

»Da drängt sich der Schluss auf, dass es sich um etwas handeln muss, von dem sein Sohn nichts erfahren soll«, fuhr ich fort. »Warum würde er Robert sonst wegschicken?«

Walsingham schwieg.

»Habt Ihr gehört? Was immer der Herzog plant, es kann nicht gut für die Prinzessin sein. Ihr habt mir gerade erklärt, dass Erfolg von zügigem Handeln abhängt. Jetzt haben wir die Chance dazu. Wir sollten Ihre Hoheit, sobald wir können, möglichst weit von den Dudleys fortschaffen.«

Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, ihm wäre das vollkommen gleichgültig. Dann sah ich in seinen verhüllten Augen ein verstohlenes Glimmen. Fast unmerklich spannte er die Lippen an. Was ich ihm berichtet hatte, war wichtig, und er wollte nicht, dass ich das wusste.

»Ich werde Eure Sorgen weitergeben«, sagte er schließlich. »Doch zuvor muss dieser Brief überbracht werden, damit Euer Herr keinen Verdacht schöpft. Sobald Ihr Euren Auftrag ausgeführt habt, kehrt Ihr zu Lord Robert zurück. Falls Eure Dienste noch einmal benötigt werden, werdet Ihr davon in Kenntnis gesetzt.«

Ich starrte ihn entgeistert an. »Und was ist mit Ihrer Hoheit? Wollt Ihr sie nicht warnen?«

»Damit braucht Ihr Euch nicht zu befassen. Ihr habt lediglich Eure Befehle zu befolgen.«

Zu meinem fassungslosen Entsetzen wandte er sich zur Tür. »Wenn Ihr sie nicht warnt, tue ich das!«, platzte ich heraus.

Er drehte sich um, musterte mich aus halb zusammengekniffenen Augen. »Wollt Ihr mir drohen? Wenn das wirklich so ist, dann lasst Euch daran erinnern, dass Junker, die ihr Wissen über ihre Herren weitertragen, nicht unersetzlich sind.«

Ich hielt seinem Blick stand, bis ich schließlich den Brief wieder unter mein Wams steckte. Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch zu meinen Füßen.

»Für Eure Dienste«, sagte Walsingham. »Ich schlage vor, dass Ihr es umsichtig verwendet. Diener, die unredlich erworbenen Wohlstand verprassen, enden genauso oft auf dem Grund von Flüssen wie untreue Junker.« Ohne jedes weitere Wort ließ er mich stehen. Ich wollte das Säckchen, das er auf den Boden geworfen hatte, nicht anrühren, steckte es dann aber doch ein, ohne seinen Inhalt zu untersuchen.

Verstohlen huschte ich zur Tür hinaus. Von Walsingham fehlte jede Spur. So bog ich wieder in den Gang ein und ging weiter zur Treppe.

Falls ich zuvor noch Zweifel gehabt hatte, stand meine Entscheidung jetzt fest. Ich musste die Prinzessin warnen. Robert war nicht zu trauen, und allmählich beschlich mich das Gefühl, dass dasselbe auch für alle anderen galt. Das Säckchen, das ich bei mir trug, mochte klein sein, enthielt aber sicher genug, um mein Schweigen zu erkaufen. Walsingham war Cecils Geschöpf, und ich hatte keine Ahnung, welchen Zweck der Sekretär letztlich verfolgte. Wie ich mehr und mehr vermutete, war diese Angelegenheit vielschichtiger, als man mich hatte glauben lassen. Allerdings fiel mir die Vorstellung schwer, Cecil würde der Prinzessin etwas antun. Doch vielleicht spielte Walsingham mit gezinkten Karten. Ihm traute ich das durchaus zu. Aber wie konnte ich an Elizabeth herankommen? Würde sie mich überhaupt empfangen? Nun gut, sagte ich mir, wenn ich einfach stur blieb und mich nicht abwimmeln ließ, würde ihr nichts anderes übrig bleiben.

Entschlossen stapfte ich die Treppe hinauf.

Vor mir erstreckte sich eine Galerie, an deren Ende ein mächtiges, von geschnitzten Cherubinen geschmücktes Tor aufragte. Rechts von mir wachten Schießscharten über einen Garten. Die Butzenscheiben darüber wiesen genug Risse auf, um den Nachmittagswind hereinzulassen.

Auf halbem Weg zum Tor standen drei Wächter in der Uniform des Königshauses.

Ich kannte sie nicht. Auch hatte ich keine Zeit, näher hinzusehen, denn als ich zögernd den ersten Schritt auf sie zu wagte, vernahm ich in meinem Rücken eine Stimme. »Beim heiligen Kreuz, wo willst du denn jetzt schon wieder hin?« Eine vertraute Gestalt rauschte mir entgegen und hielt mir drohend den Zeigefinger vor das Gesicht.

Es war Elizabeths Dienerin, die junge Frau, die ich schon im Whitehall-Palast gesehen hatte – Kate Stafford.

»Habe ich dir nicht gesagt, dass in diesem Flügel keine Küchen sind, du Dummkopf?«, bellte sie. Aus der Nähe war zu erkennen, welche lebhafte Intelligenz aus ihren braunen Augen sprach, die ihr sorgloses Gebaren Lügen strafte. Und sie verströmte einen betörenden Duft nach frischen Äpfeln und Federnelken. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weglaufen sollte, bis ich die Warnung in ihrem Blick bemerkte.

»Mylady, vergebt mir«, stammelte ich. »Ich habe mich schon wieder verirrt.«

»Verirrt?« Sie fuhr zu einem Mann herum, der sich ihr von hinten näherte. »Pferde können sich verirren, aber nur Maulesel kehren immer wieder in denselben leeren Stall zurück. Seid Ihr nicht auch dieser Meinung, Master Stokes?«

»O ja.« Master Stokes war von mittelgroßer, schlanker Statur. Sein Gesicht wirkte zu verschlagen, als dass man es schön hätte nennen können, wies aber elegant geschwungene Wangenknochen auf, die von dem nach hinten gekämmten, hellbraunen Haar betont wurden. An seinen Fingern prangten mehrere mit Juwelen besetzte Ringe; von seinem linken Ohr baumelte ein glitzernder Rubinanhänger herab. Letzterer zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Noch nie hatte ich einen Mann Ohrringe tragen sehen, auch wenn ich später erfahren sollte, dass das im Ausland als modisch galt.

»Apropos Esel, will dieser Knecht Euch belästigen?«, fragte Stokes träge. »Soll ich ihn lehren, unsere schönen Damen in Ruhe zu lassen, Mistress Stafford?«

Stokes’ unverschämter Blick senkte sich auf Kates Dekolleté. Sie wedelte mit der Hand, während ein zwitscherndes Lachen über ihre Lippen perlte. »Er und mich belästigen? Wohl kaum. Er ist ja nur ein Diener und völlig neu am Hof. Anscheinend glaubt er, dass wir die Küche unter dem Federbett Ihrer Hoheit eingerichtet haben!«

Er antwortete mit einem ebenso hohen, fast weiblichen Lachen. »Wenn das ihre Kopfschmerzen heilt!«, kicherte er. »Was nun unseren Maulesel betrifft …« Sein Blick wanderte über ihren Kopf hinweg zu mir. »Vielleicht kann ich ihn auf den richtigen Weg bringen.«

Obwohl Mistress Stafford mit dem Rücken zu mir stand, konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie sie verführerisch mit den Wimpern flatterte. »Wieso Eure Zeit mit einem billigen Helfer vergeuden? Lasst mich den Jungen zurück zur Treppe führen. Ich bin gleich wieder bei Euch.«

»Wenn Ihr es mir versprecht«, brummte Stokes. Ohne ersichtlichen Grund flößte mir der Finger, mit dem er ihr über die entblößte Kehle fuhr, Grauen ein.

Im nächsten Moment drehte sich der Mann auf den Absätzen seiner eleganten Stiefel um und kehrte zu den anderen Männern zurück, die feixend dastanden, während Kate Stafford sich bei mir einhängte und mich zurück zur Galerie zog.

Sobald wir außer Sicht waren, zerrte sie mich in einen Fenstererker. Mit einem Schlag verschwand aller Anschein von nachsichtiger Koketterie. »Was bedeutet Euer Gebaren?«

Da sie ihre Maske abgelegt hatte, sah ich keinen Grund mehr, ihrem Beispiel nicht zu folgen. »Ich war auf dem Weg zu Ihrer Hoheit. Ich bringe ihr eine wichtige Nachricht, die sie sofort hören muss.«

Sie streckte die Hand aus. »Gebt mir das Schreiben, wer immer Ihr seid.«

»Ihr wisst, wer ich bin.« Ich stockte. »Ich habe nicht gesagt, dass ich ein Schreiben habe.«

Sie trat näher, und ihr Apfelblütenduft stieg mir verlockend in die Nase. »Ich nahm an, Ihr hättet eines dabei. Schließlich seid Ihr Lord Roberts Junker.«

»Ah, Ihr erinnert Euch also an mich!« Ich beugte mich vor, sodass wir uns fast mit den Nasen berührten. »Ich brauche Euch wohl nicht daran zu erinnern, dass auch Ihr eine Antwort auf das Schreiben erwarten müsst, das Ihr soeben überbracht habt.«

Sie prallte zurück. »Ich verstehe kein Wort.«

»Ach? Das wart vorhin nicht Ihr in den Gemächern meines Herrn? Gibt es am Hof noch eine andere Dame, die Stiefel unter ihrem Umhang trägt?«

Sie erstarrte. Lächelnd sah ich zu, wie sie den verräterischen Fuß unter den Saum ihres Kleides zog.

»Ich habe hinter dem Vorhang gestanden«, klärte ich sie auf. »Und jetzt muss ich die Antwort meines Herrn überbringen.« Ich machte Anstalten, mich abzuwenden. Erneut ergriff sie mich am Arm. Dabei bewies sie für eine so zierliche Frau erstaunlich viel Kraft.

»Seid Ihr verrückt?«, zischte sie. »Ihr dürft nicht in ihrer Nähe gesehen werden! Ihr seid sein Diener. Falls die beiden sich treffen, darf niemand davon erfahren.« Sie spähte verstohlen zum Eingang, um sich dann wieder mir zuzuwenden. »Gebt mir seine Antwort. Ich sorge dafür, dass sie sie liest, da könnt Ihr beruhigt sein.«

Ich tat so, als überlegte ich. Dann zog ich den Brief unter meinem Wams hervor, doch als sie danach griff, verbarg ich ihn blitzschnell hinter meinem Rücken. »Ich muss schon sagen, das trifft sich wirklich günstig – dass Ihr gerade in dem Moment da seid, in dem ich hier ankomme.«

Sie hob das Kinn. »Was soll das heißen?«

»Na ja, zuerst habe ich Euch im Whitehall-Palast gesehen.«

»Ja, und …?«

»Dort schient Ihr nicht so sehr um Eure Herrin besorgt, als sie den Saal verließ. Dabei war sie in dem Moment erkennbar in argen Nöten. Mehr noch, ich habe Euch mit Master Walsingham sprechen sehen. Darum glaube ich, dass ich erst ein paar Antworten brauche, bevor ich das Schreiben aushändige.«

Sie warf den Kopf zurück. »Dafür habe ich keine Zeit. Behaltet den Brief Eures Herrn. Ich weiß ohnehin, was darin steht.« Sie wollte schon an mir vorbeistürmen.

Ich stellte mich ihr in den Weg. »Ich fürchte, ich muss darauf bestehen.«

»Ich kann schreien«, warnte sie mich. »Ich bin die Vertraute der Prinzessin. Die Herren dort drüben wären binnen Sekunden zur Stelle, und das wäre gar nicht gut für Euch.«

»Das könntet Ihr. Aber Ihr werdet es nicht tun. Schließlich wollt Ihr nicht, dass Euer Bewunderer dort drüben erfährt, was Ihr noch alles macht, außer mir die Küchen zu zeigen.« Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf. »Also, wer hat Euch gesagt, dass ich komme? Walsingham? Seid Ihr seine Geliebte? Wenn ja, wird Ihre Hoheit nicht sehr erbaut davon sein zu erfahren, dass ihre eigene Kammerfrau, der sie ihre persönliche Korrespondenz anvertraut, dafür bezahlt wird, dass sie sie ausspioniert.«

Kate brach in Lachen aus, schlug sich aber sofort die Hand vor den Mund. »Für diese Art von Dingen seid Ihr wirklich zu unerfahren«, sagte sie leise. »Ich sollte Euch ohne jedes weitere Wort wegschicken. Aber da die Zeit drängt, sage ich Euch: Nein, ich bin nicht Walsinghams Geliebte. Ich kenne ihn nur deshalb, weil Ihre Hoheit mit Master Cecil bekannt ist. Oder vielmehr: Ich weiß von ihm. Er ist ein bezahlter Informant. Und wenn die Gerüchte zutreffen, wurde er in Italien zum Mörder ausgebildet.«

»Von daher also seine galanten Manieren.«

Ein ironisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Richtig. Er stand zufällig in meiner Nähe, als Ihre Hoheit den Saal verließ. Ich versichere Euch: Wir haben nur die üblichen Freundlichkeiten ausgetauscht.«

»Wahrscheinlich habt Ihr auch nie ihre Gespräche belauscht«, bemerkte ich trocken.

»Doch, das habe ich getan. Sie nennt mich ihre Ohren. Ich bin der Grund, warum sie sich nicht auf Klatsch verlassen muss, was sich für jemanden ihres Ranges in der Tat nicht ziemen würde. Und bevor Ihr mich fragt: Ich habe auch zu lauschen versucht, als Ihr der Herzogin von Suffolk vorgestellt wurdet. Ich habe mir gesagt, dass Ihre Hoheit gewiss erfahren will, warum Ihr zu ihrer Cousine geführt wurdet.«

Sie hielt inne und studierte mein Gesicht. Mit einem Schlag wurde ihre Miene weicher und nahm einen beinahe mitleidigen Ausdruck an. Das verblüffte mich nun wirklich, zumal er aufrichtig wirkte. »Ich verstehe, dass Ihr keinen Grund habt, mir zu vertrauen, aber ich würde sie nie verraten. Ihre Tante, Mary Boleyn, die Schwester ihrer Mutter Königin Anne, war die Gönnerin meiner Mutter. Obwohl wir nicht miteinander verwandt sind, könnte ich sie nicht mehr lieben als jemanden von meinem eigen Fleisch und Blut.«

»Verwandte lieben sich nicht immer«, entgegnete ich, doch mein Misstrauen hatte sich aufgelöst. »Mehr noch, meistens scheint das Gegenteil der Fall zu sein.« Meine Stimme bebte auf einmal. Zu meinem Verdruss hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle. »So wahr mir Gott helfe, ich weiß nicht mehr, wem oder was ich jetzt noch glauben kann!«

Nach langem Schweigen antwortete sie: »Traut Ihrer Hoheit. Das ist doch der Grund, warum Ihr hier seid, nicht wahr? Sie hat mir erzählt, dass Ihr ihr Eure Hilfe angeboten habt, sie das aber abgelehnt hat. Wisst Ihr, warum?«

Ich nickte. »Ja. Sie wollte nicht, dass mir ihretwegen etwas zustößt.« Nach kurzem Zögern überreichte ich ihr den Brief. Sie steckte ihn sogleich unter ihr Mieder.

Schritte näherten sich. Kate erstarrte. Wir hatten keine Zeit, uns zu verbergen, noch gab es hier ein Versteck. Ohne Vorwarnung warf sie sich mir an den Hals, umfasste mich am Kopf und presste ihre Lippen auf die meinen. Ich schaffte es gerade noch, die Schemen der vorbeilaufenden Gestalt und der drei Männer wahrzunehmen, die ihr folgten. Keiner blieb stehen oder gab einen Kommentar zu unserem Treiben ab.

Einen lähmenden Augenblick lang dachte ich, ich hätte mir die Männer nur eingebildet.

Kate Stafford schmiegte sich an mich, und dann spürte ich ihren Atem an meinem Mund. »Nicht bewegen«, flüsterte sie.

Ich gehorchte. Erst als die Echos der Stiefel verhallt waren, löste sie sich von mir. »Er hat sie verlassen. Ich muss gehen.« Sie zögerte. Mit ernster Miene fügte sie hinzu: »Ihr dürft niemandem ein Wort davon sagen. Nicht einmal Cecil. Wenn Ihr das tut, bringt Ihr sie in noch größere Gefahr, als sie es ohnehin schon ist.«

Ich hatte es mir also nicht eingebildet. »Das war der Herzog. Er war bei ihr. Warum? Was will er?«

»Das weiß ich nicht. Er ist vor Euch eingetroffen und hat Einlass verlangt. Sie ruhte gerade auf ihrem Bett. Sie hat ihn dann in ihren Audienzraum gebeten und uns alle weggeschickt.«

Was Kate da sagte, gefiel mir nicht. »Dann muss ich mit ihr sprechen.«

»Nein, das ist nicht sicher. Er könnte zurückkommen; jemand könnte Euch sehen. Das dürfen wir nicht riskieren. Wir dürfen uns nicht offen zeigen. Wenn irgendjemand das erfährt …«

»Erfährt?« Fast hätte ich das Wort geschrien. »Was erfährt? Was, zum Teufel, wird hier gespielt?«

»Beizeiten werdet Ihr alles herausfinden. Jetzt muss ich gehen.«

Sie wandte sich ab. Ich folgte ihr bis zur nächsten Ecke. Als sie die Galerie betreten wollte, fasste ich sie an die Schulter. »Richtet ihr Folgendes aus: Sagt ihr, dass ein Komplott zur Verhaftung ihrer Schwester im Gange ist. Sie darf meinen Herrn nicht treffen. Sie muss diesen Ort verlassen, bevor es zu spät ist.«

Über den Gang hallte es laut: »Kate? Kate, bist du hier?«

Die Stimme ließ uns erstarren. Kate stieß mich fort vom Eingang, aber ich konnte noch Elizabeths Silhouette erkennen. Ihr Haar war offen, und mit einer Hand hielt sie sich den Kragen ihres purpurnen Umhangs zu. »Kate!«, rief sie erneut. Ich hörte die Angst in ihrer Stimme.

»Ich bin hier, Eure Hoheit! Ich komme schon!«, antwortete Kate.

»Beeil dich«, drängte die Prinzessin mit zitternder Stimme. »Ich brauche dich.«

Kate setzte sich in Bewegung. Obwohl ich jetzt die ideale Gelegenheit gehabt hätte, vor Elizabeth zu treten, hielt mich irgendetwas zurück. »Werdet Ihr es ihr sagen?«, fragte ich leise.

»Sie wird nicht auf mich hören.« Kate hielt meinem Blick stand. »Sie liebt ihn, versteht Ihr? Sie hat ihn schon immer geliebt. Was wir auch sagen, nichts wird sie aufhalten.« Sie lächelte. »Galanter Junker, wenn Ihr ihr wirklich helfen wollt, dann findet Euch heute Nacht zusammen mit Eurem Herrn im Pavillon ein.«

Sie ließ mich fassungslos zurück.

Ich wollte es nicht glauben, obwohl es in jeder Hinsicht Sinn ergab. Das also war der Grund, warum sie trotz aller warnenden Hinweise immer noch am Hof blieb.

Sie liebte ihn. Elizabeth liebte Robert Dudley.

15

Bevor ich zu Lord Robert zurückkehren konnte, benötigte ich Zeit, um meine wirren Gedanken zu sortieren. Im Palast von Greenwich herrschte gespenstische Ruhe. Außer Dienern, die ihren Aufgaben nachgingen, war niemand zu sehen. Keiner erwiderte meinen matten Gruß, als ich durch das Labyrinth der Korridore wanderte. Es hatte den Anschein, als hätten sich die Höflinge allesamt in ihre Gemächer zurückgezogen oder schlenderten durch den Palastpark.

Ich trieb durch eine schattenhafte Welt.

Und geriet ins Grübeln. Elizabeth, hielt ich mir vor, mochte zwar die Tochter eines Königs sein, war aber dennoch ein Mensch aus Fleisch und Blut. Auch sie war fehlbar. Sie kannte Robert nicht so gut wie ich, sah nicht die Tiefen der Habgier noch den Ehrgeiz, der sein Herz beherrschte. Andererseits hatte sie genau das vor mir zugegeben. Erst gestern Abend hatte sie mir in Whitehall gesagt, dass sie nie Grund gehabt hatte, ihm zu misstrauen.

Doch sie musste die ganze Wahrheit erfahren. Alles andere würde sie ins Verhängnis stürzen.

Ich erreichte einen gewaltigen Saal, wo Diener zur Vorbereitung der Feier Teppiche auslegten, Tische aufstellten und über einem Podest Seidengirlanden aufhängten. Die paar, die mich wahrnahmen, schauten kurz zu mir herüber und wandten sich wieder ab. Unvermittelt blieb ich stehen. Auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte.

Bald darauf lief ich eine prächtige Allee zum Palastpark hinunter, der sich bis zu einer Anhöhe erstreckte. Das Tageslicht verblasste allmählich, und die untergehende Sonne tauchte die am Himmel aufziehenden, wellenförmigen Wolken in rotes Licht. Es sah nach Regen aus. Um festzustellen, wo genau ich mich befand, zog ich Cecils Miniaturkarte aus der Tasche. Zu meiner Enttäuschung war der Park nur äußerst vage eingezeichnet. Und jetzt reichte die Zeit nicht mehr, um zurückzukehren.

Aber wie die meisten Palastparks musste auch dieser einem bestimmten Muster folgen: weiträumig, doch nach den Bedürfnissen des Hofes angelegt, sodass man nicht befürchten musste, sich zu verlaufen, wenn man über die breiten Wege schlenderte, die an kunstvoll zu Tierformen beschnittenen Hecken, Kräutergärten und Blumenbeeten vorbeiführten, ehe sie sich in alle möglichen Richtungen verzweigten.

Ich schritt über einen dieser schmäleren Pfade.

Über mir war Donnergrollen zu hören. Sprühregen setzte ein. Ich verstaute die Karte wieder in der Innentasche, zog mir die Kapuze tief über die Stirn und blickte mich um. In der Ferne erspähte ich einen See, der sich um ein Steingebäude wand.

Mein Herz machte einen Satz. Das musste der Pavillon sein.

Ich musste ein Waldstück durchqueren, an das sich eine verwilderte Parklandschaft anschloss, die irgendwie gespenstisch auf mich wirkte. Bei meinem nächsten Blick über die Schulter bemerkte ich in den Palastfenstern frisch angezündete Kerzen. Ich geriet ins Sinnieren. Ob Elizabeth gerade durch eines davon auf den Park hinausschaute und über ihr Treffen mit dem Herzog grübelte? Oder dachte sie nur an die heutige Nacht und fragte sich, was bei dem Rendezvous mit Robert herauskommen würde? Ich selbst war nie verliebt gewesen, doch nach allem, was ich gehört hatte, vermissten Liebende einander, sobald sie getrennt waren. War das auch bei Elizabeth so? Sehnte sie sich nach Robert?

Ich bedauerte, nicht die Gelegenheit genutzt zu haben, ihr mein ganzes Wissen anzuvertrauen. Es hätte mir kein Vergnügen bereitet, ihre romantischen Träume zu zerstören, aber zumindest wäre sie vor ihrem Rendezvous davon unterrichtet gewesen, nach welch hohen Zielen mein Herr strebte.

Es regnete stärker. Ich wandte mich vom Palast ab und beschleunigte meine Schritte.

Der See umschloss den Pavillon von drei Seiten. Von dem ungepflegten Gehweg, auf dem ich stand, führte eine bröckelnde Treppe zu ihm hinauf. Früher musste das ein idyllisches Örtchen gewesen sein, das zu einem Stelldichein förmlich einlud, bis Jahre der Vernachlässigung es mit Flechten überzogen und dem Vergessen preisgegeben hatten.

Bei der Erforschung der näheren Umgebung entdeckte ich in einer von Efeu überwucherten Mauer eine alte Pforte, wie Walsingham sie beschrieben hatte, die sich auf einen unbefestigten Weg und die sanften Hügel von Kent öffnete. Hier konnten Pferde angebunden werden, ohne dass irgendjemand sie sehen oder hören konnte, vorausgesetzt, man umwickelte ihre Hufe mit Stoff und legte ihnen einen Maulkorb an. Hatte die Prinzessin diese Stelle deshalb gewählt, weil sie sich hervorragend für eine Flucht eignete? Diese Überlegung beflügelte meine Lebensgeister, bis mir siedend heiß eine weniger beruhigende Möglichkeit einfiel.

Was, wenn Cecil das alles geplant hatte? Er konnte es durchaus darauf anlegen, Elizabeths Absicht, Robert hierher- zulocken, für seine Zwecke auszunutzen. Immerhin konnte man sie zügig – auch mit Gewalt – von hier fortschaffen. Doch gleichgültig, was der Sekretär sonst für Absichten hegen mochte, ihm konnte bestimmt nicht daran gelegen sein, Elizabeth den Dudleys zum Fraß vorzuwerfen. Wie er selbst gesagt hatte, war sie die letzte Hoffnung des Königreichs.

Ich überlegte angestrengt. Nun, da ich allein war und außerhalb des Palasts endlich wieder das Gefühl hatte, richtig atmen zu können, erkannte ich, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes an der Nase herumgeführt worden war. Ich hatte Cecils Vorschlag angenommen, den Brief meines Herrn überbracht und Walsingham getreulich Meldung erstattet. Doch im Grunde kannte ich keinen einzigen dieser Männer. War ich ein weiterer Bauer in diesem Spiel geworden, den man ohne Weiteres opfern konnte? Was, wenn hinter dieser komplizierten Täuschung mehr steckte, als einem ins Auge sprang? Mich überfiel der Drang, mich an jedes Wort zu erinnern, das zwischen Cecil und mir gefallen war, und unser Gespräch nach versteckten Hinweisen zu durchforsten. Irgendwo darin musste die Antwort zu diesem Rätsel liegen. Und ich würde gut daran tun, sie bald zu finden.

Ich erstarrte.

Eine Dolchspitze ritzte meinen Rücken knapp unterhalb der Rippen.

»An deiner Stelle würde ich keinen Widerstand leisten«, quäkte eine näselnde Stimme. »Wams ausziehen.«

Langsam nahm ich das Kleidungsstück ab. Während ich es zu Boden fallen ließ, dachte ich an die zusammengefaltet in der Innentasche ruhende Karte. Durch das dünne Hemd hindurch fühlte sich die Klinge meines Angreifers äußerst scharf an.

»Jetzt den Dolch in deinem Stiefel. Aber vorsichtig.«

Ich bückte mich nach dem Schaft und zog das Messer behutsam aus der Scheide. Eine behandschuhte Hand griff um mich herum und nahm es mir ab. Dann befahl die Stimme, die ich inzwischen erkannt hatte: »Umdrehen.«

Er trug einen Umhang mit Kapuze, die seine Züge verbarg. »Ihr habt mich überrumpelt«, stellte ich fest. »Anständig lässt sich das wohl kaum nennen.«

Mit einem schrillen Lachen schob er seine Kapuze zurück. Er hatte auffällige Wangenknochen, und an einem Ohrläppchen steckte ein Rubin. Sein Gesicht war zu verschlagen, als dass man es gut aussehend nennen konnte. Seine dunklen Augen bohrten sich in die meinen. Warum hatte ich ihn nicht sofort als den Mann erkannt, den Peregrine mir beschrieben hatte?

Er ist größer als du, aber nicht sehr viel. Er hat ein spitzes Gesicht wie ein Frettchen.

»So trifft man sich wieder«, sagte ich, unmittelbar bevor aus dem Schatten ein gedrungener Kerl auftauchte und mir ins Gesicht schlug.

Ich konnte den Weg vor mir kaum erkennen. Mit pochendem linken Auge, vom Schlag schmerzendem Kiefer und hinter den Rücken gedrehten Armen wurde ich vorbei an alten Ruinen und dann durch einen verfallenen Kreuzgang in einen feuchten Korridor gestoßen. Vor dunklen Durchgängen hingen verrostete Eisentore ausgekugelten Schultern gleich von ihrer Verankerung in den Mauern herab. Wir stiegen eine steile Treppe zu einem weiteren Korridor hinab, der immer tiefer hinunterführte. Der Stollen, den wir am Boden unten betraten, war so eng, dass keine zwei Männer nebeneinandergehen konnten. An einem in die Mauer eingelassenen Eisenhalter, von dem die Farbe abblätterte, flackerte eine einsame Pechfackel.

Die Luft roch ekelerregend. Und ich musste sie einatmen. Nur nicht in Panik geraten, redete ich mir zu. Ich musste mich konzentrieren, beobachten, lauschen, irgendeinen Weg finden, trotz allem zu überleben.

Wir erreichten eine massive Tür. »Hoffentlich ist die Unterkunft dem Herrn genehm«, flötete Stokes, während er den Riegel zurückschob. Die Tür öffnete sich nach außen. »Wir wollen doch nur das Beste für unseren Besucher.«

Dahinter befand sich eine kleine, runde Zelle.

Der Handlanger stieß mich hinein. Der unebene Steinboden war mit einer schleimigen Schicht bedeckt. Die Hände weit ausgestreckt, schlitterte ich auf die hintere Wand zu und knallte mit der Schulter dagegen. Der Gestank hier war ranzig, widerwärtig. Die klebrige, schimmelige Substanz an der Wand blieb an mir haften. Wie zermalmte Innereien, schoss es mir durch den Kopf.

Stokes brach in Lachen aus. Er stand im flackernden Schein der Fackel. Sein Umhang teilte sich und gab den Blick auf sein modisches Gewand darunter frei. Um die Taille war eine silberne Kette geschlungen, von der ein mit Juwelen besetztes Stilett herabhing. Noch nie hatte ich jemanden eine italienische Waffe tragen sehen. Anders als bei seinem Ohrring nahm ich an, dass es nicht nur zur Zierde diente.

Er schnalzte mit der Zunge. »Ich wage zu behaupten, dass dich jetzt niemand mehr erkennen würde, Junker Prescott.«

Während von der Schulter ausgehend Schmerzwellen durch meinen ganzen Körper jagten, packte mich plötzlich rasende Wut. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf und fragte, selbst überrascht von meinem Mut: »Ihr kennt meinen Namen? Auch das ist keine anständige Art zu spielen. Wer seid denn Ihr? Was wollt Ihr von mir?«

»Was für ein vorwitziges Bürschchen! Kein Wunder, dass Cecil dich mag.«

Ich konnte nur hoffen, dass er mir nicht anmerkte, welch heftige Angst mich durchfuhr. »Ich kenne keinen Cecil.«

»O doch. Du hast dir seine Aufmerksamkeit sogar in kürzester Zeit verdient. Und soviel ich weiß, hat er keine Vorliebe dafür, sich Knaben ins Bett zu holen. Für Walsingham würde ich in dieser Hinsicht allerdings nicht unbedingt die Hand ins Feuer legen.«

Ich machte einen Satz nach vorn. Mit einer einzigen Bewegung riss Stokes den Arm hoch, zückte das Stilett und richtete es auf meine Brust. »Wenn ich dich verfehle«, sagte er mit einem flackernden Lachen, »was höchst unwahrscheinlich ist, wird mein Freund hier dich wie ein Frühlingskalb ausnehmen.«

Heftig keuchend wich ich zurück. Was war nur in mich gefahren? Ich wusste es doch besser. »Ihr wärt nicht so zuversichtlich, wenn es ein Kampf zweier Gleicher wäre«, hielt ich ihm vor.

Sein Gesicht verfärbte sich. »Wir werden nie Gleiche sein, du erbärmlicher Hochstapler!«

Hochstapler? Meinte er vielleicht: Spion? Mir wurde flau im Magen. Er war der Handlanger der Suffolks, mein unheimlicher Schatten. Das stand für mich fest. Wie viel von meinem Gespräch hatte er belauscht? Wenn er genug erfahren hatte, um den Sekretär zu enttarnen, dann würden Cecil all seine Pläne um die Ohren fliegen.

Ich raffte meinen ganzen Mut zusammen. »Ich bin Robert Dudleys Junker. Ich weiß weder, wie Ihr auf die Idee kommt, ich könnte diesen Cecil kennen, noch, warum ich mich als jemand anders ausgeben sollte.«

»Oh, ich hoffe doch sehr, dass du nicht vorhast, vor ihr den Unschuldsengel zu spielen. Das wird dir nichts nützen. Nicht im Geringsten! Falsche Bescheidenheit hat Ihre Gnaden noch nie beeindruckt. Sie weiß nur zu gut, warum du an den Hof gebracht wurdest und warum Cecil solches Interesse an dir zeigt. Und sie ist nicht erfreut. Sie hasst die Gemütsart der Tudors. Aber das wirst du früh genug erfahren.«

In einer theatralischen Geste winkte er mir zu. »Lauf nicht weg.« Damit trat er in den Gang und schlug die Tür hinter sich zu. Gleich darauf wurde der Riegel vorgeschoben. Die Zelle lag in pechschwarzer Dunkelheit.

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst gehabt.

16

Ruhig atmend schloss ich die Augen und gestattete ihnen, sich an die Finsternis zu gewöhnen. Allmählich hellte sich das Schwarz rings um mich tatsächlich auf, löste sich von den Mauern, und vor mir erstanden Schatten. Aufgrund der Kälte schloss ich, dass ich mich unter der Erde befand. Außerdem konnte ich das Murmeln von Wasser in der Nähe ausmachen. Ein Fluss?

Auf allen vieren kroch ich in der Zelle herum. Was ich hier vorfand, gefiel mir ganz und gar nicht. Trotz der Algen auf dem Boden und an den Wänden und der übrigen schrecklichen Bedingungen gab es weder Kotspuren noch sonstige Hinweise auf Nager, obwohl Greenwich wie jeder andere Ort, wo es Nahrung zu finden gab, sicherlich von Ratten heimgesucht wurde. Am Fuß der Mauer, in der sich die Tür befand, entdeckte ich ein breites Eisengitter. Ich kauerte mich darüber und starrte hinunter. Aus dem schwarzen Loch stiegen mir ein pestilenzartiger Gestank und das Gurgeln von Wasser entgegen. Ferner musste ich erkennen, dass sich zwar verhärteter Lehm von den Gitterstangen abkratzen ließ, diese aber äußerst massiv waren.

Diese Zelle musste unter der Ruine des alten Palastes aus vergangenen Jahrhunderten liegen. Vielleicht hatte sie in früheren Zeiten als Verlies gedient. Andererseits hatten wir uns doch ein gutes Stück vom See entfernt, und in letzter Zeit war nicht genug Regen gefallen, um die Feuchtigkeit hier unten zu erklären. Der Palast von Greenwich war erst nach den Bürgerkriegen der Feudalzeit erbaut worden. Er besaß keine Schutzwälle oder Burggräben, denn angeblich stellten die nach Unabhängigkeit vom König strebenden Fürsten mit ihren eigenen Vasallen keine Gefahr mehr dar. Doch der schleimige Boden und die modrige Luft wiesen darauf hin, dass diese Zelle erst kürzlich geflutet worden war.

Nichts davon vermochte meine Angst zu zerstreuen.

Nachdem ich die Zelle zweimal umrundet hatte, glaubte ich zu wissen, wie ein gefangener Löwe sich im Käfig fühlen musste. Mit den Füßen stampfend, um den Blutkreislauf zu beleben, kehrte ich zum Gitter zurück. Soweit ich das nach mehreren Versuchen beurteilen konnte, waren Boden und Wände zu massiv, als dass ich etwas herausbrechen oder irgendwo ein Loch hätte graben können. Mein einziger Ausweg hätte darin bestanden, den Mörtel um das Gitter aufzuschlagen und das Gitter herauszunehmen, aber dazu hätte ich eine Hacke benötigt.

Ich saß in der Falle. Und das in einem Moment, da im Prunksaal die Feier zu Jane Greys und Guilford Dudleys Vermählung beginnen sollte und die Stunde von Roberts Rendezvous mit Elizabeth nahte.

Ich ließ mich in die Hocke sinken. Wie lange ich kauerte und wartete, wusste ich nicht; mir war jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Irgendwann fiel ich in einen erschöpften Schlaf. Keuchend erwachte ich wieder daraus, weil ich das Gefühl hatte, in einem Meer aus Schleim zu ertrinken. Erst jetzt merkte ich, dass der Gestank, der meine Haut regelrecht durchtränkte, vom Flusswasser herrührte und dass ein gedämpftes Tosen näher kam.

Steif richtete ich mich auf.

»Beim Kreuz, Stokes!«, rief draußen eine erboste Stimme. »Gab es denn nichts anderes, um den Kerl einzusperren?«

»Eure Durchlaucht«, verteidigte sich Stokes, während er den Riegel zurückschob. »Ich versichere Euch, dass ich in der kurzen Zeit nichts Besseres finden konnte, was unseren Bedürfnissen dienen würde.«

Die Tür wurde aufgestoßen. Fackellicht flutete durch die Zelle, blendete mich. Da ich in der Tür nur Schatten sehen konnte, hielt ich mir eine Hand schützend vor die Augen. Ein Ungetüm drängte sich, mit einem Stock fuchtelnd, herein. Dann blieb sie stehen und schaute sich um. »Bring mir die Fackel!«

Stokes quetschte sich hinter dem Ungetüm in die Zelle. Die Fackel, die er in der Hand hielt, beleuchtete eine Art mit Schmuck behängten Bullmastiff, der auf dem übergroßen Kopf eine grotesk winzige, perlenbesetzte Haube trug. Mit einem mehrmaligen Blinzeln zwang ich mein noch brauchbares Auge, sich auf die Erscheinung zu konzentrieren. Das andere war völlig zugeschwollen.

Frances Brandon, Herzogin von Suffolk, erwiderte mein Starren. »Er wirkt irgendwie kleiner. Bist du sicher, dass er das ist? Es könnte genauso gut ein anderer sein. Cecil ist gerissen. Er würde sogar seine Mutter mit einer anderen vertauschen, wenn ihm das einen Nutzen brächte.«

»Eure Durchlaucht«, erklärte Stokes. »Er ist es. Lasst meinen Mann das erledigen. Euch könnte Gefahr drohen.«

»Nein! Ich bin doch keine Mimose. Wenn er es wagt, mich auch nur schief anzublicken, schlage ich ihm den Schädel ein, und dann hat der Spuk ein Ende.« Sie stieß ihren massiven Stock mit dem Silbergriff in meine Richtung. »Du da! Hierher!«

So ruhig ich konnte, trat ich auf sie zu und blieb wohlweislich in gebührendem Abstand vor ihr stehen, um gegen einen plötzlichen Stockhieb vorzubeugen. »Eure Durchlaucht«, begann ich. »Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich versichere Euch, mir ist schleierhaft, womit ich Anstoß erregt haben könnte.«

Das Stockende schoss auf mich zu und verfehlte mich um Haaresbreite. »So, so, er ist ahnungslos. Hast du das gehört, Stokes? Ihm ist schleierhaft, wie er Anstoß erregt haben könnte.«

»Ich habe es gehört, Eure Durchlaucht«, zwitscherte Stokes. »Ein Schauspieler ist er mit Sicherheit nicht.«

Das Stockende knallte auf den Boden. »Genug!« Sie watschelte dicht an mich heran. Ich unterdrückte den Impuls zurückzuweichen. Nachdem Elizabeth gestern den Palast verlassen hatte, war ich bei meiner Wanderung durch Whitehall auf ein Porträt von Henry VIII. gestoßen, auf dem er, die dicken, beringten Hände in die Hüften gestemmt, mit gespreizten, mächtigen Beinen dastand. Praktisch Nase an Nase mit der Nichte des verstorbenen Königs empfand ich die Ähnlichkeit als beängstigend.

»Wer bist du?«, fragte sie.

Ich hielt ihrem hasserfüllten Blick stand. »Mit Verlaub, Eure Durchlaucht, ich glaube, wir wurden einander bereits vorgestellt. Ich bin Brendan Prescott, Junker von Robert Dudley.«

Im nächsten Moment musste ich mir einen Schrei verbeißen. So präzise wie wütend war ihr Stock zwischen meinen Beinen hochgeschnellt. Ein sengender Schmerz verschlug mir den Atem, und ich krümmte mich. Ein zweiter Hieb sandte mich keuchend zu Boden; in den Lenden breitete sich ein quälendes Pulsieren aus.

Sie baute sich über mir auf. »So, das ist schon besser. In Zukunft kniest du, wenn ich mit dir spreche. Du hast es mit einer Tudor zu tun, Tochter der geliebten Schwester von Henry dem Achten, der verstorbenen Herzogin von Suffolk und verwitweten Königin von Frankreich. Bei allem, was an meinem Blut königlich ist, wirst du mir gefälligst Ehre erweisen!« Sie zog mir den Stock über meine verkrümmten Schultern. »Noch einmal: Wer bist du?«

Stumm starrte ich zu ihrem verzerrten Gesicht hinauf. Ihre Lippen waren wie eine giftige Blüte nach innen gestülpt. »Ergreift ihn!« Stokes’ Gehilfe, ein Koloss von meiner doppelten Größe und der entsprechenden Breite, schlurfte herein. Mühelos hob er mich hoch und klemmte meine Arme fest. Ich hatte nicht die Kraft, mich zu wehren, zumal ich nach dem Stockhieb gegen meine Genitalien vor Schmerzen noch regelrecht gelähmt war.

»Sollen wir mit Tritten gegen seine Rippen anfangen?«, fragte Stokes. »Das löst ihnen normalerweise die Zunge.«

»Nein.« Die Herzogin wandte den Blick nicht von mir. »Er hat zu viel zu verlieren, und Cecil hat ihm zweifellos viel für sein Schweigen gezahlt. Es ist gar nicht nötig, dass er etwas sagt. Schließlich habe ich Augen. Ich kann sehen. Manche Dinge können nicht gefälscht werden.« Sie deutete ruckartig auf mich. »Zieht ihn aus!«

Stokes reichte ihr die Fackel und riss mir das Hemd vom Leib. »Was für eine weiße Haut er hat«, flötete er.

»Aus dem Weg!« Sie stieß Stokes beiseite und richtete die Fackel auf mich. Ich versuchte, mich wegzudrehen, doch der Griff des Riesen ließ mir keinen Spielraum. Ihre Augen suchten mich ab. »Nichts«, knurrte sie. »Kein Muttermal. Er ist es nicht. Ich habe es gewusst! Lady Dudley hat mich reingelegt. Dieses Drecksstück hat mich gezwungen, auf meine Thronansprüche für nichts und wieder nichts zu verzichten! Bei Gott, dafür wird sie mir büßen. Wie kann sie es wagen, diesen Säufer von ihrem Sohn und meine scheinheilige Tochter über mich zu stellen?«

Mir gefror das Blut in den Adern.

»Vielleicht sollten wir gründlicher zu Werke gehen«, schlug Stokes vor. »Dreh ihn um«, wies er den Koloss an. Dieser leistete unverzüglich Folge. Dabei verrutschte zu meinem Entsetzen meine Hose über der Hüfte und glitt an mir hinunter.

Schweigen trat ein. Plötzlich entwich ihr ein Zischen. »Aufhören!« Erneut beleuchtete sie mich aus der Nähe. Ich erstickte einen Schrei, als die Flamme mir die Haut versengte.

»Wo hast du das her?«, fragte sie stockend, als traute sie den eigenen Augen nicht.

Ich zögerte. Wütend riss mir der Gehilfe die Arme noch höher. Sofort schoss mir ein rasender Schmerz durch Schultern und Brust.

»Ihre Durchlaucht hat dich etwas gefragt«, erinnerte mich Stokes. »An deiner Stelle würde ich antworten.«

»Ich … ich wurde damit geboren«, flüsterte ich.

»Damit geboren?« Sie beugte sich so nahe zu mir vor, dass ich durch ihren Puder hindurch die geplatzten Äderchen an ihrer Nase sehen konnte. »Du wurdest damit geboren, sagst du?«

Ich nickte hilflos.

Sie starrte mir in die Augen. »Das glaube ich nicht.«

Nun wagte auch Stokes einen Blick. »Eure Durchlaucht, es sieht tatsächlich wie …«

»Ja, ja, sicher. Aber das ist er nicht! Er kann es nicht sein.« Sie reichte Stokes die Fackel und schnappte sich wieder ihren Stock. »Wenn du deine hübsche weiße Haut retten willst«, sagte sie, die Finger um den silbernen Griff gekrallt, »dann sag mir lieber sofort die Wahrheit. Wer bist du, und wofür bezahlt dich Cecil?«

Ein Brechreiz stieg in mir hoch. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich ihr sagen sollte: die Wahrheit, soweit ich sie kannte? Oder sollte ich mich ahnungslos stellen? Womit hatte ich bessere Aussichten, lebend davonzukommen?

»Ich bin ein Findelkind«, ächzte ich. »Ich … bin auf der Burg der Dudleys aufgewachsen und jetzt hierhergebracht worden, damit ich Lord Robert diene. Das ist alles.«

In meinen eigenen Ohren hörte ich mich an wie ein Lügner. Meine Stimme klang so verzweifelt wie die eines Mannes, der auf frischer Tat ertappt worden ist und sich weinerlich zu rechtfertigen sucht. Und sie durchschaute das natürlich. Das war der Grund, warum ich hier war. Für wen auch immer sie mich hielt, er hatte ihr so große Angst eingejagt, dass sie mich hatte verfolgen und verschleppen lassen. Und wenn ich nicht bald einen Ausweg aus diesem Alptraum fand, würde sie mich auch noch umbringen lassen.

Doch irgendetwas hatte ihre Neugier geweckt. »Ein Findelkind?«, wiederholte sie. »Sag mir nur eines: Hat man dich wirklich in diesem Pfarrhaus in der Nähe von Dudley Castle ausgesetzt?«

Ohne die Augen von den ihren abzuwenden, nickte ich stumm. Ein Kloß in meiner Kehle erstickte jedes Wort.

»Weißt du, wer dich dort hingebracht hat? Weißt du, wer dich gefunden hat?«

Ich schluckte. Ein dumpfes Tosen stieg mir in den Kopf, füllte ihn ganz aus. Wie aus weiter Ferne hörte ich mich sagen: »Das weiß ich nicht … Mistress Alice, die Haushälterin und Kräuterkundige der Dudleys, sie … hat mich gefunden. Sie hat mich auf die Burg gebracht.«

Ich bemerkte einen merkwürdigen Ausdruck in ihren Augen. »Eine Kräuterkundige?« Ihr scharfer Blick war ein Instrument, mit dem sie mein Inneres regelrecht sezierte. »Eine kleine Frau mit einem fröhlichen Lachen?«

Ich begann zu zittern. Sie wusste es. Sie kannte Mistress Alice. »Ja«, hauchte ich.

Die Herzogin prallte zurück. »Das kann nicht sein. Du … du bist ein Blender, der von Cecil seine Anweisungen erhalten hat und von den Dudleys bezahlt wird.« Ihre nächsten Worte stürzten wie ein kochend heißer Wasserfall auf mich herab. »Wegen dir haben sie mich gezwungen, ihnen meine Tochter auszuhändigen, damit dieser Schwächling sie heiraten kann! Wegen dir bin ich gedemütigt und meines gottgegebenen Rechts beraubt worden!«

Sie holte Luft. Mit beängstigender Stimme setzte sie die Tirade fort: »Aber so leicht lasse ich mich nicht hereinlegen. Und wenn dieses Königreich vor die Hunde geht, ich werde nicht zulassen, dass diese Dudley-Hexe und ihr verzogener Sohn über mich triumphieren.«

Und da, während ich hilflos in den Händen des riesigen Schergen hing, ergaben ihre Worte mit einem Schlag einen erschreckenden Sinn.

»Ach, Eure Durchlaucht«, tschilpte Stokes schadenfroh. »Ich glaube, er sagt die Wahrheit. Er hat wirklich keine Ahnung, was sie mit ihm machen. Er weiß nicht, wer er ist.«

»Das wird sich noch herausstellen!«, blaffte sie. Sie hielt mir ihren Stock direkt vors Gesicht und machte sich am Griff zu schaffen. Mit einem Klicken sprang etwas Glitzerndes aus einem Schlitz – eine verborgene Klinge, so dünn, dass man damit ein Auge herausschälen konnte.

»Siehst du, wie fein sie ist? Ich kann sie in einen Stoß Papiere schieben, ohne an einem einzigen Blatt Spuren zu hinterlassen. Oder ich kann sie durch gekochtes Leder stoßen.« Sie ließ die Klinge an mir hinuntergleiten, bis sie mein Schambein kitzelte.

Ich hörte Stokes kichern. Unbeirrt erwiderte ich ihr Starren. Noch war ich nicht verloren. Vielleicht konnte mich Unwissenheit retten.

»Ich schwöre Euch, ich weiß nicht, wovon Eure Durchlaucht sprechen.«

Einen Moment lang weichten Zweifel ihre entschlossene Miene auf. Dann kehrten wieder diese Wildheit und Verschlagenheit zurück, und ich wusste, dass es vorbei war.

»Sie haben dich gut angelernt. Du spielst den Unwissenden wirklich meisterhaft. Vielleicht bist du das, als was du dich ausgibst: ein erbärmlicher Unglücksrabe, den sie gegen mich benutzen wollen. Cecil könnte Lady Dudley die Geschichte erzählt und ihr die Idee in den Kopf gesetzt haben, dass das die Waffe ist, die ihr fehlte.« Ein hämisches Lachen rasselte in der Brust der Herzogin. »Zuzutrauen ist es ihm. Das und noch viel mehr. Es ist ein hinterhältiges Spiel, das sie treiben, jeder für seine eigenen Zwecke. Dafür werden sie sterben, wenn ich erst einmal mit ihnen fertig bin. Sie werden noch bereuen, dass sie mir in die Quere gekommen sind und mich zum Narren gehalten haben.«

Sie verharrte. Ihr Gesichtsausdruck war so anders als alles, was ich bisher gesehen hatte – eine dunkle Maske bar jeder Anteilnahme, ja jedes Gefühls. »Was dich betrifft, ist es völlig gleichgültig, wer du wirklich bist.« Sie fuhr zu Stokes herum. »Ich habe genug Zeit vergeudet. Wann ist es so weit?«

»Sobald die Flut steigt. Der ganze Hof wird auf dem Rundgang sein und das Feuerwerk bewundern.« Er kicherte. »Nicht, dass sie etwas ahnen werden. Seit Jahren ist niemand mehr hier unten gewesen. Hier stinkt es nach papistischen Lastern.«

Jetzt hatte ich es klar vor Augen. Die letzten Teilchen fügten sich zu einem erschreckenden Ganzen. Während die Feier zu Ehren des Brautpaars Guilford und Jane Grey den Hof ablenkte, würde Robert, der – wie er das sah – von seinem Vater um sein natürliches Recht auf eine königliche Braut betrogen worden war, Elizabeth treffen. Von seinem eigenen maßlosen Ehrgeiz geblendet, hatte er ihr freilich nur noch leere Worte zu bieten.

Der Herzog hatte keineswegs die Absicht, ihn die Prinzessin heiraten zu lassen. Jane Grey war jetzt seine Waffe, ein perfektes Werkzeug mit Tudor-Blut als Braut seines formbaren jüngsten Sohnes. Zwei unglückselige Heranwachsende sollten die nächsten Monarchen auf dem englischen Thron sein, während auf Elizabeth und ihre Schwester Mary das Schafott wartete.

Der Scherge ließ mich los und drosch mir die Faust mit solcher Wucht ins Gesicht, dass ich der Länge nach hinfiel.

»Schluss damit«, mahnte die Herzogin. »Es muss aussehen, als hätte er sich einfach verlaufen. Keine Wunden, keine blauen Flecken, die nichts mit seinem Tod zu tun haben. Es darf keine Hinweise auf Gewalt geben.«

»Sehr wohl, Eure Durchlaucht«, murmelte Stokes. Meine Wange war aufgeplatzt, und warmes Blut rann mir über das Gesicht. Wie durch einen Schleier sah ich, wie die Herzogin sich umdrehte und zur Tür stapfte.

»Eure Durchlaucht!«, rief ich ihr nach. Sie blieb stehen. »Ich … ich würde gern den Grund für meinen Tod wissen.«

Sie bedachte mich mit einem abschätzigen Blick. »Dein Überleben war nicht vorgesehen. Du bist eine Missgeburt.«

Damit trottete sie, gefolgt von dem Henkersknecht, hinaus. Stokes trippelte ebenfalls zur Tür. Bevor er sie zuschlug, sagte er: »Halt lieber nicht die Luft an. Dann stirbst du schneller – zumindest habe ich das gehört.«

Die Tür knallte zu. Mit einem Scheppern schnappte der Riegel ein.

Allein in der Dunkelheit, begann ich zu schreien.

17

Ich schrie, bis mir die Stimme versagte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich so enden sollte, wollte die Mauern zu Staub brüllen, mich mit bloßen Händen ins Freie graben. Jetzt glaubte ich zu verstehen, wie es den für das Schlachten vorgesehenen Tieren ergehen musste, wenn sie auf ihren Metzger warteten.

Ohne zu merken, was ich tat, hatte ich begonnen, auf und ab zu schreiten. Es war verblüffend, wie viel mir auf einmal klar wurde – verblüffend und erschreckend. Meine Ankunft am Hof musste von Lady Dudley bis in alle Einzelheiten geplant gewesen sein, damit sie die Herzogin zwingen konnte, auf ihren Rang in der Thronfolge zu verzichten. Und wenn das zutraf, wusste Lady Dudley etwas Bestimmtes über mich. Das wiederum war der Grund, warum sie mich in ihre Obhut genommen hatte. Die Frau, die mich verachtet und erniedrigt, zum Ausmisten in den Stall geschickt und meine Auspeitschung befohlen hatte, als ich ein Buch lesen wollte – diese Frau hütete das Geheimnis um meine Vergangenheit.

Il porte la marque de la rose

Eine Welle der Verzweiflung schlug über mir zusammen. Doch ich kämpfte dagegen an, weigerte mich aufzugeben. Das alles konnte ja eine Illusion sein, sagte ich mir, irgendeine Manipulation.

Während ich, von Schmerz und Zorn erfüllt, in meiner Zelle auf und ab lief und im Sinnlosen einen Sinn zu finden suchte, achtete ich nicht auf die feinen Veränderungen in der Luft um mich herum, auf das Gurgeln, das den Anfang vom Ende ankündigte. Doch auf einmal hörte ich Wasser über den Steinboden plätschern, spürte es kalt meine Füße umspülen.

Jäh wirbelte ich herum, nur um zu sehen, wie sich von unten schwarze Fluten auf das Gitter zuwälzten.

Wie angewurzelt stand ich da. Die Flut wurde mächtiger, schneller und trug einen Geruch nach Fäulnis und Meer heran. Mit unaufhaltsamer Gewalt strömte sie durch unterirdische Kanäle in die kleine Zelle. Binnen weniger Minuten war der Boden überschwemmt.

Ich wich zur Tür zurück. Einen Riegel oder ein Schlüsselloch gab es nicht. Mehrere wütende Tritte bestätigten mir, dass ich gar nicht davon zu träumen brauchte, sie aufzubrechen. Angst schnürte mir die Brust zu. Das Flusswasser würde einfach weiter hereindrängen, bis es die Zelle bis zur Decke gefüllt hatte.

Wenn ich keinen Ausweg fand, ertrank ich darin.

Einen Moment lang verweigerte mein Körper jede Bewegung. Dann stürmte ich vorwärts und folgte nur noch meinem Instinkt. Ich erreichte den Rand des Gitters, wobei ich mich der Strömung entgegenstemmen musste, und beugte mich darüber. Dann kniete ich mich auf den Boden, packte die äußere Stange und zerrte unter Aufbietung meiner letzten Kraftreserven an dem Rost. Mochten meine Muskeln von der Anstrengung brennen, die Knie schmerzen und das Wasser mir mittlerweile bis zu den Hüften steigen, ich zog verzweifelt daran.

Nichts. Ich verstärkte meinen Griff, spannte wieder sämtliche Kräfte an. Rostige Metallsplitter bohrten sich mir in die Hände.

»Rühr dich«, flüsterte ich. »Rühr dich. Rühr dich!«

Mit einem Knirschen löste sich das Gitter. Ich riss meine Arme nach oben, um meinen Kopf zu schützen, als ich nach hinten stürzte. Keuchend und schleimiges Wasser ausspuckend, rappelte ich mich auf. Das Gitter hatte sich nur nach außen gedreht. Darunter gähnte ein enger Schlund. Ich konnte mich unmöglich hindurchzwängen.

Unaufhaltsam stieg das Wasser weiter an.

Immer noch konnte ich nicht glauben, dass ich sterben würde.

Szenen meiner kurzen Zeit am Hof zogen an mir vorüber. Wieder sah ich das Tollhaus, das Labyrinth von Whitehall, die Gesichter derer, die ich kennengelernt hatte und die meinen Untergang herbeigeführt hatten. Ich dachte an Peregrine. Von ihnen allen würde er vielleicht als Einziger um mich trauern. Und als ich meine Wehmut nicht mehr ertragen konnte, rief ich mir Kate Stafford ins Gedächtnis und den Moment, als sie mich geküsst hatte. Und ich betrachtete die Zwillingssonnen in Elizabeths Augen.

Elizabeth.

Glühend strömte das Blut durch meine Glieder. Ich konnte spüren, wie das Wasser an mir hochkroch, mit klammen Fingern gierig meine Brust betastete. Dann stellte ich mir den Geschmack des Todes in meinem Mund und die Lungen voller Schlick vor. Wütend fuhr ich herum, hämmerte gegen den noch nicht unter Wasser stehenden oberen Teil der Tür und stieß erneut wilde Schreie aus. Es muss ein Gebrüll wie von wilden Tieren gewesen sein. Ob jemand antwortete, war mir in diesem Moment nicht so wichtig. Ich wehrte mich schlichtweg dagegen, in Stille zu ertrinken.

Dann, wie von der anderen Seite einer Schlucht, vernahm ich plötzlich einen schwachen Ruf. »Brendaaaan!«

Ich hielt inne, presste das Ohr an die Tür, lauschte.

»Brendan! Brendan, bist du da?«

»Ich bin hier! Hier!« Ich trommelte gegen das Holz, bis meine Knöchel bluteten. »Hier! Ich bin hier!« Meine Knie wollten nachgeben, als das gedämpfte Platschen von den durch Wasser watenden Füßen lauter wurde und geradewegs auf mich zukam. »Mach auf! Mach auf!« Unsichtbare Hände ruckelten am Riegel, zogen ihn zurück.

»Vorsicht!«, schrie ich. »Die Zelle ist überflutet. Spring zurück, bevor …«

Ich wurde von den Füßen gerissen und von den hinausflutenden Wassermassen an die Wand gegenüber geschleudert. Nur noch ein formloser, tropfnasser Lumpen, glitt ich zu Boden.

Über dem Tosen herrschte Stille. Sie wurde durchbrochen von einer verängstigten Stimme. »Lebst du noch?«

»Wenn ich tot bin, musst du es auch sein«, murmelte ich. Arme so massiv wie Marmor wuchteten mich hoch. Vor mir standen zwei Gestalten; eine davon war Peregrine. Die andere, ein Riese mit karottenrotem Schopf, kantigem Kinn und von Pickeln verunstaltetem Gesicht, war ein Fremder.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Peregrine entsetzt. »Du siehst ja schrecklich aus.«

»Das würdest du auch, wenn dich jemand als Bärenköder benutzt hätte.« Ich blickte den Fremden an. »Danke.«

Der Riese nickte. Seine von Sommersprossen bedeckten Hände, groß wie Schaufeln, hingen reglos an ihm herab. Ich wandte mich Peregrine zu. »Wie habt ihr mich gefunden?«

»Das hier.« Er zeigte mir mein zerknittertes Wams. »Wir haben es am Eingang liegen sehen. Und als Barnaby einen Mann weglaufen sah, haben wir uns auf die Suche nach dir gemacht.«

»Dieses alte Kloster mit den unterirdischen Kreuzgängen und Zellen gehörte früher den Greyfriars«, ergänzte der Mann namens Barnaby, »aber dann hat Henry sie rausgeworfen. Es ist seit Jahren verwaist. Wenn sich jetzt noch jemand hier herumtreibt, verfolgt er höchstwahrscheinlich keine guten Absichten. Und als ich diesen Mann sah, war mir sofort klar, dass etwas nicht stimmte.«

Ich zog das Wams wieder an, dankbar, etwas Trockenes am Leib zu haben. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren.

»So richtig konnten wir ihn nicht sehen«, berichtete Peregrine weiter. Er war aufgeregt, jetzt, da ihm dämmerte, dass sie mir gerade das Leben gerettet hatten. »Es war schon zu dunkel, und er war ganz in Schwarz gekleidet. Aber Barnaby ist er trotzdem aufgefallen. Der Bursche hat richtige Habichtsaugen – zu deinem Glück. Und wenn wir nicht zufällig dein Wams entdeckt hätten, wären wir nie auf die Idee verfallen, hier unten nach dir zu suchen.« Er verstummte und betrachtete mich voller Ehrfurcht. »Jemand muss sich deinen Tod wirklich dringend gewünscht haben.«

»Allerdings. Hatte dieser Mann jemanden dabei?« Eigentlich hatte ich es gar nicht mehr nötig, mich nach dem Mann in Schwarz zu erkundigen. Ich wusste ja längst, wer er war.

Barnaby schüttelte den Kopf. »Er war allein. Merkwürdig – man hätte meinen können, er wollte von uns gesehen werden. Er hätte alle möglichen Wege nehmen können, legte es aber darauf an, unmittelbar vor unseren Augen herumzuspazieren.«

Endlich hatte ich Zeit, mich zu sammeln. Ich fuhr mir mit der Hand durch das schlammbedeckte Haar, dann verbeugte ich mich vor dem jungen Riesen. »Ihr müsst Master Fitzpatrick sein, König Edwards Freund. Darf ich mich Euch vorstellen? Ich bin Brendan Prescott. Ich verdanke Euch mein Leben.«

Er konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein. Groß und von der Statur eines Wachturms, war er trotz seines pickligen Gesichts und seiner unter der Kappe hervorquellenden strähnigen roten Mähne alles andere als hässlich – im Gegenteil. Der Größe seiner Hände und des durchnässten Wamses nach zu schließen, musste er derjenige gewesen sein, der die Tür zur Zelle geöffnet hatte.

In beiläufigem Ton erklärte Barnaby: »Peregrine hat mir gesagt, wer Ihr seid. Ihr gehört zu den Bediensteten der Dudleys. Außerdem hat er mir erzählt, dass Ihr ein Freund Ihrer Hoheit seid. Sie ist wie eine Schwester für mich. Und das ist der Grund, warum ich sofort bereit war, Euch zu helfen. Aber ich muss Euch warnen. Wenn Ihr Böses gegen sie im Schilde führt« – zur Bekräftigung seiner Worte schüttelte er seine gewaltigen Fäuste –, »werden Euch die Folgen nicht gefallen.«

Ich nickte. »Vertraut mir ruhig. Ich will ihr nichts Böses. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich Euch alles ausführlich erklären, aber leider müssen wir schleunigst handeln. Die Prinzessin ist in Gefahr.« Ich richtete mich auf und riss die knisternde Fackel aus ihrer Verankerung in der Mauer.

»Seine Majestät ist in Greenwich, in den Geheimgemächern«, meldete sich Peregrine zu Wort. »Barnaby hat mir gesagt, dass er sich hier schon seit Wochen aufhält. Habe ich dir nicht versprochen, dass ich alles für dich auskundschafte, worum du mich bittest?«

Mein Blick wanderte über die Flamme hinweg zu Barnaby. Der starrte mich mit grimmigem, entschlossenem Blick an. Wir setzten uns in Bewegung. Dabei mussten wir immer wieder durch knöcheltiefes Wasser waten. Als wir die Treppe erreicht hatten, wagte ich zu fragen: »Ist Seine Majestät sehr krank, Master Fitzpatrick?«

»Edward liegt im Sterben«, murmelte Barnaby mit brechender Stimme.

Nach längerem Schweigen erklärte ich: »Das tut mir leid. Nicht nur um ihn, sondern auch, weil Ihre Hoheit doch so sehr hoffte, ihn wiederzusehen. Jetzt fürchte ich, dass das nicht mehr möglich sein wird. Ich kann nur dafür beten, dass sie auf mich hört.«

»Auf mich wird sie hören«, verkündete Barnaby mit einer Selbstsicherheit, die ich als äußerst beruhigend empfand. »Ihre Hoheit, Seine Majestät und ich sind zusammen aufgewachsen. Sie und ich haben zusammen an Edwards Unterrichtsstunden teilgenommen. Wir waren sogar diejenigen, die Edward das Reiten beigebracht haben.« Ein Lächeln flackerte über seine Lippen. »Der alte König Henry brüllte immer vor Lachen, wenn Edwards Lehrer angerannt kamen und jammerten, dass wir bestraft gehörten, weil wir Seine Hoheit in große Gefahr brächten.«

Er richtete seine dunkelblauen Augen auf die meinen. Sein Lächeln erstarrte zu einer Grimasse. »Sie weiß, dass ich nie von Edwards Seite weichen würde, außer man zwingt mich dazu. Und genauso weiß sie, dass ich sogar im Exil einen Weg finden würde, über ihn zu wachen. Auf mich wird sie hören, vor allem, wenn ich ihr über den Herzog berichte.«

Wir erreichten den Park. Noch nie war ich für frische Luft so dankbar gewesen wie jetzt. Über dem Palast stiegen Lichtfontänen in den Himmel und drehten sich Feuerräder, bis sie explodierten, um dann in vielen Farben glitzernde Sterne auf die Zuschauer herabregnen zu lasssen, die eng aneinandergedrängt auf den Balkonen standen und gebannt in den Himmel schauten.

Siedend heiß fiel mir das Rendezvous ein. »Das Feuerwerk! Schnell, wo geht es zum Pavillon?«

Peregrine stürzte nach links davon. Wir folgten ihm sogleich, und nachdem wir durch eine Serie von überwucherten Zierhecken gebrochen waren, erkannte ich vor mir den Pavillon. Im stillen Wasser des Sees spiegelte sich das kunstvolle Spektakel, ja, fast schien es, als brächte er es selbst hervor. Im Näherkommen erspähte ich eine Silhouette in Schwarz, die vor der Balustrade stand. Ein, zwei Schritte von ihr entfernt bemerkte ich eine zweite Person, die in den Park hinaussah.

»Gebt mir einen Moment mit ihr«, bat ich Barnaby. »Ich will sie nicht überrumpeln.« Er zeigte mit einem Nicken sein Einverständnis, und während er und Peregrine sich niederkauerten, wagte ich mich in das von Mondlicht und künstlichem Feuer erhellte Freie.

Die Gestalt in Schwarz wandte sich zu mir um. Ich trat näher und sank vor ihr auf die Knie. Kate, die an ihrer Seite stand, schnappte erschrocken nach Luft. Ich hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich mit meiner verschmutzten Kleidung, den Blutergüssen, Schnittwunden und meinem blutverkrusteten Gesicht einen fürchterlichen Anblick bieten musste.

Es sprach für Elizabeth, dass sie sich eines Kommentars enthielt, auch wenn ihr die Sorge deutlich anzumerken war. »Junker Prescott, erhebt Euch bitte.« Sie hielt kurz inne. »Ist es nicht ein bisschen spät für ein Bad im See?«

Ich grinste schief. »Ein Unfall, Eure Hoheit. Es sieht schlimmer aus, als es ist.«

»Gott sei Dank.« Ihre Augen glänzten. Ihr mit eingeflochtenen Perlen geschmücktes Haar lockte sich in ihrem Nacken. Sie wirkte entwaffnend jung, und die Strenge ihres schwarzen Umhangs mit der Halskrause und den Seidenbündchen an den Handgelenken betonte ihre zierliche Figur. Nur ihre Hände verrieten sie, diese zarten Finger, die nervös ein Taschentuch kneteten.

»Nun?«, forderte sie mich auf. »Werdet Ihr sprechen? Hat ein Unfall auch Euren Herrn aufgehalten?«

»Eure Hoheit, leider überbringe ich eine Nachricht über Seine Majestät, Euren Bruder. Und über Eure Cousine, Lady Jane.« Ich zögerte und benetzte meine ausgetrockneten Lippen. Auf einmal wurde mir klar, wie unwahrscheinlich, ja grotesk meine Geschichte klingen würde, zumal ich keinerlei Beweise in Händen hatte. Und dann erfasste mich auch noch eine beunruhigende Vorahnung, dass sie bereits genau wusste, was ich ihr mitteilen würde.

»Ich höre«, sagte sie.

»Seine Majestät, Euer Bruder, liegt im Sterben«, erklärte ich leise. »Der Herzog hält seine Krankheit geheim, damit er Lady Jane und seinen Sohn Guilford auf den Thron setzen kann. Er plant, Euch und Eure Schwester, Lady Mary, gefangen zu nehmen und im Tower unter Hausarrest zu stellen. Wenn Ihr in Greenwich bleibt, kann niemand für Eure Sicherheit bürgen.«

Ohne die Augen von mir abzuwenden, fragte Elizabeth: »Kate, trifft das zu?«

Kate Stafford trat vor. »Leider ja.«

»Und du wusstest Bescheid? Cecil … wusste Bescheid?«

»Nicht über alles.« Kate wich meinem Blick nicht aus, obwohl sie gerade bestätigt hatte, dass sie mit Cecil zusammenarbeitete. »Aber ich habe nicht die geringsten Zweifel an Junker Prescotts Wort. Er hat offenbar gute Gründe, das zu melden.«

Elizabeth nickte. »Auch ich habe nicht die geringsten Zweifel. Seit dem Tag, als Northumberland mir die Bitte nicht gewährte, Edward zu besuchen, hege auch ich den Verdacht, dass etwas dieser Art im Gange ist. Wahrscheinlich kann ich von Glück reden, dass ich noch frei bin.« Sie hielt inne. Ihre Augen ruhten weiter auf mir. »Wisst Ihr, warum man mich noch nicht verhaftet hat?«

Ich nickte. »Ich glaube, Seine Lordschaft hat es noch nicht gewagt. Er fürchtet, es könnte Eurer Schwester zu Ohren kommen und sie dazu veranlassen, außer Landes zu fliehen. Damit wäre auch erklärt, warum er meinem Herrn, Lord Robert, befohlen hat, zuerst sie gefangen zu nehmen. Es heißt, jemand am Hof würde sie mit Informationen versorgen.«

»Dessen bin ich mir sicher«, bestätigte Elizabeth. »Schließlich sprechen wir von John Dudley. Inzwischen hat er sich mehr Menschen zu Feinden gemacht, als Mary das jemals könnte.«

»Dann dürfen wir Euer Glück nicht länger herausfordern. Ich habe Freunde, die Euch helfen können, ihm zu entkommen. Selbst der Gefährte Seiner Majestät, Master Fitzpatrick …«

»Nein.«

Einen Moment lang schienen sogar die letzten Explosionen des Feuerwerks innezuhalten.

»Nein?« Ich war überrascht. Sicher hatte ich mich verhört.

»Nein.« Ihr Gesicht zeigte feste Entschlossenheit. »Ich verlasse Greenwich nicht. Noch nicht.«

»Nach allem, was wir gerade vernommen haben, kann Eure Hoheit doch nicht planen hierzubleiben!«, rief Kate. »Das wäre Wahnsinn. Wir haben Master Cecil versprochen, dass Ihr …«

»Ich weiß, was wir versprochen haben. Ich habe gesagt, dass ich seinen Rat in Erwägung ziehen würde. In Erwägung ziehen, Kate, nicht beherzigen. Und jetzt muss ich mein Vorhaben ausführen. Ich könnte nicht in dem Bewusstsein weiterleben, das versäumt zu haben.«

»Mylady«, begehrte ich auf und bekam dafür die volle Wucht ihres Blicks zu spüren. »Ich bitte Euch«, fuhr ich gedämpfter fort, »überlegt es Euch noch einmal. Was Ihr auch tut, Ihr habt es nicht in der Hand, den Herzog von seinem Weg abzubringen. Ebenso wenig könnt Ihr hoffen, Seine Majestät zu retten. Unter den augenblicklichen Bedingungen müsst Ihr zusehen, dass Ihr Euch selbst rettet, um Englands willen.«

Sie schürzte die Lippen. »Ich höre Cecil durch Euch sprechen, und das gefällt mir ganz und gar nicht. Bleibt Euch selbst treu, Prescott. So seid Ihr mir lieber – frech, tollkühn und zu allem entschlossen, was eben nötig ist.«

Ich hätte vielleicht gelächelt, wäre die Lage nicht so ernst gewesen. »Gut. Frech, wie ich bin, muss ich dann darauf hinweisen, wie gefährlich es für Euch wäre, die Verabredung mit meinem Herrn einzuhalten. Lord Robert strebt nach höheren Zielen, als es Eure Hoheit ahnt. Er wird Euch auf jede ihm mögliche Weise täuschen. Er hat sich geweigert, Eure Schwester zu verfolgen, weil er glaubt, dass Ihr seinen Hochzeitsantrag annehmt.«

Auf ihrem Gesicht ging eine Veränderung vor sich, fast unmerklich zwar, doch ich nahm sie wahr. Die zarte Haut um ihre Mundwinkel straffte sich, und durch ihre Augen zuckte ein dunkler Strahl.

»Und ich«, sagte sie sanft, »weiß am besten, wie ich mit ihm umzugehen habe.« Sie reckte das Kinn vor. »Außerdem ist es jetzt zu spät. Da kommt er.«

Ich wirbelte herum. Kate riss mich zurück. »Schnell!«, zischte sie. »Versteckt Euch!«

Ich kletterte über die Balustrade und landete mit einem – wie es mir vorkam – ohrenbetäubenden Lärm in den Hagedornbüschen auf der anderen Seite. »Sehr anmutig«, murmelte Peregrine. Er und Barnaby waren lautlos herangeschlichen. Beide waren mit Dolchen bewaffnet. Peregrine reichte mir einen. Mein alter Dolch, den mir Master Shelton geschenkt hatte, fiel mir wieder ein. Ich hatte mit Stokes noch ein Hühnchen zu rupfen, allein schon wegen des Diebstahls des guten Stücks. Was meine Kappe betraf, war sie anscheinend endgültig verloren.

Durch das Laub beobachtete ich, wie Robert den Weg entlanglief. Er hatte mich aufgefordert, heute Abend pünktlich zurückzukehren, damit ich ihm beim Ankleiden helfen konnte. Obwohl er das nun hatte allein erledigen müssen, war es ihm gut gelungen. In einem Wams aus Goldbrokat, besetzt mit funkelnden Opalen, das ihn ein Vermögen gekostet haben musste, gab er eine beeindruckende Figur ab. Kurz blieb er stehen, um seine mit Feder und Juwelen geschmückte Kappe abzunehmen, dann stieg er die Stufen zum Pavillon hinauf. Dort oben kamen seine hohen Lederstiefel und die goldenen Sporen erst richtig zur Geltung.

Vor Elizabeth ließ er sich auf ein Knie sinken. »Ich bin von Freude überwältigt, Eure Hoheit sicher und bei bester Gesundheit anzutreffen.« Selbst in dem nach allen Seiten offenen Pavillon war sein Moschusparfum schier überwältigend, und irgendwie erinnerte er in der Tat an einen mächtigen Stier im besten Mannesalter.

Weder reichte ihm Elizabeth die Hand, noch gestattete sie ihm, sich zu erheben. Während sie ihr Taschentuch unter die Halskrause schob, antwortete sie: »Über meine Gesundheit kann ich nicht klagen. Wie es um meine Sicherheit steht, wird sich noch erweisen. Dieser Hof war noch nie eine Zufluchtsstätte für mich.«

Er blickte auf. Sie hatte in leichtem, fast beiläufigem Ton gesprochen, doch selbst er hätte nicht missverstehen können, was sie in Wahrheit meinte. Dennoch stellte er sich unwissend. Mit rauer Stimme erwiderte er: »Wenn Ihr es mir gestattet, mache ich diesen Hof und das ganze Königreich zu Eurer Heim- und Zufluchtsstätte zur Mehrung Eures Ruhms.«

»Ja.« Sie lächelte. »Das würdet Ihr für mich tun, nicht wahr, mein lieber Robin? Seit unseren Kindertagen habt Ihr mir schon immer das Blaue vom Himmel herunter versprochen.«

»Das tue ich immer noch. Ihr könnt von mir alles haben, was Ihr Euch wünscht. Ihr braucht nur darum zu bitten, und es gehört Euch.«

»Nun gut.« Sie fixierte ihn. »Ich möchte meinen Bruder sehen, bevor er stirbt, ohne dabei um mein Leben fürchten zu müssen.«

Robert erstarrte. Immer noch zu dieser unbequemen Haltung auf den Knien gezwungen, benötigte er eine ungewöhnlich lange Zeit, bis er stammelte: »Ich … ich darf nicht wagen, darüber zu sprechen. Und auch Ihr dürft das nicht.«

»Oh?« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Warum nicht? Freunde haben doch sicher nichts voreinander zu verbergen?«

»Wir nicht. Aber es ist Hochverrat, über eine solche Angelegenheit zu spekulieren, wie Ihr sehr wohl wisst.«

Sie lachte hellauf. »Es erleichtert mich zu hören, dass wenigstens ein Mitglied Eurer Familie noch ein Gewissen hat! Und dass mein Bruder – dem Anschein nach – noch lebt. Sonst wäre es ja kein Hochverrat mehr, über sein Ableben zu spekulieren, nicht wahr?« Sie machte eine Pause. »Habt Ihr nicht gesagt, ich könnte alles haben, was ich mir wünsche? Würdet Ihr mich tatsächlich in der Stunde meiner größten Not im Stich lassen?«

»Ihr spielt mit mir!« Er sprang auf – ein übermächtiger Hüne im Vergleich zu ihrer zierlichen Gestalt. »Ich bin nicht zum Spielen gekommen. Ich bin gekommen, um Euch zu warnen: Euer Recht auf den Thron ist in Gefahr.«

»Ich habe gar kein Recht darauf«, konterte sie schlagfertig. Gleichwohl bemerkte ich, dass ihre Stimme etwas weniger entschlossen klang, nachgiebiger. »Meine Schwester Mary ist die Erbin, nicht ich. Wenn Ihr also jemanden warnen müsst, dann sie.«

Robert ergriff ihre Hand. »Ich bitte Euch. Wir sind keine Kinder mehr. Wir müssen nicht mehr herausfinden, wer wen übertölpeln kann. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass das Volk Eure Schwester nicht als seine Königin haben will. Sie steht für Rom und die Vergangenheit, für alles, was es verabscheut.«

»Und doch ist sie die rechtmäßige – die einzige – Erbin«, wandte Elizabeth ein. Sie entzog ihm ihre Hand. »Und wer kann schon sagen, was kommt? Mary könnte die Konfession wechseln, wozu dieser Tage ja viele neigen. Schließlich ist sie eine Tudor, und wir gehören bekanntlich nicht zu denjenigen, die sich von der Religion behindern lassen.«

Robert betrachtete sie mit beunruhigender Vertrautheit. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie viel gemeinsame Geschichte sich in zwanzig Jahren ansammeln mochte, wie zwei Kinder, die in einer Welt der Intrige und Täuschung aufgewachsen waren, dazu kommen konnten, sich in fast allem aufeinander zu verlassen.

»Haltet Ihr mich für einen Narren?«, beschwerte sich Robert. »Ihr wisst genau, dass Mary ihren Glauben zur Not mit dem eigenen Leben verteidigen würde. Ihr wisst das. Der Kronrat weiß es. Euer Bruder, der König, weiß es, und …«

»Euer Vater weiß es von allen am besten«, unterbrach ihn Elizabeth. »Man könnte sogar sagen, er baut darauf.« Sie musterte ihn mit einem – trotz aller Vertrautheit – abschätzenden Blick, der ihn wie einen Anfänger wirken ließ. »Ist das der Grund, warum Ihr mich treffen wolltet? Sind wir einander in den letzten zwei Tagen aus dem Weg gegangen, nur damit Ihr mir sagen könnt, dass meine Schwester den Thron wegen des Glaubens, zu dem sie erzogen wurde, nicht besteigen darf?«

»Himmelherrgott! Ich bin gekommen, um Euch zu sagen, dass in den Augen des Volkes nur Ihr – und sonst niemand – das Recht habt, Königin zu sein. Ihr seid die Prinzessin, die es verehrt; Ihr seid diejenige, auf die es wartet. Es würde zu den Waffen greifen, um Euch auf den Thron zu helfen. Ihr bräuchtet es nur zu befehlen. Die Leute würden Euch mit ihrem Leben verteidigen.«

»Würden sie das?« Elizabeths Worte waren eine grausame Liebkosung. »Es gab eine Zeit, als sie dasselbe für Marys Mutter getan hätten. Damals war Katharina von Aragón für das Volk die rechtmäßige Königin, und meine Mutter war die verhasste Usurpatorin. Wollt Ihr, dass ich die Rolle einer Toten übernehme?«

Die Luft knisterte, die Spannung war förmlich mit Händen zu greifen. Zwischen den beiden gab es tatsächlich eine lange Geschichte, und es waren Gefühle im Spiel – zu viele, wie ich fand. So erhielt ich meinen ersten Einblick in eine Leidenschaft, die so tief, so explosiv war, dass sie, wurde sie erst einmal entfesselt, alles um sich herum zerstören konnte.

»Warum müsst Ihr mich immer verspotten?«, beklagte sich Robert mit bebender Stimme. »Ihr fürchtet doch ebenso wie ich, dass Mary den Thron besteigt. Ihr wisst, dass damit das Ende der Kirche besiegelt wäre, die Euer Vater gegründet hat, um Eure Mutter heiraten zu können. Dann wären alle Hoffnungen auf Frieden und Wohlstand ein Trümmerhaufen. Mary wird uns in kürzester Zeit die Inquisition auf den Hals hetzen. Darum stehen das Volk und der größte Teil des Adels auf Eurer Seite. Und ich! Wer es wagt, Euer Recht anzuzweifeln, bekommt mein Schwert zu spüren!«

Sie musterte ihn schweigend. Von meinem Versteck aus konnte ich sie zögern sehen und erkannte an ihrer bestürzten Miene, dass sie mit einem Mal begriff, was alles auf dem Spiel stand und wie viel sie gewinnen konnte. Zugleich führte ich mir vor Augen, welchen inneren Kampf sie in diesem Moment ausfocht, denn sie musste sich ja irgendwie mit der von dem Blut ihrer Mutter besudelten Vergangenheit aussöhnen, nachdem Henry diese hatte hinrichten lassen. Schließlich brach sie ihr Schweigen. »Mein Recht, sagt Ihr? Ist es wirklich mein Recht? Oder meint Ihr unseres

»Das ist doch ein und dasselbe«, erwiderte Robert hastig. »Ich lebe, um Euch zu dienen.«

»Hehre Worte. Sie könnten mich anrühren, hätte ich nicht schon einmal ähnliche gehört.«

Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich Zeuge, wie es Robert Dudley die Sprache verschlug.

»Wollt Ihr wissen, von wem?«, fragte Elizabeth. »Das war Euer Vater. Jawohl, liebster Robin – Euer Vater hat mir heute Nachmittag so ziemlich dasselbe angeboten. Er hat sogar dieselben Argumente benutzt und mich mit denselben Verlockungen zu ködern versucht.«

Robert stand da wie vom Donner gerührt.

»Ihr könnt Mistress Stafford fragen, wenn Ihr mir nicht glaubt«, sagte Elizabeth. »Sie hat ihn meine Gemächer verlassen sehen. Er ist hereingeplatzt – als ich im Bett lag – und hat mir in Aussicht gestellt, mich zur Königin zu machen, wenn ich in eine Hochzeit mit ihm einwillige. Er hat mir versprochen, mir zuliebe seine Frau – Eure Mutter – aus dem Weg zu räumen. Oder vielmehr meiner Krone zuliebe. Denn natürlich müsste ich ihn zum König krönen. Nicht zum Prinzgemahl, sondern zum König aus eigenem Recht. Dann könnte er nämlich im Falle meines Todes – zum Beispiel wegen Kindbettfieber, wie das so häufig geschieht – weiterhin herrschen und den Thron seinen eigenen Erben hinterlassen, unabhängig davon, ob sie von mir stammen oder nicht.«

Ein anmutiges und doch unversöhnliches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ihr müsst mir also verzeihen, wenn ich jetzt nicht die Begeisterung zeige, die Ihr Euch erhofft habt. Was die Dudleys betrifft, bin ich fürs Erste von jeder Begeisterung kuriert.«

Ich lauschte gebannt. Mir gegenüber hatte sie kein Wort von alldem erwähnt. Jetzt war mir freilich klar, warum Northumberland sich dafür entschieden hatte, Jane Grey auf den Thron zu setzen. Als erfahrener Höfling hatte er immer einen Ersatzplan, falls seine erste Wahl scheiterte. Seine Erklärung in Whitehall am Abend von Elizabeths Ankunft war nichts anderes als eine verhüllte Warnung gewesen, dass er bereit war, sie zu vernichten, wenn sie sich ihm in den Weg stellte. Und genau das hatte sie getan: Sie hatte ihn abgewiesen, all seinen Machenschaften eine Absage erteilt und ihm damit ihrerseits den Krieg erklärt.

Wie Cecil vermutet hatte, hatte der Herzog sie unterschätzt.

Robert starrte sie fassungslos an. Aus seinem sonnenverbrannten Gesicht wich jede Farbe. Er tat mir beinahe leid, als er benommen stammelte: »Mein … Vater … hat um … Eure Hand … angehalten?«

»Ihr wirkt überrascht. Das verstehe ich nun wirklich nicht. Der Apfel fällt doch nicht weit vom Stamm, wie es so schön heißt.«

Mit einem Mal richtete er sich mit solcher Wut vor ihr auf, dass ich mich unwillkürlich dazwischenwerfen wollte, doch Barnabys Pranke schloss sich wie ein Schraubstock um meine Schulter und hielt mich zurück. Und Kate, die bis dahin regungslos geblieben war, warf einen drohenden Blick in meine Richtung. Gleichwohl griff ich nach meinem Dolch. Unterdessen wanderte Kates Hand unter ihren Umhang, wo sie zweifellos einen ähnlich scharfen Gegenstand verbarg. Das bestätigte mir, dass sie ihrer Herrin treu ergeben war.

Robert packte Eizabeth wütend am Arm und riss sie mit solcher Brutalität an sich, dass sich ihre Haare lösten, über ihre Schultern fielen und die Perlen über den Boden des Pavillons kullerten.

»Du lügst! Du lügst, und du spielst mit mir! Wie eine läufige Hündin. Und trotzdem will ich dich, so wahr mir Gott helfe!« Er umfasste ihren Nacken und presste seine Lippen auf die ihren. Sie riss sich mit einer schneidenden Bemerkung los, die wie ein Peitschenhieb durch die Luft gellte, und versetzte ihm mit der flachen Hand einen Schlag quer über das Gesicht. Dabei kratzten ihre Ringe ihm die Haut auf und zerfetzten seine Lippen.

»Lasst mich auf der Stelle los!«, zischte sie. »Oder ich dulde Euch nie wieder in meiner Nähe, das schwöre ich bei Gott!«

Ihre Worte trafen ihn noch härter als der Schlag. Benommen und mit blutenden Lippen stand Robert da, dann wich er zurück. Eine Weile beäugten sie sich wie zwei Ringer, beide schwer atmend, aber schließlich löste sich die Wut in seinem Gesicht nach und nach auf, und seine Augen nahmen einen kummervollen Ausdruck an.

»Dann zieht Ihr es nicht in Erwägung? Ihr würdet ihn nicht heiraten, um mir eins auszuwischen?«

»Wenn Ihr das glaubt, seid Ihr noch verblendeter als er«, entgegnete sie, doch jetzt zitterte ihre Stimme, als kämpfte sie gegen eine Unsicherheit an, die ihr die Kraft zu rauben drohte. »Als ob ich, von Geburt und Erziehung eine Prinzessin, jemals einen Dudley von niedrigerem Geblüt seine Brunst in meinem Bett austoben ließe. Lieber sterbe ich!«

Er zuckte zusammen. Dann versteinerten seine Züge. Es war ein schrecklicher Moment, der nichts weniger als das Ende ihres seit Kindertagen bestehenden Vertrauens bedeutete. Noch nie hatte eine Frau Robert Dudley gedemütigt. Bisher hatte er jede, die er gewollt hatte, auch bekommen. Doch bei all seinem Einfallsreichtum, seiner Eitelkeit und seiner Verstellungskunst begehrte er nur eine Frau wirklich, und die hatte ihn gerade mit einer Kaltschnäuzigkeit zurückgewiesen, die ihn wie ein Lanzenhieb mitten ins Herz traf.

Er straffte sich. »Ist das Euer letztes Wort?«

»Es ist mein einziges Wort. Ob König oder Gemeiner, ich werde keines Mannes Opfer sein.«

»Und was, wenn dieser Mann Euch seine Liebe erklärt?«

Sie schnaubte. »Wenn das gerade die Liebe eines Mannes war, dann möge mir Gott mehr davon ersparen.«

»Von mir aus!«, brüllte er. »Dann verliert Ihr eben alles – Land, Krone, Freiheit! Sie werden Euch alles wegnehmen und Euch nichts mehr lassen außer Eurem verdammten Stolz. Ich liebe Euch. Ich habe Euch immer geliebt, aber da Ihr nichts davon wissen wollt, lasst Ihr mir keine andere Wahl, als dem Befehl meines Vaters zu gehorchen. Dann verfolge ich eben Eure Schwester, verhafte sie und sperre sie in den Tower. Und, Elizabeth, so wahr Gott mein Zeuge ist, wenn er mich das nächste Mal an die Spitze eines Trupps Soldaten stellt, kann ich Euch nicht versprechen, dass dann nicht ich vor Eurem Haus in Hatfield stehen und an die Tür klopfen werde.«

Sie reckte das Kinn vor. »Sollte das geschehen, werde ich dankbar dafür sein, ein vertrautes Gesicht zu sehen.«

Eine wütende Verbeugung, dann drehte sich Robert um und rannte die Treppe in Richtung Palast hinunter. Binnen Sekunden hatte ihn die Nacht verschluckt. Kaum war er verschwunden, begann Elizabeth zu schwanken. Kate stürzte zu ihr.

»Möge Gott mir helfen«, flüsterte sie. »Was habe ich getan?«

»Das, was Ihr tun musstet«, erklärte Kate. »Das, was die Würde von Eurer Hoheit erfordert.«

Elizabeth starrte sie an. Ein zittriges Lachen entwich ihr. »Junker Prescott!«

Ich richtete mich auf und klopfte mir totes Laub von der feuchten Hose. Beim Näherkommen bemerkte ich in Elizabeths Augen eine Angst, zu der sie sich nie bekennen würde. »Ihr habt mir gesagt, mein Leben sei in Gefahr. Anscheinend hattet Ihr recht. Was machen wir nun?«

»Diesen Ort verlassen, Hoheit«, sagte ich rasch. »Und zwar, bevor Lord Robert seinem Vater alles beichtet. Sobald er das getan hat, werden sie Euch ergreifen müssen. Ihr wisst ohnehin schon zu viel.«

»Merkwürdig«, murmelte sie, während Kate ihren Umhang von der Balustrade nahm und ihr über die schmalen Schultern legte. »Offenbar kennt Ihr ihn nicht so gut, wie man das unter Jungen, die zusammen aufgewachsen sind, eigentlich tun sollte. Robert wird mit dieser Sache nie zu seinem Vater rennen. Ich habe ihn an seiner verwundbarsten Stelle getroffen und verletzt, und das wird er mir nie vergeben oder vergessen, aber er wird nicht mithilfe des Herzogs nach Rache streben. Nein, seit heute hasst er Northumberland noch mehr als ich. Vielleicht tut er, was ihm sein Vater befiehlt, und führt Mary als Jagdbeute heim, denn das verlangt allein schon sein Mannesstolz, aber freiwillig wird er niemals die Meute seines Vaters auf mich hetzen.«

»Was immer er tun wird, wir können nicht warten, bis wir es wissen.« Ich wandte mich an Kate. »Gibt es Anweisungen von Cecil, die wir kennen müssen?«

Eine Geringere als Kate wäre angesichts meines Tonfalls zurückgeprallt, doch sie sah mir fest in die Augen. »Ich soll Ihre Hoheit zur Pforte bringen. Dort warten Pferde und Geleitschutz auf uns. Aber mit Euch hat niemand gerechnet.«

Elizabeth räusperte sich. »Mich überwältigen die Sorgen und die Anstrengungen, die man mir zugemutet hat, aber ich habe nicht die geringste Absicht, meinen Araberhengst, Cantila, zurückzulassen, damit der Herzog ihn reiten kann. Dafür ist er mir als Freund zu wertvoll.« Ihre Lippen kräuselten sich. »Apropos Freunde, habt Ihr nicht gesagt, Ihr hättet welche hier in der Nähe?«

Wie auf Kommando sprang Peregrine aus seinem Versteck. »Ich hole sofort das Pferd Eurer Hoheit!« Hinter ihm erhob sich Barnaby, sank steif auf die Knie und offenbarte mit einer Verneigung das in seinem Haar hängen gebliebene Laub. »Mylady«, sagte er mit einer Wärme, wie sie nur in Jahren der Vertrautheit entstehen kann.

»Barnaby Fitzpatrick!« Sie seufzte. »Wie ich mich freue!« Mit einem schiefen Lächeln wandte sie sich Peregrine zu. »Arbeitest du nicht in den Stallungen von Whitehall? Wo ist mein Hund?«

Peregrine blickte sie mit unverhohlener Bewunderung an. »Urian ist in Sicherheit. Er ist bei Cantila im Stall. Ich bringe ihn mit, wenn Ihr wollt. Braucht Ihr sonst noch etwas? Es wäre mir eine Ehre.«

»Er macht keine leeren Versprechungen«, ergänzte ich, dann warf ich Peregrine einen Blick zu. »Mein Freund, Cinnabar ist auch dort, falls du das vergessen haben solltest. Und sein Sattel liegt unter dem Stroh.«

Peregrine nickte verlegen. »Dann ist das also geregelt«, stellte Elizabeth fest. »Unser Freund hier holt meinen Hund und die Pferde und trifft uns bei der Pforte. Ich habe einen Freund außerhalb von Greenwich, wo wir Zuflucht finden, falls der Herzog Truppen nach uns entsendet. Im Augenblick halte ich es nicht für allzu klug, nach Hatfield zurückzukehren.« Sie hielt inne. Und als ich sah, wie ihre Züge sich anspannten, überlief mich ein kalter Schauer. Auch wenn ich schon ahnte, was sie sagen würde, brachte es mich dennoch aus der Fassung.

»Aber bevor wir irgendwohin reiten, muss ich Edward sehen.«

18

Ohrenbetäubende Stille folgte Elizabeths Worten. Ich rätselte darüber, warum ich unter Schock stand; schließlich war es nicht so, als käme ihr Verhalten völlig überraschend. Und obwohl ich mich fragte, warum ich überhaupt noch versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen, sagte ich: »Das ist unmöglich. Wir können da nicht hinein. Dafür werden die Gemächer Seiner Majestät zu gut bewacht. Selbst wenn wir uns Zugang verschaffen könnten, kämen wir nicht wieder hinaus.«

Elizabeth blickte mich völlig unbeeindruckt an. »Bevor wir aufgeben, sollten wir vielleicht Master Fitzpatrick fragen, der in all den Jahren immer am Fuß des Bettes meines Bruders geschlafen hat. Er wird wissen, wie unmöglich das ist.« Sie wandte sich an Barnaby. »Gibt es einen Zugang zu Edwards Gemächern, über den wir zu ihm gelangen können, ohne ertappt zu werden?«

Fassungslos hörte ich Barnaby antworten: »Es gibt einen Geheimgang zu seinem Schlafgemach. Seine Majestät, Euer verstorbener Vater, hat ihn früher gern benutzt. Bei meiner letzten Überprüfung hatte der Herzog dort noch keine Wache aufgestellt. Aber ich muss Euch warnen: Wenn er das nachgeholt hat, führt der einzige Weg ins Freie durch die Gemächer. Und die sind verseucht mit seinen Speichelleckern.«

»Ich riskiere es trotzdem.« Elizabeth starrte mich mit bohrendem Blick an. »Versuch nicht, mich zurückzuhalten. Wenn du mir helfen möchtest, kannst du das gern tun. Wenn nicht, kannst du mich am Torhaus treffen. Aber ich muss das tun. Ich muss meinen Bruder sehen, bevor es zu spät ist.« Sie schwieg. »Ich … ich muss von ihm Abschied nehmen.«

Ihre Worte zerrten an meiner Seele. Das verstand ich nur zu gut.

Barnaby trat vor. »Ich zeige Eurer Hoheit den Weg.« Und mit einem kurzen Blick auf mich erklärte er: »Ich geleite Euch sicher zu Seiner Majestät und zurück zum Torhaus.«

»Danke, Barnaby.« Elizabeth wandte die Augen nicht von mir ab. Seufzend fügte ich mich in die Niederlage. Dann warf ich einen prüfenden Blick auf die hell erleuchteten Palastfenster. Das Feuerwerk war zu Ende. Aus rasend schnell aufziehenden Sturmwolken fielen die ersten Tropfen. Bald würde das Fest seinen Höhepunkt erreichen, und der von überreichlich fließendem Wein berauschte Hofstaat würde in fiebriger Ekstase tanzen, während das Brautpaar verdrießlich auf dem Podest hockte. Und da der König nicht wie versprochen seine Aufwartung machte, würde der Herzog die Feiernden mit seiner Anwesenheit beehren und außerdem die Adeligen im Auge behalten müssen. Insofern boten sich jetzt in der Tat die besten Voraussetzungen, sich in die königlichen Gemächer zu stehlen. Warum erfassten mich dann trotzdem schreckliche Vorahnungen?

»Ash Kat hat den Hof wissen lassen, dass ich indisponiert bin«, sagte Elizabeth, die mein Schweigen missverstanden hatte. »Meine Magenbeschwerden und Kopfschmerzen sind ja ebenso berüchtigt wie meine Zornesausbrüche, wenn mir eine Laus über die Leber gelaufen ist. Außerdem hat der Herzog bestimmt nicht vergessen, was er mir heute Nachmittag gesagt hat, und wird sein Glück nicht überstrapazieren wollen. Ich habe Robert natürlich nicht alles erzählt. In Wahrheit habe ich Northumberland keine komplette Abfuhr erteilt. Ich habe lediglich erklärt, dass ich Zeit brauche, um mir seinen Antrag durch den Kopf gehen zu lassen.«

Auf ihrem Gesicht erschien ein kaltes Lächeln. »Diese Zeit wird selbstverständlich bald ablaufen, aber wenn die Kerle nicht gerade auf die Idee kommen, die Tür zu meinem Schlafgemach aufzubrechen, wird keiner es wagen, mich zu stören.«

»Nicht, solange Seine Majestät lebt«, meinte ich. »Ist er erst einmal tot, könnt Ihr keine Gnade erwarten.«

»Das käme mir sowieso nie in den Sinn«, entgegnete sie. »Aber es ist mutig von Euch, mich daran zu erinnern.«

Ich blickte Barnaby an. »Seid Ihr sicher, dass wir den Geheimgang ohne Sorge benutzen können?«

»Vorausgesetzt, er wird nicht bewacht, und jemand von uns bleibt draußen, um uns im Notfall zu warnen. Nur der Liebling des Königs, Sidney, ist jetzt bei Edward. Er wird nicht Alarm schlagen.«

»Ich stehe Wache vor dem Eingang.« Kate zog ihren Dolch unter dem Umhang hervor. Mir lag schon ein Protest auf der Zunge, doch dann presste ich die Lippen zusammen. Wir waren nicht so viele, dass ich es mir leisten konnte, auf Hilfe zu verzichten. Und wir brauchten nun einmal jemanden, der uns den Rücken freihielt. »Schön. Peregrine kommt mit uns. Wenn die Lage sicher aussieht, kann er in die Stallungen gehen. Eure Hoheit, Euch ist bewusst, dass Euer Besuch bei Eurem Bruder kurz sein muss?«

Sie schlug ihre Kapuze hoch. »Ja.«

Während Kate und Peregrine Elizabeth in ihre Mitte nahmen, winkte ich Barnaby zu mir nach vorn, und wir huschten die Fassade des Palastes entlang, eine verschworene Fünferbande. Das von den Fenstern und Loggien nach draußen flutende Kerzenlicht mieden wir. Aus den geöffneten Fenstern drang hemmungsloses, fast fieberhaftes Lachen.

Ich fragte mich, ob der Herzog in letzter Minute mehr Höflinge in den Palast hereingelassen hatte, als ihm selbst recht war. Ich hoffte es jedenfalls. Alles, was ihn ablenkte, verschaffte uns mehr Zeit, Edward ungestört zu besuchen und zu verlassen. Elizabeths Fehlen bei der Hochzeitsfeier war gewiss aufgefallen. Nun, Northumberland konnte beschlossen haben, dass ein gewisser Anreiz nötig war, um Elizabeth das Überlegen zu erleichtern, und hatte vielleicht in diesem Augenblick Wachen vor ihren Gemächern aufstellen lassen. Sosehr mir dieser Gedanke missfiel, wir mussten auf alles vorbereitet sein.

Verstohlen blickte ich Barnaby an. Falls ich jemals in ein Handgemenge geriet, tat ich gut daran, jemanden wie ihn an meiner Seite zu haben. »Barnaby«, flüsterte ich. »Könnt Ihr mir eines versprechen?«

»Das kommt darauf an, was es ist.«

»Wenn irgendetwas fehlschlägt, könnt Ihr dann alles tun, was erforderlich ist, um sie in Sicherheit zu bringen?«

Seine Zähne schimmerten. »Glaubt Ihr etwa, ich würde sie diesem Wolfsrudel überlassen? Verlasst Euch darauf: Ich bringe sie in Sicherheit – und wenn ich dabei sterbe. Wie auch immer, sie fällt ihnen nicht in die Hände.«

Wir passierten einen ummauerten Innenhof gegenüber der Seitenfassade des Palasts. An seinem Ende erhob sich ein verlassen wirkender Turm. Ich roch den nahen Fluss.

Barnaby blieb abrupt stehen. »Der Eingang ist in diesem Turm.« Er kauerte sich nieder. Ich tat es ihm gleich, einen stummen Fluch auf den Lippen. Auch die anderen verharrten. In der Stille hörte ich Elizabeth scharf die Luft zwischen den Zähnen einsaugen. »Wachposten«, flüsterte sie.

Tatsächlich standen zwei bewaffnete Männer vor dem Turm, der sich im Vergleich zu dem in den Himmel ragenden Palast ausnahm wie eine verschrumpelte Kröte. Die Soldaten, die sich einen Weinschlauch teilten und angeregt miteinander schwatzten, achteten nicht weiter auf ihre Umgebung. Wahrscheinlich rechneten sie nicht damit, dass sich in einer Nacht, in der die Vermählung des Sohnes des Herzogs gefeiert wurde, irgendwelche Eindringlinge nähern könnten. Damit ließ sich erklären, warum sie halb betrunken an der Mauer lehnten. Während die Höflinge drinnen herumtollten und sich mit Braten vollstopften, mussten sie in der Kälte vor einer Tür Wache stehen, von der so gut wie niemand wusste.

»Habt Ihr nicht gesagt, der Gang wäre sicher?«, raunte ich Barnaby ins Ohr.

»Das ist er normalerweise auch«, zischte er. »Wahrscheinlich will unser Herr, der Herzog, jedes Risiko ausschließen. Das ist das erste Mal, dass er den Eingang bewachen lässt.«

Ich blickte zu Elizabeth hinüber. Unter der Kapuze ihres Umhangs wirkte ihr Gesicht wie eine blasse Ikone; ihre Augen gaben nichts davon preis, was ihr die Begegnung mit Robert abverlangt hatte. »Es sind nur zwei«, flüsterte sie zur Antwort auf meine lautlose Frage. Wie hatte ich annehmen können, sie würde etwas anderes sagen? »Wir werden uns eben etwas ausdenken müssen, um sie abzulenken.«

Bevor ich darauf antworten konnte, hatte sich Kate zu mir herübergeschlichen. Ihr Apfelduft erinnerte mich eindringlich daran, welche Wirkung sie inzwischen auf mich ausübte, mochte ich das auch noch so heftig vor mir selbst leugnen.

»Ich habe eine Idee. Ihre Hoheit und ich haben solche Spiele schon öfter gespielt, wenn auch mit Herren von einem ganz anderen Format. Aber Männer sind und bleiben Männer, und die zwei hier haben mehr getrunken, als ihnen guttut. Wenn Ihr und Barnaby mitmacht, werden wir die beiden wohl im Handumdrehen überwältigt haben.«

Ich starrte sie sprachlos an. Barnaby grinste breit. »Das nenne ich ein Mädchen nach meinem Geschmack.« Ich suchte noch nach einem stichhaltigen Grund für eine Ablehnung, als Elizabeth ihre Kapuze noch tiefer ins Gesicht zog und es vollends verbarg. Ich ergriff sie am Arm. »Hoheit!« Ihren pikierten Blick auf meine Finger ignorierte ich. »Bitte überlegt Euch das noch einmal genau!« Ich fuhr zu Kate herum. »Ihr könntet beide verhaftet werden.«

»Daran habe ich auch schon gedacht.« Elizabeth schüttelte meine Hand ab. »Aber das hier ist der einzige Grund, warum ich an den Hof zurückgekehrt bin. Ich habe es Euch doch gesagt: Ich muss es tun. Seid Ihr dazu bereit, mir dabei zu helfen, oder nicht?«

Ich blickte ihr in die Augen und nickte langsam. Kate murmelte kurz ein paar Anweisungen, dann schlug sie ihre Kapuze zurück. Das Gesicht solcherart entblößt, tänzelte sie mit schwingenden Hüften auf die zwei Männer zu, die gerade wieder den Weinschlauch zwischen sich hin- und herwandern ließen.

»Zeit zu fliehen, mein Freund«, flüsterte ich Peregrine zu, woraufhin dieser in die Dunkelheit davonstob.

Ich packte meinen Dolch fester und beobachtete, wie Kate und Elizabeth sich den Männern näherten. Die beiden hatten sich mittlerweile aufgerichtet, wirkten aber eher verblüfft als misstrauisch. Das fahle Licht des abnehmenden Mondes und der Widerschein der Kerzen in den Palastfenstern genügten, um den Soldaten zu bestätigen, dass die zwei Störenfriede Frauen waren, die im Park lustwandelten. Und Frauen, die nachts in einem Park lustwandelten, galten grundsätzlich nicht als Damen.

Der größere der beiden Männer torkelte ihnen mit einem lüsternen Grinsen entgegen. Kate schritt voran, Elizabeth folgte ihr, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, auf den Fersen. Ihre elegante, schmale Statur wurde durch den Umhang zusätzlich betont. Ich bezweifelte, dass den Wachposten auffallen würde, wie kostbar der Samt ihrer Kleider war, doch sollte durch irgendein Missgeschick ihr Gesicht zum Vorschein kommen, machte ich mir keine Illusionen über den Wert ihrer Tarnung. In ganz England gab es kein Gesicht, das so bekannt war wie ihres.

»Haltet Euch bereit«, zischte ich Barnaby zu. Er grunzte zur Bestätigung.

Die Stimme des ersten Wächters drang durch die Nacht. »Und was treiben die zwei schönen Damen so spät hier draußen?« Schon streckte er seine schmutzige Hand nach Kate aus, und ich machte Anstalten, den Dolch zu zücken. »Ganz ruhig, Freund«, murmelte Barnaby. »Lasst ihr Zeit.«

Mühelos wich Kate den Händen des Mannes aus. Ihm die Hüfte verführerisch entgegenreckend und den Kopf kokett geneigt, verbarg sie die rechte Hand unter den Falten ihres Capes, wo sie ihren Dolch stecken hatte. »Meine Herrin und ich wollten der Luft im Palast entkommen«, zwitscherte sie. »Dort ist es schrecklich heiß und laut. Hier in der Nähe soll es einen Pavillon geben, ist uns gesagt worden, aber ich fürchte, wir haben uns verlaufen.«

Sie verstummte. Zwar konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, war mir aber sicher, dass sie dem Mann ein hinreißendes Lächeln schenkte. Trotz der Gefahr ließ ihr Wagemut meine Bewunderung für sie ins Unermessliche steigen. Sie hatte wahrhaftig das Herz einer Löwin. Kein Wunder, dass Elizabeth ihr blind vertraute.

»Ein Pavillon?« Der Wächter drehte sich zu seinem Gefährten um, der neben ihm stand und die zwei Frauen argwöhnisch musterte. Er war weniger betrunken als der andere und darum der gefährlichere von den beiden. »Hast du das gehört, Rog? Die Damen suchen einen Pavillon. Hast du schon mal von so was hier in der Gegend gehört?«

Der Wächter namens Rog gab keine Antwort. Ich sah, wie Elizabeth sich unter ihrem Umhang anspannte und unwillkürlich die Schultern straffte. Doch es war nicht so sehr die Geste selbst, die den Mann in Alarmbereitschaft versetzte, sondern die Art der Bewegung. Denn damit gab Elizabeth sich als Frau von hohem Rang zu erkennen, die es nicht gewohnt war, Fragen zu beantworten. Rog reagierte sofort. Mit vorgerecktem Kinn baute er sich vor Kate auf – bei allen Männern der Welt die Pose des Kriegers, der sich für mächtig hält.

»Ich weiß nichts von einem Pavillon in dieser Gegend! Aber ich muss die Damen bitten, uns ihre Namen zu nennen. Jetzt ist nicht die Zeit, sich unbegleitet in der Dunkelheit aufzuhalten.« Er warf Elizabeth einen vielsagenden Blick zu. »Mylady, ich möchte dafür sorgen, dass Ihr sicher in den Palast zurückgebracht werdet.«

Kate lachte auf. »Mit den Festlichkeiten dort drinnen stellt der Palast natürlich keine Gefahr dar. Aber ich sehe, dass wir hier am falschen Ort sind. Eine Eskorte wäre uns sehr recht, wenn Ihr so freundlich wärt.«

Es verlief nicht nach Plan, doch sie improvisierte nach Kräften, um uns doch noch eine Gelegenheit zum Eingreifen zu verschaffen. Und es konnte klappen, wenn sie es nur schaffte, die Kerle zur Mauer zu locken, wo Barnaby und ich im Schatten des Turms auf der Lauer lagen.

Doch Rog schluckte den Köder nicht. Er hatte seinen misstrauischen Blick nicht eine Sekunde von Elizabeth abgewandt, und gerade als ich dachte, die Situation sei zu angespannt, als dass Barnaby und ich tatenlos bleiben könnten, schoss die Hand des Mannes vor, und er riss der Prinzessin die Kapuze vom Kopf.

Totenstille breitete sich aus. Elizabeths blasses Gesicht und ihre feuerroten Locken schimmerten. Der größere der Wächter stieß ein ersticktes Keuchen aus. »Allmächtiger! Das ist … das ist …!«

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Das Messer hoch erhoben, stürzte Kate sich auf ihn. Gleichzeitig brachen Barnaby und ich aus der Deckung. Nie hätte ich gedacht, dass wir gezwungen sein könnten, diese Männer zu ermorden, doch in dieser kritischen Situation erkannte ich, dass unser eigenes Überleben womöglich genau das erfordern würde.

Ich erreichte Kate, als sie mit dem Wächter rang. Wiehernd vor Lachen hatte er ihre Hand, die das Messer hielt, gepackt und drückte sie zurück. Mit einem heftigen Stoß an die Schulter beförderte ich Kate aus seiner Reichweite und rammte dem Mann die Faust so brutal ins Gesicht, dass ich seine Knochen spürte. Mit einem dumpfen Aufprall krachte er auf das Kopfsteinpflaster.

Ich wirbelte herum und sah, wie Barnaby Rogs Schwert auswich. Doch da Barnabys kleiner Dolch der mächtigen Waffe nicht gewachsen war, war es nur eine Frage von Sekunden, bis ihm der Mann den tödlichen Hieb versetzen konnte. Aber dann registrierte ich aus den Augenwinkeln eine verschwommene Bewegung – ein dunkler Stoff, der durch die Luft zischte.

Eine lange weiße Hand erschien wie aus dem Nichts.

Ich hörte ein Knacken. Zunächst zeigte Rog keine Regung, dann bebte sein Schwert und fiel klirrend zu Boden. Schwankend drehte er sich halb zu seiner Angreiferin um, auf dem Gesicht einen Ausdruck völliger Fassungslosigkeit. Eine dünne Blutspur sickerte von seiner Stirn herab.

Dann kippte er nach vorn.

Ich erhaschte Elizabeths Blick. Der Stein, mit dem sie zugeschlagen hatte, glitt ihr aus den Fingern. Ein Blutfleck besudelte ihre schmalen Hände. Kate stürzte auf die Prinzessin zu. »Eure Hoheit, seid Ihr verletzt?«

»Nein. Aber ich wette mit dir, dass dieser Kerl mit Kopfschmerzen aufwachen wird, die er nicht so bald vergessen wird.« Fast ungläubig starrte Elizabeth auf den zu ihren Füßen liegenden Soldaten hinab. Dann hob sie die Augen zu mir. Während ich mich ihr näherte, beugte sich Barnaby über Rog und fühlte ihm den Puls.

»Er lebt«, verkündete Barnaby.

Erleichtert atmete Elizabeth auf. »Gnädiger Gott! Sie haben ja nur ihre Pflicht getan.«

Kate strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. Darunter kamen hochrot verfärbte Wangen zum Vorschein. »Richtige Lümmel waren das! Kann Northumberland keine besseren Männer finden?«

»Hoffentlich nicht.« Barnaby packte Rog an den Handgelenken und schleifte ihn zum Eingang des Turmes. Ich winkte unterdessen Kate zu mir. »Kommt, helft mir.«

Wir begannen, fieberhaft zu arbeiten. Mit vereinten Kräften zerrten Kate, Elizabeth und ich den größeren und schwereren zweiten Wächter durch die Tür in einen kleinen, runden Raum, den man früher als Gerätelager benutzt haben mochte. Von dort führte eine Wendeltreppe zu einer gewölbten Decke.

Nachdem wir die Wächter Seite an Seite auf den Boden gebettet hatten, ging ich noch einmal ins Freie, um das Schwert zu bergen. Als ich zurückkehrte, fesselte Barnaby die regungslosen Männer gerade mit seinem Gürtel an den Handgelenken aneinander. Dann ließ er sich von Elizabeth deren Taschentuch geben, zerriss es in zwei Hälften und stopfte den Männern je eine in den Mund. »Kein wirkliches Hindernis, wenn sie unbedingt rauswollen«, brummte er. »Aber das wird sie eine Weile aufhalten.«

Kate nahm mir das Schwert aus der Hand. »Ich werde schon dafür sorgen, dass sie stillhalten. Wenn sie auch nur laut atmen, zerlege ich sie wie eine Kirchweihgans.«

Elizabeth hatte unterdessen die Wendeltreppe erreicht. Barnaby hielt sie zurück. »Nein, dort.« Er lief vorbei an der Treppe zur anscheinend massiven Mauer. An ihrem Fuß bückte er sich und hob eine Bodenplatte an. Verblüfft beobachtete ich, wie er mit den Zehenspitzen einen darunter verborgenen Hebel umlegte.

Langsam öffnete sich die Wand und gab einen Bogengang frei. An seinem Ende wand sich in der Dunkelheit eine von Spinnweben verhangene zweite Wendeltreppe nach oben. Elizabeths skeptisch zusammengekniffene Augen wanderten von Barnaby zu mir. »Die ist aber sehr finster.«

»Wir können kein Licht riskieren«, erklärte Barnaby. Sie nickte und tastete sich zum Geheimgang vor.

Ich bedeutete Barnaby, ihr zu folgen. »Ich komme gleich nach.« Dann wandte ich mich zu Kate um. »Seid Ihr sicher, dass Ihr hierbleiben wollt?« Ich gab mir alle Mühe, meinen Ton neutral zu halten und meine Sorge nicht anklingen zu lassen, die mich gerade erst fast dazu getrieben hätte, den Wächter umzubringen. Nun widerstrebte es mir zutiefst, sie mutterseelenallein hier unten zurückzulassen. Andererseits passte es mir ganz und gar nicht, dass ich ausgerechnet jetzt Gefühle für sie empfand.

Sie bedachte mich mit einem wissenden Lächeln. »Immer noch misstrauisch, hm?« Und bevor ich etwas erwidern konnte, legte sie mir einen Finger auf die Lippen. »Psst. Ich weiß, dass ich Euch eine Erklärung schulde, aber seid fürs Erste versichert, dass ich mit einer Klinge mehr vermag, als nur Äpfel zu schälen.«

Daran hatte ich keine Zweifel. Aber selbst wenn sie eine Waffe schwingen konnte, wäre sie diesen Burschen nie und nimmer gewachsen, sobald sie auf die Idee kamen, ihre Fesseln zu sprengen.

»Kämpft nicht gegen sie.« Ich sah ihr tief in die Augen. »Das sind die Männer des Herzogs. Die Strafe wäre … drakonisch. Wenn es ernst wird, seht zu, dass Ihr flieht. Lauft zu Peregrine, und trefft uns auf der Straße.« Ich stockte. »Versprecht es mir.«

»Ich bin gerührt, dass Ihr Euch Sorgen macht«, erwiderte sie, immer noch mit diesem ironischen Lächeln um die Mundwinkel. »Aber jetzt ist wohl kaum der richtige Moment für Zweifel an den eigenen Verbündeten. Lauft los. Es gibt Wichtigeres, um das Ihr Euch sorgen müsst.«

Sie hatte recht. Eilig wandte ich mich um und trat in die erstickende Dunkelheit.

Der Gang und die Geheimtreppe waren entsetzlich eng, und die Decke war so niedrig, dass man kaum aufrecht gehen konnte. Die Knie gebeugt und den Kopf eingezogen, aber immer noch mit den Haaren kalten Stein streifend, fragte ich mich, wie König Henry sie mit seiner Körperfülle bewältigt haben mochte. Unwillkürlich keuchte ich auf, als jäh alles Raumgefühl verschwand.

Kate hatte den Hebel betätigt und die falsche Mauer wieder geschlossen.

Ich befand mich in einem nach oben führenden Tunnel. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Auf den Stufen kauerten Ratten, die mich ohne jede Angst beäugten. Elizabeth und Barnaby stiegen hintereinander hinauf. Bei jeder Biegung verlor ich sie aus den Augen. Die feuchtkalte Luft trieb mir den Schweiß auf die Stirn.

Plötzlich endete die Treppe an einer Holztür. Barnaby verharrte. »Bevor wir hineingehen, sollten Eure Hoheit wissen, dass Edward … nicht mehr der Prinz ist, den wir einmal kannten. Die Krankheit und die Behandlungen haben einen schrecklichen Tribut von ihm gefordert.«

Elizabeth hielt sich dicht bei mir, als Barnaby an die Tür klopfte. In der Stille hörte ich sie zittrig atmen. Barnaby pochte erneut. Ich packte meinen Dolch.

Mit einem Knarzen ging die Tür einen Spaltbreit auf.

»Wer kommt da?«, fragte eine angstvolle Männerstimme leise.

»Sidney, ich bin’s«, flüsterte Barnaby. »Mach auf, schnell.«

Die Tür schwang nach innen auf, und ich erhaschte einen Blick auf eine Wandvertäfelung, die den geheimen Eingang zu einem kleinen, aber kostbar ausgestatteten Zimmer verdeckte. Eine überwältigende Hitze schlug mir entgegen. Sie kam aus den mit Duftstoffen angereicherten Kohlenpfannen in den Ecken, von einem in einer Nische eingemauerten Kamin und von den Fackeln, welche die in Scharlachrot und Gold bezogenen Stühle und die Vorhänge zu einem Alkoven beleuchteten, in dem sich ein Baldachin aus reinem Damast befand.

Ein junger Mann mit strähnigem blonden Haar und einem fein geschnittenen, eingefallenen Gesicht wandte sich Barnaby zu. »Was machst du hier? Du weißt doch, dass Seine Lordschaft dich weggeschickt hat. Du darfst nicht …« Seine Stimme erstarb, und seine blauen Augen weiteten sich. Elizabeth war an Barnaby vorbeigetreten und nahm ihre Haube ab.

Ich hielt mich hinter ihr. Neben der Hitze, die einem den Atem verschlug, stieg mir allmählich ein eigenartiger Geruch in die Nase – er war sehr schwach, aber seltsam faulig und ließ sich von dem Kräuterdampf aus den Kohlenpfannen nicht gänzlich übertünchen.

Elizabeth bemerkte es ebenfalls. »Himmelherrgott …«, murmelte sie, als Sidney vor ihr auf die Knie sank. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte sie leise und näherte sich dem Bett. Ein auf einer Stange hockender Falke, dessen Füße an einen goldenen Pfosten gekettet waren, beobachtete sie. In seinen dunklen Pupillen spiegelten sich die Kerzenflammen.

»Edward?«, flüsterte Elizabeth und öffnete die Bettvorhänge. Nach Luft schnappend, taumelte sie zurück.

Ich stürzte an ihre Seite. Als ich sah, was sie anstarrte, hätte ich fast aufgeschrien.

Der Gestank in diesem Raum ging von einer verschrumpelten Gestalt aus, die auf dem Rücken im Bett lag. Das Fleisch seiner ausgemergelten Arme und Beine hatte sich schwarz verfärbt; er verfaulte bei lebendigem Leib. Wie eine verfallende Marionette auf die Kissen gestützt, war er halb aufgerichtet. Nur die Bewegung des Brustkorbs ließ erkennen, dass das Herz des jungen Königs noch schlug. Ich konnte es nicht fassen, dass jemand in einem solchen Zustand noch bei Besinnung war. Insgeheim betete ich, er möge es nicht sein.

Dann öffnete Edward seine Augen, und sein verängstigter Blick verriet uns, dass er sich seiner Qualen, aber auch der Anwesenheit seiner Schwester vollkommen bewusst war. Er öffnete ausgetrocknete, aufgeplatzte Lippen und mühte sich damit ab, Worte zu bilden, wenn auch vergebens.

Sidney eilte an seine Seite. »Er kann nicht sprechen«, erklärte er Elizabeth. Diese stand da und starrte Edward entsetzt an, unfähig, ihre Gefühle zu verbergen.

»Was … was versucht er zu sagen?«, flüsterte sie.

Sidney beugte sich über die Lippen des sterbenden Königs. Edwards klauenartige Finger krallten sich um sein Handgelenk. Sidney blickte bekümmert auf. »Er bittet Euch um Vergebung.«

»Um Vergebung?« Elizabeths Hand fuhr an ihre Kehle. »Gütiger Jesus, wenn jemand um Vergebung bitten muss, dann ich. Ich war nicht hier. Ich war nicht hier, um zu verhindern, dass sie ihm dieses … grauenvolle Leid zufügen.«

»Über solche Sorgen ist er hinaus. Er wünscht sich nichts als Eure Vergebung. Er hatte nicht mehr die Kraft, dem Herzog zu widersprechen. Das weiß ich. Schließlich habe ich alles mitbekommen, was sich zwischen den beiden abgespielt hat, und zwar von dem Tag an, als Northumberland begann, ihn zu vergiften.«

»Ihn zu vergiften?« Elizabeths Stimme nahm einen harten, kalten Ton an. Ich konnte nur hoffen, dass ich niemals diesen Zorn auf mich ziehen würde, der jetzt in ihren Augen loderte. »Was sagt Ihr da?«

»Ich spreche von der Wahl, Eure Hoheit, von der grausamen Wahl, die sie ihm aufgezwungen haben. Er hatte hohes Fieber und spuckte Blut. Jeder wusste, dass er das nicht überleben konnte. Auch er wusste, dass sein Ende naht, und hatte sich damit abgefunden. Er hatte auch schon bestimmt, wer ihm nachfolgen sollte. Dann verlegte der Herzog ihn hierher und ordnete die Entlassung seiner Ärzte an. Stattdessen schaffte er diese Kräuterkundige herbei, die damit begann, ihn mit irgendeiner Arsenmischung zu behandeln. Ihm wurde gesagt, das würde ihm helfen, und das war tatsächlich der Fall – zumindest für eine Weile. Aber dann wurde es noch viel schlimmer.«

Sidney blickte auf Edward hinab. »Er begann, von innen zu verfaulen. Der Schmerz wurde zu einer nicht mehr endenden Folter. Northumberland bedrängte ihn Tag und Nacht – ohne Unterlass, ohne Gnade. Schließlich unterschrieb er aus Verzweiflung, denn er konnte das alles einfach nicht mehr ertragen. Außerdem hatte sie ihm Erlösung von diesem endlosen Höllenfeuer versprochen, in dem er verbrannte.«

»Er … er wurde gezwungen, etwas … zu unterschreiben?«, ächzte Elizabeth. Ich sah, wie die Adern an ihren Schläfen hervortraten. »Was war das? Was musste er unterschreiben?«

Sidney schaute weg. »Ein Dokument, mit dem er Lady Jane Grey zu seiner Erbin ernannte. Der Herzog hat ihn gezwungen, Euch und Lady Mary den Anspruch auf den Thron abzuerkennen.«

Elizabeth verriet keine Regung. Ich konnte sehen, wie ihr Gesicht sich verfärbte. Unvermittelt wirbelte sie wutentbrannt herum und machte Anstalten, zur Tür zu stapfen.

»Eure Hoheit«, mahnte ich.

Sie zögerte. »Nein! Sagt es nicht.«

Ich stellte mich vor sie. »Hört nur.«

Von draußen war ein Schlurfen zu hören, das sich näherte, bis es die Tür erreichte.

»Das ist die Kräuterkundige«, sagte Sidney in überraschtem Ton. Und während Barnaby an der Wand neben der Tür Stellung bezog, zerrte ich Elizabeth in den Alkoven hinter den Vorhang. Dort schirmte ich sie mit meinem Körper ab. Den Dolch hatte ich auch schon gezückt, doch er kam mir fast albern vor, wie ein Kinderspielzeug. Ich verstärkte meinen Griff und verfolgte durch eine Lücke, wie die Tür geöffnet wurde.

Eine verkrüppelte kleine Frau humpelte herein. Ihre Knöchel waren nach innen verkrümmt und wiesen grässliche Narben auf.

»Ich habe doch gesagt, es ist die Kräuterkundige«, wiederholte Sidney. Erleichtert ließ sich Barnaby gegen die Wand sinken.

Ich schaute genauer hin. Und mit einem Mal geriet meine ganze Welt aus den Fugen.

Langsam trat ich aus meinem Versteck hervor. Ich wusste es, ohne dass es eines Wortes bedurfte. Es war, als wäre mir ein Nagel ins Herz gerammt worden. Alles Blut in meinen Adern schien zu schwinden. Ich sah kein Zeichen des Erkennens in dem faltigen Gesicht, das von einer altmodischen Haube umrahmt wurde – ein Gesicht, von unsäglichem Leid fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Wie gelähmt starrte ich sie an, doch mitten in meine Zweifel hinein überwältigte mich der aus Kindheitstagen vertraute Duft von Rosmarin. Peregrines Worte fielen mir wieder ein.

Er hat diese alte Amme als Pflegerin … Sie ist einmal gekommen … um einen von Edwards Spaniels zu holen.

Einen schier endlosen Moment lang starrte ich sie an. Ihre Augen waren stumpf, schicksalsergeben. Zitternd hob ich eine Hand an ihre Wange und strich ihr mit den Fingern über die ausgetrocknete Haut. Die Berührung erschütterte mich zutiefst. Fast glaubte ich, ein Trugbild vor mir zu haben, das gleich zu Staub zerfallen würde. Das Herz hämmerte mir in den Ohren. Nie hätte ich für möglich gehalten, was ich hier erlebte.

Nicht nach all den kummervollen Jahren.

Hinter mir flüsterte Elizabeth: »Ihr kennt sie?«

Und ich hörte mich von fern antworten: »Ja. Das ist Mistress Alice. Sie war in meiner Kindheit wie eine Mutter für mich. Später wurde mir gesagt, sie sei tot.«

Stille trat ein. Barnaby schloss die Tür und stellte sich davor auf.

Ich konnte die Augen nicht von Alice wenden, konnte diese zerbrechliche alte Gestalt vor mir einfach nicht mit der geistreichen Frau in Verbindung bringen, die ich in meinem Gedächtnis verwahrt hatte. Sie war immer rege und flink gewesen, in Worten wie in ihren Bewegungen; ihre Augen waren scharf, wach und leuchtend gewesen, ganz anders als diese eingesunkenen, hohlen Halbkugeln, die ich nun vor mir sah.

Sie war wie jedes Jahr zu einer Reise nach Stratford aufgebrochen. Nur für ein paar Tage, die im Handumdrehen vorbei sind, hatte sie gesagt. Für Sorgen ist kein Platz, mein Spatz. Im Nu bin ich wieder zurück. Doch sie kam nicht zurück. Wegelagerer hatten sie überfallen. So erklärte es mir zumindest Master Shelton. Ich weinte nicht, bat nie darum, ihre Leiche oder ihr Grab zu sehen. Der Schmerz saß zu tief. All die Äußerlichkeiten bedeuteten nichts. Sie war nicht mehr da – allein das zählte. Sie war nicht mehr da und würde nie wieder zu mir zurückkehren. So hatte man es mir erklärt. Und das glaubte ich. Ich war zwölf Jahre alt und des einzigen Menschen auf der Welt beraubt worden, der mich je geliebt hatte. Ihr Verlust wurde zu einer niemals heilenden Wunde, die ich tief in meinem Innersten verbarg.

Plötzlich stieg die alte Frage mit der Macht eines Vulkanausbruchs in mir empor:

Warum? Warum hast du mich verlassen?

Doch ein einziger Blick auf ihre Gestalt gab mir die Antwort.

Die Narben an ihren Knöcheln – es waren dieselben wie bei Maultieren, die von ihren gefühllosen Herren dazu gezwungen werden, ein Leben lang mit aneinandergeketteten Beinen im Kreis zu humpeln, damit eine Tretmühle und die damit verbundenen Mühlräder sich unablässig bewegen. Meine Finger fuhren sachte über ihr Kinn, wie um eine verängstigte Stute zu beruhigen. Und wie eine Stute begriff sie. Sie öffnete die Lippen. Ihr Mund gähnte schwarz. Geschändet.

Sie hatten ihr die Zunge herausgeschnitten.

Ein Schrei stieg mir in die Kehle. Ich unterdrückte ihn, als ich Elizabeth stöhnen hörte: »Ist das die Frau, die meinen Bruder vergiftet hat?«

Vom Bett her hörte ich Sidney antworten: »Ja. Lady Dudley hat sie hierhergebracht … Sie hat ihr befohlen, die Behandlungen durchzuführen. Aber sie … sie …«

»Was?«, blaffte Elizabeth. »Raus mit der Sprache!«

»Mistress Alice ist eine hervorragende Kräuterkundige«, erklärte ich mit erstickter Stimme. »Sie hat mich in meiner Kindheit von vielen Krankheiten geheilt. Etwas wie das hier hätte sie nie von sich aus getan.«

Elizabeth deutete auf ihren Bruder. »Und das könnt Ihr nach allem, was sie angerichtet hat, noch sagen?«

Mistress Alice’ verstümmelte Hand zupfte an meinem Wams. Ich sah ihr in die Augen, und mit einem Schlag schmolz der Klumpen in meiner Brust. Barnaby fing meinen warnenden Blick auf, dann wandte ich mich auch schon zu Elizabeth um. »So etwas würde sie einem Lebewesen, geschweige denn einem Menschen, nie und nimmer antun – es sei denn, man zwingt sie dazu! Man hat sie verletzt, gefoltert. Der Herzog hat das befohlen.«

»Warum?« Elizabeth brach die Stimme. »Lieber Gott im Himmel, warum tun sie ihm das an?«

»Um ihn am Leben zu halten. Um Zeit zu gewinnen«, lautete meine grimmige Antwort.

Elizabeth starrte mich an. »Ich kann ihn nicht so zurücklassen. Wir müssen ihn aus diesem Bett wegschaffen.«

»Das können wir nicht«, widersprach ich, wofür ich einen verächtlichen Blick erntete. »Wir müssen weg von hier«, fügte ich entschlossen hinzu. »Sofort.«

Elizabeth warf Barnaby einen fragenden Blick zu. »Ich höre nichts.«

»Ich auch nicht«, antwortete ich. »Aber Mistress Alice sehr wohl! Schaut sie Euch nur an!«

Elizabeth gehorchte. Mistress Alice war zur Geheimtür geschlurft und gab uns aufgeregt Zeichen. Ihre Hände waren grausam verkrümmt worden, und die Finger und Gelenke waren kaum noch als menschlich zu erkennen. In den Jahren der Gefangenschaft war ihr alle Kraft, alles Leben geraubt worden. Bei ihrem Verschwinden war sie noch keine fünfzig Jahre alt gewesen.

Ich musste meine Wut mit Gewalt unterdrücken. Schweigend kehrte ich zu Elizabeth zurück. Sie blickte mir herausfordernd in die Augen, um sich dann abrupt zur Tür umzuwenden.

Barnaby trat an ihre Seite. Sidney stürzte zu einem Kasten und riss den Deckel auf. Dort ruhte in einer Lederscheide ein Schwert mit juwelenbesetztem Griff. Er packte es und warf es mir zu. »Edward hat dafür keine Verwendung mehr. Es ist aus Toledo-Stahl, ein Geschenk des kaiserlichen Botschafters. Ich werde versuchen, die Kerle aufzuhalten. Seht zu, dass Ihr entkommt.«

So, wie sich das Schwert in meinen Händen anfühlte, war mir sofort klar, dass es für jemanden von geringer Statur wie mich geschmiedet worden war. Nur hätte ich mir nie eine derart kostbare Waffe leisten können.

Mistress Alice schlurfte unterdessen zum Bett. »Bringt Ihre Hoheit in Sicherheit!«, befahl ich Barnaby und trat die Geheimtür so fest hinter ihnen zu, dass sie ihm fast ins Gesicht schlug. Sidney, der zur Eingangstür geeilt war, sah, dass ich geblieben war, und erstarrte. »Was wollt Ihr hier noch? Sie sind fast schon da!«

Ich lief zu Alice hinüber, die vor dem Nachttisch stand und in einer Holztruhe herumwühlte – ihre Medizintruhe, die sie immer außerhalb meiner Reichweite auf dem obersten Küchenregal verstaut hatte. Es versetzte mir einen eisigen Schock, als ich erkannte, dass ich sie nicht vermisst hatte, obwohl Mistress Alice sie nie auf ihren Reisen mitgenommen hatte. Wann immer ich versuchte hineinzuspähen, hatte sie gesagt:

Da drin ist nichts für einen neugierigen Jungen mit großen Augen; keine Geheimnisse, die er entdecken könnte …

Mit einem Mal drehte sie sich zu mir um und starrte mich an, als wäre ich ein völlig Fremder. Und als sie meine Hand ergriff, schossen mir Tränen in die Augen. Mit zitternden Fingern legte sie mir einen in ein Öltuch gewickelten Gegenstand auf die Handfläche und schloss dann meine Finger darüber. Gebannt verfolgte ich, wie ihr Gesicht einen seligen Ausdruck annahm, als hätte sie endlich ihre Erlösung gefunden.

Im nächsten Moment flog die Tür auf. Sidney wurde zurückgestoßen.

Mit Mistress Alice’ Geschenk in der einen Hand und dem Schwert in der anderen, wirbelte ich herum und sah mich meiner Vergangenheit gegenüber.

19

Sie trug einen Umhang in der Farbe einer Rüstung. Von allen, die durch diese Tür hätten eintreten können, war sie die Letzte, mit der ich gerechnet hätte – auch wenn es natürlich vollkommen logisch war, dass es gerade sie sein musste. Ihr folgte mit unbeweglichem, vernarbtem Gesicht Archie Shelton. Bei seinem Anblick musste ich an mich halten, um mich nicht wutentbrannt auf ihn zu stürzen.

Im Vorraum hörte ich noch andere Stimmen. »Wartet, bis ich euch rufe!«, befahl sie über die Schulter, woraufhin nur Master Shelton eintrat und die Tür hinter sich schloss. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie Sidney zurückwich. Und ich spürte, dass Mistress Alice in meinem Rücken erstarrte. Schützend breitete ich die Arme aus, obwohl mir im selben Moment klar wurde, dass das nicht mehr als eine hilflose Geste war. Mein Anblick musste Lady Dudley verblüfft haben, doch ihre Miene gab keine Regung preis.

»Ich sehe, dass du nicht vermocht hast, das oberste und unumstößliche Gebot eines jeden Bediensteten zu befolgen«, sagte sie. »Du hast dich nicht mit deinem Platz in der Gesellschaft begnügt.« Sie warf einen Blick auf die Wandvertäfelung, die die Geheimtür verbarg. »Aber ich gestehe dir zu, dass du tatsächlich diesen Eingang entdeckt hast.« Ihre Stimme wurde härter. »Wo ist sie?«

In dem Wissen, dass Barnaby und Kate mit Elizabeth zu der Pforte liefen, wo Peregrine wohl jetzt schon mit den Pferden wartete, erklärte ich: »Ich bin allein. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen.«

»Du bist kein besonders guter Lügner«, entgegnete sie. »Sie wird nie entkommen, gleichgültig, was du dir zutrauen magst. Sie wird ihren nutzlosen Kopf genauso einbüßen wie diese Hure von ihrer Mutter.«

Ich ignorierte ihre Drohung. »Warum habt Ihr das getan?«

Sie zog eine dünne Augenbraue hoch. »Mich wundert, dass du das noch fragst.« Sie wedelte mit der Hand. »Weg vom Bett. Ach ja, und runter mit diesem … ist das nicht ein Schwert?« Sie lächelte. »Mein Sohn Henry und unsere Soldaten warten draußen. Sie dürsten nach Taten, die mehr erfordern, als nur auf Guilfords Glück zwischen Jane Greys Schenkeln anzustoßen. Ein Wort von mir, und sie ziehen dir bei lebendigem Leib die Haut ab.«

Ich warf das Schwert auf den Teppichläufer zwischen uns. Master Shelton würdigte ich keines Blicks. Der Haushofmeister stand in derselben Pose wie vorhin Barnaby vor der Tür – die Arme vor der tonnenförmigen Brust verschränkt.

Dieser Dreckskerl! Ich hasste ihn, wie ich noch nie einen Menschen gehasst hatte. Mit bloßen Händen umbringen wollte ich ihn.

Kühl sagte Lady Dudley: »Mistress Alice, bitte mischt jetzt den Trunk für Seine Majestät.«

Mistress Alice zog ein Beutelchen aus ihrer Truhe und streute daraus ein weißes Pulver in einen Kelch.

Ich war drauf und dran, die Fassung zu verlieren. Sie hatte das veranlasst, und zwar alles. Sie hatte Mistress Alice verstümmelt und dazu gezwungen, den König zu vergiften. Tüchtig war sie ja seit jeher gewesen, gleichgültig, ob bei der Organisation ihres Haushalts oder der Überwachung der Schweineschlachtung im Herbst. Warum sollte es hier anders sein? Da ich nun begriff, was all die Jahre vor mir verborgen worden war, wunderte ich mich darüber, warum ich nichts gemerkt, die Täuschung nie gewittert hatte.

Es war Lady Dudley gewesen, die geplant hatte, einen weiteren Thronerben als Alternative zu den zwei Prinzessinnen aufzustellen. Unerbittlich, wie sie war, hatte sie es mit allen Mitteln darauf angelegt, ihren Lieblingssohn in den höchstmöglichen Rang zu hieven. Sie war sogar hinter irgendeine Schwäche in der Vergangenheit der Herzogin von Suffolk gekommen und hatte offenbar eine teuflische Abmachung mit ihr getroffen – alles nur zu dem einen Zweck, ihrer Familie Macht zu sichern.

Doch ihr Gemahl, der Herzog, hatte es ihr mit falscher Münze vergolten. Zum Schein hatte er sie unterstützt, es dann jedoch darauf angelegt, Elizabeths Hand zu gewinnen. Irgendwie hatte Lady Dudley das freilich durchschaut und die ganze Wahrheit erkannt.

Was wusste sie sonst noch? Was hatte sie noch alles geheim gehalten?

Als könnte sie Gedanken lesen, verzogen sich ihre blutleeren Lippen zu einem Lächeln. »Zwanzig Jahre. So lange ist es her, dass du in unser Leben getreten bist. Schlau warst du ja schon immer. Viel zu schlau. Alice pflegte zu sagen, sie hätte noch nie ein Kind gesehen, das so begierig darauf war, die Welt zu verstehen. Vielleicht sollte ich dich doch noch ein bisschen länger am Leben erhalten, falls unsere zornige Herzogin beschließen sollte, ihr Versprechen zu brechen. Sie glaubt, du seist tot, aber ich bin nun einmal auf ihre Willfährigkeit angewiesen, bis Jane zur Königin ausgerufen worden ist. Ich könnte dich erneut benutzen.«

Ich spürte kalten Schweiß auf der Stirn und in der Hand, die immer noch das Tuch umklammerte.

Diesmal gab ich meine Angst nicht zu erkennen, als ich antwortete: »Ich könnte von noch größerem Nutzen sein, wenn Mylady mir alles sagte.«

»Alles?« Sie musterte mich mit einer Spur von Humor in den kalten grauen Augen.

»Ja.« Mir schnürte sich die Brust zusammen, bis ich befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. »Ich wurde doch zu einem bestimmten Zweck hierhergebracht, nicht wahr? In Whitehall hat Mylady der Herzogin von meinem … Muttermal erzählt.«

»So? Das hast du verstanden? Ich habe mich schon gefragt, ob nicht auch fließendes Französisch zu deinen vielen verborgenen Talenten zählt. Wie faszinierend. Du hast wahrlich nicht auf der faulen Haut gelegen.«

Der Schweiß rann mir über das Gesicht und sammelte sich unter der Kehle. Von seinem Salz brannten mir die Schrammen auf den Wangen. »Ich habe es mir selbst beigebracht«, erklärte ich. »Ich bin schlau, das stimmt. Und wenn ich wüsste, für wen mich die Herzogin hält, könnte ich Euch helfen. Ich bin offen für eine Lösung, die uns beiden nützen wird.«

Es war ein aus der Verzweiflung geborener, jämmerlicher Versuch, sie zu täuschen, und sie beantwortete ihn mit einem verblüffend heiteren Lachen.

»Bist du das? Dann habe ich dich überschätzt. Glaubst du wirklich, ich bin so dumm, dass ich dir vertraue, zumal du jetzt diese Hure von Boleyn schützt? Aber mein Dilemma habe ich inzwischen überwunden. Shelton, behaltet ihn im Auge, während ich Seine Majestät versorge.«

Sie glitt zum Bett. Verstohlen ließ ich das Tuch in meiner Wamstasche verschwinden, während ich Master Shelton herausfordernd anstarrte. Er wich meinem Blick beharrlich aus und fixierte einen Punkt an der Wand vor sich, doch ich wusste, dass er wie ein Vulkan explodieren würde, sollte ich einen Fluchtversuch wagen. Er hatte die Reflexe eines Soldaten – was der Grund war, warum es mich einigermaßen verwirrte, dass er nicht wahrzunehmen schien, wie sich Sidney aus dem Alkoven stahl, in den er zurückgewichen war.

Nun, da Sidney sich entfernt hatte, bewegten sich die Vorhänge.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Bett zu. Inzwischen hatte Mistress Alice das Pulver mit der Flüssigkeit im Kelch verrührt. Edward zeigte keine Regung, noch protestierte er, als sich Lady Dudley über ihn beugte, um die Decken und Kissen zu glätten. Stumm starrte er sie aus unbeweglichen, von Schmerzen verschatteten Augen an, als sie Mistress Alice den Kelch abnahm und ihm die freie Hand hinter den Kopf schob, um ihn zu stützen, während sie ihm mit der anderen den Kelch an die Lippen hielt.

»Trink«, sagte sie. Und als Edward gehorchte, lächelte sie. »Und jetzt ruhe. Ruhe und träume von Engeln.«

Die Augen fielen ihm zu. Er schien mit seinen Kissen zu verschmelzen. Lady Dudley wandte sich ab, stellte den Kelch auf den Tisch und griff in die Medizintruhe. Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog sie etwas hervor und fuhr herum. Stahl blitzte auf. Kein Laut war zu hören. Aus Mistress Alice’ Kehle spritzte ein dunkelroter Strahl und ergoss sich über den Teppich und das Bett. Vor meinen Augen sank Alice auf die Knie, starrte mich unverwandt an und fiel auf dem Boden in sich zusammen.

»Nein!« Der Schrei brach aus mir hervor wie das Heulen eines verwundeten Tiers. Ich machte einen Satz nach vorn. Master Shelton setzte mir nach, packte mich am Arm und drehte ihn mir auf den Rücken. Schmerz schoss mir in die Schultermuskeln, dass ich glaubte, sie würden zerreißen.

»Du sollst dich nicht einmischen, habe ich dir gesagt!«, zischte Master Shelton. »Sei still. Du kannst es nicht verhindern.«

Vor hilfloser Wut keuchend, beobachtete ich, wie Lady Dudley das blutverschmierte Messer zu Boden warf und über Mistress Alice’ zuckenden Körper hinweg auf uns zuschritt. Hinter ihr verfärbte das Blut den ganzen Teppich.

»Tötet ihn«, forderte sie Master Shelton auf.

Ich trat mit aller Kraft nach hinten. Meine Ferse krachte gegen das Schienbein des Haushofmeisters. Gleichzeitig rammte ich ihm den Ellbogen in die Brust. Es war, als hätte ich auf Granit geschlagen, doch mit einem überraschten Grunzen ließ Master Shelton mich los.

Sidney griff nach dem Schwert und drückte es mir in die Hand, als ich zur Fensternische stürmte, wo ein Luftzug den Vorhang bauschte. Ich hörte Lady Dudley einen Schrei ausstoßen, hörte die Tür auffliegen, hörte wütende Rufe. Ich sah mich nicht um, um herauszufinden, wie viele Männer in das Gemach eingedrungen waren. Ein jähes Heulen und ein Donnerschlag ertönten hinter mir. Blitzschnell duckte ich mich, während die Kugel über mich hinwegpfiff und sich in die Wand bohrte. Jemand, vielleicht einer von Dudleys Soldaten, die von Henry angeführt wurden, hatte offenbar eine Handbüchse. Solche Waffen waren tödlich, wenn auch bei kurzen Entfernungen schwer zu handhaben. Ich wusste, dass es jetzt eine gute Minute dauern würde, die Pistole neu zu laden und das Zündschloss wieder zu betätigen. Mehr Zeit hatte ich nicht.

Ich sprang auf das Fensterbrett und zwängte mich durch die Öffnung. Das Schwert in der Hand, ließ ich mich in die Nacht fallen.

Mit einer Wucht, die mir die Zähne aufeinanderschlagen ließ, landete ich auf dem ein Stockwerk tiefer liegenden Wehrgang. Das Schwert glitt mir aus der Hand, prallte klirrend von der Mauerkante ab und schlug unten im Palasthof auf. Ich blieb benommen auf den Steinen liegen. In den Beinen hatte ich derart entsetzliche Schmerzen, dass ich glaubte, ich hätte mir sämtliche Knochen gebrochen. Schließlich merkte ich, dass ich mich bewegen konnte. Ich spähte nach oben zu dem Fenster, durch das ich soeben gesprungen war, und erkannte gerade noch rechtzeitig, wie eine Pistole mit langem Lauf Rauch ausstieß.

Sofort rollte ich mich zur Seite. Fast im selben Moment schlug an der Stelle, wo ich gelegen hatte, eine Kugel ein, prallte ab und grub sich in die Palastmauer.

»Hol’s der Teufel!«, hörte ich Henry Dudley fluchen. »Daneben. Aber keine Sorge. Den krieg ich schon noch.«

Die Pistole verschwand und wurde neu geladen. Ich zwang mich dazu aufzustehen. So dicht wie nur möglich gegen die Mauer gepresst, blickte ich nach beiden Seiten – und das Herz sank mir in die Magengrube. Das, was ich für einen Wehrgang gehalten hatte, war nur die breite Krone einer Festungsmauer mit einer von Nymphen aus Gips verzierten Balustrade, die parallel zu einer Galerie im Innern des Palastes verlief. Weiter hinten konnte ich ein Kassettenfenster und einen Eckturm erahnen, der sich über das Wassertor erhob. Jeden Moment würde einer von den Männern über mir dasselbe erkennen und nach unten rennen, um seinen Auftrag zu Ende zu bringen.

Ich hatte keinen Fluchtweg.

Denk nach. Bleib ruhig. Atme. Vergiss alles andere. Vergiss Mistress Alice. Vergiss, wie ihr Blut über den Boden …

Links von mir ragte das halb verfallene Dach des Turmes auf, in dem sich die Geheimtreppe befand. Vorn befand sich das Tor. Vorsichtig bewegte ich mich in diese Richtung, fort von dem aus dem Fenster über mir flutenden Licht. Mit Handfeuerwaffen kannte ich mich kaum aus, aber Master Shelton sehr wohl, denn er hatte in den schottischen Kriegen gedient. Einmal hatte er mir gegenüber geäußert, dass sie wirklich primitiv wären. Sie waren dafür berüchtigt, nicht zu zünden, das Ziel zu verfehlen oder einen gewaltigen Rückstoß zu verursachen. Freilich konnte ich nicht darauf hoffen, dass Henry sich den eigenen Kopf wegschoss. Mein Instinkt trieb mich jedenfalls dazu an, die Beine in die Hand zu nehmen.

Und mein Instinkt behielt recht. Ich erstarrte, als die Pistole erneut losfeuerte. Diesmal bewies Henry eine deutlich verbesserte Zielgenauigkeit. Die Kugel prallte direkt über meiner Schulter von der Mauer ab, und winzige Steinsplitter spritzten mir ins Gesicht. Erst als ich warmes Blut über meine Haut rinnen spürte, begriff ich, dass die Kugel mich gestreift hatte.

»Ihr habt ihn getroffen!«, jubelte Henry. Also hatte jemand anders geschossen. Ich setzte meinen gefährlichen Weg fort. Doch irgendwie musste mein Sprung aus dem Fenster den Verstand der Kerle getrübt haben. Überrascht stellte ich fest, dass der Mann, der die Waffe übernommen hatte, nicht auf die Idee gekommen war, dass man von der Galerie aus viel genauer zielen konnte.

Die Pistole wurde wieder zurückgezogen. Ich beschleunigte meine Schritte und näherte mich einem Kassettenfenster zwischen mir und der Galerie. Jetzt hieß es darauf hoffen, dass die Fenster nicht verriegelt und die Butzenscheiben weder aus Blei noch so dick waren, dass man sie nicht einschlagen konnte. Mich erfasste wegen der tobenden Schmerzen in Beinen und Schulter ein Schwächegefühl. Schon erfolgte der nächste Knall. Die Kugel sauste knapp über meinem Kopf durch die Luft.

Ich kämpfte mich weiter voran, immer dicht an der Wand entlang.

Plötzlich schwang das Kassettenfenster auf. Ich blieb jäh stehen, als ich eine Gestalt verstohlen auf die Mauerkrone steigen sah. Kurz hielt sie inne. Ein weiterer Schuss peitschte durch die Nacht und sprengte Putz von der Mauer. Die Gestalt wandte sich mir zu. Im Mondlicht sah ich zwei dunkle Augen glänzen.

Dann setzte die Gestalt sich in Bewegung. Auf mich zu.

All meine Sinne vibrierten in höchster Alarmbereitschaft.

Doch ich starrte wie gebannt dem Mann entgegen, der sich mir näherte, ohne im Geringsten auf die eigene Sicherheit zu achten.

Zwei Überlegungen jagten in diesen kritischen Sekunden durch mein Bewusstsein. Zum einen bewegte er sich, als wäre er schon sein Leben lang über Hausdächer gehuscht. Und zum anderen fragte ich mich: War er gekommen, um den Auftrag der Dudleys zu vollenden, oder wollte er mich retten?

Als ich die geschwungene Klinge in seiner behandschuhten Faust aufblitzen sah, erkannte ich, dass ich besser nicht wartete, bis ich die Antwort wusste. Hoffentlich war ich schon nahe genug beim Wassertor. Wenn nicht, würde ich meinen Irrtum vermutlich nicht lange bedauern.

Ich stieß mich mit aller Kraft ab, die mir noch in den Beinen geblieben war.

Und sprang weit hinaus in die Nacht.

20

Mit den Füßen voran tauchte ich in den Fluss ein. Im Fallen hatte ich darauf geachtet, den Körper gestreckt zu halten, denn ich wusste, dass ich mit jeder anderen Haltung beim Aufprall auf der Wasseroberfläche sterben würde. Gleichwohl war mir, als landete ich auf Felsgestein. Mit beängstigender Plötzlichkeit wurde mir alle Luft aus der Lunge gepresst. Ich versank rasend schnell. Wild mit den Armen um mich schlagend und keuchend kam ich wieder an die Oberfläche. Der brackige Geschmack von Salz, vermischt mit Abfällen und Schlamm, verstopfte mir Nasenlöcher, Kehle und Ohren. Hustend spuckte ich alles aus und versuchte, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen.

Um mich herum der Fluss, dessen heftige Strömung mit der einsetzenden Flut noch gefährlicher wurde. Sein tintenschwarzer Rücken war übersät mit Zweigen und Laub. Die aufgedunsene Leiche eines nicht identifizierbaren Wesens wippte in meiner Nähe mit den Wellen, versank kurz und tauchte wieder auf. Von der Strömung gefangen, waren die Leiche und ich zu Treibgut geworden, das einfach mitgerissen wurde.

Meine linke Schulter und der Arm waren taub. Als ich zurück zu dem rasch kleiner werdenden Palast blickte, stellte ich mir die ungläubige Miene des gescheiterten Mörders vor. Jetzt erst wurde mir klar, wie weit mein Sprung gewesen war. Es grenzte an ein Wunder, dass ich das überlebt hatte.

Und einmal mehr drohte ich zu ertrinken. Mit größter Anstrengung schaffte ich es, quer zur Strömung zu schwimmen. Mein Ziel war eine Gruppe von Bäumen am Ufer – an welchem, das wusste ich nicht. Einer verwesenden Leiche, die auf mich zutrieb, wich ich aus. Mir war nur allzu klar, wie schlimm meine Lage war. Ich war von einer Kugel getroffen oder zumindest gestreift worden und verlor offenbar viel Blut. Das kalte Wasser beeinträchtigte mich zunehmend und machte es mir immer schwerer, gleichzeitig zu schwimmen und zu atmen. Und während ich im Herzen und im Kopf ein Tosen spürte, wollte ich an jener dunklen Stelle irgendwo tief in meinem Innern, wo nichts eine Ursache oder Folge hat, ganz mit allem aufhören, regungslos dahintreiben, die Dinge einfach geschehen lassen.

Das Ufer verschwamm wie ein Trugbild. In einen eisigen Kokon getaucht, wo ich keine Luft mehr bekam, starrte ich mit flackernden Augen vor mich hin, während die Kraft in meinen Armen unerbittlich schwand und meine Bewegungen immer hilfloser wurden. Ich versuchte, mit den Beinen zu strampeln, um den Blutkreislauf zu beschleunigen, aber auch sie versagten mir den Dienst. Zumindest fühlte es sich so an. In meiner Verzweiflung trat ich erneut Wasser. Etwas hatte sich um meine Knöchel geschlungen.

»Nein«, hörte ich mich flüstern. »Nicht so. Bitte, lieber Gott, nicht so.«

Eine Ewigkeit verging. Ich versuchte, die Beine zu den gefühllosen Händen zu heben und das Ding, was immer es war, abzustreifen. Wenigstens fühlte ich mich jetzt besser, denn eine eigenartige Wärme wallte in mir auf. Die Kälte hatte ihren Überfall mit den stechenden Nadeln beendet.

Ich seufzte. Das Ding war nichts als ein Strang Wasserunkraut oder ein altes Tau …

Das war mein letzter Gedanke, bevor das Wasser über meinem Kopf zusammenschlug.

Regen, in den sich ein Klang mischte, der sich anhörte wie auf ein Dach prasselnde Kiesel, das war das Erste, was ich vernahm, das erste Geräusch, das mir sagte, dass ich auf wundersame Weise am Leben geblieben war.

Mühsam öffnete ich eines meiner verklebten Augen und versuchte, den Kopf zu heben. Das Hämmern in meinen Schläfen und eine Welle von Übelkeit gaben mir zu verstehen, dass ich besser liegen blieb.

Als sich der Wirbel in meinem Kopf beruhigt hatte, hob ich versuchsweise die Bettdecke an. Meine Körperteile schienen noch alle da zu sein, auch wenn mein Torso von oben bis unten mit Blutergüssen übersät war. Bekleidet war ich mit Unterwäsche aus Leinen – nicht meiner eigenen –, und meine dunkel verfärbte Brust war nackt. Als ich Anstalten machte, den linken Arm zu heben, jagte ein stechender Schmerz durch die bandagierte Schulter. Ich ließ den Blick wandern. Diese Kammer war mir unbekannt. Auf den vor der Tür ausgebreiteten Binsen schlummerte ein silberfarbener Hund.

»Was für ein Wachhund«, brummelte ich.

Während ich wieder einschlief, dachte ich, dass der Hund dem von Elizabeth auffällig ähnelte.

Bei meinem nächsten Erwachen fielen gebündelte Lichtstrahlen in das Zimmer. Der Hund war verschwunden. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass ich weniger steif und schmerzempfindlich war. Ich konnte mich wieder aufrichten. Indem ich mir ein Kissen unter den Nacken schob, konnte ich mich gegen die Wand lehnen. Vorsichtig betastete ich meine verwundete Schulter. Sie fühlte sich weich an. Der Verband war mit einer öligen Salbe getränkt. Über das Waschen und Ankleiden hinaus hatte sich jemand offensichtlich die Zeit genommen, mich zu verarzten und zu verbinden.

Während draußen der Nachmittag verblasste und der Abend dämmerte, wanderte mein Blick von der Tür zum halb verdunkelten Fenster. Von der Dachrinne hörte ich es tropfen. Die schräge Decke über mir ließ mich vermuten, dass ich in einer Dachkammer untergebracht worden war. Als Nächstes fragte ich mich, ob die Person, die mich versorgt hatte, mir irgendwann ihre Aufwartung machen würde. Ich konnte mich noch entsinnen, in einen schier endlosen Abgrund gestürzt und auf schwarzes Wasser geprallt zu sein. Ferner hatte ich noch eine vage Erinnerung daran, dass ich versucht hatte, mich an der Oberfläche zu halten, und eine Weile gegen eine reißende Strömung geschwommen war. Danach herrschte gähnende Leere. Ich hatte keine Ahnung, wie ich gerettet und hierhergebracht worden war.

Meine Lider wurden wieder schwer. Ich blinzelte. Was würde beim nächsten Erwachen auf mich warten? Ich musste es auf mich zukommen lassen, hatte keinerlei Einfluss darauf. Obwohl ich mich gegen den Schlaf wehrte, nickte ich wieder ein, nur um jäh vom Knarzen der Tür geweckt zu werden. Mühsam stemmte ich meinen Oberkörper hoch. Als ich sie, ein Tablett balancierend, eintreten sah, traute ich meinen Augen nicht.

»Ich freue mich, Euch wach anzutreffen.« Sie schob einen Hocker zum Bett heran und stellte das Tablett darauf ab. Sie trug ein goldbraunes Cape über einem dünnen Hemd. Um ihr Gesicht wanden sich üppige Ringellocken. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass meine Lenden angesichts meines Zustands auf ihre Nähe reagieren würden. Doch genau das taten sie.

Sie nahm ein Tuch vom Tablett, und der köstliche Duft von heißer Suppe und ofenfrischem Brot stieg mir in die Nase.

Das Wasser lief mir im Mund zusammen. »Herrlich«, krächzte ich mit einer heiseren Stimme, die ich nicht erkannte. »Ich habe einen Bärenhunger.«

»Das solltet Ihr auch.« Kate entfaltete eine Serviette und beugte sich über mich, um sie mir um den Hals zu binden. »Ihr liegt hier seit vier Tagen. Wir befürchteten schon, Ihr würdet überhaupt nicht mehr aufwachen.«

Vier Tage …

Ich wandte die Augen ab. Noch war ich nicht bereit, mich an alles zu erinnern. »Und Ihr«, murmelte ich, »wart die ganze Zeit hier und habt … mich gepflegt?«

Sie brach das Brot über der Suppe in kleine Stücke, tauchte einen Löffel hinein und führte ihn an meinen Mund. »Ja, aber das braucht Euch nicht zu sorgen. Ihr seht auch nicht anders aus als jeder andere nackte Mann.«

War ich so zerschunden, dass das Muttermal an meiner Hüfte gar nicht aufgefallen war? Oder wollte sie nur taktvoll sein? Ein prüfender Blick auf ihr Gesicht brachte keinen Aufschluss, und ich war zu verlegen, um nachzufragen.

»Die Suppe ist köstlich«, lobte ich.

»Wechselt nicht das Thema.« Sie kniff die Augen zusammen. »Welcher Teufel hat Euch da nur geritten, dass Ihr in dem Turmzimmer zurückgeblieben seid, obwohl Ihr doch Ihrer Hoheit und Barnaby hättet folgen müssen? Ihr sollt ruhig wissen, dass wir unser Leben aufs Spiel gesetzt haben, als wir bei der Pforte auf Euch warteten. Ihre Hoheit weigerte sich, sich auch nur einen Schritt zu entfernen. Unablässig sagte sie, Ihr müsstet jeden Moment kommen und würdet die Frau kennen, die Seine Majestät versorgte; bestimmt hättet Ihr sie nur befragen wollen. Erst als wir Schüsse hörten und die Soldaten des Herzogs aus allen Toren rennen sahen, war sie zur Flucht bereit. Aber glücklich war sie nicht darüber. Sie sagte, es sei erbärmlich und feige von uns, Euch im Stich zu lassen.«

»Aber sie ist losgeritten? Ist sie jetzt auf ihrem Landsitz und in Sicherheit?«

Kate tauchte den Löffel wieder in die Suppe. »Sicherheit ist nur ein Wort. Ja, es ist die Nachricht verbreitet worden, sie hätte sich nach Hatfield begeben und läge mit Fieber im Bett. Sie weiß genau, dass gerade in Zeiten wie dieser Krankheiten ein hervorragendes Abschreckungsmittel sein können. Von Nutzen können natürlich auch die Keller zahlreicher Häuser in der Nähe von Hatfield sein, wo man die Prinzessin mit Freude aufnehmen würde, sollten sich die Männer des Herzogs auf der Straße blicken lassen.«

»Und Ihr?«, fragte ich. »Warum seid Ihr nicht bei ihr?«

»Ich bin selbstverständlich mit Peregrine zurückgeblieben. Er hat darauf bestanden, Euch zu suchen.«

»Es war Peregrine, der mich gefunden hat?«

»Ja. Am Flussufer.« Sie zögerte. Ein leichtes Beben schlich sich in ihre Stimme. »Er hat gesagt, dass wir nicht aufhören dürfen zu suchen, weil irgendwann alles angeschwemmt wird. Und er hatte recht. Ihr seid kurz vor der Flussbiegung von der Flut an Land gespült worden. Ihr wart nass bis auf die Knochen, verwundet und hattet Fieberfantasien. Aber Ihr wart am Leben.«

»Und Ihr habt mich gesund gepflegt.« Ich hörte aus meiner Stimme widerstrebende Dankbarkeit heraus. Am Hof war es zu meiner zweiten Natur geworden, an allem zu zweifeln, selbst an meinem Glück. »Warum? Ihr habt mich belogen, als Ihr sagtet, Ihr würdet nicht für Cecil arbeiten. Warum sorgt Ihr Euch darum, ob ich lebe oder nicht, wenn Ihr tut, was Euer Herr befiehlt?«

Sie legte den Löffel beiseite und tupfte mir Mund und Kinn mit der Serviette ab. Als sie schließlich antwortete, klang ihre Stimme mühsam beherrscht.

»Ich entschuldige mich dafür, dass ich Euch nicht die ganze Wahrheit gesagt habe. Es war nicht meine Absicht, Euch in Gefahr zu bringen. Meine Treue hat immer Ihrer Hoheit gegolten, auch wenn sie manchmal dickköpfig sein kann und oft vor sich selbst geschützt werden muss, ob sie das nun zugibt oder nicht. Als Walsingham mir sagte, dass Master Cecil es für das Klügste hält, sie von Greenwich fortzubringen, habe ich ihm meine Hilfe versprochen. Euch habe ich nur deshalb nicht aufgeklärt, weil er meinte, Ihr hättet Eure eigenen Befehle. Er sagte, Ihr wärt angeworben und bezahlt worden.«

Sie unterbrach sich. »Ich habe Euch nicht erwartet. Aber jetzt bin ich froh, dass es so gekommen ist. Ich … ich bin froh, dass Ihr hier seid.«

Ich beobachtete ihr Gesicht und verstand. Aber in dem Maße, in dem mir die Ereignisse nach und nach ins Bewusstsein sickerten, nahmen Schmerz und Zorn in mir zu. Ich wollte keine Komplikationen, wollte Verwundbarkeit und Probleme vermeiden. Gefühle für Kate würden mir all das und mehr bescheren.

»Walsingham hat mir Anweisungen erteilt, das ja«, erwiderte ich. »Und ich bin bezahlt worden. Aber mir war auch klar, dass das Treffen Ihrer Hoheit mit Lord Robert sie in noch größere Gefahr bringen würde. Mich wundert, dass niemand meine Befürchtungen geteilt hat.«

»Was hätten wir denn Eurer Meinung nach tun sollen?« Falls Kate meine absichtliche Grobheit durchschaut hatte, ließ sie sich das nicht anmerken. »Sie wollte Robert unbedingt über ihren Bruder ausfragen und ließ keinen Widerspruch gelten. Keine von uns konnte wissen, dass der Herzog vorhatte, selbst um ihre Hand anzuhalten oder Jane Grey auf den Thron zu setzen, wenn sie ihn zurückwies.«

Das klang plausibel. Ich sollte meine Verdächtigungen begraben, zumindest diejenigen, die Kate betrafen. Sie war nicht an einem Komplott gegen Elizabeth beteiligt gewesen.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, lächelte sie mich sanft an. So, wie andere sich auf die Laute verstehen, wusste sie auf meinen zarteren Saiten zu spielen. In einem ungeschickten Versuch, meine Verlegenheit zu verbergen, murmelte ich das Erstbeste, was mir in den Sinn kam. »Es ist nicht anständig, einen Mann in Versuchung zu führen, wenn er keine Kleider trägt.«

Sie lachte. »Bisher habt Ihr Euch doch ganz gut geschlagen.«

Plötzlich wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen. Irgendwie erinnerte sie mich an Mistress Alice, an das rotwangige, aufrichtige Mädchen, das sie in ihrer Jugend gewesen sein musste. Und während mir das durch den Kopf ging, sah ich wieder den triumphierenden Ausdruck in Mistress Alice’ Augen, als sie sich vor dem Bett des Königs zu mir umgewandt hatte. Sie hatte mir etwas sagen wollen, und jetzt würde ich nie erfahren, was es war.

Ich stellte mich Kates Blick. »Ich dachte, ich würde sterben …« Ich schwieg. Ohne Vorwarnung stieg wieder die Erinnerung an den Kampf gegen das Wasser in mir hoch und stürzte mich in Finsternis. »Wo sind wir?«, fragte ich in gepresstem Flüsterton.

»Auf einem Gutshof in der Nähe von Greenwich. Warum?«

»Wessen Gutshof? Wer ist noch alles bei uns?«

Kate runzelte die Stirn. »Es ist Eigentum Ihrer Hoheit. Das Haus ist an einen Freund verpachtet. Außer Peregrine, Euch und mir ist nur noch Walsingham hier, und der kommt und geht. Er war heute schon einmal da und hat sich erkundigt, wie es Euch … Brendan, was ist? Was habt Ihr?«

Erst als ich ihre erschrockene Miene sah, merkte ich, dass ich zurückgeprallt war. »Das ist der Mann, den ich auf der Mauer gesehen habe. Walsingham. Er hatte einen Dolch. Er ist der Grund, warum ich gesprungen bin. Jetzt erinnere ich mich wieder. Cecil hat dafür gesorgt, dass Ihre Hoheit entkommen konnte, aber er wollte meinen Tod. Er hat Walsingham ausgesandt, damit er mich umbringt.«

»Nein«, widersprach Kate leise. »Da täuscht Ihr Euch. Walsingham war dort, um Euch zu helfen. Wir hätten überhaupt nicht gewusst, wo wir suchen sollen, hätte er uns nicht berichtet, dass er Euch in den Fluss hat springen sehen. Er hat sogar Euer Schwert geborgen, das in den Hof gefallen war.«

»Vielleicht blieb ihm nichts anderes übrig. Das Schwert war der Beweis, dass ich bei Edward war. Ich hätte den Sprung aus dem Fenster ja überleben können – was auch geschehen ist.«

»Trotzdem wärt Ihr ohne ihn nie gefunden worden, nicht bei dieser Strömung. Ihr hattet eine verwundete Schulter. Um Eure Beine hatten sich Seile und Algen gewickelt. Unter normalen Umständen wärt Ihr ertrunken.« Sie zögerte. »Cecil hat Walsingham Euer Wohlergehen ans Herz gelegt. Er hat Euch die ganze Zeit im Auge behalten. Das ist der Grund, warum er auf der Mauer war. Und als wir nicht rechtzeitig bei der Pforte hinter dem Palastpark erschienen, hat er unsere Spur verfolgt.«

Ich stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich frage mich nur, wo er war, als die Herzogin von Suffolk und ihr Henkersknecht mich in dieser unterirdischen Zelle einsperrten, um mich darin ertrinken zu lassen.« Doch schon während ich das sagte, fiel mir mein Wams wieder ein, das ich beim Pavillon zurückgelassen hatte und das dann auf unerklärliche Weise vor dem Tor zu dem verfallenen Kloster wieder aufgetaucht und von Peregrine gefunden worden war. Was hatte der Junge gesagt?

Wenn wir nicht zufällig dein Wams entdeckt hätten, wären wir nie auf die Idee verfallen, hier unten nach dir zu suchen.

»Peregrine hat uns davon erzählt«, sagte Kate. »Als Ihr ergriffen wurdet, war Walsingham damit beschäftigt, die Pferde für uns zu satteln, die wir dann doch nicht mehr genommen haben. Das könnt Ihr ihm doch sicher nicht vorwerfen, oder?«

»Das nicht«, erwiderte ich bitter. »Aber lasst bitte nicht außer Acht, dass jeder, den ich am Hof kennengelernt habe, um nicht zu sagen, jeder, mit dem ich es seit meiner Kindheit zu tun hatte, sich als verlogen herausgestellt hat.« Kaum hatte ich diese Worte ausgespuckt, bereute ich sie auch schon.

Kate biss sich auf die Lippe. »Das tut mir leid«, murmelte sie und erhob sich.

Ich ergriff ihre Hand. »Nein! Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann ich. Ich … ich habe es nicht so gemeint.«

Sie blickte auf unsere ineinander verschlungenen Hände hinab. »Doch, es war Euer voller Ernst.« Sie löste ihre Finger aus den meinen. »Ich verstehe. Diese Frau … Barnaby hat gesagt, sie sei eine Kräuterkundige, die die Dudleys mitgebracht hätten, damit sie Seine Majestät vergiftet. Er meinte, Ihr würdet sie kennen, und die Dudleys hätten Euch ein Lügenmärchen über ihren Tod erzählt. Wie könntet Ihr da nicht verbittert sein?«

Ich spürte einen Knoten in der Kehle. Tränen brannten mir in den Augen, und ich schaute weg. So bekam ich nicht mit, wie Kate in ihre Umhängetasche griff, sondern spürte nur, dass sie mir etwas in die Hand drückte. Als ich erkannte, was es war, erstarrte ich.

»Das habe ich in der Innentasche Eures Wamses gefunden. Ich habe mir die Freiheit genommen, es zu polieren. Es ist zwar eigenartig, aber hübsch.« Damit nahm sie das Tablett an sich und ging zur Tür. »In ein paar Stunden komme ich mit dem Abendbrot zu Euch. Versucht, noch etwas zu ruhen.«

Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss.

Nachdenklich betrachtete ich das Geschenk, das mir Alice gemacht hatte. Es stellte eine zarte goldene Blüte dar, und ihr gezackter Rand wies darauf hin, dass sie Teil eines größeren Schmuckstücks gewesen sein musste. An ihrer Spitze prangte – einem Tautropfen gleich – ein Rubin. Noch nie hatte ich etwas dieser Art gesehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich je so etwas besitzen würde.

Ich schloss die Finger fest darum. Draußen ging die Dämmerung in die Nacht über.

Als die Trauer schließlich über mich hereinbrach, wehrte ich mich nicht dagegen.

21

Mit einem Bündel Kleider und einem Tablett, beladen mit einem Berg Fleisch und Gemüse, kehrte Kate zurück. Peregrine trat grinsend nach ihr ein. Er trug einen zusammengeklappten Tisch. Nachdem er ihn aufgestellt hatte, verschwand er wieder, aber nur, um meine Satteltasche und noch etwas anderes zu holen. Zu meiner Überraschung erkannte ich das Schwert des Königs, das ich zuletzt gesehen hatte, als es bei dem Sprung aus dem Turmfenster im Palast von Greenwich in die Tiefe gepoltert war. Als Erstes öffnete ich die Tasche, um ihren bunt durcheinandergewürfelten Inhalt zu untersuchen. Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung entdeckte ich das gestohlene Psalmenbuch, das immer noch zum Schutz in das Tuch gewickelt war.

Ich wandte mich Kate zu. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein Cape aus rosafarbenem Samt, das das matte Gold ihres Haars hervorragend zur Geltung brachte. Und als sie die im ganzen Raum verteilten Kerzen anzündete, gestand ich mir ein, wie sehr ich sie begehrte. Nichts wünschte ich sehnlicher, als sie in die Arme zu schließen und die letzten Spuren meines Misstrauens mit Liebkosungen zu verbannen. Doch Peregrine, der wie ein Kobold mit Elizabeths silbernem Jagdhund durch das Zimmer tollte, lenkte mich ab.

»Du scheinst ja ganz schön zufrieden mit dir und der Welt zu sein«, meinte ich, als er mir half, aus dem Bett und in eine Robe zu steigen. »Und ist das nicht der Hund Ihrer Hoheit? Sag bloß, du hast wieder gestohlen!«

»Nein!«, beteuerte er. »Ihre Hoheit hat Urian bei uns zurückgelassen, damit er dich aufspüren kann. Er ist der beste Spürhund in ihrem Gehege, hat sie gesagt. Und sie kennt ihre Tiere. Er hat auch gleich deine Fährte am Flussufer unten aufgenommen.« Er rümpfte die Nase. »Was ist das nur mit dir und dem Wasser? Seit wir uns kennen, wirst du in einem fort durchnässt!«

Ich brach in herzhaftes Lachen aus. Auf einmal fühlte ich mich wunderbar. Dann ergriff ich Peregrines Hand und ging mit langsamen, aber schon recht sicheren Schritten zum Esstisch. »Wie immer keine Spur von Reue, was?« Ich grinste und ließ mich auf einem Hocker nieder. »Aber ich bin froh, dass du da bist, mein Freund.« Ich blickte Kate in die Augen. »Das gilt ebenso für Euch. Ich danke Gott für euch beide. Ihr habt mir das Leben gerettet. Das ist eine Schuld, die ich nie zurückzahlen kann.«

Der Schimmer in Kates Augen mochte von Tränen herrühren. Sie wischte sie mit dem Ärmel weg. Während sie das Essen auftrug, hockte sich Peregrine neben mich.

»Ich bin doch kein hilfloses Kind«, brummte ich, als der Junge mir meinen Teller reichte. »Ich kann durchaus allein essen.«

Kate drohte mir schelmisch mit dem Finger. »Er ist nicht hier, um Euch zu füttern. Ihr seid genug verwöhnt worden. Peregrine, entweder du befiehlst dem Hund, die Pfoten vom Tisch zu nehmen, oder ihr esst beide in der Küche.«

Unter fröhlichem Gelächter speisten wir im Schein der Kerzen und plauderten über unverfängliche Dinge. Erst als wir die letzten Reste der Soße mit Brot aufwischten und Peregrine zum hundertsten Mal erzählt hatte, wie er und Barnaby Urians feine Nase dafür eingesetzt hatten, mich aufzuspüren, störte ich auf einmal unsere gute Laune. Mich auf meinem Stuhl zurücklehnend, fragte ich in meinem beiläufigsten Ton: »Und wo steckt Fitzpatrick?«

Schlagartig trat Schweigen ein, das nur durch das Rascheln von Kates Röcken durchbrochen wurde, als sie aufstand, um die leeren Teller ineinanderzustapeln. Peregrine streichelte unterdessen Urian.

»Der König ist tot, nicht wahr?«, fragte ich.

Kate hielt inne. Peregrine antwortete mir mit einem traurigen Nicken: »Es ist noch nicht offiziell bestätigt worden, aber Master Walsingham hat uns gesagt, dass er gestern gestorben ist. Sobald wir dich gefunden hatten, ist Barnaby an den Hof zurückgekehrt, um an seiner Seite zu sein. Es heißt, dass der Himmel in der Stunde von Edwards Tod geweint hat.«

Der Regen. Ich hatte ihn gehört.

Bei der Erinnerung an den Knaben, der in jenem übelriechenden Gemach bei lebendigem Leib verfaulte, wanderte mein Blick zu dem Schwert auf dem Bett. Mit gepresster Stimme fragte ich: »Und die Kräuterkundige? Hat Walsingham etwas über sie gesagt?«

»Brendan, bitte lasst das!«, rief Kate hastig. »Dafür ist es zu früh. Ihr seid doch noch geschwächt.«

»Nein. Ich will es wissen. Ich … ich muss es wissen.«

»Nun gut, dann sage ich es Euch.« Sie setzte sich neben mich. »Sie ist tot. Sidney hat es Walsingham berichtet. Jemand hat ihre Leiche weggeschafft. Wohin, das weiß niemand. Die Dudleys haben gedroht, Sidney umzubringen, weil er Euch geholfen hat, aber inzwischen hat sich die Nachricht von Elizabeths Entkommen verbreitet, und seitdem herrscht im Palast das Chaos. Brendan, nein! Setzt Euch! Ihr könnt doch nicht …«

Doch ich war bereits aufgesprungen. Ich überwand das plötzliche Schwindelgefühl, erreichte das Fenster und starrte in die schwarze Nacht hinaus. Meine treue Alice war tot. Jetzt war sie für immer von mir gegangen. Lady Dudley hatte ihr die Kehle aufgeschlitzt wie einem Raubtier, das sich in den Hühnerstall geschlichen hatte, und sie einfach verbluten lassen.

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen. Das konnte ich einfach nicht. Er würde mich in den Wahnsinn treiben.

»Was ist mit Jane Grey?«, fragte ich leise. »Ist sie schon zur Königin ausgerufen worden?«

»Noch nicht. Aber der Herzog hat sie und Guilford nach London gebracht. Und laut Gerüchten beabsichtigt er, Soldaten auszusenden, damit sie Lady Mary ergreifen.«

»Ich dachte, das hätte er längst getan. Soviel ich weiß, hat er Lord Robert damit beauftragt.«

»Das hat sich anscheinend verzögert. Als er von Elizabeths Flucht aus Greenwich erfuhr, wollte er offenbar zuallererst Lady Jane an einen sicheren Ort bringen. Sie ist jetzt alles, was er hat.«

Ich nickte. »Peregrine«, sagte ich. »Kannst du uns bitte allein lassen?«

Der Junge stand auf und ging hinaus. Urian trottete hinterher. Kate und ich blickten einander an. Unvermittelt wandte sie sich dem Tablett zu und machte Anstalten, danach zu greifen. »Wir können ja morgen weitersprechen.«

Ich trat auf sie zu. »Das ist richtig. Aber … geh jetzt nicht.« Meine Stimme brach. »Bitte.«

Sie strich mir mit der Hand über die bärtige Wange. »Der ist ja so rot«, murmelte sie. »Und dicht. Ich hätte nie gedacht, dass dir ein derart dichter Bart wächst.«

»Und ich«, flüsterte ich, »hätte nie gedacht, dass dir das etwas bedeutet.«

Sie blickte mich mit festem Blick an. »Ich auch nicht. Aber so ist es nun mal.«

Ich zog sie an mich, legte beide Arme um sie.

»Ich habe das noch nie getan«, gestand ich.

»Noch nie?« Sie hob in echtem Erstaunen die Augen.

»Noch nie. Bisher habe ich nur eine Frau geliebt.« Ich streichelte ihr die Wange. »Und du?«

Sie lächelte. »Natürlich haben schon seit meiner frühesten Kindheit alle möglichen Freier um meine Hand angehalten.«

»Dann erweitere die Liste um meinen Namen.« Diese Worte beunruhigten mich nicht so sehr, wie ich gedacht hatte. Noch nie war ich verliebt gewesen, doch jetzt kam mir das wie die natürlichste Sache auf der Welt vor.

Sie schaute mir in die Augen. »Müssen wir so lange warten?« Dann ergriff sie meine Hände und führte sie an ihr Mieder. Ich löste die Bänder. Das Mieder glitt von ihren Schultern. Im nächsten Moment stieg sie auch schon aus ihren Röcken und wand sich aus dem Hemdchen, bis sie splitternackt vor mir stand – so begehrenswert, wie es noch nie eine Frau in meinem Leben gewesen war.

Ich hob sie hoch und vergrub mein Gesicht zwischen ihren Brüsten. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft, als ich sie zum Bett trug. Sie beobachtete, wie ich meinen Umhang abstreifte, dann erhob sie sich auf die Knie, um mir dabei zu helfen, mir das Hemd über den Kopf zu ziehen. Die Schulter tat mir immer noch weh. Und als sie die frischen Blutflecken an meinem Verband entdeckte, runzelte sie die Stirn. »Den sollte ich wirklich wechseln«, sagte sie.

»Das kann warten«, flüsterte ich gegen ihre Lippen. Als ich mich von ihr löste, wanderte ihr Blick an meinem Oberkörper hinunter, um kurz bei dem Fleck an meiner Hüfte zu verweilen.

Ich legte mich neben sie. Ihr erfahrenes Gebaren vermochte mich nicht zu täuschen. Ich spürte, wie ihr Puls unter meiner Hand raste. Und obwohl sie die Freuden des Fleisches schon bis zu einem bestimmten Grad erkundet haben mochte, war es, wie ich bald feststellen sollte, noch nie zum Vollzug der Liebe gekommen.

Doch bald entdeckte ich, dass auch ich unschuldig war, und zwar in jeder Hinsicht. Während ich sie an mich presste und wir einander voller Hingabe erkundeten, merkte ich bald, dass unsere verschwenderische Vereinigung nicht das Geringste mit den ungestümen Spielchen mit den Dienstmädchen auf der Burg oder den jungen Damen auf Jahrmärkten gemein hatte. Ich betete sie regelrecht an, wie ich das vielleicht auch in einem Tempel getan hätte, bis sich das Begehren in Kates Augen in eine Flamme verwandelte, sie unter mir erschauerte und ihre Leidenschaft meiner Glut ebenbürtig wurde. Nur ein einziges Mal schrie sie auf, wenn auch gedämpft.

Nachdem wir uns verausgabt hatten und sie in meinen Armen lag, flüsterte ich: »Habe ich dir wehgetan?«

Mit einem zittrigen Lachen antwortete sie: »Wenn das Schmerz war, möchte ich nie etwas anderes erleben.« Sie spreizte die Hände über meiner Brust und legte die Finger flach auf mein Herz. »Alles, was ich will, ist hier.«

Ich lächelte sie an. »Sei es, wie es wolle, ich möchte immer noch eine rechtschaffene Frau aus dir machen.«

»Nur damit du es weißt«, entgegnete sie. »Ich bin achtzehn Jahre alt und kann meine Entscheidungen selbst treffen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt schon eine rechtschaffene Frau sein will.«

Ich lachte. »Na gut, wenn es so weit ist, dann lass es mich wissen. Ich müsste zumindest Ihre Hoheit um ihren Segen bitten. Schließlich bist du ihre Kammerfrau. Und dann auch noch deine Mutter. Sie wird sicher auch gefragt werden wollen.«

Kate seufzte. »Meine Mutter ist tot. Aber ich glaube, dass sie dich gemocht hätte.«

Ich entdeckte einen alten Schmerz in ihrer Stimme. »Das tut mir leid. Wann ist sie gestorben?«

»Als ich fünf Jahre alt war.« Sie lächelte. »Sie war selbst noch so jung, als sie mich auf die Welt brachte – erst vierzehn.«

»Und dein Vater … war er auch jung?«

Sie bedachte mich mit einem eigenartigen Blick. »Ich bin ein Bastard. Und nein, er war nicht so jung wie sie.«

»Ich verstehe.« Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Möchtest du es mir erzählen?«

Einen Moment lang blieb sie stumm. Schließlich sagte sie: »Es war keine Liebesaffäre. Meine Mutter war das Kind von Bediensteten im Haus Carey. Ihre Eltern starben während jener Schweißfieberepidemie, die auch Mary Boleyns ersten Mann das Leben kostete. Als diese sich wieder verheiratete und Mistress Stafford wurde, wurde meine Mutter ihre Dienerin. Mistress Stafford war nicht reich. Ihr neuer Mann, Will Stafford, war ein einfacher Soldat, aber sie hatte aus ihrer ersten Ehe zwei Kinder, dazu eine Leibrente, und ihr verstorbener Mann hatte ihr ein Haus vermacht. Sie mochte meine Mutter gern. Deshalb bot sie ihr diese Stellung an.«

»Diese Mary Stafford ist die Schwester von Anne Boleyn, nicht wahr?«

»Ja, aber sie hatte nichts von dem Stolz ihrer Schwester. Gott sei ihrer Seele gnädig. Als meine Mutter schwanger wurde, blieb das nicht lange geheim. Das morgendliche Erbrechen verriet sie. Sie geriet in Panik, aber Mistress Stafford machte ihr nie Vorhaltungen. Und da sie die Nöte kannte, in die Frauen geraten können, gab sie sie kurzerhand in die Obhut von Lady Cecil. Ich wurde auf Lady Cecils Anwesen geboren.«

Damit war also Kates Bekanntschaft mit Cecil geklärt. Sie hatte unter seinem Dach gelebt.

»Wusste Mistress Stafford, wer dein Vater war?«, erkundigte ich mich.

»Sie muss einen Verdacht gehabt haben. Meine Mutter hat seinen Namen nie in den Mund genommen, aber auf Mistress Staffords Anwesen gab es nicht viele Männer, die alt genug waren und sich diese Freiheit hätten nehmen können. Es musste sie zutiefst geschmerzt haben. Mary war mit Stafford noch nicht einmal ein Jahr verheiratet gewesen und hatte seinetwegen den Zorn ihrer Familie und das Exil vom Hof auf sich genommen.« Kate setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Er lebt noch. Ich habe ihn bei Mistress Staffords Beerdigung gesehen. Wir haben dieselben Augen.«

Ich schwieg. Die Ähnlichkeiten – und die entscheidenden Unterschiede – zwischen uns hatten mich nachdenklich gestimmt.

»Mistress Stafford hätte das natürlich verstanden«, fügte sie hinzu. »Schließlich war sie die Geliebte von Henry dem Achten gewesen, ehe er ein Auge auf ihre Schwester Anne warf. Sie wusste, dass Treue nicht unbedingt die größte Stärke der Männer ist, und keine Frau beschwört wissentlich Unglück auf sich herab. Doch sie gab das Geheimnis meiner Mutter nicht preis und gestattete ihr, mich aufzuziehen. Auch ließ sie uns bei den Cecils bleiben. Ich glaube, sie wollte meine Mutter von ihrem Mann fernhalten.«

Sie hielt inne und schluckte. Nach einer kurzen Weile fuhr sie wieder fort: »Ich verdanke ihr alles. Weil sie so freundlich zu ihr war, musste meine Mutter nie betteln gehen. Wir lebten gut; ich hatte eine schöne Kindheit. Ich erhielt sogar Unterricht. Dafür sorgte Lady Mildred, die selbst gebildet war. Ich bin eine der wenigen Damen in Diensten Ihrer Hoheit, die lesen und schreiben können. Das ist der Grund, warum sie mir vertraut. Wenn eine Nachricht vernichtet werden muss, kann ich sie auswendig lernen.«

»Ich kann gut verstehen, dass sie dir vertraut«, sagte ich. »Aber erzähl mir: Wie ist deine Mutter gestorben?«

»Sie bekam Fieber. Es war kurz und schmerzlos. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich Mistress Stafford noch ein paarmal gesehen. Sie war immer sehr freundlich. Drei Jahre später ist sie selbst gestorben.«

»Und der Mann, den du für deinen Vater hältst …?«

»Er hat wieder geheiratet. Er hat Kinder. Ich mache ihm keine Vorwürfe. Ich glaube, er hat meine Mutter genommen, wie Männer das eben machen – in einem Moment der Lust, ohne an die Folgen zu denken. Wenn er von mir weiß, hat er das nie zu erkennen gegeben. Seit ich auf der Welt bin, habe ich immer ohne ihn gelebt. Aber seinen Nachnamen trage ich. Das ist das Mindeste, was er tun kann.« Ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Und es ist ja nicht so, als ob es in England Hunderte von Staffords gäbe.«

Sie stupste mir mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Du bist dran. Ich möchte einen rechtschaffenen Mann aus dir machen.«

Kaum hatte sie das gesagt, erschrak sie und schaute mir eindringlich ins Gesicht. »Vergib mir. Manchmal rede ich, bevor ich denke. Wenn du nicht sprechen möchtest, verstehe ich das.«

Ich umfasste ihr Kinn mit zwei Fingern. »Frag ruhig. Es soll keine Geheimnisse zwischen uns geben.« Ich zögerte. »Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, wer meine Mutter ist. Ich wurde als Baby ausgesetzt. Mistress Alice hat mich aufgezogen.«

»Du wurdest ausgesetzt?«, wiederholte Kate.

Ich nickte, sagte aber nichts, weil ich ihr Zeit lassen wollte, ihre Gedanken zu sammeln.

»Dann war Mistress Alice … war das die Frau im Gemach des Königs?«

»Ja. Sie hat mich gerettet.« Während ich diese Worte sagte, verspürte ich einen übermächtigen Drang, über all das zu reden, damit noch jemand anders die Erinnerung mit mir teilte und Alice nicht in Vergessenheit geriet. »Ich wurde im Pfarrhäuschen bei Dudley Castle mir selbst überlassen. Wahrscheinlich sollte ich sterben. Später wurde mir gesagt, dass solche Dinge öfter geschehen, als man meint – dass ungewollte Babys vor den Häusern von Adeligen ausgesetzt werden. Die Mütter hoffen, dass die Reichen Mitleid bekommen und ihnen das geben, was sich die Armen nicht leisten können. Vom Sterben wollte ich jedenfalls nichts wissen. Laut Mistress Alice habe ich einen Krawall veranstaltet, der Tote hätte aufwecken können. Sie hörte mich bis zum Komposthaufen heulen, wo sie gerade einen Korb Laub ausleerte. Sie ging dann gleich nachsehen.«

Meine Stimme versagte mir den Dienst. Ich gab mir einen Ruck und konzentrierte mich auf Kates Augen, um darin Kraft zu finden. »Sie war für mich die Mutter, die ich nie kennengelernt habe. Als sie starb – oder vielmehr, als mir gesagt wurde, sie sei tot –, konnte ich ihr nicht vergeben, dass sie mich ohne ein Wort des Abschieds verlassen hatte.«

»Deshalb warst du also bereit, Ihrer Hoheit zu helfen. Du wusstest, dass sie von ihrem Bruder Abschied nehmen musste.«

»Ja. Ich konnte sie nicht das erleiden lassen, was ich am eigenen Leibe erfahren habe. Ich weiß, was es heißt, jemanden unerwartet zu verlieren. Ich hielt Mistress Alice ja für tot. Als ich Peregrine kennenlernte, hat er eine Frau erwähnt, die den König pflegte, und einen Moment lang hatte ich ein Gefühl … Aber ich habe nicht ernsthaft daran geglaubt, dass sie das sein könnte. Wie denn auch? Selbst als ich sie dann gesehen habe …« Erneut stockte ich. Meine Stimme zitterte. »Sie hatten ihr die Zunge herausgeschnitten und etwas mit ihren Beinen gemacht, damit sie nur noch humpeln konnte. Und Master Shelton, ihr Haushofmeister, zu dem ich immer aufgesehen und der mir die Nachricht von ihrem Tod beigebracht hatte, stand tatenlos da, als Lady Dudley ihr die Kehle aufschlitzte. Sie ist verblutet, und er hat keinen Finger gerührt.«

Die Erinnerung bohrte sich wie Glassplitter durch meine Innereien. Ich war ein Narr gewesen, dass ich geglaubt hatte, Master Shelton würde mich für wichtiger halten als seine Pflicht. Ein treuer Diener in allem zu sein, gleichgültig, was das mit sich brachte – das war das Einzige, was er kannte. Ich hätte angesichts seines stumpfsinnigen, sinnlosen Lebens Mitleid mit ihm haben können, hätte ich nicht nach Rache gedürstet.

Schweigen breitete sich aus. Kate saß zusammengesunken da; schließlich hob sie den Blick zu mir. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Vergib mir die Art und Weise, wie ich über ihren Tod gesprochen habe. Das war selbstsüchtig von mir. Ich … ich wollte dir nicht wehtun.«

Ich küsste sie. »Meine tapfere Kate, du hättest mir die Schmerzen nicht ersparen können. Die habe ich vor langer Zeit erlitten, als wir noch gar nichts voneinander wussten. Ich habe Alice an dem Tag verloren, als sie sie mir weggenommen haben. Die Frau, der ich im Gemach Seiner Majestät begegnet bin, war nicht die Frau, die ich damals kannte. Jetzt kenne ich die Wahrheit. Jetzt weiß ich, dass sie mich nicht verlassen hat. Lady Dudley muss ihre Verschleppung von der Straße angeordnet haben. Und Shelton war ihr Komplize.«

»Aber warum haben sie ihr etwas derart Schreckliches angetan? Das ist ja lange vor der Erkrankung des Königs geschehen, richtig? Warum wollten sie unbedingt, dass du sie für tot hältst?«

»Dasselbe habe ich mich auch gefragt«, stieß ich mit einem grimmigen Lächeln hervor. »Ich denke, sie wusste zu viel. Dessen bin ich mir ganz sicher. Mistress Alice wusste, wer ich bin.«

Kate starrte mich entsetzt an. »Hat das vielleicht mit diesem Schmuckstück zu tun?«

Statt einer Antwort tapste ich nackt vom Bett zu meinem Umhang und zog das Kleinod aus der Tasche. Der Rubin glitzerte im Licht des Mondes, als ich ihr das Schmuckstück reichte. »Ich glaube, es ist ein Teil meiner Vergangenheit«, erklärte ich und erschauerte jäh. »Ich glaube, Mistress Alice hat es mir in dem Moment gegeben, als sie mich erkannt hatte. Vorher hatte sie mich wohl gar nicht wirklich wahrgenommen. Sie hatte zu viel gelitten. Aber sie hat die goldene Blüte aus einem ganz bestimmten Grund aufbewahrt. Das hat etwas zu bedeuten. Das muss einfach so sein.«

Kate betrachtete sie nachdenklich. »Ja, aber was?«

Ich nahm ihr das Schmuckstück aus der Hand und strich mit den Fingerkuppen über das zarte, fein geäderte Gold. »Außer ihren Kräutern hatte Mistress Alice nie für materielle Güter Verwendung. So etwas begehrte sie nicht. Sie sagte immer, Dinge beanspruchten einfach zu viel Platz. Und doch hielt sie dieses Stück weiß Gott wie viele Jahre in ihrer Medizintruhe verborgen. Ich habe die Truhe oft durchsucht. Und jedes Mal hat sie mich getadelt und gesagt, eines Tages würde ich mich noch mit irgendeinem Kraut berauschen. Aber dieses Stück habe ich nie entdeckt. Sie muss es in einem geheimen Fach verborgen haben. Und ich habe so ein Gefühl, dass nicht einmal Lady Dudley davon wusste.«

Ich schaute an ihr vorbei zum Fenster. »Lady Dudley ist der Schlüssel zu alldem. Sie hat mich benutzt, um die Herzogin zur Einwilligung in die Verheiratung ihrer Tochter Jane Grey mit Guilford zu zwingen. Das hat die Herzogin auch bestätigt, als sie mich in dieser Zelle gefangen hielt. Was immer diese Blüte bedeutet, sie muss eine gewaltige Macht haben, wenn man mich deswegen umbringen will. Es könnte womöglich sogar die Waffe sein, die ich benötige, um mir die Dudleys vom Hals zu halten – und zwar für immer.«

Kate verschränkte die Arme vor der Brust, als fröstelte sie. »Du willst Rache für das, was sie dir angetan hat.«

Ich erwiderte ihren Blick. »Wie könnte ich das nicht? Mistress Alice war alles, was ich auf der Welt hatte, und sie hat sie zerstört. Ja, ich will Rache. Aber mehr noch als das suche ich die Wahrheit.« Ich beugte mich nahe zu ihr. »Kate, ich muss wissen, wer ich bin.«

»Das verstehe ich. Es ist nur so, dass ich mich um dich sorge. Um uns. Dieses Geheimnis muss schrecklich sein, wenn die Herzogin von Suffolk dich töten will, nur damit niemand davon erfährt. Und wenn die Dudleys es gegen sie verwendet haben, müssen sie es kennen.«

»Nicht einmal Dudley selbst weiß Bescheid. Nur Lady Dudley. Ich glaube nicht, dass sie den Herzog jemals aufgeklärt hat. Sie muss die Befürchtung gehegt haben, dass er sie verraten würde. Sie machte keinerlei Anstalten, ihm die einzige Waffe anzuvertrauen, die sie besaß – ihre Fähigkeit, der Herzogin von Suffolk ihren Willen aufzuzwingen. Ohne ihr Druckmittel, ohne dieses Geheimnis, hätte die Herzogin sich wohl nie bereit erklärt, ihre Tochter einem …«

»Emporkömmling wie Dudley zu geben«, vollendete Kate. Sie betrachtete mich nachdenklich. »Warum sprichst du nicht mit Master Cecil darüber? Er kennt bedeutende Persönlichkeiten. Vielleicht kann er dir helfen.«

»Nein.« Ich ergriff ihre Hände. »Versprich mir, dass du niemandem ein Wort davon verrätst, nicht einmal der Prinzessin – vor allem nicht ihr! Northumberland hat immer noch enorme Macht, vielleicht sogar mehr als je zuvor, und vielleicht ist sie noch einmal auf unsere Hilfe angewiesen. Da ist es besser, wenn ich diese Bürde fürs Erste allein trage.«

Insgeheim bat ich sie um Vergebung für meine Lüge. Aber ich konnte es einfach nicht riskieren, sie diesem kalten Hass auszusetzen, den ich in Lady Dudleys Augen gesehen hatte. Ebenso wenig wollte ich, dass ihr dieser mörderische Stokes im Auftrag der Herzogin nachstellte. Wenn erst einmal ans Licht kam, dass ich noch lebte, wäre die Jagd auf mich eröffnet. Was immer geschah, Kates Sicherheit hatte absoluten Vorrang. Gleichwohl würde ihr das, worum ich sie als Nächstes bitten musste, sehr wehtun.

»Kannst du etwas für mich tun? Es ist sehr wichtig. Du musst mir versprechen, nach Hatfield zurückzukehren.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Und wenn ich mich weigere?«

»Dann erinnere ich dich daran, dass Elizabeth nach wie vor auf dich angewiesen ist. Keiner ihrer anderen Bediensteten hat deine Fähigkeiten. Es kann gut sein, dass sie bald darauf zurückgreifen muss. Und das weißt du so gut wie ich. So, wie du längst weißt, auch wenn du es mir noch nicht gesagt hast, dass Cecil einen neuen Auftrag für mich hat. Das ist doch der Grund, warum Walsingham in einem fort gekommen und gegangen ist und sich nach meiner Gesundheit erkundigt hat. Aus Sorge um mich hat er das gewiss nicht getan.«

»Das ist mir gleichgültig«, flüsterte Kate und schlug mit der Faust auf die Matratze. »Sollen sie doch jemand anders finden. Du hast genug aufs Spiel gesetzt. Nicht einmal Ihre Hoheit würde mehr von dir verlangen.«

»Trotzdem würde ich mehr tun. Und du auch. Wie könntest du nicht? Du liebst sie.«

»Und du?«, fragte sie stockend. »Liebst … du sie?«

Ich drückte Kate an mich. »Nur als meine Prinzessin. So viel verdient sie, glaube ich.«

In meinen Armen liegend, murmelte Kate: »Es heißt, ihre Mutter hätte unter einem Fluch gestanden. Manchmal frage ich mich, ob Elizabeth denselben Fluch in sich trägt. Robert Dudley hat sich ihr zu Füßen geworfen. Sein Vater ebenfalls. Doch als sie ihnen einen Korb gab, stürzten sie sich auf sie wie die Wölfe. Ist es möglich, dass der Zauber, den sie ausübt, Männer genauso schnell in Hass verfallen lässt, wie er sie zur Liebe treibt?«

»Ich bete um ihretwillen zu Gott, dass das nicht der Fall ist. Du auch?«

Sie seufzte. »Jetzt gerade nicht.«

22

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich allein im Bett. Erst war ich beunruhigt, aber dann lachte ich leise vor mich hin. Vergnügt fuhr ich mir mit der Hand durch das zerzauste Haar. Der Klapptisch war weggeräumt worden, die Hocker standen in einer Reihe vor der Wand. Säuberlich gefaltet lagen meine Kleider auf einem Stoß vor dem Bett. Kate musste sie mir gebracht haben, als ich noch schlief. Ansonsten wies der Raum keinerlei Spuren ihrer Anwesenheit auf.

Ich wollte gerade aus dem Bett schlüpfen, als die Tür aufging. Mit Handtuch, einem Waschzuber und einer kleinen Kiste beladen, erschien Kate. Wieder trug sie ihr goldbraunes Cape. Das Haar hatte sie sich zu Zöpfen geflochten, sodass man meinen konnte, sie hätte eine ereignislose Nacht hinter sich. Als sie ihre Last abstellte, umarmte ich sie und erstickte ihren matten Protest mit meinen Lippen. Einen Moment lang drückte sie sich an mich, doch dann schob sie mich weg.

»Das genügt.« Sie trat ein paar Schritte zurück und nahm das Tablett an sich. »Unten wartet Walsingham. Er will dich gleich nach dem Frühstück sehen.«

»Frühstück? Ich brauche andere Nahrung viel dringender.« Wieder griff ich nach ihr.

Leicht und flüchtig wie Löwenzahnsamen schwebte sie davon. »Du wirst dich mit dem begnügen müssen, was du gestern Nacht bekommen hast. Mehr gibt es nicht von mir, solange du mir nicht ein Haus baust.« Sie warf mir das Handtuch zu.

»Und das sagt mir die übermütige Frau, die mir erst gestern geschworen hat, dass sie restlos glücklich ist?«

»Eine Frau kann es sich immer anders überlegen. Und jetzt benimm dich, wenn ich dich wasche.«

Folgsam nahm ich eine scherzhafte Büßerhaltung ein, auch wenn es mich enorme Anstrengung kostete, sie nicht zu umarmen, während sie mich von oben bis unten einseifte, ohne darauf zu achten, was sie alles abschrubbte. Erst als sie den Verband öffnete, um ihn zu wechseln, stieß ich einen Aufschrei aus. »Tut es weh?«, fragte sie.

»Ein bisschen.« Ich riskierte einen Blick auf die Wunde. Sie war so hässlich, wie ich erwartet hatte. »Faulig?«

»Am Anfang war sie das. Aber du hattest Glück. Die Kugel hat dich nur gestreift und nichts als ein paar Hautschichten abgerissen.« Sie nahm einen Glastiegel mit einer grünen Salbe darin aus der Truhe und trug die Tinktur auf meiner Schulter auf. Regungslos stand ich da und ließ es geschehen. Wie Mistress Alice verstand sich offenbar auch Kate auf heilende Kräuter.

»Das ist ein französisches Hausmittel«, erklärte sie. »Rosmarin, zerstoßene Pistazien und Rosenöl. Es beschleunigt die Heilung.« Mit flinken Fingern legte sie mir einen frischen Verband an und verknotete ihn in der Achselhöhle. »So, das muss genügen. Das mag zwar unbequem sein, aber ich denke, an ein paar Tagen mehr im Bett wirst du nicht vorbeikommen.«

Ich zwickte sie sanft in die Nasenspitze. »Du kennst mich zu gut.«

Sie half mir in meine Kleider: Hemd, neues Lederwams, Hose und ein Gürtel mitsamt Tasche. Und zu meiner Verwunderung stellte sie ein nagelneues Paar Stiefel in meiner Größe vor mich hin.

»Peregrine hat sie am Markt gekauft. Sich selbst hat er eine Kappe und einen Umhang besorgt. Er sagt, er wird dein Page sein, wenn du erst einmal reich bist.«

»Da wird er aber lange warten müssen.« Ich drehte mich zu ihr um. »Vorzeigbar?«

»Ein Prinz!« Sie trug Brot, Käse und ein dunkles Ale auf. Gemeinsam aßen und tranken wir, doch ich spürte, dass sie besorgt war.

»Hast du schlechte Nachrichten?«, fragte ich schließlich.

»Bei Walsingham sind sie das fast immer. Aber ich habe keine Ahnung, was er diesmal will. Er hat bloß gesagt, dass ich dich holen soll.« Sie schnitt eine Grimasse. »Jetzt, da ich nicht länger benötigt werde, bin ich in seinen Augen nur noch eine unwissende Frau. Da hat es auch nichts zu besagen, dass ich mindestens ebenso fähig bin wie die Radaubrüder, die er in seine Dienste nimmt, Schlösser öffnen und, was Intrigen betrifft, es mit jedem Höfling aufnehmen kann.«

»Ganz zu schweigen von deinem Temperament. Wenn ich er wäre, würde ich mich vor dir in Acht nehmen.«

»Wenn sich jemand in Acht nehmen muss, dann du.« Kate stellte sich dicht vor mich, wie an jenem Nachmittag in der Galerie des Greenwich Palace. »Was immer er von dir will, du kannst sicher sein, dass es gefährlich wird.«

»Ich dachte, er hätte geholfen, mir das Leben zu retten«, hielt ich ihr vor.

»Das hat er auch. Aber das bedeutet nicht, dass ich es ihm anvertrauen würde. Er ist eine Schlange und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Wie ich das sehe, kann nicht einmal Cecil ihn kontrollieren.« Ihre Stimme begann zu beben. »Versprich mir, dass du dich auf nichts Gefährliches einlässt. Ich habe gesagt, dass ich zu Ihrer Hoheit nach Hatfield gehe, und das werde ich auch, aber ich will mich nicht vor Sorge um dich verzehren.«

»Das verspreche ich dir«, gelobte ich mit einem feierlichen Nicken. »So, und jetzt zeig mir den Weg.«

Sie deutete auf die Tür. »Die Treppe hinunter und dann nach rechts. Er ist im Herrenzimmer. Am anderen Ende der Vorhalle.« Sie wandte sich ab. »Ich bin im Garten und hänge Wäsche auf.«

Bei der Vorstellung von Kate als Wäscherin musste ich unwillkürlich grinsen, während ich die Treppe hinuntereilte und mir den Weg durch das Landhaus suchte. Es war eher spärlich eingerichtet, was nach dem Überfluss am Hof eine wohltuende Abwechslung darstellte. Ich durchquerte die Vorhalle und blieb vor einer Tür stehen. Das musste das Herrenzimmer sein. Ich holte tief Luft.

Dann stieß ich entschlossen die Tür auf. Wie Kate drängte sich auch mir bei Walsinghams Anblick der Vergleich mit einer Schlange auf. Daran vermochte auch sein angeblicher Beitrag zu meiner Rettung nichts zu ändern. Viel eher zermürbte es mir die Nerven, dass der Mann mir seit meiner Ankunft in Whitehall wie ein Schatten gefolgt war. Bis zu jener Nacht auf der Mauer des Greenwich Palace hatte er immer nur beobachtet, ohne jemals einzugreifen. Seine Motive waren mir alles andere als geheuer, doch ich verbarg mein Unbehagen, als ich seine hagere Gestalt am Pult sitzen sah, vor ihm Urian, den Kopf auf seine Oberschenkel gelegt.

»Junker Prescott.« Seine spinnenartige Hand liebkoste Urian mit hypnotischer Monotonie. »Ihr habt Euch zügig erholt, wie ich sehe. Die Lebenskraft der Jugend und die Fürsorge einer Frau bewirken in der Tat wahre Wunder.«

Sein Ton ließ erkennen, dass er mehr über diese Fürsorge wusste, als mir lieb war. Ich musste an mich halten, um den Hund nicht aus Entsetzen über seine mangelnde Menschenkenntnis wegzuschicken.

»Mir wurde gesagt, dass Ihr mich zu sprechen wünscht?«

»Immer gleich zur Sache kommen.« Seine blutleeren Lippen zuckten. »Warum auch Zeit mit Überflüssigem vergeuden?«

»Hoffentlich hattet Ihr keine freundliche Plauderei erwartet.«

»Ich erwarte nie irgendetwas. Das ist es ja, was das Leben so interessant macht. Die Menschen schaffen es immer wieder, einen zu überraschen.« Er deutete auf einen Stuhl gegenüber dem seinen. »Bitte setzt Euch. Ich benötige nichts als Eure Aufmerksamkeit.«

Da die Schmerzen in meiner Schulter wieder einsetzten, tat ich ihm den Gefallen. Mich hatte schon beim ersten Wortwechsel dieses vage Gefühl von Unbehagen befallen, das ich jetzt endlich identifizieren konnte. Cecil und seine Männer schienen es wie eine ansteckende Krankheit zu verbreiten.

»Jane Grey und Guilford Dudley sind in den Tower gebracht worden«, eröffnete er mir.

Ich schoss kerzengerade hoch. »Verhaftet?«

»Nein. Es ist Tradition, dass die angehenden Herrscher vor ihrer Krönung dort Unterkunft nehmen.« Er musterte mich.

»Ich verstehe«, erklärte ich mit gepresster Stimme. »Sie setzen es also durch. Sie wollen diesem unschuldigen Mädchen ohne Rücksicht auf Verluste die Krone auf den Kopf setzen.«

»Dieses unschuldige Mädchen, wie Ihr Euch ausdrückt, ist eine Verräterin. Sie usurpiert den Thron einer anderen Frau und wartet jetzt mit sämtlichen Würdenträgern am Hof auf ihre Krönung. Bisher hat sie nur in einer Hinsicht Skrupel gezeigt, und das ist ihre beharrliche Weigerung, ihrem Gemahl die Krönung an ihrer Seite zu gestatten – zum Verdruss der Dudley-Sippe.«

Ich unterdrückte meinen Abscheu. Natürlich. Es lag auf der Hand, dass ein Walsingham Jane Grey als Verräterin brandmarken würde. Es war leichter, die Welt durch ein Prisma zu betrachten, das sie so zeigte, wie man sie haben wollte.

»Mit ›einer anderen Frau‹«, sagte ich gedehnt, »meint Ihr vermutlich Lady Mary.«

»Selbstverständlich. Jede Änderung der Erbfolge würde die Zustimmung des Parlaments erfordern. Ich bezweifle allerdings, dass unser stolzer Herzog so weit gegangen ist, einen Antrag auf die offizielle Bewilligung seines Verrats zu stellen. Aufgrund der Gesetzeslage und der von König Henry dem Achten festgelegten Erbfolge ist Lady Mary unsere rechtmäßige Königin.«

Ich wartete und versuchte, laut zu überlegen. »Aber der Kronrat hat die Ausrufung Janes zur Königin befürwortet, ja? Northumberland handelt nicht allein?« Wieder kam mir die Herzogin mit ihrer Drohung in den Sinn, die Dudleys zu stürzen. Wenn sie Widerspruch gegen die Usurpation ihrer Rechte erhob, konnte das den beiden Prinzessinnen die für ihr eigenes Handeln nötige Zeit verschaffen.

Einmal mehr musste ich Walsinghams eindringlichen Blick über mich ergehen lassen. »Was genau fragt Ihr da, Junker?«

»Nichts Besonderes. Ich will mir nur Klarheit über die Situation verschaffen.« Ich beobachtete ihn dabei, wie er die Hände unter dem Kinn faltete. Seiner Liebkosungen beraubt, legte sich Urian mit einem schwermütigen Seufzer auf den Boden.

»Die Mitglieder des Kronrats würden allem zustimmen, um ihre eigene Haut zu retten«, fuhr Walsingham fort. »Der Herzog hat sie mit der Drohung, er habe im Tower genügend Munition, um jede Revolte in Marys Namen niederzuschlagen, so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich ihm unterworfen haben. Außerdem hat er auf den umliegenden Burgen ganze Garnisonen stationiert. Dennoch haben wir von unseren Quellen erfahren, dass nicht wenige von seinen sogenannten Verbündeten ihn lieber hängen sehen würden, als ihm noch mehr Macht zuzugestehen. Er hat sich zu viele Feinde geschaffen, als dass er noch ruhig schlafen könnte. Es ist gut möglich, dass er bald auch auf erheblichen Widerstand seitens Lady Mary höchstselbst stößt.«

Das war die längste Ansprache, die ich bisher von ihm gehört hatte, und sie hielt einige Überraschungen bereit.

»Erheblichen Widerstand?«, fragte ich vorsichtig. »Wie ich das verstanden habe, will das Volk sie nicht, weil sie erzkatholisch und ihre Legitimität zweifelhaft ist.«

»Man wäre gut beraten, sich nicht zu früh von ihr zu distanzieren.«

»Ich verstehe. Was genau wollt Ihr von mir?«

»Der Herzog hat Edwards Tod noch nicht offiziell verkündet. Doch da Jane Grey bereits auf ihre Krönung wartet, kann das nicht mehr lange dauern. Mary hat verlautbaren lassen, dass sie sich auf ihrem Landgut in Hoddesdon bereithält. Von dort sendet sie unablässig Boten mit der Forderung nach den neuesten Informationen aus. Wir haben den Verdacht, dass jemand am Hof sie gewarnt hat. Allerdings hat sie keine eigenen Quellen, auf die sie sich stützen könnte, und nur wenige werden es wohl riskieren, sich auf die Seite einer Prinzessin zu stellen, die von ihrem leiblichen Vater und Bruder als Bastardin bezeichnet worden ist. Sie könnte natürlich außer Landes fliehen, aber für wahrscheinlicher halten wir, dass sie versuchen wird, nach Norden zur katholischen Hochburg in Schottland zu gelangen, wo sie unter den Adeligen viele Freunde hat.«

Walsingham zog einen Umschlag unter dem Ärmel hervor. »Wir möchten, dass Ihr das überbringt.«

Ich griff nicht danach. »Eine Zusage von freiem Geleit nach Spanien ist das wohl eher nicht, oder?«

»Der Inhalt«, erwiderte er, »ist ohne Belang für Euch.«

Ich erhob mich. »Vergebt mir, wenn ich widerspreche. In Anbetracht der jüngsten Ereignisse könnte der Inhalt meinen Tod bedeuten. Ich bin meinem Auftraggeber treu wie nur wenige, doch selbst bei mir gibt es Grenzen. Bevor ich in irgendetwas einwillige, muss ich wissen, worum es geht. Und solltet Ihr nicht ermächtigt sein, es mir zu verraten«, fügte ich spitz hinzu, »würde ich vorschlagen, dass Ihr Cecil bittet, an Eurer Stelle zu mir zu kommen.«

Er dachte kurz nach. »Na schön.« Dann neigte er fast unmerklich den Kopf. »Es ist eine Botschaft von einigen wenigen ausgewählten Lords, die dem Kronrat angehören. Darin handelt es sich um eine Erklärung ihres Dilemmas, wenn Ihr so wollt. Sie bieten Mary ihre Unterstützung an, falls sie sich dafür entscheidet, um ihren Thron zu kämpfen. Es wäre ihnen lieb, wenn sie England nicht sich selbst überließe, denn eine abwesende Königin ist wenig wünschenswert.«

»Na, so was, sichern wir uns da nicht nach allen Seiten ab? Sie muss ja wirklich ziemlich bedeutsam geworden sein.«

»Nehmt den Auftrag an, oder lehnt ihn ab – mir ist das gleichgültig. Ich kann ein Dutzend andere Kuriere losschicken.«

Dahinter steckte natürlich Cecil; er hatte gesehen, in welche Richtung die Entwicklung ging. Da ich mir selbst keine Illusionen darüber machte, ob er lieber die Schwiegertochter des Herzogs auf dem Thron haben wollte oder die katholische Erbin, ließ ich mir mit der Antwort lange Zeit, lächelte ausgiebig und klopfte mir aufs Knie, um Urian zu mir zu locken.

Walsinghams schwarze Augen versteinerten.

Nachdem ich ihn genügend hingehalten und gezeigt hatte, dass ich nicht nach seiner Pfeife tanzte, erklärte ich: »Seit unserem letzten Auftrag ist mein Preis gestiegen.«

Es freute mich festzustellen, dass ihm das Thema Geld sichtlich behagte. Damit befanden wir uns auf seinem Terrain, wo alles verhandelbar war. Er zog unter seinem Wams einen Lederbeutel hervor. »Wir sind bereit, Euer Honorar zu verdoppeln, und die Hälfte gibt es im Voraus. Wenn Ihr den Brief nicht an Mary aushändigt oder sie in Gefangenschaft gerät, verfällt die zweite Hälfte. Möchtet Ihr, dass ich Euch das schriftlich bestätige?«

Ich nahm Beutel und Brief an mich. »Nicht nötig. Sollte es Missverständnisse geben, kann ich sie ja bei meinem nächsten Treffen mit Cecil regeln.« Ich schritt zur Tür, wo ich ein letztes Mal stehen blieb. »Sonst noch etwas?«

Er starrte mich kalt an. »Ja. Wie Ihr vielleicht wisst, kommt es auf die Zeit an. Ihr müsst Lady Mary vor den Männern des Herzogs erreichen. Ferner raten wir Euch davon ab, den eigenen Namen zu benutzen. Ihr seid ab sofort Daniel Beecham, Sohn eines Landadeligen aus Lincolnshire. Seine Identität ist real genug. Cecil war häufig bei dieser Familie zu Gast, ehe sie verschwand. Daniels Mutter starb am Kindbettfieber, sein Vater fiel in Schottland. Der Junge selbst befand sich bis zu seinem eigenen Tod vor einigen Jahren in Cecils Obhut. Euer Bart dürfte Euch als Tarnung genügen. Rasiert Euch also nicht. Master Beecham wäre zwei Jahre älter als Ihr, lebte er noch.«

»Endlich bin ich also ein toter Mann. Meine Feinde werden entzückt sein.«

»Es ist nur zu Eurem Schutz«, erklärte Walsingham humorlos.

Ich grinste. »Gewiss. Mir ist schon gesagt worden, dass Euch der Schutz der anderen ein Anliegen ist. Ich habe von Eurem zeitlich vielleicht etwas unglücklich gewählten Ausflug zu den Stallungen gehört, als ich anderweitig beschäftigt war, und dann von Eurem gescheiterten Eingreifen auf der Mauerkrone. Da drängt sich mir doch die Frage auf, was kurz davor geschehen war, als ich in dieser Klosterzelle gefangen war. Ihr wart das doch, der mein Wams am See gefunden hat, nicht wahr? Ihr habt es am Tor zur Klosterruine abgelegt, um Peregrine und Barnaby zu warnen. Ein ziemlich zurückhaltender Versuch, aber wahrscheinlich sollte ich mich nicht beschweren.« Ich griff nach dem Türriegel, ohne mich von dem stechenden Schmerz in der Schulter beeindrucken zu lassen. »Darf ich gehen?«

»Gleich.« Walsinghams Augen flackerten zu Urian hinüber, der schwanzwedelnd neben mir stand. »Es war nicht Henry Dudley, der den Schuss auf Euch abgefeuert hat.«

Ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Der Haushofmeister, Master Shelton, hielt die Pistole. Ich habe gesehen, wie er vom Fenster aus zielte. Ich denke, dass Ihr das wissen solltet. Er ist doch jemand, dem Ihr vertraut, oder?«

»Nicht mehr«, knurrte ich und schritt hinaus.

In der Vorhalle kehrte eine Küchenmagd die Asche aus dem Herd. Mit einem schüchternen Lächeln wies sie mir den Weg zu dem von Mauern umschlossenen Garten. Dort duftete es nach Lavendel.

Wie Kate angekündigt hatte, hängte sie Wäsche zum Trocknen auf. Lautlos schlich ich mich von hinten an und schlang die Arme um ihre Hüften. »Hast du das alles geschrubbt?«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Mit einem Aufschrei ließ sie einen Kissenbezug fallen. Urian kläffte entzückt und schnappte ihn mitten im Flug. Dann trabte er mit seiner Trophäe und hoch aufgerichtetem Kopf davon.

Kate wirbelte herum. »Ich werde dich beizeiten wissen lassen, dass Stoffe aus Holland nicht billig sind. Wir müssen noch für einen ganzen Haushalt sparen, oder hast du vor, reich zu werden?«

»Wenn du willst, kaufe ich dir hundert Kissenbezüge aus ägyptischer Seide.« Ich drückte ihr den Lederbeutel in die Hand. Ihre Augen weiteten sich, als sie sein Gewicht spürte. Forschend blickte sie mir ins Gesicht. Bevor sie die Frage aussprechen konnte, zog ich sie an mich.

»Wann?«, flüsterte sie in meinen Armen.

»Sobald es mir gelingt, dich loszulassen«, murmelte ich.

Als ich am Abend meine Satteltasche für den Ritt packte, klopfte es. Mit gerunzelter Stirn ging ich zur Tür. Wer mochte das nur sein? Kate und Peregrine wären einfach eingetreten, und Walsingham erachtete es für unter seiner Würde, wegen eines Dienstboten eine Treppe zu erklimmen.

Sie stand, von Kopf bis Fuß in schwarzen Samt gehüllt, im Korridor. Hinter ihr wartete Kate auf dem Treppenabsatz, in der Hand eine flackernde Kerze. Unsere Blicke fanden einander, und ich nickte. Daraufhin wandte sie sich ab, jedoch erst, nachdem ich ihre beunruhigte Miene bemerkt hatte.

Ich trat zur Seite. Kaum war Elizabeth eingetreten, spürte ich erneut jene magnetische Anziehungskraft, die sie wie einen Duft auszustrahlen schien. Sie schob ihre Kapuze zurück. Schmuck trug sie nicht. Ihr feuerrotes Haar wurde von einem geflochtenen Netz gezähmt. Um ihre ausdrucksvollen Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet, als hätte sie eine schlaflose Nacht hinter sich.

Ich verbeugte mich tief. »Eure Hoheit, welch unerwartete Ehre!«

Sie nahm das mit einem zerstreuten Nicken zur Kenntnis und blickte sich um. »So, so, hier habt Ihr Euch also erholt? Ich vermute, dass Ihr in guten Händen wart.« Ihr Ton enthielt keine versteckten Betonungen, keinerlei Hinweis darauf, dass sie über meine Beziehung zu Kate im Bilde war. Ich beschloss, es dabei zu belassen, zumindest fürs Erste. Kate würde Elizabeth darüber aufklären, wenn sie so weit war.

»Ja, in sehr guten Händen«, antwortete ich. »Ich glaube, ich schulde Euch Dank.«

»Meint Ihr?« Eine ihrer dünnen Augenbrauen wölbte sich.

»O ja. Das hier ist schließlich Euer Haus, nicht wahr?«

Sie wedelte abwehrend mit der Hand. »Das ist doch wohl kaum ein Grund, Dankbarkeit zu erwarten. Es ist schließlich nichts als ein Haus. Ich habe mehrere, und sie stehen meistens leer.« Sie hielt inne. Ihr Blick begegnete dem meinen. »Vielmehr bin ich diejenige, die Euch danken muss, Master Prescott. Was Ihr in Greenwich für mich getan habt … werde ich nie vergessen.«

»Ihr musstet die Wahrheit erfahren, das verstehe ich.«

»Offenbar, ja. Und Ihr versteht das wohl besser als die meisten.« Ein unsicheres Lächeln flackerte über ihr Gesicht. Es war ein eigenartiges Gefühl, allein mit ihr in diesem Raum zu sein, wo ich mein fiebriges Delirium ausgeschwitzt, die schreckliche Wahrheit über Mistress Alice’ Ende erfahren und meine Liebe zu Kate entdeckt hatte. Ich hatte ganz vergessen, wie mächtig Elizabeths Ausstrahlung sein konnte, wie einzigartig ihre Erscheinung war. Sie schien nicht in eine primitive Kammer zu gehören. Abgesehen davon war mir sehr wohl bewusst, dass sie sich mit ihrem Besuch einer beträchtlichen Gefahr ausgesetzt hatte.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, versicherte sie mir: »Sorgt Euch nicht, Cecil weiß, wo ich bin. Ich habe darauf bestanden zu kommen. Also hat er mir mehrere Männer als Eskorte an die Seite gestellt. Sie warten unten. Morgen bringen sie mich nach Hatfield.« Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich. »Es scheint, als müsste ich mich von nun an daran gewöhnen, ständig diese Männer um mich zu haben, sobald ich mein Gut auf Hatfield verlasse – zumindest so lange, bis sie Northumberland zur Strecke gebracht haben.«

Jetzt war es ausgesprochen worden – zu guter Letzt.

»Ist es das, was Cecil plant?«, fragte ich ruhig.

Sie bedachte mich mit einem eigenartigen Blick. »Natürlich. Warum würden sie Euch sonst zu meiner Schwester Mary schicken? Wenn sie ins Ausland flieht, überlässt sie England ohne jeden Schutz dem Herzog. Wer weiß, was dann aus uns allen würde? Das Volk hätte lieber eine alte katholische Jungfer auf dem Thron als einen Dudley. Meine arme Schwester.« Sie stieß ein spöttisches Lachen aus. »Mary wird seit jeher entweder gefürchtet oder verabscheut. Leicht wird ihr Schicksal nie sein. Und jetzt steht sie vor dem Kampf ihres Lebens. Wenn die Henker des Herzogs sie zu fassen bekommen …«

»Das werden sie nicht.« Ich trat näher an sie heran. »Ich werde sie daran hindern.«

Sie betrachtete mich schweigend. Aus der Nähe konnte ich die bernsteingelben Flecken in der Iris ihrer Augen sehen, die mich bei unserer ersten Begegnung am Fuß des Whitehall-Palastes so verzaubert hatten; einmal mehr fiel mir die in den Tiefen ihres Blicks ruhende Kraft auf, der zu widerstehen nur sehr wenige in der Lage waren, wie ich schlagartig begriff. An jenem ersten Abend war ich bereit gewesen, mich ihr zu Füßen zu werfen und alles zu tun, um ihre Gunst zu gewinnen. Jetzt stand ich zwar immer noch unter ihrem Bann, sah mich aber nicht mehr als dessen Sklave. So war es mir auch lieber. Ich war froh darüber, in der Lage zu sein, der Prinzessin in die Augen zu schauen und unsere gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen.

»Ja«, murmelte sie. »Ich glaube, dass Ihr das erreichen werdet. Cecil hat recht: Ihr werdet alles tun, um einen Sieg der Dudleys zu verhindern. Aber Ihr habt sehr wohl eine Wahl. Was mich betrifft, habt Ihr Eure Schulden abbezahlt. Selbst wenn Ihr Euch entscheidet, diesen Auftrag nicht anzunehmen, ist Euch ein Platz in meinen Diensten sicher.«

Lächelnd neigte ich den Kopf und wich einen kleinen Schritt zurück.

»Was?«, rief sie. »Missfällt Euch diese Wahl? Wenn ich mich richtig entsinne, habt Ihr mich in Whitehall genau darum gebeten. Ihr sagtet, Ihr würdet mir gern dienen. Hat Euch Cecil am Ende ein besseres Angebot gemacht?«

»Überhaupt nicht.« Ich hob den Blick zu ihr. »Ich fühle mich geehrt und bin dankbar. Aber das ist nicht der Grund, warum Eure Hoheit den ganzen weiten Weg gekommen sind. Ihr wisst bereits, dass ich Euch dienen werde, komme, was wolle.«

Einen Moment lang schwieg sie. »Sind meine Gedanken so leicht zu lesen?«, fragte sie dann.

»Nur für diejenigen, die bereit sind, genau hinzusehen.« Ich spürte, wie sich in mir ein Abgrund öffnete, während ich mir vor Augen hielt, was sie alles war, wofür sie stand und was sie alles verlieren konnte, wenn sie jemals ihrem von Konflikten zerrissenen Herzen nachgab, das sie trotz der Gefahr für ihr Leben zu diesem Ritt zu mir beflügelt hatte.

»Ich … ich will nicht, dass ihm ein Leid geschieht«, sagte sie stockend. »Robert trifft keine Schuld … Er hat getan, was ihm befohlen wurde, und er … er hat doch versucht, mich zu warnen. Ich kenne ihn von Kindesbeinen an; in ihm steckt so viel Gutes. Es ist nur so, dass ihn – wie so viele, die in diese Welt geboren worden sind – nie der hohe Wert der Wahrheit gelehrt wurde. Aber er kann noch erlöst werden. Sogar er kann für seine Sünden Buße tun.«

Ich ließ das sich nach ihrer Beichte ausbreitende Schweigen seine Wirkung entfalten. Ich wollte sie weder mit meiner eigenen Meinung schmälern noch einem Versprechen opfern, von dem wir beide wussten, dass ich es vielleicht nicht halten konnte.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Finger nestelten an ihrem Umhang. Abrupt sagte sie: »Ihr werdet hoffentlich, allein schon um Kates willen, auf Euch aufpassen?«

Ich nickte. Sie wusste also doch Bescheid. Auch dieses Geheimnis teilten wir.

Sie wandte sich zur Tür, wo sie noch einmal innehielt, die Hand auf dem Riegel. »Geht achtsam mit Mary um«, sagte sie. »Ich liebe meine Schwester, aber sie ist keine vertrauensvolle Frau. Das Leben hat sie so werden lassen. Seit jeher traut sie den Menschen immer nur das Schlechteste zu, nie das Beste. Manche sagen, das sei die Spanierin in ihr. Ich aber meine, es ist unser Vater.«

Unsere Augen begegneten sich. »Nehmt Ihr Kate mit Euch?«, fragte ich. »Ich möchte sie in Sicherheit wissen, soweit das unter den Umständen möglich ist.«

»Ihr habt mein Wort.« Sie zog die Tür auf. »Hütet Euch vor Drachen, Brendan Prescott«, fügte sie, schon auf der Schwelle, hinzu, und ich hörte einen Anflug von trockenem Humor in ihrer Stimme. »Und was immer Ihr tut, haltet Euch vom Wasser fern. Es ist ganz offenbar nicht Euer Element.«

Ich lauschte, wie ihre Schritte auf der Treppe verhallten. Mir war klar, dass ich sie am Morgen nicht mehr sehen würde, denn ich musste schon vor der Dämmerung aufbrechen. Doch nun begriff ich endlich, warum Robert Dudley bereit gewesen wäre, seine Familie aus Liebe zu ihr zu verraten.

Und hätte sie die Möglichkeit, würde Elizabeth vielleicht genau dasselbe für ihn tun.

23

»Wann, hast du gesagt, trifft sie ein?«, fragte Peregrine zum bestimmt schon hundertsten Mal.

»Ich habe überhaupt nichts gesagt.« Darum bemüht, meine Ungeduld zu unterdrücken, spähte ich durch die Lücke in den Büschen. Vom langen Kauern waren meine Beine schon ganz taub, und der Rücken war steif. Am von Sternen übersäten Himmel schimmerte der sichelförmige Mond. Eine leise Brise raschelte in dem Wald, wo wir unsere Pferde angebunden und ihnen Riemen ums Maul geschnallt hatten.

»Sie hat ihren Landsitz irgendwann gestern verlassen. Auf dem Weg nach London ist sie bestimmt nicht, denn dann hätte man sie längst abgefangen und verhaftet. Folglich können wir nur hoffen, dass sie sich für diese Straße entschieden hat. Aber sie könnte ebenso gut woanders sein.«

In einen schweren blauen Wollumhang gehüllt, der zu demjenigen passte, den er mir besorgt hatte, verzog Peregrine das Gesicht. »Ich hab bloß gefragt, und du reißt mir gleich den Kopf ab! Hätte ich gewusst, dass du ein solcher Griesgram bist, wäre ich mit Mistress Stafford und Urian nach Hatfield gegangen.«

Ich presste ein Lachen hervor. »Tut mir leid. Ich wüsste auch lustigere Dinge, als hier am Straßenrand zu hocken. Viel lieber wäre ich jetzt ebenfalls bei Kate und Urian.«

»Das glaube ich gern. Ich hab ja gesehen, wie du sie angeschaut hast. Du liebst sie, nicht wahr?«

Die unpassende Mischung aus Neid und Sehnsucht in seiner Stimme ließ mich stutzen. Dass ich überhaupt hier war, verdankte ich nur seinem Einfallsreichtum und seiner unerschütterlichen Hartnäckigkeit.

Während wir in Edwards Gemächer geschlichen waren, hatte Peregrine sich an mehreren Wachposten vorbei in die Stallungen gemogelt, wo er, unbemerkt von der Nachtwache, heimlich, still und leise drei schlaftrunkene Pferde gesattelt und aufgezäumt hatte, um sie zusammen mit dem Hund zu der als Treffpunkt vereinbarten Pforte zu führen. Dort hatte er auf uns gewartet und die Tiere immer wieder mit Scheiben dieser Holzäpfel beruhigt, die er offenbar in seinen Taschen anbaute. Als sie die Schüsse hörten und die Soldaten des Herzogs aus dem Palast strömen sahen, hatte laut Kate Barnaby den jungen Peregrine mit Gewalt auf Cinnabar setzen müssen. Und kaum hatten sie das Versteck erreicht, hatte der Junge verlangt, dass sie zurückkehrten und nach mir suchten. Er wäre auf der Stelle losgelaufen, hätte ihn nicht die Furcht vor Patrouillen zurückgehalten. So war er rastlos in seinem Zimmer auf und ab geschritten. Doch als schließlich Cecils Männer mit Mistress Ashley eintrafen, um die Prinzessin in Sicherheit zu bringen, war er nicht mehr zu halten gewesen.

Dieselbe bedingungslose Hingabe hatte ihn darin bestärkt, mich so lange zu bearbeiten, bis ich einwilligte, ihn auf meine neueste Mission mitzunehmen. Mit einer gewissen Berechtigung hatte er sich darauf berufen, dass ich eine Schwäche für Katastrophen hatte und es wirklich das Beste für mich wäre, wenn ich von einem Freund begleitet würde. Er hatte also auf ganzer Linie gewonnen. Dennoch war es ein Fehler von mir gewesen, ihn so zu behandeln, wie er behandelt werden wollte, und so zu tun, als wäre er kein Kind mehr. Er war immer noch eines. Und als ich nun die Sorge in seinen Augen sah, versicherte ich ihm: »Ja, ich liebe sie. Aber du wirst immer einen Platz bei uns haben. Das verspreche ich dir.«

Nervös knetete Peregrine seinen Umhang. »Wirklich?«

»Wirklich.« Ich wollte ihm zur Bekräftigung meiner Worte durchs Haar fahren, als das ferne Donnern von Hufen an mein Ohr drang.

Wir beide erstarrten. Ich zückte meinen neuen Dolch. Das Schwert hatte ich Kate anvertraut, bevor ich seinen neuerlichen Verlust riskierte. Peregrine zog sein Messer.

Das Getöse von den mit Eisen beschlagenen Hufen schwoll rasch an. »Vergiss nicht«, flüsterte ich, »wir zeigen uns erst, wenn wir wissen, dass sie es ist und nicht irgendein vom Herzog ausgesandter Lockvogel, der ihre Anhänger aufstöbern soll.«

Peregrines Augen weiteten sich. Jetzt war das Getöse so nahe, dass wir fast meinten, ein Infanterieregiment käme auf uns zu, doch als ich hinausspähte, entpuppte dieses sich als eine kleine Gruppe von Reitern, deren schweißbedeckte Tiere Lehmklumpen aufwirbelten. Um die Reiter blähten sich dunkle Umhänge. Sie trugen keine Fackeln, aber im Vorbeigaloppieren blickte ihr Anführer kurz zu den Büschen hinüber, hinter denen wir uns verbargen. Und unter der schlichten schwarzen Kappe erkannte ich sein Gesicht.

Das Herz schlug mir bis in die Kehle. Fast rechnete ich schon damit, dass er den Befehl zum Anhalten brüllen und auf uns losgehen würde. Als das Kontingent seinen Weg fortsetzte, sank ich wieder in die Hocke. »Das war Lord Robert.«

Peregrine starrte mich an. »Der Lord Robert?«

»Derselbige.« Ich sprang hoch. »Los, auf in den Wald.«

Wir liefen zurück zu den Bäumen. Cinnabar und Peregrines Pferd, das den sonderbaren Namen Deacon hatte, schnaubten, als wir in die Sättel sprangen und sie herumrissen. »Wir werden parallel zur Straße reiten«, bestimmte ich. »Hoffentlich finden wir eine Abkürzung.«

Die Nacht neigte sich ihrem Ende zu. Auch wenn es noch einige Zeit dauern würde, kündigte sich die Dämmerung an. Im Schutz der Bäume galoppierten wir am Waldrand entlang. Umgestürzten Stämmen, die eine große Gefahr für unsere Tiere darstellten, wichen wir aus oder sprangen darüber hinweg. Insofern war ich dem spärlichen Mondlicht überaus dankbar. Dass ich nicht weit sehen konnte, war zwar bedauerlich, andererseits waren Lord Robert und seine Männer durch die Dunkelheit ebenso beeinträchtigt wie wir. Denn falls sie uns entdeckten – das stand fest –, würden sie uns eine gnadenlose Verfolgungsjagd liefern.

Wie hatte Robert nur so schnell die Fährte aufgenommen? Wir hatten damit gerechnet, dass der Herzog ihn auf Mary ansetzen würde, doch ihr Gut war meilenweit von uns entfernt. Irgendwie hatte Robert herausgefunden, dass sie auf dem Weg nach Norden war, und dann beschlossen, sie vor sich herzutreiben. Dabei zeigte er die gleiche erbarmungslose Entschlossenheit wie beim Werben um Elizabeth, nur dass er diesmal keinen Ring im Gepäck hatte, sondern einen Haftbefehl.

Peregrine riss mich aus meinen Gedanken. »Sie halten an.«

Ich zügelte Cinnabar. Angestrengt spähte ich zu einer Weggabelung weiter vorn. »Reite ein Stück weiter, und warte auf mich«, forderte ich ihn auf. »Wenn irgendetwas passiert, spiele nicht den Helden. Kehre umgehend nach Hatfield zurück. Und das meine ich so, wie ich es sage.«

Vorsichtig näherte ich mich der Gruppe. Cinnabar hatte einen leichten Tritt, aber ein gelegentliches Knacken von Zweigen oder ein Klirren des Pferdegeschirrs ließ sich nicht vermeiden. Bei jedem Geräusch, gleichgültig, wie leise, zuckte ich zusammen. In meiner Kindheit hatte ich oft genug mit den Dudleys gejagt, bis sich mir angesichts der Grausamkeit dieses Zeitvertreibs irgendwann der Magen umgedreht hatte. Ich hatte gesehen, welches Entzücken es Robert bereitete, Beute aufzuspüren. Wie viel mehr Genuss würde es ihm bereiten, den Junker zu hetzen, der sein Vertrauen missbraucht hatte?

Doch niemand hörte mich, was wahrscheinlich daran lag, dass sie in eine lautstarke Debatte vertieft waren. Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten und setzte meinen Weg zu Fuß fort, bis ich nahe genug herangekommen war, um sie belauschen zu können, wenn auch nicht so nahe, dass mein Entkommen ausgeschlossen war, falls sie mich bemerkten.

Ich zählte neun Männer, und innerhalb des Stimmengewirrs war Robert der lauteste.

»Weil ich es sage! Himmelherrgott, bin ich etwa nicht der Führer hier? Ist es etwa nicht mein Kopf, der rollt, wenn wir diese papistische Hexe nicht kriegen?«

»Mit Verlaub«, knurrte eine raue Stimme, »wir alle haben viel zu verlieren, Mylord. Keiner von uns will erleben, wie eine katholische Königin uns die Inquisition auf den Hals hetzt. Allein schon deshalb hätten wir unsere Soldaten nicht zurücklassen dürfen, damit sie auf uns warten. Was, wenn sie mehr Soldaten hat, als wir glauben?«

Robert schnaubte. »Ihr habt doch ihren Haushofmeister in Hoddesdon gehört. Sie reist bestenfalls mit sechs Begleitern: ihrem Kämmerer, dem Sekretär, dem Haushofmeister und drei Hofdamen. Um sie zu ergreifen, brauchen wir keine Horde von Soldaten. Die würden uns bloß aufhalten.«

Ich grinste. Jetzt waren sie hier in der tiefsten Provinz, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, und immer noch schlotterten ihnen die Knie, weil sie nicht wussten, was eine in die Enge getriebene alte Jungfer alles planen mochte. Es tat gut, das zu hören. Wie ihre jüngere Schwester genoss Mary Tudor einen gewissen Ruf.

Plötzlich überlief es mich eiskalt, als ich eine schleppende Stimme hörte: »Gentlemen, vielleicht sollten wir zu einer Einigung finden, bevor sie nach Flandern in See sticht und mit einer kaiserlichen Armee im Rücken zurückkehrt. Dann werden wir nämlich auf jeden Fall mehr als eine Schar von Soldaten brauchen, das kann ich Euch versichern.«

Stokes! Er war hier, mitten unter Roberts Männern.

»Ja«, räumte Robert ein, »noch mehr Zeitverlust können wir uns nicht leisten. Sie ist aus Hoddesdon geflohen und reitet seitdem ohne Pause. Alles deutet darauf hin, dass sie auf dem Weg nach Yarmouth ist. Irgendwo muss sie aber Unterschlupf suchen, wenn auch nur, damit die Pferde sich ausruhen können. Höchstwahrscheinlich wird sie bei einem ihrer Anhänger Aufnahme finden. Jetzt frage ich Euch: Wie schwer kann es sein, eine alte Frau und ihre Diener auf dem Weg nach Norfolk aufzuspüren?«

»Schwer genug«, erwiderte die raue Stimme. »Schließlich haben wir bisher nicht die geringste Spur von ihnen gesehen. Ich sage: Wir sollten uns ostwärts halten. Auch dort gibt es ganze Horden von papistischen Sympathisanten.«

»Und ich sage, ich habe genug von Eurem elenden Widerspruch!« Wütend schlug sich Robert auf den Oberschenkel, doch ich kannte ihn zu gut, um mich davon täuschen zu lassen. In seiner Stimme entdeckte ich ein Beben. Mein ehemaliger Herr hatte Angst, und das beflügelte meine Hoffnung. »Seit wir aufgebrochen sind, liegt Ihr mir damit in den Ohren«, knurrte er. »So langsam frage ich mich, welche Absicht Ihr damit verfolgt. Seid Ihr für oder gegen uns, Master Durot?«

Ich beobachtete, wie Durot sich auf seinem Pferd zu ihm umdrehte, eine große, muskulöse Gestalt, bekleidet mit gestepptem Wams und übergroßer Kappe und bewaffnet mit Schwert, kurzem Bogen und einem Köcher voller Pfeile. »Wenn Ihr meine Loyalität anzweifelt, und damit auch die meines Herrn, Lord Arundel, kann ich jederzeit nach London zurückreiten und Meldung über Eure Fortschritte erstatten. Ich sehe keine Notwendigkeit, diese sinnlose Jagd fortzusetzen.«

Robert funkelte ihn an. »Ihr vielleicht nicht, aber Euer Herr, der Earl, umso mehr. Die Plünderung der Abteien hat ihm ein gewaltiges Vermögen eingebracht. Ich glaube nicht, dass er große Lust verspürt, sich vor Königin Mary und deren Mönchen zu rechtfertigen. Darum schlage ich vor, dass Ihr meinen Befehlen folgt, es sei denn, Ihr wollt Euren Herrn lieber an einem Galgen baumeln sehen.«

Als Durot darauf keine Antwort gab, wandte Robert sich zu den anderen um. »Hat noch jemand Anlass zu Beschwerden? Sprecht sie besser jetzt aus. Später werde ich sie nicht mehr dulden.« Als alle stumm blieben, befahl er: »Wir reiten ostwärts. Die Gegend ist verseucht mit katholischen Grundbesitzern. Die Gesuchte könnte sich bei jedem Einzelnen davon versteckt halten. Und wenn wir Haus für Haus absuchen müssen, dann tun wir das eben.« Die nächsten Worte schleuderte er Durot förmlich entgegen: »Damit wir das nicht vergessen: Ihr Verstand reicht nicht aus, um uns zum Narren zu halten, selbst wenn sie das versucht.«

Darin widersprach ihm keiner. Sie rammten ihren Pferden die Sporen in die Flanken und galoppierten davon.

Ich bestieg wieder Cinnabar. Peregrine wartete an der Weggabelung. »Nach Suffolk«, wies ich ihn an.

Wir ritten unermüdlich weiter. Die Stunden verstrichen, und die Morgenröte tauchte den Horizont in ein malvenfarbenes Licht. Auch wenn ich mich auf mein Gefühl verlassen hatte, beschlichen mich doch leise Zweifel, als mit der Sonne eine gefällige Landschaft mit sanften Hügeln und Tälern auftauchte. Hatte ich am Ende zu sehr auf mein Wunschdenken gehört und die kalte Realität außer Acht gelassen?

War Mary wirklich so weit gekommen, oder wurde sie genau in diesem Moment mit der Spitze eines Dudley-Schwerts im Rücken aus ihrem Versteck abgeführt, damit man sie zum Tower bringen konnte? Statt ihr hinterherzujagen, hätte ich nach Hatfield eilen sollen, um Elizabeth und meine geliebte Kate zu warnen und gleich weiter zum nächsten Hafen zu reiten, bevor der Herzog uns alle verhaftete.

Ich fuhr mir mit der Hand über das Kinn. Mein Bart stach mich. Und die Kappe drückte mich. Ich zerrte sie vom Kopf und ließ mein verfilztes Haar über die Schultern fallen. Ein Blick zu Peregrine hinüber bestätigte mir, dass der Junge im Sattel eingenickt war. Wir mussten so bald wie möglich Rast einlegen. Auch wenn die Pferde noch bei Kräften waren, wir selbst würden nicht mehr lange durchhalten.

Eine halbe Stunde später erspähte ich ein zwischen Obstgärten eingebettetes Herrenhaus, über dessen Kamin und Innenhof bläulicher Rauch hing. Es wirkte fast verlassen.

»Peregrine, wach auf. Ich glaube, wir haben sie entdeckt.«

Der Junge schreckte hoch und starrte mich verwirrt an. »Woher weißt du das?«

»Schau dir den Hof an. Dort sind Pferde angebunden … sieben, um es genau zu sagen.«

Wir ritten in den Hof. Um zu zeigen, dass unsere Klingen unter dem Gürtel in der Scheide steckten, die Hände leer und die Köpfe unbedeckt waren, hatten wir die Umhänge über die Schultern zurückgeschlagen. Ich schärfte Peregrine ein, nur noch meinen neuen Namen zu benutzen und sich seine Unsicherheit nach Möglichkeit nicht anmerken zu lassen, während ich wiederum eine Ruhe vorgab, die ich nicht empfand, als die Bediensteten, alles Stallknechte, die mit der Vorbereitung der Pferde für einen Ausritt beschäftigt waren, mitten beim Umschnallen der Steigbügel erstarrten. Einer der drei Aufseher hob eine Feuerwaffe. Die anderen zwei näherten sich mit bedrohlichem Gebaren. Beide waren im mittleren Alter und trugen die Uniform von Leibgardisten. Ihre bärtigen Gesichter waren hager.

Der Ältere der zwei – der trotz aller Bemühungen, wie ein schlichter Diener zu wirken, die Würde eines Haushofmeisters zur Schau trug – bellte: »Wer seid Ihr? Was ist Euer Begehr?«

»Wer ich bin, tut nichts zur Sache«, gab ich zurück. »Mein Begehr ist, der Königin eine Botschaft zu überbringen.«

»Königin? Was für eine Königin?« Der Mann lachte. »Ich sehe hier keine Königin.«

»Ihre Majestät, Königin Mary. Die Botschaft ist vom Kronrat.«

Die Männer wechselten einen kurzen Blick. »Hole Lord Huddleston«, wies der Ältere den anderen an, der sofort loslief. »Und du hältst die Muskete auf ihn gerichtet, Jerningham«, befahl er dem Mann mit der Schusswaffe. Die Stallknechte verharrten regungslos. »Absteigen«, knurrte er. Peregrine und ich gehorchten.

Einen Augenblick später kam ein gehetzt wirkender, beleibter Mann, welcher der gerade erwähnte Huddleston sein musste, herbeigehastet. »Ich habe ihr geraten, das nicht zu tun, Master Rochester!«, rief er in besorgtem Ton. »Aber sie besteht darauf, die Männer im Saal zu empfangen, vorausgesetzt, sie sind unbewaffnet.«

Rochester maß mich mit strengem Blick. »Euer Bursche bleibt hier.«

Mit knurrendem Magen, weil mir von irgendwoher Bratengeruch in die Nase stieg, wurde ich zum Herrenhaus eskortiert. Rochester schritt neben mir einher, der bewaffnete Jerningham lief hinter mir, und Huddleston bildete die Vorhut. Bei der Eingangstür blieb Jerningham im Schatten zurück und würde zweifellos seine Waffe weiterhin auf mich gerichtet halten. Rochester und Huddleston führten mich ins Innere.

Vor einem Tisch stand eine schmale Gestalt in Bäuerinnentracht. Während die Männer sich verbeugten, ließ ich mich auf ein Knie sinken. Dabei erspähte ich eine auf dem Tisch ausgebreitete Landkarte sowie Feder und Papier, eine Flasche und einen Kelch.

Eine erstaunlich barsche Stimme befahl: »Erhebt Euch.«

Ich richtete mich vor Mary Tudor auf.

Sie ähnelte Elizabeth in nichts. Gemeinsamkeiten bestanden eher mit ihrer Cousine, Jane Grey. Sie war klein und zu mager, ihr ergrauendes Haar, das sich unter einer Haube in der Mitte teilte, wies noch Spuren von Rotgold auf. Anders als bei der noch sehr jungen Jane standen Mary ihr Alter und ihre vielen Leiden ins Gesicht geschrieben, hatten sich in Form von Furchen in ihre Stirn gegraben und umrahmten als Netz von Falten ihre Lippen und das schlaffe Kinn. Mit dick geschwollenen Fingern umklammerte sie ihren Gürtel. Einzig die tief umschatteten graublauen Augen ließen die unbezähmbare Kraft der Tudors erkennen. Voller Energie forderten sie die meinen heraus, und das mit einer Direktheit, die zu verstehen gab: Sie war etwas Höheres.

Elizabeths Worte fielen mir wieder ein: Seit jeher traut sie den Menschen immer nur das Schlechteste zu, nie das Beste. Manche sagen, das sei die Spanierin in ihr. Ich aber meine, es ist unser Vater.

Ihre schneidende Stimme gellte mir in den Ohren. »Mir wurde gesagt, Ihr hättet eine Nachricht.« Sie streckte die Hand aus. »Ich möchte sie sehen.«

Ich zog den Umschlag aus meiner Innentasche. Sie drehte sich ins Licht, riss ihn auf und überflog den Inhalt. Dann wandte sie sich wieder mir zu. Ihre Stirnfalten hatten sich vertieft. »Ist das wahr?«

»Ich glaube, ja, Majestät.«

»Ihr glaubt? Habt Ihr das gelesen?«

»Ich wäre kein guter Bote, wenn ich mir eine derart wichtige Nachricht nicht einprägen könnte. Briefe wie dieser können zum Verhängnis werden, wenn sie in die falschen Hände geraten.«

Sie musterte mich prüfend. Dann schritt sie zügig zum Tisch. »Dieser gefährliche Brief«, verkündete sie mit rauer Stimme, »ist von meinen Lords Arundel, Paget, Sussex und Pembroke, die allesamt meinem Bruder gedient haben und mir jetzt mitteilen, dass sie sich zwar keineswegs wünschen, mich um meinen Thron gebracht zu sehen, dass ihnen aber andererseits die Hände gebunden sind. Die Position des Herzogs ist anscheinend zu stark, als dass sie Widerstand leisten könnten. Sie fürchten, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als den Anspruch meiner Cousine zu unterstützen, auch wenn Jane nie den Wunsch geäußert hat zu herrschen.« Sie hielt inne. »Was sagt Ihr dazu?«

Ihre Frage verblüffte mich. Auch wenn sie ihre Gefühle geschickt verbarg, spürte ich ihre Beklommenheit. Nach jahrelangem Dasein in Vergessenheit sah sie sich nun erst in die Öffentlichkeit gerissen, nur um jäh zur Flucht im eigenen Reich gezwungen zu werden. Lady Mary war schon zu oft gejagt worden, als dass sie noch irgendwelchen Versprechungen traute.

Von niemandem hatte ich Gutes über sie gehört. Ja, die bloße Möglichkeit, dass sie den Thron besteigen könnte, hatte überall größte Unruhe ausgelöst. Ich dagegen empfand in diesem Moment nur Mitgefühl. Sie war in einem Alter, in dem die meisten Frauen geheiratet und Kinder bekommen hatten und sich allmählich dareinfügten, dass es in den ihnen verbleibenden Jahren ruhiger zugehen würde. Sie indes stand in einem fremden Herrenhaus, eine Getriebene, die für den Tod bestimmt war.

»Und?«, drängte sie. »Wollt Ihr mir nicht antworten? Ihr wurdet doch von ihnen gedungen, nicht wahr?«

»Eure Majestät, bitte vergebt mir meine Anmaßung, aber ich würde Euch lieber unter vier Augen antworten.«

»Auf keinen Fall!«, mischte sich Rochester ein. »Die Königin lädt keine Fremden in ihre Gemächer. Ihr könnt von Glück reden, dass wir Euch nicht wegen Konspiration mit ihren Feinden in ein Verlies geworfen haben.«

»Verlies?«, wiederholte ich, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte. »Hier?«

Benommenes Schweigen trat ein, bis Mary plötzlich in perlendes Lachen ausbrach. »Zumindest redet er nicht um den heißen Brei herum.« Sie klatschte in die Hände. »Lasst uns allein!«

Rochester marschierte zu dem mit der Muskete im Schatten lauernden Mann. Huddleston folgte ihm. Als wir allein waren, deutete Mary auf die Flasche. »Ihr müsst durstig sein. Es ist ein langer Ritt von London bis hierher.«

Ich nickte. »Danke, Eure Majestät.« Ihr knappes Lächeln ließ schlechte Zähne erkennen. Sie hat in ihrem Leben nicht viel Anlass zum Lächeln gehabt, sinnierte ich, während ich einen tiefen Schluck von dem warmen Ale nahm.

Sie wartete.

»Eure Majestät …«, begann ich. »Mein Gefährte … er ist nur ein Junge – ich darf doch annehmen, dass ihm kein Leid geschieht?«

»Natürlich.« Sie sah mir ohne jede Furcht in die Augen. »Sagt es mir aufrichtig: Ist mein Bruder Edward tot?«

Ich erwiderte ihren tapferen Blick. »Ja.«

Sie nahm es stumm zur Kenntnis, als dächte sie über etwas nach, das sie bereits akzeptiert hatte. Dann fragte sie: »Und dieser Brief des Kronrats – ist das eine List, oder kann ich dem Wort der Lords trauen?«

Ich antwortete mit wohl abgewogenen Worten: »Ich bin noch nicht lange am Hof, aber ich würde sagen: Nein, Ihr könnt ihnen nicht trauen.« Als ihre Züge sich anspannten, fügte ich hinzu: »Ihrem Brief könnt Ihr jedoch trauen. Lady Jane Grey ist tatsächlich eine Schachfigur in den Händen des Herzogs. Hätte man ihr die Wahl gelassen, hätte sie Euren Thron nicht für sich beansprucht.«

»Das zu glauben fällt mir allerdings schwer!«, schnaubte Mary. »Sie war es doch, die den verzogenen Sohn der Northumberlands geheiratet hat.«

»Eure Majestät können an ihre Unschuld glauben, selbst wenn Ihr sonst nichts glaubt. Der Herzog hat diese Situation herbeigeführt, um sich seine eigene Macht zu sichern.«

»Er sollte gerädert und gevierteilt und sein Kopf gepfählt werden!«, rief sie. »Wie kann er es wagen, darauf zu sinnen, mein Reich zu stehlen, das mir durch göttliches Recht zusteht? Aber er wird bald begreifen, dass ich keine Königin bin, die man auf die leichte Schulter nehmen kann – er und jeder andere Lord, der so unverfroren ist, meine Cousine über mich zu stellen!«

Die Leidenschaft ihres Ausbruchs spiegelte sich auch in ihren wutverzerrten Zügen wider. Sie besaß vielleicht nicht das Charisma und die Anziehungskraft ihrer Schwester, aber sie war immer noch die Tochter von Henry VIII.

»Ich nehme an, dass Eure Majestät beabsichtigen, um Eure Krone zu kämpfen«, murmelte ich.

»Bis zum Tode, wenn es sein muss. Meine Großmutter, Isabella von Kastilien, hat Armeen gegen die Ungläubigen geführt, um unser Reich zu vereinigen. Nicht weniger als das kann auch von mir erwartet werden.«

»Dann haben Eure Majestät Eure eigene Frage beantwortet. Das Angebot des Kronrats, Euch zu unterstützen, ist nur in dem Maße vertrauenswürdig, in dem Ihr es Euch aneignet. Wenn Ihr den Lords ihre früheren Sünden vergebt, sichert Ihr Euch ihre Treue.«

Ihre Augen wurden kalt. »Ihr beherrscht die Kunst der Doppelzüngigkeit, wie ich sehe.«

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. Ihr Gesichtsausdruck war schroff, abweisend. Elizabeth hatte mich zur Vorsicht gemahnt. Ich suchte noch fieberhaft nach der richtigen Antwort, als mit einem Mal die Tür aufflog und Rochester auf der Schwelle erschien. »Eure Majestät, wir haben diesen Hundesohn draußen herumlungern sehen!« Er trat ein, in seinem Schlepptau drei Männer, die einen jungen Burschen hinter sich herschleiften. Sie schleuderten ihn mit dem Gesicht voran zu Boden, woraufhin seine Kappe herunterrutschte. Mary stupste ihn mit der Fußspitze an. »Dein Name?«

Ich konnte meine Erleichterung nicht länger verbergen, als er den Kopf hob.

»Eure Majestät, manche nennen mich Durot, aber Ihr kennt mich als Fitzpatrick.«

24

»Barnaby Fitzpatrick, der Diener meines Bruders?«, rief Mary.

Ich warf ein: »Eure Majestät, er tut sein Möglichstes, um Euch den Sohn des Herzogs, Lord Robert, vom Leib zu halten. Welche Nachricht er auch bringt, sie muss wichtig sein.«

Barnaby rappelte sich auf. In dem mit braunem Walnussöl eingeriebenen Vogelnest auf seinem Kopf kamen auch Strähnen in seiner natürlichen Haarfarbe zum Vorschein. Auf Marys Nicken hin meldete er: »Robert Dudley und seine Männer sind Euch dicht auf den Fersen. Ich bin als Späher vorausgeschickt worden, weil ein örtlicher Schafhirte Stein auf Bein geschworen hat, Euch in diese Richtung reiten gesehen zu haben. Eure Majestät haben weniger als eine Stunde, um noch zu entkommen.«

»Wo ist dein Beweis?«, forderte Rochester.

»Werter Haushofmeister«, schnappte Mary, bevor Barnaby antworten konnte, »Master Fitzpatrick hat meinem Bruder viele Jahre lang treu gedient. Für Edwards Vergehen hat oft genug er die Peitsche zu spüren bekommen. Ich benötige keine weiteren Beweise.«

Gefolgt von Huddleston, kehrte sie zum Tisch zurück. Eilig sammelte sie ihre Landkarte und die Dokumente ein und warf alles Huddleston zu. »Wir brechen nach Framlingham Castle auf. Das ist einer der Sitze der Howards. Sie sind Anhänger des wahren Glaubens. Wenn Gott mit mir ist, werde ich dort Unterstützer hinter mich scharen. Wenn nicht, ist es von dort nicht mehr weit zur Küste. Mylord Huddleston, Ihr müsst mitkommen. In Eurem eigenen Haus seid Ihr nicht länger sicher.«

So weiß wie die Papiere, die er an sich presste, hastete Huddleston hinter Rochester und den anderen Männern her, die schon, Befehle schreiend, aus dem Saal liefen. Während in dem Herrenhaus ein großes Durcheinander ausbrach, rief Mary mit herrischer Stimme: »Clarencieux! Finch!« Sogleich tauchten aus den hinteren Winkeln des Saals zwei Frauen mit einem Umhang und einem kleinen Mantelsack in den Händen auf. »Das sind meine treuen Dienerinnen«, erklärte Mary, während ihr die Frauen den Umhang über die Schultern legten. »Ihr müsst sie mit Eurem Leben verteidigen.«

Sie fragte uns nicht, wie es uns dabei erging, wenn uns eine solche Aufgabe auferlegt wurde. Im Geiste schon gekrönt, betrachtete sie es als Selbstverständlichkeit, dass wir gehorchen würden.

Wir folgten ihr in den Hof hinaus, wo Bedienstete in aller Eile Satteltaschen vollstopften. Peregrine hielt unsere Pferde bereit. Die Augen traten ihm schier aus den Höhlen, als er Barnaby aus dem Haus rennen und auf sein Ross springen sah. Während Rochester der Königin und ihren Damen beim Aufsteigen behilflich war, schwangen sich Huddleston und Marys männliche Diener allein auf ihre Tiere.

»Wir werden vielleicht noch jemanden brauchen, der uns verteidigt, bevor es Abend wird«, flüsterte Barnaby Peregrine und mir zu.

»Vielleicht auch nicht«, erwiderte ich. »Lord Robert wirkte nicht allzu frisch, als ich ihn zuletzt gesehen habe.«

Barnaby schmunzelte. »Ich habe schon gedacht, ich hätte im Gebüsch eine Ratte rascheln hören. Der Bart steht dir übrigens.«

»Eine in meinem neuen Gewerbe nötige Vorsichtsmaßnahme. Falls jemand fragen sollte: Ich bin Daniel Beecham aus Lincolnshire.« Ich klopfte ihm auf die Schulter – wir waren jetzt Freunde; da war die höfische Etikette nicht mehr so wichtig. »Das war eine ganz schön beeindruckende Stimme, die du da benutzt hast, Durot. Und die Art und Weise, wie du dir die Haare gefärbt hast – alle Achtung. Wie hast du es nur geschafft, in Dudleys Trupp aufgenommen zu werden?«

»Sagen wir es mal so: Ich bin von einem gewissen Earl angesprochen worden, und der hat mir eine Gelegenheit geboten, meinen König zu rächen. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich habe dafür gesorgt, dass Robert mich von Anfang an loswerden wollte. Hätte ich gesagt, die Königin sei in Frankreich, hätte er sie bestimmt in Brüssel gesucht. Da kam es ihm gerade recht, dass er mich als Späher vorausschicken konnte. Wahrscheinlich hat er gehofft, irgendein papistischer Meuchelmörder würde mich ihm für immer vom Hals schaffen.«

»Du bist tapfer. Und jetzt hast du mich schon zweimal gerettet. Das werde ich nie vergessen.«

»Bete nur dafür, dass kein drittes Mal nötig sein wird.« Barnaby blickte auf, und schlagartig wurde seine Miene ernst. »Eure Majestät, die Stunde wird nicht länger.«

Ich fuhr herum, und das Herz sackte mir in den Magen. Auf einem Hügel in der Ferne tauchten berittene Soldaten auf, die direkt auf das Herrenhaus zuhielten.

»Hier entlang!«, bellte Barnaby und lenkte sein Pferd in Richtung eines Grates. Flankiert von ihren Bediensteten, galoppierte Mary ihm hinterher. Noch waren Robert Dudley und seine Männer zu weit entfernt, um eine unmittelbare Gefahr darzustellen, doch während wir unter der sengenden Sonne den Gipfel erklommen und uns ein ums andere Mal den Schweiß aus dem Gesicht wischten, stellten wir fest, dass wir bei Weitem nicht schnell genug waren.

Die Frauen keuchten auf. Hinter uns stieg eine schwarze Rauchwolke in den Himmel. Das Herrenhaus, das wir gerade erst verlassen hatten, wurde niedergebrannt.

Huddleston, der an Marys Seite ritt, wurde kreidebleich. »Lasst es brennen«, riet sie ihm. »Ich baue Euch ein schöneres. Dafür habt Ihr mein Wort als Eure Königin.«

Huddlestons verstörte Miene verriet, dass er ihrem Versprechen nicht so recht traute.

Ich winkte Barnaby zur Seite. »Wir sind eine zu leichte Beute. Wir müssen uns trennen.«

Barnaby nickte. »Was schlägst du vor?«

»Du setzt den Weg mit Ihrer Majestät und dreien Ihrer Leute fort. Lass Peregrine die anderen über eine abweichende Route führen. So zwingen wir Robert und seine Männer, sich aufzuteilen. Je weniger hinter ihr her sind, desto größer ihre Chancen, Framlingham zu erreichen.«

»Guter Plan.« Barnaby zögerte. »Und was machst du

Ich bedachte ihn mit einem kalten Lächeln. »Ich habe eine überfällige Verabredung. Ich brauche deinen Bogen.«

Peregrine regte sich fürchterlich auf, ließ sich aber am Ende davon überzeugen, dass die Rettung seiner Königin es erforderte, bei seinen eigenen Vorstellungen zurückzustecken. Zu meiner Überraschung befürwortete Rochester meinen Vorschlag. Mary stimmte ebenfalls zu, bestand aber darauf, dass ich zu ihr zurückkehrte, sobald ich die Umgebung erkundet hatte. Letzteres war mein Vorwand gewesen, mit dem ich begründet hatte, warum ich zurückbleiben wollte. So galoppierten nun die zwei Gruppen in unterschiedliche Richtungen davon, die Königin und ihre Eskorte weiter ins Bergland hinein, Peregrine und seine Begleiter in Richtung Essex.

Ich selbst erklomm eine Anhöhe, wo ich Cinnabar weiden ließ. Bevor ich irgendetwas unternahm, betete ich für die Sicherheit der anderen, insbesondere der Königin, die ich mehr bewunderte, als es meinem Auftraggeber vielleicht recht war.

Ich entdeckte eine Ansammlung von Felsen, hinter denen man sich gut verbergen konnte. Dann konzentrierte ich mich wieder auf den verschlungenen Weg und zog vorsorglich einen Pfeil aus dem Köcher.

Es dauerte nicht lange. Gerade als dicke Wolken am Himmel aufzogen und die Sonne verdeckten, mühten sich vier Männer mit staubbedecktem, schweißnassem Gesicht den Pfad hinauf. Robert war nicht dabei. Den Grund dafür sollte ich bald erfahren. Einen Steinwurf von meinem Versteck entfernt stiegen die Männer ab, öffneten einen Weinschlauch und begannen zu reden. Offenbar setzten sie eine Debatte fort, die sie schon seit einiger Zeit führten.

»Er ist vom selben teuflischen Stolz durchdrungen wie sein Vater«, nörgelte einer. »Ich habe die Nase voll davon, dass die Dudleys, diese Emporkömmlinge, uns ständig herumkommandieren. Warum hat er nicht einfach jemand anders zu den Soldaten zurückgeschickt? Ich sag Euch den Grund: Er will sich nicht die Hände beschmutzen, falls Mary am Ende doch noch gewinnt und er plötzlich ihrer Gnade ausgeliefert ist. Soll er es doch allein machen, sag ich. Papistin oder nicht, Bastard oder eheliches Kind, sie ist immer noch unsere rechtmäßige Königin, gleichgültig, was Northumberland sagt. Vergesst nicht, dass der alte Henry den Vater des Herzogs wegen Hochverrats geköpft hat. Verrat liegt ihnen im Blut.«

Zwei seiner Gefährten grunzten zustimmend, spähten aber vorsichtig zu der gepflegten Gestalt hinauf, die in einigem Abstand auf dem Weg stand und die Nase in die Brise reckte, als ließe sich so Marys Fährte erschnuppern.

»Was sagt Ihr, Stokes?«, fragte einer.

Der Mann der Herzogin drehte sich mit wehendem Samtumhang um, sodass kurz das dunkelrote Futter zum Vorschein kam. »Ich denke, dass jeder von uns seinem Gewissen folgen muss, Master Hengate. Aber ich wette, dass Ihr nicht der Erste seid, der dieser Tage die Autorität der Dudleys infrage stellt.«

Hinter dem Felsbrocken versteckt, musste ich unwillkürlich grinsen. Bei ihm konnte man sich darauf verlassen, dass er auf die Neutralität seiner Herrin pochte. Die Herzogin war väterlicherseits Marys Cousine, und ihre Tochter war drauf und dran, sich Marys Krone aufzusetzen. Lady Suffolk konnte sehr viel verlieren, falls Mary am Ende doch noch triumphierte, unter anderem den eigenen Kopf.

Hengate starrte Stokes herausfordernd an. »Und Ihr? Was macht Ihr, wenn wir beschließen, nach Hause zurückzukehren und einfach abzuwarten, wie das Ganze endet?«

Stokes zuckte mit den Schultern. »Ich würde ebenfalls zurückkehren und meiner Herrin mitteilen, dass der Herzog einen neuen Spürhund benötigt. Demjenigen, den er ausgesandt hat, sind offenbar seine Fähigkeiten abhandengekommen.«

Die Männer brachen in dröhnendes Gelächter aus. Nach kurzem Zögern trottete Hengate zu seinem Pferd und schwang sich in den Sattel, ehe er zu Stokes sagte: »Falls Ihr uns verratet, sollt Ihr wissen, dass der Arm meines Herrn, Lord Pembroke, lang ist. Er wird Euch finden, gleichgültig, hinter wessen Röcken Ihr Euch verbergt.«

»Ich bin kein Informant«, schnaubte Stokes. »Was immer sich bei den Dudleys ereignet, betrifft mich nicht. Und meine Herrin ebenso wenig, das kann ich Euch versichern.«

»Sehr gut«, brummte Hengate, während seine Komplizen nun ebenfalls aufstiegen. »In Zeiten wie diesen ist es der geschmeidige Mann, der überlebt.« Damit rammte er seinem Tier die Fersen in die Seiten und stob, gefolgt von den anderen, davon. Zurück blieb Stokes, der mit der vornehm behandschuhten Hand vor seiner Nase wedelte, als wollte er einen störenden Geruch vertreiben.

Gerade traf er Anstalten, sich seinem träge herumstehenden Ross zuzuwenden, als mein Pfeil über seinen Kopf hinwegzischte. Er wirbelte herum und betrachtete die Felsbrocken mit einem Hochmut, den ich bei einem Mann in seiner Lage wirklich nicht erwartet hatte.

Ich trat vor. Im Gehen zog ich einen weiteren Pfeil aus dem Köcher und spannte ihn in den Bogen. Das war einer der wenigen Momente in meinem Leben, in denen ich die Gelegenheit hatte, das jahrelang Geübte tatsächlich anzuwenden. So war ich ganz und gar nicht enttäuscht, als Stokes vorsichtig zurückwich.

»Was wollt Ihr?«, fragte er. »Geld?« Er zog eine Börse unter seinem Gürtel hervor und warf sie auf den Weg zwischen uns. »Das müsste genügen.«

Ich schob meine Kappe zurück. »Erkennt Ihr mich denn nicht? So lange ist es doch nicht her!«

Er glotzte mich an. »Das … das kann nicht sein.«

Ich legte den Bogen an und richtete den Pfeil genau zwischen seine Schenkel. »Ich stelle mir vor, dass Euch ein stundenlanges Sterben bevorsteht, wenn ich Euch dort treffe.« Ich richtete den Pfeil höher. »Ich könnte ebenso zwischen die Augen schießen. Oder aber Ihr fangt an zu reden. Ihr habt die Wahl.«

Mit einem Knurren riss er seinen Degen aus der Scheide.

Ich schoss den Pfeil ab. Er traf Stokes im Oberschenkel. Heulend sank der Mann auf die Knie. Bleich vor Schock packte er den Pfeil am Schaft. Es floss kaum Blut. Ich trat auf ihn zu und drückte den Pfeil wieder fest in die Wunde. Den Schmerz in meiner Schulter ignorierte ich.

Während ich erneut zielte, schrie Stokes mit hassverzerrtem Gesicht: »Du Hurensohn! Du würdest einen wehrlosen Mann kaltblütig ermorden!«

Ich wartete. »Das ist schon mal ein guter Anfang. Ein Hurensohn. Bin ich das wirklich?«

»Ein Mörder bist du! Ich werde verbluten!«

»Nicht, wenn Ihr diesen Pfeil stecken lasst. Ihr braucht einen erfahrenen Chirurgen, der ihn Euch herausoperiert. Die Spitze hat einen Widerhaken. Ohne die richtige Pflege wird die Wunde schwären. Trotzdem sind Eure Aussichten zu überleben immer noch besser als die, die Ihr mir gelassen habt.« Ich senkte den Bogen. »Zurück zu meiner Frage: War meine Mutter eine Hure?«

»Das weiß ich nicht«, fauchte er, zitterte jedoch dabei.

»Ich glaube, das stimmt nicht.« Ich kauerte mich vor ihm nieder. »Die Herzogin schien es jedenfalls zu wissen. Sie hat das Muttermal an meiner Hüfte gesehen und war mit einem Mal gewillt, mich zu töten. Warum wünscht sie sich meinen Tod? Für wen hält sie mich?«

»Für wen genau?«, kreischte er und warf sich plötzlich mit einem gewaltigen Satz auf mich, sodass ich auf den Rücken fiel, er auf mir landete und der Pfeilköcher unter unserem Gewicht zerquetscht wurde. Mein Hinterkopf schlug auf dem Weg auf. Einen Moment lang zerschmolz die Welt um mich herum. Dann rammte ich ihm beide Knie in die Rippen und zerrte am Schaft des Pfeils. Kreischend ließ er von mir ab. Das aus der Wunde schießende Blut tat ein Übriges. Ich wälzte mich zur Seite und warf Stokes ab. Bevor er reagieren konnte, schnellte ich hoch und trat den Bogen aus seiner Reichweite. Mit gezücktem Dolch warf ich mich dann auf Stokes’ Rücken, sodass er nicht mehr hochkam. Wütend presste ich ihm die Klinge an die Kehle und drückte seine Wange in den Staub.

»Soll ich?«, zischte ich. »Soll ich Euch hier und jetzt abstechen und einfach verbluten lassen? Oder wollt Ihr mir sagen, was ich wissen will?«

»Nein! Nein! Bitte!«

Ich ließ ihn los. Keuchend blieb Stokes im Staub liegen. Aus seinem Bein sickerte Blut.

Mit einem Ruck drehte ich ihn auf den Rücken. Während ich die Klinge meines Dolchs an die Stelle hielt, aus der der Pfeil ragte, knurrte ich: »Ich verspreche Euch: Das wird wehtun. Und wenn ich die Spitze herausschneide, werden die Schmerzen schlimmer sein, als Ihr es Euch vorstellen könnt. Aber vielleicht sind sie weniger schlimm, wenn Ihr die Luft nicht anhaltet

Ich unterstrich meine Worte mit einem eisigen Lächeln. Schwarze Wut brach aus meinem Herzen hervor, eine plötzliche, unbeherrschbare Rachgier. Vor meinem inneren Auge sah ich erneut Stahl aufblitzen, sah ein verstümmeltes Wesen in sich zusammensacken. Eilig richtete ich mich auf und barg den Bogen.

Stokes starrte mich voller Entsetzen an, als ich einen unversehrt gebliebenen Pfeil entdeckte, in den Bogen legte und zielte. In panischer Angst wirbelte er herum – zu spät. Mit kalter Präzision schoss ich. Der Pfeil sirrte durch die Luft, verfehlte sein Ohr haarscharf und nagelte seinen aufgebauschten Umhang am Boden fest.

Sich heftig windend, zerrte er daran, in einem verzweifelten Versuch, sich von dem Pfeil zu befreien. »Ich gebe auf!«, kreischte er. »Ich sag dir alles, was du wissen willst. Schneid mich los, und scher dich dann zum Teufel!«

»Ich will eine Antwort auf meine Frage.«

Jäh stieß er ein irrsinniges Kichern aus. »Du Narr! Du bist völlig ahnungslos, was? Wir wollten dich ertrinken lassen und deine Leiche in den Fluss werfen, und du hättest nie erfahren, warum überhaupt.«

Ich presste die Zähne aufeinander. »Du wirst es mir verraten. Jetzt!«

»Na gut.« Pure Bosheit glomm in seinen verschlagenen Augen. »Du bist das letzte Kind der Herzogin Mary von Suffolk, der jüngsten Schwester von Henry dem Achten, die in ihrer Familie auch die Tudor-Rose genannt wurde. Dieses Muttermal, das du hast – du hast es von ihr geerbt, bist damit auf die Welt gekommen. Sie hatte es auch. Die Einzigen, die davon gewusst haben dürften, sind diejenigen, die mit der verstorbenen Herzogin eng vertraut waren.«

Mein Atem ging stoßweise. Ein Rauschen in meinen Ohren übertönte jedes Geräusch um mich herum. Während ich den Mann vor mir anstarrte, zogen in einer beängstigend präzisen Abfolge all die Ereignisse an mir vorbei, die mich zu dieser unfassbaren Begegnung hier und jetzt geführt hatten.

Mir stieg der Geschmack von Galle in die Kehle. »Soll das heißen, dass die Herzogin glaubt …?« Ich verstummte, brachte es nicht über mich, die Worte auszusprechen.

»Ich hab dir gesagt, was du wissen wolltest!«, rief Stokes hämisch. »Jetzt lass mich frei!«

Ich fühlte mich, als würde ich in ein bodenloses Loch stürzen, doch dann hob ich die Finger an meine Lippen und pfiff. Sofort trottete Cinnabar herbei. Aus der Satteltasche kramte ich Kates Salbe hervor und das Leinentuch, das sie für meine Schulter eingepackt hatte. Dann beugte ich mich über Stokes, zog ihm die blutverschmierte Hose herunter, schnitt den Pfeil am Schaft ab, trug die Salbe auf und versorgte die Wunde. Danach drehte ich den zweiten Pfeil aus Umhang und Boden heraus.

Ich blickte ihm in das aschfahle Gesicht. »Ihr braucht trotzdem noch einen Chirurgen, der Euch die Spitze herausschneidet. Seht zu, dass Ihr so schnell wie möglich einen findet. Sonst eitert die Wunde.« Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Kommt, ich helfe Euch auf Euer Pferd.«

Er glotzte mich an. »Du lauerst mir auf, um Pfeile auf mich abzuschießen, und jetzt hilfst du mir aufs Pferd? Dann bist du wirklich einer von ihnen! Du bist genauso verrückt wie der alte Henry selbst!«

»Still. Kein Wort mehr!« Ich packte seine Hand und riss ihn hoch. Er schrie auf, als ich seinen Fuß in den Steigbügel hob und ihn in den Sattel stemmte. Benommen ergriff er die Zügel und zog kräftig daran.

Schon wieder der Hochmut in Person, wendete er das Pferd zu mir herum. Ich stellte mich seinem bösartigen Blick, in dem Wissen, dass er sich anschickte, mir eine Wunde zuzufügen, die noch viel tiefer war als alles, was ich mit einem Pfeil auszurichten vermochte.

»Deine Mutter«, sagte er voller Häme, »ihre Mutter – sie hat dich heimlich auf die Welt gebracht, ehe sie am Kindbettfieber gestorben ist. Sie hatte keiner Menschenseele etwas von ihrer Schwangerschaft verraten, außer ihrer ältesten Tochter, der sie traute. Sie war verrückt vor Angst. Sie flehte ihre Tochter an, das Geheimnis zu wahren. Und sie verbarg ihre Schwangerschaft vor allen, sogar vor ihrem Mann, der damals fast das ganze Jahr am Hof verbrachte. Aber irgendetwas muss in diesen letzten Stunden geschehen sein. Mary von Suffolk muss sich der Hebamme anvertraut und etwas geäußert haben, das bei ihr Verdacht erregte, denn meiner Herrin wurde später mitgeteilt, du wärst eine Totgeburt gewesen. Sie lebte damals am Hof und gab den Befehl aus, dass man deine Leiche beseitigen und die Angelegenheit vertuschen solle. Hätte sie gewusst, dass du noch am Leben warst, wäre sie auf der Stelle den ganzen Weg von Whitehall hergeritten und hätte dich höchstpersönlich erdrosselt. Verstehst du, du könntest ihr alles nehmen – Landgut und Titel, ihren Rang am Hof und in der Thronfolge. Du bist der Sohn, den Charles Brandon sich ersehnt hatte, der Erbe des Herzogtums Suffolk. Denk gefälligst daran, wenn du das nächste Mal wieder einen Stall ausmistest.«

Seltsam frei von jedem persönlichen Gefühl erwiderte ich: »Beim nächsten Mal verteile ich keine Almosen.«

»Ich auch nicht«, entgegnete er. »Und wenn ich du wäre, würde ich zusehen, dass es kein nächstes Mal gibt. Denn sollte sie je herausfinden, dass du noch lebst, wird das für dich viel schlimmer sein als für mich.«

Damit wirbelte er herum und galoppierte davon.

Allein auf der Straße zurückgelassen, mit Blut bespritzt, sank ich auf die Knie.

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