Über der Themse bildeten Nebelschwaden einen flüchtigen Schleier. Doch da die Vormittagssonne schon jetzt einen goldenen Glanz auf das Gewimmel und Gedränge von London warf, versprach der Tag, heiß zu werden.
Es war ein kurzer Ritt von eineinhalb Tagen gewesen. Auf lange Pausen hatte ich verzichtet. Unterwegs hatte ich nicht nur die Hauptwege, sondern auch alle größeren Siedlungen gemieden. Diskrete Befragungen hatten ergeben, dass sämtliche Städte voller Anhänger der Königin waren und man in Erwartung des Herzogs die Tore verrammelt und mit Soldaten bemannt hatte. Wie stets, wenn eine Situation in Chaos münden konnte, wimmelte es auf den Straßen von Gesindel. Da war ein einsamer Reiter eine leichte Beute. So hatte ich in der Nacht vorsichtshalber Zuflucht in einem Wald gesucht und meine Reise noch vor der Morgendämmerung fortgesetzt.
Jetzt stand ich auf der Kuppe eines Hügels, ein Aussichtspunkt, von wo aus ich einen guten Blick auf den Ort hatte, in dem alles angefangen hatte. War es wirklich erst elf Tage her, dass ich diese Stadt erstmals mit den Augen eines ehrfürchtigen Jungen erblickt hatte, der darauf brannte, sein Glück zu machen? Und jetzt bereitete sie mir ein flaues Gefühl in der Magengrube. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich danach verzehrt zu wissen, wer ich war und woher ich kam. Dennoch sehnte sich ein Teil meiner selbst danach, umzukehren, mich im gewöhnlichen Leben zu verlieren, eine Welt zu vergessen, in der von königlichen Frauen geborene Söhne verlassen wurden und Männer Könige opferten, um ihren Ehrgeiz zu befriedigen. Jetzt wusste ich, dass die Antworten, die ich in London zu finden gehofft hatte, mir nichts offenbaren würden, was ich hören wollte.
Das Schicksal lächelt oft den am wenigsten Begünstigten.
Ich stieß ein humorloses Lachen aus. Allem Anschein nach hatte das Schicksal Humor, denn ich, der am wenigsten Begünstigte, war für mehr Menschen verantwortlich, als es mir eigentlich zustand. Und einer davon näherte sich mir ausgerechnet in einem Moment, da ich in der Stille auf meinem Pferd saß und in Erwägung zog, vor meiner eigenen Wahrheit zu fliehen.
Ich wartete, bis ich erneut das verräterische Rascheln hörte, dann sagte ich, ohne mich umzusehen: »Verstecken hat keinen Zweck mehr. Seit Bury Saint Edmunds weiß ich, dass du mir folgst.«
Gedämpftes Huftrappeln war zu vernehmen, ehe Peregrine vorsichtig aus dem Schatten auftauchte. Er trug seinen Kapuzenumhang. Ich registrierte die Stofffetzen, die er um die Hufe seines Pferdes, die Zügel, das Zaumzeug, die Steigbügel, ja sogar um die Klinge seines Degens gewickelt hatte – kurz, um alles, was ein Geräusch verursachen konnte. Der Bursche verstand sich auf mehr Kniffe als ein Hausierer.
»Das kannst du unmöglich gemerkt haben«, beklagte er sich. »Ich habe immer darauf geachtet, dass ich mindestens fünfzehn Schritte hinter dir bleibe, und Deacon hat wirklich einen leichten Tritt.«
»Das schon, aber du vergisst, dass Pferde, die sich kennen, alle möglichen Signale von sich geben, wenn sie das andere in ihrer Nähe spüren. Cinnabar wäre gestern Abend um ein Haar durchgegangen und in die Schlucht galoppiert, wo du dich versteckt hast. Du hättest dich zu mir setzen sollen. Es gab Kaninchen zum Abendbrot.«
»Sicher, und du kannst von Glück reden, dass dein Feuer nicht jeden Wilddieb dazu eingeladen hat, es dir abzujagen«, konterte Peregrine. Er zögerte. »Du bist mir doch nicht böse?«
Ich seufzte. »Nur ernüchtert. Ich hatte Barnaby gebeten, auf dich aufzupassen.«
»Mach ihm keine Vorwürfe. Er hat sein Bestes getan. Er hat mir eingeschärft, dass ich dir unter keinen Umständen folgen darf. Er meinte, du hättest eine private Angelegenheit zu erledigen, und wir müssten deine Entscheidung respektieren.«
»Dann bin ich ja froh, dass du mir solchen Respekt zollst!« Die Augen mit einer Hand abschirmend, spähte ich über den Weg. »Mich wundert, dass er nicht dicht hinter dir ist. So, wie ihr zwei mich bemuttert, müsst ihr ja glauben, dass ich nicht in der Lage bin, einen Fuß vor den anderen zu setzen.«
»Ich wollte nicht zulassen, dass du mich noch einmal zurücklässt.« Peregrine straffte seine schmalen Schultern. »Du bist auf Hilfe angewiesen, und zwar auf jede, die du bekommen kannst. Schon bevor wir nach Greenwich aufgebrochen sind, habe ich dir gesagt, dass du allein nichts wert bist und dir nichts als Ärger einhandelst.«
»Glaubt Barnaby das auch?«
Peregrine nickte. »Er wollte dir selbst nachreiten. Aber ich habe ihm klargemacht, dass es besser ist, wenn bloß ich dir folge. Mich vermisst niemand; Barnaby dagegen hätte Rochester um Erlaubnis bitten müssen, und der entlässt einen bärenstarken Kerl wie ihn bestimmt nicht aus den Diensten der Königin, schon gar nicht, wenn der Herzog ihr auf den Fersen ist.«
»Das stimmt. Aber du hättest trotzdem auf ihn hören sollen. Du hast keine Ahnung, was du riskierst!«
»Das ist mir gleichgültig.« Aus Peregrines Augen sprach tiefer Ernst. »Ich bin dein Leibdiener, richtig? Wo du auch hingehst, ich begleite dich. Schließlich muss ich mir meinen Unterhalt verdienen.«
Ich konnte mir mein Lächeln nicht länger verkneifen. »Bei Gott, du bist so stur wie ein Bär im Burggraben und stinkst fast genauso erbärmlich. Wie konnte ich mir nur ein derart hartnäckiges Ungeziefer zulegen?«
Peregrine verzog das Gesicht und hatte schon eine Erwiderung auf der Zunge, als ich einen Vogelschwarm aufgeschreckt durch die Luft flattern sah. Ich wandte mich in Richtung Stadt um. Von dort näherte sich eine Staubwolke. »In Deckung!«, zischte ich. Sofort gaben wir unseren Rössern die Sporen und jagten zu einem nahe gelegenen Dickicht. Hinter dem Gestrüpp glitten wir von den Pferden, ohne das Zaumzeug aus den Händen zu lassen. Wir wagten kaum zu atmen. Ein gewaltiges Donnern kam näher und näher. Es erinnerte mich an die Nacht, als wir am Straßenrand gesessen und Robert Dudley mit seinen Männern beim Vorbeireiten beobachtet hatten. Nur war das Getöse diesmal ungleich lauter und bedrohlicher und schien von einem Ungeheuer mit metallenen Füßen zu stammen, die auf die Straße einhämmerten. Es brachte die Luft um uns herum zum Vibrieren.
Als Erste tauchten die Standartenträger auf. Sie reckten die mit dem Bären und dem Stab geschmückten Banner der Dudleys in die Höhe. Ihnen folgte auf den mit Leder bedeckten Pferden die Kavallerie, die Schwerter und Bögen an die Sättel geschnallt. Dann marschierten die Fußsoldaten, Linie um Linie im Kettenpanzer, dazwischen fuhren die von Ochsen und Maultieren gezogenen Karren; ich entdeckte die wuchtige Form von Kanonen unter Planen und nahm an, dass diese Karren noch eine ganze Reihe anderer, ebenso tödlicher Waffen transportierten.
Schließlich erblickte ich die Fürsten hoch zu Ross. Jeder in seiner Kampfrüstung und mit einem Tuch in seinen Farben über den Schultern, ritten sie hinter dem Herzog einher, der trotzig die Spitze bildete und sich mit seinem gewagten karmesinroten Umhang von allen abhob. Eine Kappe hatte er nicht aufgesetzt. Dunkles Haar umrahmte sein granithartes Gesicht, das mir sogar aus der Entfernung verriet, dass es binnen Tagen gealtert sein musste.
An seiner Seite ritten drei seiner Söhne – Henry, Jack und Ambrose, alle in kriegerischem Glanz herausgeputzt. Und in all den Jahren, die ich sie kannte – die Brüder, die ich gefürchtet und gehasst, die ich um ihren Zusammenhalt beneidet hatte –, erlebte ich heute zum ersten Mal, dass sie nicht lachten. Wie schon Robert vor ihnen begriffen sie, dass sie sich anschickten, das höchste Tabu zu brechen und eine Tat zu begehen, die ihnen entweder den größten Triumph bescheren oder in einer Tragödie für sie und ihre Familie enden würde.
In strenger Ordnung ritt sie vorüber, diese Armee, die sich zusammengefunden hatte, um Mary Tudor zu bezwingen. Ich stand immer noch schweigend da, als sie längst verschwunden war. Völlig unerwartet quälte mich ein schlechtes Gewissen. Noch nie hatten die Dudleys sich um andere geschert. Mit dem größten Vergnügen würden sie die zwei Prinzessinnen und all ihre freiwilligen Helfer in den Tod schicken. Da konnte es doch in meinem Herzen keinen Raum für Mitleid geben, selbst wenn der Herzog und seine Söhne an dem einen Verbrechen keine Schuld trugen, das zu rächen mein glühendes Verlangen war. Und da Northumberland nun weit fort von London gezogen war, bot sich mir eine Möglichkeit, die ich nicht ignorieren konnte. Ich sprang auf Cinnabar und trieb ihn zurück auf die Straße, über der immer noch Schleier von Staub wehten.
»Wo geht es hin?«, erkundigte sich Peregrine, als wir auf London zugaloppierten.
»Zu einer alten Freundin«, antwortete ich. »Weißt du übrigens, wie man in den Tower hineinkommt?«
»Der Tower!«, rief Peregrine, sobald wir den Kontrollpunkt beim Stadttor Aldgate passiert hatten, was die Verteilung des größten Teils der Goldmünzen aus Walsinghams Geldbeutel erfordert hatte. »Bist du wahnsinnig geworden? Da können wir unmöglich rein! Das ist eine königliche Festung, falls dir das noch nicht zu Ohren gekommen ist.«
»Doch, ja, davon habe ich schon gehört. Aber ich muss hinein. Ich habe einen Brief zu überbringen.«
Peregrine ließ die Luft aus den Mundwinkeln entweichen. »Die mächtigste Festung von ganz England, und du musst einen Brief überbringen. Warum klopfen wir nicht einfach ans Tor? Das Ergebnis wird dasselbe sein. Oder hast du noch nie das geflügelte Wort gehört: ›Bist du einmal dort drin, kommt nur noch dein Kopf raus‹? So langsam glaube ich, dass du wirklich viel von einem Einhorn hast.«
Ich blieb stehen. »Einem was?«
»Ein Einhorn. Ein Fabeltier. Ein Hirngespinst.«
Ich warf den Kopf zurück und lachte, dass es mich förmlich schüttelte. Mit einem Schlag fühlte ich mich unendlich viel besser. »Den Witz habe ich noch nie gehört. Er gefällt mir.«
»Wetten, dass dir der Spaß vergeht, wenn du in einem Verlies in Ketten liegst und sie dir dein Horn abschneiden. Wir können nicht in den Tower und wieder ins Freie gelangen, ohne uns ordentlich auszuweisen. Vergiss, dass du das überhaupt versuchen wolltest. Weißt du irgendeinen anderen Ort, an dem du es stattdessen probieren könntest?«
»Nein. Aber du hast mich auf etwas gebracht.« Ich lächelte immer noch, als wir Cheapside erreichten. In den Straßen herrschte gespenstische Stille; die geschlossenen Fensterläden hatten die Tavernen überall in Bastionen verwandelt. Weit und breit war niemand zu sehen, bis auf eine einsame Bettlerin, die zu ausgemergelt war, um von der Haustür fortzukriechen, vor der sie sich niedergekauert hatte. Ganz London hockte hinter verschlossenen Türen, als wartete die Stadt auf einen Schicksalsschlag.
»Wir sollten die Pferde in einem Stall unterstellen und zum Fluss laufen«, schlug Peregrine vor. »So sind wir zu auffällig. Außer uns ist niemand unterwegs. Wenn uns eine Patrouille bemerkt, werden wir verhaftet.«
»Du wirst mir meine Abneigung gegen Wasser sicher verzeihen«, erwiderte ich, während wir einer hinter dem anderen den Uferweg entlangritten, wo es leichter war, den Abwasserrinnen und Abfallhaufen – wenn auch nicht der unvermeidlichen Jauche – auszuweichen.
Als ich in der Ferne die Türme von Whitehall erspähte, zügelte ich Cinnabar. »Wie komme ich zu Cecils Haus?«
Peregrine verzog argwöhnisch das Gesicht. »Glaubst du, dass er noch daheim ist?«
»O ja.« Meine Stimme wurde härter. »Und jetzt hör mir zu. Ich will, dass du dich von nun an genau an das hältst, was ich dir sage. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Wenn du mich ärgerst, binde ich dich fest. Das hier ist kein Spiel, Peregrine. Der kleinste Fehler könnte unseren Tod bedeuten.«
»Ich verstehe.« Er wedelte untertänig mit der Hand. »Hier entlang, mein Herr und Gebieter.«
Erneut führte er mich in das Labyrinth aus verwinkelten Gassen. Die Ahnung, dass eine Katastrophe bevorstand, war schier mit Händen zu greifen. Sie lauerte in den dunklen Nischen, wo sich die Häuser aneinanderlehnten wie Betrunkene. Ich atmete erleichtert auf, als wir eine breite Straße erreichten, die zum Palast führte. Aber auch hier war zu meiner Verblüffung alles verlassen. Ich kam mir vor wie in einem Märchen, in dem alles Leben durch einen Zauber erstarrt war.
Als wir uns unserem Ziel näherten, ließ ich Peregrine mit strengen Anweisungen bei den Pferden zurück und wanderte allein weiter. Da eine hohe Mauer das Haus umschloss, versuchte ich mein Glück am hinteren Tor. Es war nicht abgesperrt. Während ich die Eingangstür suchte, zückte ich meinen Dolch. In einem Duell Mann gegen Mann würde er mir nicht viel nützen, aber der Bogen, den Barnaby an Cinnabars Sattel geschnallt hatte, wäre bei einem Kampf auf engem Raum hinderlich gewesen.
Ich spähte zu den Fenstern hinauf. Das Haus wirkte so verlassen wie der Rest der Stadt. An der Seite befand sich ein kleines Tor. Ich sprang darüber und landete auf weicher Erde. Ich stand im Garten, der zu einem privaten Bootssteg im Schatten von Weiden führte. Wie ich vermutet hatte, war dort ein Ruderboot vertäut. Im Bug kauerte der Bootsmann und trank in tiefen Zügen aus einem Ale-Schlauch.
Ich wandte mich ab und schlich auf das Haus zu. Am hinteren Eingang entdeckte ich einen Kleidersack, der zwischen Schwelle und Tür geklemmt war, sodass sie nicht zufallen konnte. Anscheinend war jemand hastig hin und her gelaufen. Darüber erkannte ich das Butzenfenster von Cecils Kontor. Gegen die Wand gepresst, tastete ich mich weiter vor und reckte mich, um ins Innere spähen zu können.
Als ich die Gestalt im Innern Kassenbücher vom Tisch nehmen und in eine Tasche stecken sah, kehrte ich zur Tür zurück und schlüpfte ins Haus hinein.
Das Innere war in Düsternis gehüllt. Vorsichtig, immer wieder nach links und rechts schielend, näherte ich mich der offenen Tür am anderen Ende des Flurs. Plötzlich knarzte eine Bodendiele unter mir. Ich erstarrte. Würden sich jetzt gleich brutale Wächter auf mich stürzen? Doch nichts geschah, und ich schlich weiter, bis ich nahe genug war, um einen Blick in den Raum werfen zu können.
Cecil stand mit dem Rücken zur Tür. Bekleidet war er mit seiner schwarzen Reithose und einem Wams. Über der Stuhllehne hing ein Reiseumhang. Seine Tasche stand auf dem Pult. Er war gerade im Begriff, sie zu schließen, als er plötzlich verharrte. Ohne sich umzusehen, sagte er: »Das ist aber eine Überraschung.«
Ich trat über die Schwelle.
Er wandte sich zu mir um und bemerkte den Dolch in meiner Faust. »Seid Ihr gekommen, um mich zu töten, Junker Prescott?«
»Das sollte ich eigentlich«, knurrte ich. Jetzt, da ich dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, der geschickt wie ein begnadeter Puppenspieler mit allen anderen gespielt und sie nach Belieben ausmanövriert hatte, dröhnte mir das Herz laut in den Ohren. Ich blickte mich im Zimmer um. »Seid Ihr allein? Oder muss ich erst Euren Totschläger aus dem Weg räumen?«
Er bedachte mich mit einem dünnen Lächeln. »Wenn Ihr damit Walsingham meint, kann ich Euch versichern, dass die Lage für einen wie ihn mit seinen festen Überzeugungen zu gefährlich geworden ist. Ich könnte mir vorstellen, dass er inzwischen auf dem Weg nach Dover ist, um dort eine Überfahrt zum Festland zu buchen. Ich hätte ihn ja begleitet, müsste ich nicht auch an das Wohlergehen meiner Familie denken.«
»Was? Rückt Euch Königin Mary zu nahe für Euer Wohlbehagen?«
Sein Lächeln flackerte nicht. »Allerdings. Mehr noch, ich wollte gerade mit meinem Boot zur Brücke fahren und dort ein Pferd für den Ritt nach Hertfordshire mieten. Das ist nicht weit entfernt vom Gut Ihrer Hoheit in Hatfield.« Er hielt inne. »Hättet Ihr nicht Lust, mich zu begleiten? Sie wird Euch nach allem, was Ihr für sie getan habt, mit Freuden empfangen, habe ich mir sagen lassen.«
Jetzt flammte mein lange unterdrückter Zorn auf. »Wagt es bloß nicht, mit mir zu spielen! Nicht nach allem, was Ihr getan habt!«
Er musterte mich, ohne irgendwie zu erkennen zu geben, dass ich ihn verwirrt hatte. »Ihr habt offenbar ein Hühnchen mit mir zu rupfen. Kommt, setzen wir uns und sprechen miteinander wie Gentlemen.« Er beugte sich über seine Tasche, als wollte er sie zur Seite schieben.
Ohne zu zögern sprang ich nach vorn und presste ihm die Spitze meines Dolchs so fest gegen die Brust, dass ich die Rippen durch das Wams spüren konnte. »An Eurer Stelle wäre ich vorsichtig. Ich brauche keinen weiteren Grund, um Euch bedauern zu lassen, dass Ihr mir über den Weg gelaufen seid.«
Er erstarrte. »Das würde ich nie bedauern. Darf wenigstens ich mich setzen? Die Gicht macht mir gelegentlich zu schaffen; das Bein bereitet mir heute Schmerzen.«
Trotz allem musste ich seine Ruhe bewundern. Ja, fast hoffte ich, ich wäre nicht zum Handeln gezwungen. Um die Wahrheit zu sagen, war ich mir gar nicht sicher, ob ich meine Drohung würde ausführen können, zumal jetzt auch noch mein anfänglich rasender Zorn allmählich verebbte und sich gut beherrschen ließ. Ich war nicht wie Cecil. Es bereitete mir keinerlei Freude, Ausflüchte, verschachtelte Pläne und einen Winkelzug nach dem anderen zu ersinnen. Doch ich war auf eine Zusammenarbeit mit ihm angewiesen, falls ich jemals den letzten Grund dafür entdecken wollte, warum wir beide uns in dieser Situation wiederfanden.
»Mir ist nicht klar, was ich getan habe, um Euch so zu kränken«, begann er, die Hände auf die Armlehnen gestützt, als spräche er mit einem Gast. »Ich bin genauso wenig ein Verräter wie alle anderen Ratgeber, die gezwungen wurden, den Herzog gegen die Königin zu unterstützen.«
Ich blickte ihm in die kühl abschätzenden Augen. »Mein Geschäft mit Euch ist rein privater Natur. Ich werde es Ihrer Majestät überlassen, jedwede Strafe zu verhängen, die ihr angemessen erscheint.«
»Ah! Dann muss ich sagen, Ihr bleibt Eurem Charakter erstaunlich treu. Ihr glaubt, dass Mary Unrecht getan wurde und dass ich dabei die Hände im Spiel hatte.«
»Würdet Ihr denn leugnen, dass Ihr dem Herzog die Information geliefert habt, die er benötigte, um sie verfolgen zu können? Oder war es purer Zufall, dass Lord Robert auf derselben Straße geritten ist wie ich und dann auch noch zur selben Zeit?«
Cecil lehnte sich zurück und schlug die mit der schmucken schwarzen Hose bekleideten Beine übereinander. »Ich leugne nicht, dass ich ihn in die richtige Richtung geschoben habe. Andererseits habe ich kein Sterbenswörtchen von mir gegeben, als ich hörte, wie Lord Arundel Durot – oder vielmehr unseren tapferen Fitzpatrick – damit beauftragte, Lord Roberts Begleitung zu infiltrieren, obwohl ich wusste, dass er die Jagd hintertreiben konnte. Ihr seht also, ich bin nicht zur Gänze Marys Feind.«
In meinen Ohren klang seine Stimme wie Sirenengesang – beruhigend, melodisch und nur allzu überzeugend. Noch vor wenigen Tagen hätte ich mich davon betören lassen.
»Ihr lügt! Mary ist die Letzte, die Ihr auf dem Thron sehen wollt. Gegen sie habt Ihr ebenso emsig wie gegen den Herzog gearbeitet. Wäre es nach Euch gegangen, wäre sie auf der Straße verhaftet oder, besser noch, auf der Flucht getötet worden. Das sah Euer Plan vor. Zu ihrem Glück war sie nicht so leichtgläubig, wie Ihr dachtet.«
»Ich habe nie verhehlt, wem meine eigentliche und höchste Treue gilt.« Sein Blick ruhte auf meiner Hand, die sich immer fester um das Schwert schloss. »Ihr müsst wissen, dass Ihre Hoheit unabhängig von dem, was Ihr vielleicht glaubt, meiner nun mehr bedürfen wird als bisher. Sie und Mary stehen sich nicht so nahe, wie Schwestern das sollten.«
Erneut griff er nach seiner Tasche. »Finger weg!«, blaffte ich.
Er verharrte. »Ich werde meine Brille und das Zifferrad brauchen. Ich nehme an, dass der Brief, den Ihr überbringt, in ihrem üblichen Code verfasst ist? Ihr müsst sie sehr beeindruckt haben, denn sie vertraut ihre private Korrespondenz niemals Fremden an.«
Er wusste, dass ich einen Brief für ihn dabeihatte! Mich beschlich das beunruhigende Gefühl, dass ich mich mit jemandem duellierte, der mir in jeder Hinsicht überlegen war und jedes Manöver, seine Pläne zu durchkreuzen, abwehrte. Verwirrt versuchte ich, aus all dem, was ich empfand, sah und hörte, schlau zu werden, die Einzelteile herauszunehmen und auf eine unausgesprochene Botschaft hin zu analysieren. Als mir das schließlich gelang, hätte ich beinahe über meine eigene Naivität laut aufgelacht: dass ich jemals hatte glauben können, ich hätte alles herausgefunden, was es über diesen hintergründigen, undurchschaubaren Mann zu wissen gab!
»Das wart Ihr! Ich habe zufällig belauscht, wie Lady Dudley Robert erzählte, dass irgendjemand am Hof Mary Informationen zukommen ließ; Walsingham hat dasselbe vermutet. Und Ihr habt Mary mit Eurer Warnung die Flucht ermöglicht. Und dann habt Ihr Robert auf ihre Fährte gesetzt. Aber mit der Warnung an Mary hattet Ihr schon vorher für Euren eigenen Schutz gesorgt. Auf Framlingham hat sie mir gesagt, Ihr würdet schon wissen, was getan werden müsse. Damals hielt ich das für eine Drohung, aber es war keine, nicht wahr? Sie wird Euch verschonen, weil sie glaubt, Ihr hättet sie vor dem Herzog gerettet.«
In Cecils Stimme klang Belustigung durch. »Ich kann wohl kaum den Ruhm ganz allein beanspruchen. Soviel ich weiß, hat ihre Cousine, die Herzogin von Suffolk, ihr ebenfalls eine Verlautbarung gesandt, in der sie ihr alle möglichen Arten von schmutzigen Vorgängen am Hof schilderte. Allem Anschein nach hat Madame Suffolk offene Rechnungen mit den Dudleys zu begleichen.«
Es überraschte mich keineswegs, von den Machenschaften der Herzogin zu erfahren. Sie hatte schließlich Rache geschworen. Wie konnte sie diese besser üben, als Übereinstimmung mit den Dudleys vorzugeben, während sie heimlich ihre königliche Cousine zu Gegenmaßnahmen anstachelte?
Aber sie verfolgte natürlich auch noch diese andere Angelegenheit, die der Hauptgrund für mein Kommen war. Ich beobachtete Cecil aufmerksam, als er hinzufügte: »Wie gesagt, ich bin nicht zur Gänze ihr Feind.« Er fingerte an dem Zifferrad herum. »Ach Gott, sie benutzt stets dieselbe Zahl. Wie oft habe ich ihr geraten, sich eine neue einfallen zu lassen, aber sie hört ja nie auf mich. Eine der wenigen Eigenschaften, die sie mit ihrer Schwester gemeinsam hat.«
Er griff erneut in seine Tasche und zog eine Brille mit silbernem Rahmen heraus. Dann streckte er die Hand aus. »Das Schreiben bitte.«
Ich reichte es ihm. Kalte Gewissheit begann, durch meine Blutbahnen zu sickern. Dieser Mann war tatsächlich ein meisterhafter Opportunist, ein Experte für irreführende Spiele. Was immer ich ihm zutraute, dass er es getan hatte oder im Begriff stand, es zu tun, es offenbarte nur eine weitere Schicht von Täuschungen.
Schweigend las er Marys Brief und warf nur hin und wieder einen Blick auf das Zifferrad in seiner anderen Hand. Als er fertig war, nahm er seine Brille ab und legte Papier und Rad beiseite.
»Und?«, fragte ich. Irgendwie spürte ich eine schwer zu erklärende Veränderung in dem Raum.
»Auch sie bleibt ihrem Charakter treu.« Er hob die müden Augen zu mir. »Sie befiehlt, dass der Kronrat, bevor er überhaupt daran denkt, sie um Gnade zu bitten, zuallererst sie unter Ausschluss aller anderen Anspruchsteller zur Königin ausrufen muss. Außerdem warnt sie all jene, die es versäumt haben, ihre Unterstützung anzubieten; sie sollen sich schleunigst vom Hof entfernen. Diejenigen, die bleiben, müssen ihre Treue damit beweisen, dass sie den Herzog, seine Söhne und auch Jane Grey in Haft nehmen. Sie droht mit den üblichen Strafmaßnahmen, wenn ihr der Gehorsam verweigert wird. Nicht dass das der Fall sein wird. Jeder weiß, dass die Würfel gefallen sind.«
»Ihr werdet Eure Schäfchen schon ins Trockene bringen«, meinte ich, doch meine Ironie drückte keine Befriedigung aus. Im Magen verspürte ich ein schreckliches Beben, die sich verdichtende Erkenntnis, dass ich mich bei der Beurteilung Cecils getäuscht hatte.
»Glaubt Ihr das wirklich?«, fragte er mit einem wehmütigen Kopfschütteln. »Ich mag ihr ja dazu verholfen haben, dem Herzog stets einen Schritt voraus zu sein, aber glaubt nicht einen Moment lang, sie würde je vergessen, dass ich diesem Mann gedient habe. Für mich wird es an ihrem Hof keinen Platz geben.« Er seufzte. »Gleichgültig. Das Leben auf dem Lande behagt mir auch, und es ist an der Zeit, dass ich mich von alldem hier entferne.«
»Sie wird Euch verbannen?« Auf einmal empfand ich tiefe Enttäuschung. Cecil war kein Mann, den ein kluger Monarch außer Acht lassen sollte. Seine Fähigkeiten als Spion machten ihn zu einem Trumpf oder einer Belastung – je nach den Umständen.
»Sie wird es nicht direkt sagen, aber sie weiß, dass ich keine Wahl habe. Sie wird keinem von den Männern trauen, die dem Herzog oder ihrem Bruder gedient haben. Eigentlich sollte ich dankbar sein, denn anders als die übrigen Herren brauche ich mir nicht die Hände damit zu beschmutzen, dass ich meinen ehemaligen Auftraggeber in den Kerker bringe.«
Diese Hände hatten sich bereits verändert, wie mir auffiel. Die Tintenflecken unter den Nägeln waren verblasst, als hätte er schon damit begonnen, die Haut seiner letzten Rolle abzuwerfen.
»Wäre diese Geschichte anders verlaufen«, fuhr Cecil fort, »hätten wir ziemlich schnell sie in denselben Kerker gebracht. Verbannt zu werden ist wirklich ein Glück, wenn man bedenkt, dass nicht wenige Köpfe rollen werden, bevor alles vorbei ist.«
Mit seinem Werben um Anteilnahme beging er einen Fehler. Ich lächelte. Mary hatte ihn nicht verschmäht. Sie hatte ihn durchschaut. Und jetzt war es für mich an der Zeit, meinen eigenen Würfel zu werfen.
»Aber nicht Euer Kopf. Dafür habt Ihr schon vorgesorgt, nicht wahr? Niemand kennt das Ausmaß Eurer Verwicklung.«
Diesmal bemerkte ich voller Zufriedenheit, wie sich die Haut um seinen Mund straffte.
»Wenn Ihr Mary nicht die Ohren mit Unsinn vollgedröhnt habt – ja«, entgegnete er.
»So tief würde ich nie sinken. So schwer es Euch auch fallen mag, Euch das vorzustellen, Ihre Majestät ist völlig unschuldig und ahnungslos, was Eure Person betrifft.«
»Ihr solltet Euch nicht von Ihrer Aura jungfräulicher Rechtschaffenheit blenden lassen. Sie ist eine Feindin unseres Glaubens, und ihre Thronbesteigung ist eine Tragödie für all jene, die dafür gekämpft haben, England zu höherem Ruhm zu führen.«
»England?«, fragte ich. »Oder nicht doch eher Cecil? Oder läuft für Euch beides auf dasselbe hinaus?«
»Ich versichere Euch, ich war bestrebt, allein Ihrer Hoheit zu dienen.«
Ohne Vorwarnung flammte mein Zorn wieder auf wie ein akutes Fieber. Lügen und noch mehr Lügen – das hörte wohl nie auf. Kein Zweifel, er würde sich bis zu seinem Grab durchschwindeln.
Schluss damit! Ich würde den gottverdammten Heuchler schon noch dazu bringen, die Wahrheit zu sagen!
»Ist das der Grund, warum Ihr Ihre Hoheit an den Hof habt kommen lassen?« Ich näherte mich seinem Stuhl. »Obwohl Ihr wusstet, dass sie damit ihr Leben aufs Spiel setzte? Ist das der Grund, warum Ihr sie nicht gewarnt habt? Weil Ihr bestrebt wart, ihr zu dienen?«
Die Veränderung war unverkennbar. Cecil wäre auf seinem Stuhl zurückgeprallt, hätte er die Reflexe eines normalen Menschen gehabt, der es nicht gewohnt war, seine Reaktionen in jeder Lebenslage zu beherrschen.
»Ihr vergesst, dass ich ihr sehr wohl geraten habe, darauf zu verzichten«, sagte er in gemessenem Ton. »Ich habe sie sogar mehrmals vor der Gefahr gewarnt, aber sie hörte nicht auf mich.« Er rührte sich immer noch nicht, machte keine Anstalten, alarmbereit aufzuspringen, obwohl ich so dicht vor ihm stand, dass ich ihn hätte erstechen können, bevor er dazu gekommen wäre aufzuschreien.
»Ihr habt sie nicht gewarnt. Ihr habt sie manipuliert, so wie Ihr mich gerade manipuliert habt. Ihr habt von Anfang an Euer eigenes Spiel gespielt, und zwar mit uns allen.«
Er lächelte. In der Tat, er lächelte. »Und was, wenn ich fragen darf, war der Inhalt dieses meines Spiels?«
Ich musste zurückweichen, sonst hätte ich nicht mehr an mich halten können. Jetzt endlich trat mir die ganze Wahrheit kristallklar vor Augen, als wäre das angelaufene Fensterglas vor meinem Verstand mit einem Tuch abgewischt worden.
Alles war auf noch viel schrecklichere Weise real, als ich es mir vorgestellt hatte.
»Elizabeth statt ihrer Schwester zur Königin zu küren, das war Euer Spiel. Die Zeit des Herzogs war abgelaufen. Nachdem Ihr jahrelang zugeschaut hattet, wie er die Kontrolle über Edward ausübte, wart Ihr zu dem Schluss gekommen, dass Leute vom Schlag Northumberlands und seines Clans nie wieder über England herrschen sollten. Wenn es so weit war, würden sie fallen, jeder von ihnen, ohne Ausnahme – koste es, was es wolle. Und Mary würden sie mit in den Abgrund reißen.« Ich hielt seinem starren Blick stand. »Aber dann ist etwas passiert, etwas, das Ihr nicht eingeplant hattet.«
»Ach, wirklich?« Er faltete die Hände unter dem Kinn. »Fahrt bitte fort. Ich finde das alles … faszinierend.«
»Jane Grey. Ihr hattet keine Ahnung, was der Herzog im Schilde führte, als Elizabeth am Hof eintraf, nicht wahr? Wirklich sicher wusstet Ihr nur, dass der König im Sterben lag und Northumberland die Prinzessin für sich selbst gewinnen wollte. Als dann der Herzog die Verlobung zwischen Jane Grey und seinem Sohn verkündete, hat es Euch gedämmert, wie weit er bereit war zu gehen, um seinen Griff um den Thron zu verstärken. Aber da war es zu spät, das noch zu hintertreiben. Also habt Ihr Elizabeth ins Spiel gebracht. Wenn alles nach Eurem Plan ginge, würde sie Euch dabei helfen, Euch Eures Gegners zu entledigen.«
Cecils Miene gab nichts preis.
Unwillkürlich schwoll meine Stimme an. Die nächsten Worte schleuderte ich ihm entgegen, als könnte ich ihn damit demütigen, verletzen, verstümmeln. »Northumberland stellte keine Bedrohung dar; Ihr wusstet, dass sie ihn nie erhören würde. Aber das mit Robert Dudley war eine andere Sache. Nur er hatte Ansprüche auf sie, die noch wichtiger waren als Eure eigenen. Nur er hätte Euren Einfluss auf sie beschneiden können. Und das war schlimmer als alles andere; das konntet Ihr einfach nicht ertragen.«
»Vorsicht, mein Freund«, mahnte er sanft. »Ihr könntet zu weit gehen.«
Endlich hatte ich einen Nerv getroffen. Ich sollte mich in der Tat hüten, denn wenn etwas noch gefährlicher war als seine Freundschaft, dann war das mit Sicherheit seine Feindschaft. Doch in diesem Moment kümmerte mich das nicht mehr.
»Nicht so weit, wie Ihr bereits gegangen seid. Sobald der König gestorben war, war Euch klar, dass der Herzog Euch beseitigen würde, weil Ihr zu viel wusstet. Seine Majestät hatte Euch gesagt, dass er Elizabeth als seine Erbin einsetzen wollte. Jane auf den Thron zu bringen hätte sich als verhängnisvoller Fehler erweisen können, aber es war nicht auszuschließen, dass der Herzog sich behaupten würde, dass Mary entkam oder die Verlockungen der Macht zu gewaltig waren und Elizabeth Robert am Ende doch noch erlag. Und wenn einer dieser Fälle eingetreten wäre, hättet Ihr auf der ganzen Linie verloren.«
Ich wartete. Seine blassen Augen durchbohrten mich schier.
»Ihr wart bereit, sie fallenzulassen, Euer Mäntelchen in den Wind zu hängen und vorzugeben, Ihr hättet den letztlichen Sieger schon immer unterstützt – einschließlich Mary, obwohl Ihr sie im Grunde Eures Herzens noch mehr verabscheut und fürchtet als den Herzog.«
Jetzt kam Bewegung in ihn. Er rieb mit den Fingern über die Armlehnen. »Ihr beleidigt mich. Ihr wagt es, mir zu unterstellen, ich würde meine Prinzessin betrügen?«
»Allerdings. Aber kein Mensch wird das je erfahren, richtig? Komme, was wolle, Ihr habt Eure Haut gerettet.«
Er erhob sich. Auch wenn er kein großer Mann war, schien er das Zimmer auszufüllen. »Ihr solltet Schauspieler werden. Da könntet Ihr Euren Hang zum Dramatischen vortrefflich zur Geltung bringen. Dennoch muss ich Euch warnen: Bevor Ihr in Betracht zieht, Ihre Hoheit mit dieser grotesken Geschichte zu unterhalten, bedenkt bitte, dass sie mehr fordern wird als unbegründete Beschuldigungen.«
Jäh spannten sich bei mir sämtliche Muskeln an. Ich hatte also recht, und diese Erkenntnis traf mich wie ein Fausthieb. Nie hatte ich erwartet, dass meine Entdeckung mich derart verwirren, derart schockieren könnte. Ein Teil meiner selbst hatte sich an die verzweifelte Hoffnung geklammert, dass nichts von alldem zutraf.
»Sie ist nicht dumm«, hielt ich ihm entgegen. »Mir ist vollkommen klar – und sie wird das ebenso begreifen –, dass Ihr sie und ihre Schwester in einem Morast von Lügen habt wandeln lassen, ohne sie in irgendeiner Weise auf das vorzubereiten, was über sie hereinbrechen könnte.«
Ein eigenartiges Licht flackerte in seinen Augen. Die Bereitschaft zur Gewalt, die ich kurz zu sehen bekommen hatte, war verschwunden und durch eine beunruhigende Leichtigkeit ersetzt worden. Cecil hob die Hände und klatschte, ein rhythmisches Geräusch, das von den eichenvertäfelten Wänden widerhallte. »Vortrefflich! Ihr habt meine höchsten Erwartungen übertroffen. Ihr seid wirklich all das, was ich von Euch erhofft hatte.«
Ich starrte ihn an. »Was meint Ihr damit?«
Seine Augen verrieten jetzt schonungslose Härte. »Dazu komme ich gleich. Lasst mich Euch zuerst sagen, dass Ihr die seltene Gabe habt, Intrigen zu durchschauen. Denn Ihr habt recht: Ich wünschte mir tatsächlich Marys Tod und Elizabeth auf dem Thron. Sie ist unsere letzte Hoffnung, das einzige von Henrys Kindern, das es wert ist, seine Krone zu erben. Ich mag mein Ziel nicht erreicht haben, aber die momentanen Ereignisse bewirken nur eine Verzögerung des Unvermeidbaren. Und wenn ihr Tag kommt, wird nichts – nichts – sich der Erfüllung ihres Schicksals in den Weg stellen können.«
»Nicht einmal ihr Glück?« Ein dicker Kloß bildete sich in meiner Kehle. »Nicht einmal die Liebe?«
»Vor allem nicht die Liebe.« Sein Ton war beiläufig, als spräche er von einer Farbe, die Elizabeth nie tragen dürfe. »Insbesondere das wäre verhängnisvoll für sie. Sie mag mit dem falschen Geschlecht geboren worden sein, aber in allem anderen ist sie der Prinz, nach dem ihr Vater sich sehnte. Nur sie hat seine Kraft, seinen Mut, seinen Drang, jedes Hindernis zu überwinden. Sie darf nicht der Schwäche in ihrem Blut nachgeben – eine Schwäche, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, die ihren Launen stets nachgab. Ich werde nicht zulassen, dass sie ihre Zukunft Dudley opfert, der von seinem Ehrgeiz zerfressen ist.«
»Aber sie liebt ihn!«, rief ich. »Seit ihrer Kindheit liebt sie ihn! Ihr wisst das, und mit aller Kraft geht Ihr daran, das zu zerstören. Wer seid Ihr, dass Ihr Ihrer Hoheit Schicksal bestimmen wollt? Wer seid Ihr, dass Ihr bestimmt, für wen oder was ihr Herz schlagen darf?«
»Ihr Freund«, lautete seine Antwort. »Der Einzige, der den Mut hat, sie vor sich selbst zu retten. Robert Dudley war ihr Niedergang. Jetzt wird sie vielleicht nie wieder in Versuchung geführt. Selbst wenn er Marys Zorn überlebt, was höchst unwahrscheinlich ist, hat er Elizabeth für immer verloren. Sie wird ihm nie wieder blind vertrauen. Das ist eine Belohnung, die ihr Leiden meiner Einschätzung nach mehr als wiedergutmacht.«
»Ihr seid eine Bestie!«, keuchte ich. »Habt Ihr beim Ersinnen Eures grandiosen Plans, ihr die Krone aufs Haupt zu setzen, je innegehalten und einen Gedanken daran erübrigt, dass Ihr ihren Geist brechen könntet? Oder dass Jane Grey, die nie an dieser Intrige beteiligt sein wollte, deswegen ihr Leben verlieren könnte?«
Cecils starrer Blick nagelte mich fest. »Elizabeth ist robuster, als Ihr glaubt. Und was Jane Grey betrifft, so war es nicht meine Idee, sie zur Königin zu machen. Ich wollte lediglich davon profitieren.«
Am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle stehen lassen – mitsamt seinen Dokumenten und Machenschaften. Nichts von dem, was er mir noch sagen konnte, würde mich mit etwas anderem erfüllen als mit noch mehr Abscheu und Verzweiflung.
Und doch blieb ich, wo ich war, zu keiner Bewegung fähig.
Sein Lächeln war scharf wie gesplitterter Stahl. »Habt Ihr dazu nichts zu sagen? Wir haben den Kernpunkt erreicht, den Grund Eures Besuchs. Sprecht weiter. Fragt mich. Fragt, was ich noch alles vor Euch verborgen habe. Fragt mich nach der Kräuterkundigen und dem Grund, warum Frances von Suffolk zugunsten ihrer Tochter auf ihren Anspruch auf den Thron verzichten musste.«
Er stieß ein leises Seufzen aus. »Fragt mich, Brendan Prescott, wer Ihr seid.«
»Ihr wisst es«, flüsterte ich. »Ihr wusstet es von Anfang an.«
»Nicht von Anfang an«, widersprach Cecil in tadelndem Ton. »Ich habe lediglich vor Jahren ein Gerücht gehört. Damals war ich jünger als Ihr heute. Eine von zahllosen Skandalgeschichten war das, die man am Hof mit einem Ohr aufschnappt. Ich hätte auch nicht weiter drauf geachtet, wäre es nicht um die geliebte Schwester von Henry dem Achten gegangen, die viele als die französische Königin kannten – die eigensinnige Prinzessin, die für einen gehörigen internationalen Aufruhr sorgte, als sie Charles Suffolk heiratete, doch deren Tod im Alter von siebenunddreißig Jahren kaum noch Wellen schlug.«
»Das war in einem Juni«, brachte ich hervor, plötzlich von Eiseskälte befallen.
»Ja, im Juni 1533, um es genau zu sagen. König Henry hatte Anne Boleyn im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft gekrönt, was beweisen sollte, dass Gott ihrer Verbindung und dem Chaos, in das sie England gestürzt hatten, zustimmte. Noch ahnten sie nicht, dass das Kind, auf dessen Ankunft sie warteten, der Beginn von Annes Sturz sein würde.«
Cecil schritt zum Fenster und starrte hinaus in den Garten. Spannungsgeladenes Schweigen senkte sich über uns. Schließlich drehte er sich wieder um und sagte leise: »Ich war damals dreizehn Jahre alt und diente einem Schreiber als Lehrling – einer von Hunderten junger Burschen mit flinken Fingern, der nach oben wollte. Ich kam herum, ich war geschickt, und ich verstand es, die Ohren offen und den Mund geschlossen zu halten. So hörte ich oft sehr viel mehr, als mein Äußeres hätte vermuten lassen.« Er lächelte mich matt an. »Ich war Euch nicht unähnlich – sorgfältig, mit guten Absichten, begierig meinen Vorteil suchend. Als ich das Gerücht vernahm, erschien es mir wie ein Zeichen der Zeit, dass die eigene Schwester des Königs ganz allein gestorben war, nach Monaten der Isolation auf ihrem Gut in Westhorpe, wo sie angeblich schreckliche Ängste ausgestanden hatte, Anne Boleyn könnte ihr Geheimnis aufdecken.«
Die Kälte kroch mir bis in die Blutbahnen. Stokes’ Worte dröhnten wieder durch meinen Kopf.
Sie war verrückt vor Angst. Sie flehte ihre Tochter an, das Geheimnis zu wahren …
»Welches Geheimnis?«, fragte ich mit fast unhörbarer Stimme.
»Dass sie schwanger war, natürlich. Ihr dürft nicht vergessen, dass viele tatsächlich glaubten, Anne Boleyn hätte den König verhext. Sie war eine Frau mit starkem Willen und festen Meinungen. Das gemeine Volk verabscheute sie; die meisten Adeligen nicht minder. Sie hatte Katharina von Aragón vernichtet und damit gedroht, Henrys leibliche Tochter, Mary, aufs Schafott zu schicken. Weil Henry so sehr in sie vernarrt war, waren einige seiner ältesten Freunde in Ungnade gefallen oder geköpft worden. Anne Boleyn hatte ihre ganze Zukunft auf den Umstand gesetzt, dass die erste Ehe des Königs ungültig gewesen sei und er keinen legitimen Erben hätte. Aber solange sie ihm keinen gebar, waren die Kinder seiner Schwester die ersten Anwärter auf den Thron.«
»Und Mary von Suffolk hasste Anne Boleyn …«, hörte ich mich sagen.
»Allerdings. Sie war über Henrys Bruch mit Rom entsetzt und blieb eine treue Verbündete von Königin Katharina, die zwar unter Hausarrest stand, aber immer noch sehr viel Lebenskraft zeigte. Mary Tudor hatte bereits zwei Söhne und zwei Töchter zur Welt gebracht. Jedes lebende Kind von ihr stellte eine Bedrohung dar, aber eines, das in diesen heiklen Monaten geboren wurde, in denen Anne ihres erwartete – nun ja, sagen wir, sie hatte gute Gründe, Annes Feindschaft zu fürchten. Das war die Ursache, warum sie sich vom Hof fernhielt. Oder die Ausrede, von der sie hoffte, dass alle sie glauben würden.«
Meine Hände hingen schlaff herab, die Dolchspitze zeigte zu Boden.
»Und dann ist sie gestorben«, sagte ich tonlos.
»Laut dem Gerücht, das ich gehört habe, ist sie kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben. Sie hatte ihre Schwangerschaft vor der ganzen Welt verborgen, angeblich aus Furcht, von Anne vergiftet zu werden. Ihre Beerdigung fand in aller Eile und Stille statt. Henry zeigte keine große Trauer. Er und mit ihm der ganze Hof war zu aufgeregt wegen der bevorstehenden Niederkunft der Königin. Und als Elizabeth das Licht der Welt erblickte, wusste kaum noch jemand, dass Mary von Suffolk je existiert hatte. In den nächsten drei Jahren heiratete ihr Witwer, Charles Brandon, ein Mann mit einem starken Selbsterhaltungstrieb, sein minderjähriges Mündel und zeugte zwei Söhne mit ihr, bevor er selbst verstarb. Mittlerweile hatte Anne Boleyn ihr Ende auf dem Schafott gefunden und Henry Jane Seymour, seine dritte Frau, gefunden und verloren, aber immerhin Edward, den lange ersehnten Sohn, von ihr bekommen. Danach heiratete der König natürlich noch drei weitere Male. In unserer Welt wird nichts so schnell vergessen wie die Toten.«
»Und Marys letztes Kind?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Was ist aus ihm geworden?«
»Manche sagen, es sei eine Totgeburt gewesen, andere glauben, es sei gemäß der Bitte der sterbenden Mutter versteckt worden. Jedenfalls hat Charles Suffolk es nie erwähnt – was er sicher getan hätte, wenn er von ihm gewusst hätte. Der Sohn von Mary ist ein Jahr nach ihr gestorben. So waren da nur noch die Töchter.«
»Also wäre er über einen weiteren Sohn froh gewesen …?«
Cecil nickte. »Allerdings. Doch vor dem Ableben seiner Frau war er die meiste Zeit im Ausland, und wie es heißt, stand die Ehe zwischen ihm und Mary unter keinem guten Stern. Suffolk unterstützte die Bestrebungen des Königs, sich Katharinas zu entledigen und Anne zu heiraten; Mary war strikt dagegen. Trotzdem sollen sie aus Liebe geheiratet haben, und sie war noch nicht so alt, dass sie unfruchtbar gewesen wäre … Wie auch immer, sie verbarg ihre letzte Schwangerschaft vor ihm und ließ verbreiten, sie litte unter Fieber und Schwellungen. Wahrscheinlich schöpfte er nie Verdacht. Das wirft natürlich die Frage auf, was der armen Frau wohl durch den Kopf ging, dass sie ihrem eigenen Mann ein Kind vorenthielt.«
»Ihr habt gesagt, sie hätte Angst vor Anne Boleyn gehabt«, murmelte ich und bemerkte, dass er ganz allmählich dicht an mich herangetreten war, als wollte er mich umarmen. Sein Gesicht wirkte aus der Nähe alt; die Spuren der Sorgen, des unablässigen Ränkeschmiedens und der schlaflosen Nächte hatten sich in seine Haut gegraben.
»Vielleicht war Anne ja nicht der einzige Grund«, sagte er und begann, die Hand zu heben. Bevor er mich berühren konnte, wich ich zurück, auch wenn ich eher das Gefühl hatte zu taumeln, so bleiern waren meine Glieder. Um uns herum wurde der Raum, in dem das spätnachmittägliche Zwielicht lange, dunkle Schatten warf, immer enger.
»Wie habt Ihr das mit mir herausgefunden?«, fragte ich abrupt.
»Durch puren Zufall«, antwortete er in gedämpftem, doch sicherem Ton. »Wie gesagt, in seinem Testament bestimmte Henry, dass nach seinen Kindern und deren Erben die Nachkommen seiner Schwester Mary den nächsten Rang in der Thronfolge einnehmen sollten. Als ich dann erfuhr, dass die Herzogin ihren Anspruch zugunsten ihrer Tochter, Jane Grey, zurückgezogen hatte, war ich verblüfft. Freiwillig hat Frances Suffolk noch nie auf etwas verzichtet. Northumberland ließ mich wissen, sie hätte es für Jane getan, um ihr und Guilford den Weg zu ebnen, aber nicht einmal er wirkte davon überzeugt. Kurz, ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Es dauerte nicht lange, bis ich erfuhr, dass Lady Dudley Frances mit etwas sehr viel Interessanterem gedroht hatte.«
Ich brachte ein hohles Lächeln zustande. »Mit mir.«
»Ja, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich wusste, wer Ihr wart. Das dämmerte mir erst, als ich erfuhr, dass Lady Dudley Euch der Herzogin im Thronsaal vorgestellt hatte, wo sie ihr eine Bemerkung über das Zeichen der Rose zuflüsterte. Nun, das weckte meine Aufmerksamkeit ganz gewiss. ›Rose‹ war der liebevolle Spitzname Henrys für seine jüngere Schwester. Da hattet Ihr mir bei unserer ersten Begegnung natürlich schon erzählt, dass Ihr ein Findelkind seid. Und Ihr hattet auch von einer Frau gesprochen, die sich um Euch gekümmert hatte, dann aber verschwunden war. Von Fitzpatrick hatte ich wiederum erfahren, dass es eine Kräuterkundige gab, die Lady Dudley zur Behandlung von Edward an den Hof gebracht hatte, und so langsam fügte ich die Einzelteile zu einem Bild zusammen. Es dauerte noch eine Weile, bis ich alles verstand, aber die Schlussfolgerung war einfach bestechend.«
Mir schwindelte. Meine Herkunft sollte mir offenbart werden, und nun kämpfte ich dagegen an!
»Und zwar …«, ächzte ich. Stille breitete sich aus. Zum ersten Mal stockte Cecil, als debattierte er mit sich, ob er wirklich fortfahren solle.
Die Grausamkeit dieses Spiels brachte mich endgültig aus der Fassung.
»Sagt es mir!« Scheppernd fiel das Schwert zu Boden, als ich Cecil am Wams packte und gegen die Wand stieß. »Sagt es mir auf der Stelle!«
Mit leiser Stimme antwortete Cecil: »Ihr seid der letzte Sohn von Mary von Suffolk. Die Kräuterkundige, Mistress Alice – gemäß den Büchern des Hauses Suffolk war sie die Kammerdienerin der verstorbenen Herzogin – betreute sie auch im Juni 1553 in Westhorpe. Jahre zuvor war ihr außerdem Lady Dudley zu Diensten gewesen, und zwar in Frankreich, wohin Mary gezogen war, um König Louis zu heiraten. Diese drei Frauen kannten einander, und jede stand mit Euch in Verbindung, dem Findelkind, das Lady Dudley an den Hof gebracht hat, um es gegen Frances von Suffolk einzusetzen.«
Mit einem erstickten Laut, halb Stöhnen, halb Schluchzen, ließ ich ihn los. Benommen torkelte ich zurück und tauchte plötzlich wieder in den Moment ein, als Lady Dudley mir das Buch der Psalmen abgenommen hatte. Ich hatte das Titelbild exakt vor Augen, die persönliche Widmung auf Französisch in dieser eleganten, femininen Handschrift. Nur hatte ich nicht begriffen, dass auch dieses Buch mich die ganze Zeit begleitet hatte.
A mon amie, de votre amie, Marie.
Dieses Buch, das ich gestohlen und in meiner Satteltasche mitgenommen hatte, hatte meiner Mutter gehört. Sie hatte es einer geschätzten Kammerfrau geschenkt – einer Lady, die sie in ihrer kurzen Zeit als französische Königin begleitet hatte, einer Lady, der sie vertraut, die sie ihre Freundin genannt hatte.
Lady Dudley. Sie hatte das Andenken an meine Mutter verraten, um ihre eigenen schrecklichen Absichten zu verwirklichen.
Ich packte den nächstbesten Stuhl und schleuderte ihn durch den Raum. Am liebsten hätte ich das Dach zum Einsturz gebracht, die Mauern in Schutt und Asche gelegt, mir die Haut in Fetzen heruntergerissen. Die Fäuste schwingend, wirbelte ich wieder zu Cecil herum und starrte ihn böse an.
Er zuckte mit keinem Muskel. »Schlagt mich, wenn Ihr müsst, aber es wird Euch nicht das zurückbringen, was Euch genommen wurde. Ich mag vieler Dinge schuldig sein, aber das habe ich Euch nicht angetan. Ich habe Euch Euer Geburtsrecht nicht gestohlen. Das war Lady Dudley – sie hat es verborgen. Sie hat dafür Eure Mistress Alice benutzt und ermordet.«
Ich kannte mich selbst nicht mehr. Unter meinen Füßen öffnete sich ein Abgrund voller Schreckensbilder, die ich nicht sehen wollte. Sie zeigten Lady Dudley, aber ich konnte das einfach nicht glauben, nicht diese grauenhafte Tat. Und meine arme Alice … Wie hatte sie mich all die Jahre in Unwissenheit leben lassen können? Warum hatte sie nicht begriffen, dass am Ende das, wovon ich nichts ahnte, genau das sein würde, was man gegen mich verwenden würde?
»Alice hat mich versorgt«, hörte ich mich flüstern, als müsste ich mich selbst davon überzeugen. »Sie hat mir Sicherheit gegeben … Und sie haben sie verstümmelt, wie ein Tier angekettet, nur um sie am Ende abzuschlachten.«
»Ja«, sagte Cecil leise. »Das haben sie getan. Und sie hat es ertragen – aus Liebe zu Euch.«
Ich blickte ihn unverwandt an. »War es das? Liebe?«
»Zweifelt nie daran. Mistress Alice hat Euch ihr Leben geschenkt. Sie hat Euch von Eurer sterbenden Mutter weggeschafft, von der Schwester, die Euren Tod wollte, und hat Euch an den einzigen Ort gebracht, von dem sie glaubte, dass Ihr dort in Sicherheit wärt. Sie konnte nicht ahnen, was später geschehen würde; niemand konnte das vor all den Jahren voraussehen. Aber sie muss Lady Dudley so weit misstraut haben, dass sie Vorsichtsmaßnahmen zu Eurem Schutz ergriff. Das beweist allein schon Euer Name.«
Abwehrend streckte ich eine Hand aus. »Aufhören! Bitte. Ich … ich halte das nicht mehr aus.«
»Ihr müsst.« Er löste sich von der Wand. »Ihr müsst akzeptieren, dass es Verrat und Lügen gegeben hat, und Ihr müsst das überwinden. Wenn nicht, ist das Euer Untergang.« Er hielt inne. »Sie hat Euch Euren Namen nicht wegen ihrer Verehrung für den heiligen Brendan gegeben, sondern weil das die lateinische Form des irischen Namens Bréanainn ist, der von dem Wort für ›Prinz‹ im alten Walisisch abgeleitet ist. Mistress Alice hat Euch Euer Erbe gleich zu Anfang zum Geschenk gemacht. Es hat Euch Euer Leben lang begleitet.«
»Aber warum?«, rief ich verzweifelt. »Wenn Mistress Alice wusste, wer ich bin, warum hat Lady Dudley sie nicht in dem Moment getötet, als sie mich zu ihr brachte? Warum hat sie so lange gewartet?«
Einen langen Moment schwieg Cecil. Schließlich murmelte er: »Das kann ich nicht sagen. Das Einzige, was ich mir vorstellen könnte, ist, dass sie von Alice abhängig war. Als Angehörigen der unteren Klassen hätte Euch jeder Bedienstete aufziehen können, und das war schließlich die Illusion, die Lady Dudley aufrechterhalten musste: dass Ihr zu niemandem gehört. Aber Diener klatschen nun einmal, und da hättet Ihr schnell ins Gerede kommen können. Ganz gewiss wusste Lady Dudley, dass man Euch vor Frances von Suffolk verbergen musste und sie für Eure Betreuung eine vertrauenswürdige Person benötigte. Für beides war Alice bestens geeignet. Also ging Lady Dudley das Risiko ein, dass Alice Euch eines Tages die Wahrheit sagen würde. Damals bestand ja noch kein dringender Anlass zu handeln. Ihr wart noch ein Baby; Ihr konntet jederzeit sterben wie so viele Kinder. Niemand wusste, wie es in der Thronfolge weitergehen würde, aber ein Geheimnis wie das Eure konnte sich noch als unschätzbar wertvoll erweisen. Absolutes Schweigen war vonnöten – Schweigen und geduldiges Warten.«
Er beobachtete mich. Das Herz dröhnte mir bis in die Ohren. Es gab noch mehr; ich spürte, wie es sich unmittelbar unter der Oberfläche regte, wie es ihre falsche, brüchige Haut durchstieß.
»Natürlich könnte es sich auch anders verhalten haben«, fuhr Cecil fort. »Vielleicht hat Lady Dudley Alice am Anfang nur deshalb nicht umgebracht, weil sie wusste, dass Alice sich jemandem anvertraut hatte, jemandem, der das Geheimnis um Eure Existenz aufgedeckt hätte, wenn ihr irgendetwas zugestoßen wäre. Wenn das zutrifft, dann war Lady Dudley von Alice und dieser anderen Person in die Enge getrieben worden. Sie konnte es nicht wagen, impulsiv zu handeln. Das wurde erst möglich, als ihr König Edwards Erkrankung eine Gelegenheit dazu bot.« Er hielt inne. »Fällt Euch jemand ein, dem Mistress Alice ein derart gefährliches Geheimnis anvertraut haben könnte?«
Ich überlegte. Stokes’ Worte kamen mir wieder in den Sinn: Aber irgendetwas muss in diesen letzten Stunden geschehen sein. Mary von Suffolk muss sich der Hebamme anvertraut und etwas gesagt haben, das bei ihr Verdacht erregte …
Und sogleich fielen mir auch wieder Mary Tudors Worte ein, als sie einen Besuch des Haushofmeisters von Charles von Suffolk erwähnt hatte – ein strammer Mann …
Ich wollte ins Freie stürmen, fortlaufen, nichts mehr wissen, das wollte ich. Es würde ja doch keinen Frieden für mich geben, kein Versteck. Ich würde dazu verdammt sein, bis ans Ende meiner Tage zu suchen.
Aber es war zu spät. Ich wusste, wie Alice sich geschützt hatte: mit meinem Muttermal, welches eine andere Person, die mich versorgte, ebenfalls gesehen hatte. Und mir war auch klar, wem sie sich anvertraut hatte. Wie alles andere war es die ganze Zeit da gewesen und hatte nur darauf gewartet, dass ich genügend Einzelheiten in Erfahrung brachte, um es zu entdecken.
Cecil blickte mich immer noch fragend an. Ich antwortete mit einem Kopfschütteln. »Nein, da ist mir niemand bekannt. Und es hat ja auch keine Bedeutung mehr. Mistress Alice ist tot.« Ich verlieh meiner Stimme einen härteren Klang. »Aber eines weiß ich: Ihr habt keine Beweise. Es gibt keine Beweise. Und ich will zusehen, dass es so bleibt.« Ich bohrte meinen Blick in den seinen. »Wenn Ihr je einer Menschenseele davon erzählt, bringe ich Euch um.«
»Es erleichtert mich, das zu hören.« Er lachte. Und als hätten wir uns über das Wetter unterhalten, zupfte er sein Wams zurecht und schlenderte vorbei an dem zertrümmerten Stuhl zu seiner Tasche. »Denn die Offenbarung Eurer Geburt könnte Komplikationen mit sich bringen, die für alle Beteiligten höchst unselig wären – vor allem für Euch.«
Ich brach in rohes Lachen aus. »Ist das der Grund, warum Walsingham mir mit einem Dolch in der Hand auf die Festungsmauer gefolgt ist? Angesichts der Ungewissheit in der Erbfolge muss ich ja ein schreckliches Hindernis dargestellt haben!«
»Ihr wart nie ein Hindernis.« Sorgfältig drapierte Cecil seinen Umhang um die Schultern. »Ich habe vielleicht Euren Scharfsinn unterschätzt, aber ich hatte nie die Absicht, Euch sterben zu lassen, weder in meinen Diensten noch sonst wie.« Sein ernster Ton verblüffte mich. »Wenn Ihr Euch die Ereignisse vor Augen haltet, werdet Ihr sehen, dass ich bei Eurer Ankunft nichts hatte als unbegründete Gerüchte und das Wissen um eine Kräuterkundige, die einmal Mary von Suffolk gedient hatte. Da konnte ich unmöglich alles von vornherein berechnet haben.«
Ich erlebte aufs Neue den Abend von Elizabeths Eintreffen im Whitehall-Palast und hörte wieder jenes rätselhafte Flüstern: Il porte la marque de la rose.
Ich konnte nicht länger wüten. Ich konnte nicht kämpfen. »Erst als Euch jemand Euren Verdacht bestätigt hat«, entgegnete ich. »Darum habt Ihr Walsingham auf mich angesetzt, nicht wahr? Um zu sehen, ob er mich nackt überraschen konnte. Das Zeichen auf meiner Haut, das Zeichen, das die Rose genannt wird – es hätte den schlagenden Beweis geliefert.«
Er neigte den Kopf, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht. »Ich habe keine weiteren Geheimnisse vor Euch. Jetzt können wir gemeinsam für eine Sache arbeiten, die größer ist als wir beide – die Sache Elizabeths, die bald vor einer Herausforderung stehen wird, und die wird weit schrecklicher als jeder Dudley sein.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich noch mit Euch zu schaffen haben will«, knurrte ich.
Er bedachte mich mit einem wissenden Lächeln. »Warum, mein lieber Junge, seid Ihr dann noch hier?«
Es war Spätnachmittag, als wir das Haus verließen. Ich war noch nie auf einem Ruderboot gewesen, musste jedoch zugeben, dass das in London die angenehmste Art zu reisen war, auch wenn die Oberfläche des Flusses mit Treibgut übersät war. Ich wollte nicht allzu genau hinschauen, denn davon stieg ein ätzender Geruch empor, der sich an die Kleider heftete. Trotzdem war die Themse sauberer als jede Londoner Straße, und man kam mühelos voran. Zu verdanken war das den Gezeiten, die dafür sorgten, dass der Dreck ins Meer getragen und frisches Wasser hereingespült wurde. Was mich wunderte, war die Geschwindigkeit, mit der uns der Bootsmann, den wir gemietet hatten, halb betrunken, wie er war, zu jener gewaltigen Steinbrücke beförderte, über die die Hauptstraße nach Canterbury und Dover führte.
Das tortenähnliche Gebilde thronte, verziert von einem Wärterhäuschen im Süden und überdacht von Wohngebäuden, auf zwanzig Pfeilern. Während ich es betrachtete, kommentierte Cecil: »Es gibt Menschen, die auf dieser Brücke geboren werden, leben und sterben, ohne sie je zu verlassen. Bei Flut kann man ›durch die Brücke schießen‹ – was ein ziemliches Abenteuer ist, wenn man es überlebt.«
Prompt jagte der Bootsmann den Kahn mit einem zahnlosen Grinsen und übelkeiterregender Geschwindigkeit durch einen der schmalen Bögen der Brücke. Ich klammerte mich an meiner Holzbank fest, die Lippen aufeinandergepresst. Auf der anderen Seite geriet der Kahn in einen gewaltigen Sog und richtete sich blitzartig auf. Mir stieg der Geschmack von Erbrochenem in die Kehle.
In Zukunft wollte ich mich wieder an mein Pferd halten.
Endlich erreichten wir ruhiges Wasser und glitten auf ein atemberaubend schönes, spiegelglattes Becken zu, wo vor Anker liegende Galeonen unter dem dämmrigen Himmel schaukelten. Weiter hinten wachte der Tower über die Einfahrt in die Stadt. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass Kanonen jeden Zoll seiner vom Wasser umspülten Mauern schützten. Im schwindenden Tageslicht waren die verwitterten Steine des Towers in einen rostfarbenen Ton getaucht, der an Blut gemahnte und seinen Ruf als düsteren Ort unterstrich, den man nach Möglichkeit meiden sollte.
»Ihr braucht das nicht persönlich zu tun«, meinte Cecil. »Es gibt viele Wege, einen Brief zu überbringen.«
Ich betrachtete das Hauptgebäude innerhalb der Anlage, an dessen vier Türmen Standarten hingen. »Nein, das ist das Mindeste, was sie verdient, und Ihr schuldet es mir.«
Cecil seufzte. »Scharfsinnig und starrköpfig. Hoffentlich begreift Ihr, dass wir nicht länger bleiben können, als wir willkommen sind. Ich weiß nicht, was uns erwartet, wenn ich die Befehle der Königin erst einmal übermittelt habe. Unabhängig davon wird in ein paar Stunden die Sperrstunde ausgerufen, und dann werden alle Tore geschlossen. Wer dann noch drinnen ist, bleibt drinnen.«
Unser Kahn legte an. Cecil erhob sich. »Zieht Euch die Kappe übers Gesicht. Was immer Ihr tut, sprecht nur, wenn Ihr müsst. Je weniger man von Euch sieht und hört, umso besser.«
»Soll mir recht sein«, murmelte ich.
Wir stiegen die Stufen zum Pier hinauf und marschierten über ein freies Feld zum Torhaus, wo erschreckend viele Wächter den Eingang kontrollierten. Von drinnen drang das gedämpfte Brüllen von Löwen zu mir herüber. Kurz blickte ich zu dem sich über mir auftürmenden Gemäuer. Ein mit Zinnen und Schießscharten versehener Wehrgang ragte zum Schutz des weißen Hauptgebäudes in den Himmel.
Ein Wächter trat vor. Rasch schlug Cecil seine Kapuze zurück. Der Wärter stutzte. »Sir William?«
»Guten Tag, Harry. Ich darf annehmen, dass es Eurer Frau besser geht?« Cecils Stimme war so glatt wie das unter uns schimmernde Wasserbecken. Ich indes zog meine Schultern noch höher und beobachtete den Mann unter dem Schutz meiner Kappe. Einmal wenigstens war ich dankbar für meine schmale Gestalt und bescheidene Größe. In meiner abgetragenen Reiseausstattung sah ich aus wie ein unwichtiger Diener, der seinen Herrn begleitete.
»Sie ist auf dem Wege der Besserung«, antwortete der Wärter spürbar erleichtert. »Seid bedankt für die Nachfrage. Die Kräuter, die Eure Gemahlin geschickt hat, haben uns sehr geholfen. Wir stehen tief in Eurer und Lady Mildreds Schuld. Das war sehr freundlich von Euch.«
Trotz meines Misstrauens Cecil und seinen Tücken gegenüber musste ich grinsen. Darauf konnte man sich verlassen, dass er dort, wo es darauf ankam, jemanden mit einer Gefälligkeit zu seinem Schuldner machte.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte er. »Lady Mildred wird entzückt sein, wenn sie erfährt, dass ihr Mittel geholfen hat. Sie arbeitet ja in einem fort an ihren Rezepten. Ach, übrigens, Harry, ich habe ganz vergessen, bestimmte Dokumente mitzunehmen, als ich gestern hier war.« Er deutete auf mich, woraufhin ich mich verneigte. »Das ist ein Lehrling, den ich zum Sekretär ausbilde. Könntet Ihr uns für einen Moment durchlassen? Wir kommen gleich wieder zurück.«
Harry trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. »Das ist leider nicht möglich, Sir William.« Er warf einen Blick über die Schulter zu seinen Gefährten, die sich die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieben. »Die Lords Pembroke und Arundel haben strikte Anweisung erteilt, dass ohne ihre ausdrückliche Genehmigung niemand den Tower besuchen darf.« Er trat vertraulich näher, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Heute Morgen ist ein Schreiben von Lady Mary eingetroffen. Danach sind die Lords sofort zur Residenz des Earl of Pembroke aufgebrochen. Laut Gerücht hat sie damit gedroht, sämtliche Herrschaften aufs Schafott zu schicken, wenn sie sich heute Abend nicht für sie aussprechen.«
»Ach, wirklich?«, fragte Cecil in einem Ton, als handelte es sich um eine Neuigkeit ohne besonderen Belang. »Man hört dieser Tage so viele Gerüchte, dass man kaum noch weiß, wem oder was man glauben soll.«
Harry verzog unbehaglich die Miene. »Allerdings, man kommt sich vor wie unter schnatternden Gänsen. Trotzdem: Bei all dem Gerede über eine Meuterei in Yarmouth und Fahnenflucht im Lager des Herzogs muss man genau darauf achten, was man sagt und tut, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
»Unbedingt«, versicherte Cecil ihm und ließ einen Moment lang schweigend ein Lächeln um seine Lippen spielen. Von der Stille verunsichert, platzte Harry heraus: »Bevor sie aufgebrochen sind, haben die Fürsten Lady Jane und Lord Guilford zu deren Sicherheit in ihren Gemächern einsperren lassen. Lady Dudley war außer sich. Sie hat Lord Arundel ein schreckliches Ende angedroht, sobald ihr Gemahl zurückkehrt. Mylord war bei seiner Antwort auch nicht gerade höflich zu ihr, wenn Ihr mich versteht.«
Er studierte Cecils Miene. »Manche sagen, Seine Lordschaft von Northumberland könne gar nicht gewinnen. Ich selbst halte ja nichts von Klatsch, Sir William, aber wenn das Gerede zutrifft, wäre ich dankbar für eine ehrliche Warnung. Wie Ihr wisst, habe ich eine Familie zu versorgen, und um die Wahrheit zu sagen … ich führe doch nur Befehle aus. Wer gerade auf dem Thron sitzt, kümmert mich nicht wirklich, Hauptsache, ich kann meine Frau und meine Kinder ernähren.«
»Selbstverständlich.« Cecil legte Harry eine Hand auf den Arm, eine Geste des Verständnisses für die Umstände eines Lakaien. Harry schien einen ganzen Zoll zu wachsen. »Aber vielleicht sollten wir nicht vor aller Öffentlichkeit über so etwas reden«, fuhr Cecil fort und zog Harry in den Schatten des Wärterhäuschens, wo sie ihr Gespräch außerhalb meiner Hörweite fortführten. Doch immerhin sah ich ihn Harry eines seiner allgegenwärtigen Säckchen zustecken.
Als Cecil zu mir zurückkehrte, zischte ich: »Wovon redet er? Was für ein Schreiben? Die Königin hat mir ihren Brief anvertraut, und ich habe ihn Euch vor weniger als einer Stunde übergeben.«
»Anscheinend war dies nicht das einzige Schreiben, das sie verschickt hat«, antwortete er mit einem dünnen Lächeln. »Ich musste Harry bestechen, damit er mir noch mehr Informationen verrät und uns durchlässt. Hebt Euch Eure Fragen also für später auf.«
Zügig schritt er weiter, den anderen Wächtern zunickend, und zwang mich, ihm wie der Diener, den ich darstellen sollte, hinterherzueilen. So passierten wir ein eisernes Fallgitter und gelangten in den äußeren Burghof.
Dort zögerte Cecil und tat so, als müsse er seinen Ärmel zurechtschieben. Seine Tasche hielt er dabei weiter in festem Griff. Mit gedämpfter Stimme raunte er mir zu: »Mary hat doch noch das eine oder andere gelernt. Über einen anderen Boten hat sie ein Duplikat ihrer Befehle zusammen mit der Nachricht ausgesandt, dass sie Tausende für ihre Sache hinter sich versammelt hat. Sie bereitet einen Marsch auf London vor. Die klügeren unter den Fürsten im Kronrat haben sich zurückgezogen, um zu erörtern, welchen Empfang sie ihr bereiten sollen. Suffolk ist auch dabei. Ein noch deutlicheres Zeichen ist, dass seine Frau, die Herzogin, auf dem Weg zu ihrem Landsitz ist. Anscheinend haben bis auf Lady Dudley sämtliche Beteiligten Jane und Guilford fallenlassen. Die beiden sind jetzt hier, in denselben Gemächern eingesperrt, wo sie dem Plan gemäß auf ihre Krönung warten sollten.«
Er blickte um sich und holte Luft. Und ich verstand die Welt nicht mehr. Sollten die aberwitzigen Wendungen der letzten Tage tatsächlich dazu führen, dass ich jetzt ausgerechnet dem Mann vertrauen musste, den ich noch vor wenigen Stunden als meinen Feind betrachtet hatte?
»Ich glaube, der Kronrat wird sich spätestens heute Abend für Mary aussprechen«, sagte er. »Und wenn das geschieht, werden diejenigen, die dann noch hinter diesen Mauern sind, wohl erst dann herauskommen, wenn sie es verfügt. Seid Ihr wirklich sicher, dass Ihr Eure Mission fortsetzen wollt? Ich für meinen Teil würde es lieber nicht auf mein Glück ankommen lassen. Der Tower ist für einen längeren Aufenthalt denkbar ungeeignet.«
Ich musterte ihn. »Ihr scheint Angst zu haben. Ich hätte nie gedacht, dass Ihr dazu in der Lage seid.«
»Ihr hättet auch Angst, wenn Ihr eine Unze Verstand hättet.« Er straffte die Schultern, womit er sich in eine Aura von Unbesiegbarkeit hüllte, als könnte man dergleichen wie einen Mantel überstreifen. »Nun denn, bringen wir es hinter uns.«
Wir näherten uns dem Hauptgebäude.
Ich kam kaum dazu, mir bewusst zu machen, dass ich mich tatsächlich im berüchtigten Tower von London befand. Das Murmeln der Themse gegen die Wassertore hallte, verstärkt durch die schroffen Mauern, im inneren Hof wider. Wärter, Lakaien und Würdenträger eilten hin und her, jeder mit seinen Aufgaben beschäftigt, ohne dass irgendwo ein Lächeln aufblitzte. Der schreckliche Ernst verschlimmerte noch das Gefühl, in dieser Düsternis eingesperrt zu sein.
Cecil begrüßte nun niemanden mehr. In seinem schmucklosen Kapuzenumhang und der flachen Samtkappe sah er aus wie irgendeiner der zahllosen Bediensteten, die sich auf das Ende ihres Arbeitstages freuten. Tatsächlich hätte freilich jeder der hier umherschwirrenden Männer etwas ganz anderes sein können, als es den Anschein hatte. Ich ließ den Blick über den Hof schweifen. Einen Moment lang setzte mein Herzschlag aus, als ich glaubte, eine in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt innehalten und uns mustern zu sehen. Doch als ich wieder hinschaute, war dort niemand mehr.
Gleichwohl stellten sich mir die Nackenhaare auf. Dieser Mann konnte doch unmöglich Stokes gewesen sein. Gewiss begleitete er die Herzogin zu ihrer Residenz auf dem Land, da sie ja ein Interesse daran hatte, einen so großen Abstand wie nur möglich zwischen sich und ihre glücklose Tochter Jane zu legen. Ich musste wohl noch müder sein, als ich gedacht hatte, und hatte mich offenbar von meiner Erschöpfung überwältigen lassen. Allmählich hielt auch ich es für hellen Wahnsinn, auf einem solchen Botengang zu bestehen. Um mich herum türmten sich unüberwindliche Mauern, während unsichtbar unter meinen Sohlen meilenweit Fallgruben und Verliese klafften, wo Männer grauenhafte Qualen erlitten hatten. Im Vergleich zu den ausgeklügelten Folterungen, die man den Gefangenen hier angetan hatte, galt der Tod auf dem Schafott noch als Gnadenakt. Allerdings hatten es nicht mehr alle der Geschundenen bis dorthin geschafft.
Angst setzte sich in meiner Magengrube fest. Ich gab mir alle Mühe, mir nichts anmerken zu lassen, als wir am Eingang zum Hauptturm erneut aufgehalten wurden. Einmal mehr jonglierte Cecil mit Empfehlungen und verblüffenden Kenntnissen von Namen und Familiengeschichten, ganz zu schweigen vom diskreten Einsatz klingender Münzen, bis wir durchgelassen wurden.
Drinnen zischten die Flammen der an den Mauern befestigten Fackeln. Die Halle, die wir durchquerten, war klamm, kalt; bis hierher drang nie die Sonne. Wir erklommen eine Wendeltreppe bis zu einem Raum mit Holzdecke im zweiten Stockwerk, wo sich uns zwei königliche Leibgardisten mit unnachgiebiger Miene und Kurzschwert am Gürtel in den Weg stellten.
»Master Cecil, es tut mir leid, aber hier darf niemand rein«, ließ uns der stämmigere der beiden nicht ohne ein gewisses Bedauern im Ton wissen. Kannte Cecil denn jeden halbwegs wichtigen Wärter im Tower?
Offenbar, denn er lächelte den Mann an. »Ah ja, Tom. Mir ist schon gesagt worden, dass die Lords befohlen haben, die hohe Lady zu ihrem eigenen Schutz zu inhaftieren.« Er zog den Brief Marys an den Kronrat aus seiner Tasche und ließ sie das gebrochene Siegel sehen. »Mein Begleiter bringt jedoch Kunde von Lady Mary. Und ich persönlich glaube nicht, dass wir uns in die Angelegenheiten des Hauses Tudor einmischen sollten, oder täusche ich mich da?« Sein Ton war leicht, fast freundschaftlich. »Wir könnten uns bald in einer Situation wiederfinden, in der wir unsere ziemlich unbedeutende Rolle in dieser unglückseligen Sache erklären müssen, und ich würde lieber sagen können, dass ich das Richtige getan habe. Außerdem braucht er nur einen kurzen Moment.«
Das musste sich der gute Tom nicht zweimal sagen lassen. Mit einer knappen Geste befahl er seinem Gefährten, die Tür zu entriegeln. Ich wartete darauf, dass Cecil voranschritt, doch stattdessen trat er zur Seite. »Ich muss noch einige Dokumente holen«, klärte er mich auf. »Ihr habt ein paar Minuten, mehr nicht.«
Ich trat ein.
Obwohl das Gemach klein war, wirkte es nicht unfreundlich. Mit Wandteppichen behängt und mit den frisch ausgestreuten Binsen auf dem Holzboden erinnerte es an eine Frauenkemenate. Lady Jane saß auf einem Stuhl vor dem Kassettenfenster, das ihr einen eingeschränkten Blick auf die Stadt erlaubte.
Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Ich bin nicht hungrig und werde nichts unterschreiben. Stellt, was immer Ihr dabeihabt, auf den Tisch, und geht wieder.«
»Mylady.« Ich verbeugte mich tief. Jetzt erhob sie sich doch. Ihre hastigen Bewegungen verrieten, dass sie Angst hatte. Sie trug einen pompösen Umhang. Das rötlichbraune Haar fiel ihr über die schmalen Schultern. In dem düsteren Gemach, das von der vorzeitig hereinbrechenden Dämmerung bereits verdunkelt wurde, wirkte sie winzig, ein Kind in Erwachsenenkleidern.
Mit brechender Stimme stammelte sie: »Ich … ich kenne Euch.«
»Ja, Mylady. Ich bin Junker Prescott. Wir sind uns in Whitehall begegnet. Es ehrt mich, dass Ihr Euch erinnert.«
»Whitehall«, wiederholte sie und erschauerte. »Oh, dieser schreckliche Ort …«
Am liebsten hätte ich sie in die Arme geschlossen und an mich gedrückt. Sie wirkte auf mich, als hätte sie seit Jahren keinen Seelenfrieden mehr genossen.
»Ich habe nur wenig Zeit«, erklärte ich und trat einen Schritt näher. »Ich bin gekommen, um Euch zu sagen, dass Ihr nicht verzweifeln müsst.« Ich zog Marys zweiten Brief aus der Umhangtasche. »Ihre Majestät sendet Euch das hier.«
Sie prallte zurück wie unter einem Schlag. »Ihre Majestät? Ist es demnach vorbei?«
»Das wird es bald sein. Bis heute Abend muss sich der Kronrat für sie aussprechen. Ihm bleibt gar nichts anderes übrig. Die Armee des Herzogs ist desertiert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er kapituliert oder festgenommen wird.«
Auf der Lippe kauend, spähte sie auf den Brief in meiner Hand. »Gott in Seiner Weisheit weiß, dass ich das nie gewollt habe«, murmelte sie. »Der Herzog und seine Gemahlin, meine Eltern und der Kronrat … sie haben mir das aufgezwungen. Sie haben von mir verlangt, dass ich Guilford heirate und mich ihren Forderungen füge. So werde ich es auch Mary erklären, wenn sie in ihrem Herzen die Güte findet, mir zu vergeben.«
»Das hat sie bereits getan. Ihre Majestät weiß, wie übel Ihr benutzt worden seid.«
Sie hob abwehrend die Hand und entgegnete mit fester Stimme: »Versucht bitte nicht, mir meine Bürde zu erleichtern. Ich habe Verrat begangen. Dagegen gibt es keine Abhilfe, außer die Bestrafung zu erleiden. Ich werde meiner Pflicht nicht ausweichen, auch nicht um meines Lebens willen.«
Ich fühlte mich den Tränen gefährlich nahe. Steif reichte ich ihr den Brief. »Ihre Majestät wird Euch nicht leiden lassen. Sobald sie die wahren Schuldigen gesehen hat, wird sie Euch freilassen. Ihr werdet heimkehren, Mylady, zurück zu Euren Studien und Euren Büchern.«
»Meine Bücher …« Ihre Stimme erstarb. Jetzt konnte ich meinem Drang nicht mehr widerstehen. Mit zwei Schritten erreichte ich sie und umfing sie sanft. Sie sackte an meiner Brust zusammen. Obwohl sie keinen Laut von sich gab, spürte ich, dass sie weinte.
Schräg fiel das verebbende Licht durchs Fenster herein. In diesem Moment wollte ich ihr alles verraten, was ich herausgefunden hatte, damit sie wusste, dass sie nicht allein war, damit sie die Gewissheit hatte, dass ich immer ein Verwandter für sie sein würde, der ihr Liebe gab.
Doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Ich würde ihr nie die Wahrheit sagen können. Das war zu gefährlich. Es würde die schreckliche Bürde, die sie bereits mit sich schleppte, nur verschlimmern. Auch wenn ich eines Tages vielleicht verstand, warum die Dudleys getan hatten, was sie getan hatten, wurde mir in diesem Moment schlagartig klar, dass ich ihnen nie vergeben würde, in welch verheerendes Unglück sie dieses junge Mädchen gestürzt hatten.
Sie löste sich von mir. Jetzt war sie ruhiger; ihre tränennassen Wangen trockneten, und sie nahm mir den zerknitterten Brief aus der Hand, um ihn in ihre Umhangtasche zu stecken. »Ich werde das später lesen«, erklärte sie und wollte noch etwas hinzufügen, als plötzlich bedrohlich klingendes Glockenläuten sie unterbrach.
»Ihr müsst gehen«, sagte sie. »Man darf Euch hier nicht antreffen. Das hätte schlimme Folgen für Euch.«
»Mylady«, sagte ich, »wenn Ihr je meiner bedürft, schickt mir einfach eine Nachricht.«
Sie lächelte. »Nicht einmal Ihr könnt mich vor dem Weg retten, den Gott bestimmt hat.«
Mit einer neuerlichen Verbeugung ging ich zur Tür. Dort blickte ich noch einmal über die Schulter. Sie war zum Fenster zurückgekehrt. Das Zwielicht um sie herum verdichtete sich.
Im Korridor draußen erhob sich Cecil von einem Hocker. Mit einem Wort des Danks an Tom, der die Tür hinter mir verriegelte, ergriff er mich am Arm. »Ich wollte Euch schon herausholen. Habt Ihr nicht die Glocken gehört? Wir müssen den Tower sofort verlassen. In spätestens einer Stunde werden die Tore in Marys Namen geschlossen. Das hier wird ihr Gefängnis sein.«
Ich schüttelte seine Hand ab. »Dann beeilt Euch in Gottes Namen. Ich muss noch etwas erledigen.«
Er starrte mich entgeistert an. »Nein. Ich weiß, woran Ihr denkt, aber das ist heller Wahnsinn. Sie ist keine Gefangene. Sie kann sich frei bewegen und könnte jedem verraten, dass Ihr am Leben und guter Dinge seid.«
»Das wird sie nicht. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, ihren kostbaren Sohn zu retten. Außerdem hat es nie Beweise gegeben. Alice ist tot. Ich stelle keine Bedrohung mehr für sie dar, wenn ich überhaupt jemals eine war.«
»Sei es, wie es wolle«, entgegnete er, und zum ersten Mal merkte ich ihm aufrichtige Besorgnis an. »Möchtet Ihr wirklich Euer Leben in ihre Hände legen? Denkt vorher noch einmal genau nach. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn Euch etwas zustößt.«
»Das habe ich auch nicht von Euch erwartet. Ich habe Peregrine gebeten, auf den Feldern vor dem Stadttor mit unseren Pferden zu warten. Wenn ich bis zum Anbruch der Nacht nicht dort bin, soll Peregrine nach Hatfield reiten. Ihr könnt ihn dort treffen und dann weiter zu Eurer Familie reiten. Ich aber muss zurückbleiben. Sie hat etwas, das ich brauche.«
Cecils Kinn spannte sich unter dem Bart an. Einen langen Moment blieb er schweigend vor mir stehen, dann zog er seinen Umhang um sich und verstärkte den Griff um seine Tasche. »Hoffentlich findet Ihr, was Ihr sucht«, sagte er unwirsch. Ohne sich noch einmal umzusehen, lief er die Treppe hinunter.
Ich widerstand der Angst, die mir schier den Magen zuschnürte. Entschlossen stellte ich mich den neugierigen Blicken der Wächter. »Könnte mir einer von Euch den Weg zu Lord Guilfords Gemach zeigen?«
»Ich führe Euch zu ihm«, versprach der königliche Leibgardist Tom.
Hinter Tom erklomm ich ausgetretene Steinstufen bis zum obersten Stockwerk. Obwohl ich mich nach außen tapfer und kühl gab, graute mir vor dem bevorstehenden Moment.
Wir erreichten eine schmale Tür. Während Tom mit den davor postierten Wächtern redete, wäre ich fast davongerannt. Noch konnte ich Cecil einholen. Dieser war auf seine Weise gewiss auch ein Ungeheuer, aber eines, mit dem mir der Umgang bei Weitem nicht so schwerfiel. Ich konnte Peregrine immer noch auf dem Feld vor der Stadtmauer treffen und würde in der Nacht zusammen mit Kate und Elizabeth in der Sicherheit des Landguts der Prinzessin sein. Den Rest meines Daseins könnte ich dann in seliger Unwissenheit verbringen und würde es höchstwahrscheinlich viel besser haben. Was immer hinter der Tür auf mich wartete, würde mir nur noch mehr Leiden bringen.
Doch noch während ich diesen Gedanken nachhing, tasteten meine Finger in der Innentasche des Umhangs nach jenem fast schon mystischen Gegenstand, den ich dort verborgen hatte. Ihn zu berühren stärkte meine Entschlossenheit. Ich musste das tun – allein schon für Mistress Alice.
»Fünf Minuten.« Tom reichte mir seine Pistole. »Seid vorsichtig! Sie ist so gefährlich wie ein tollwütiger Köter.«
Er schob den Riegel zurück und stieß die Tür auf. Ich steckte die Pistole unter den Gürtel und trat in das Gemach.
In der Mitte des Raumes stand eine große Ledertruhe, in der sich Kleider türmten. Der Boden war übersät mit Stößen von Dokumenten und Büchern. In einer Ecke mühten sich zwei Gestalten damit ab, eine massive Holzkiste von der Wand wegzuzerren. Ihre sich vermengenden feuchten Haare in beinahe identischen Blondschattierungen und die schlanken Körper in schweißnassen Kleidern zeugten vom selben Fleisch und Blut.
Als sie die Tür aufgehen hörte, fuhr die Frau zu dem Störenfried herum. Der neben ihr arbeitende Guilford blickte auf – und erstarrte.
»Es wird ja auch allmählich Zeit, dass …«, begann sie und verstummte abrupt. »Wer seid Ihr?«, bellte sie dann. »Wie könnt Ihr es wagen, bei uns einzudringen?« Sie bemühte sich um einen Befehlston, doch ihre Stimme war belegt, ihre Erscheinung weit entfernt von der makellosen, unerbittlichen Matrone, als die ich sie gekannt hatte. Ich stand da und brachte kein Wort hervor.
Dann fiel es mir wieder ein: Ich hatte jetzt einen Bart. Und ich trug eine Kappe.
Ich nahm die Kopfbedeckung ab. »Ich hätte gedacht, Ihr würdet mich sofort erkennen, Mylady.«
Guilford schnappte nach Luft. Den Atem zischend durch die gefletschten Zähne ausstoßend, näherte sich Lady Dudley. Ihr offenes Haar wies erste silberne Strähnen auf, das eingefallene Gesicht darunter war wutverzerrt.
»Du! Warum bist du nicht tot?!«
Ich blickte ihr in die leeren Augen. Jetzt erkannte ich, dass sie krank war. Seit Jahren war sie es schon gewesen, und zwar körperlich wie seelisch. Sie hatte es hinter ihrer eisigen Fassade verborgen, durch die anscheinend nichts hatte dringen können. Doch ihre Krankheit hatte sie von innen zerfressen, und die Untreue ihres Mannes hatte nach Jahren der ehelichen Pflichterfüllung das verzweifelte, wilde Tier bloßgelegt, zu dem sie geworden war. Davon bedroht, nach lebenslanger Selbstaufopferung verlassen zu werden, hatte sie mit aller Tücke, die ihr zu Gebote stand, zugeschlagen. So tödlich sie war, letztlich war unerträglicher Kummer ihr Antrieb gewesen. Und Kummer wiederum war etwas, wovon ich etwas verstand, auch wenn mir meine Erkenntnis keinen Trost brachte.
»Es freut mich, Euch enttäuschen zu müssen«, erklärte ich.
Ihre Lippen zuckten. »Es hat dir ja schon immer Genuss bereitet, ein Ärgernis für deine Umgebung zu sein.« Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn. »Wie lästig! Ich hatte gedacht, ich wäre dich endlich los.«
»Ach, den Gefallen werde ich Euch schon noch tun – sobald Ihr meine Fragen beantwortet habt.«
Sie wartete. Hinter ihr platzte Guilford plötzlich heraus: »Du … du … halte dich bloß von uns fern!«
»Sei still.« Sie wandte den Blick nicht von mir. »Lass ihn fragen, was immer er will. Es kostet uns ja nichts zu hören, wie er seinen Atem vergeudet.«
Ich schlug meinen Umhang zurück und offenbarte Toms Pistole. »Ich bin vielleicht nicht der beste Schütze«, meinte ich, »aber in einem so winzigen Raum wie diesem muss ich zwangsläufig irgendetwas treffen. Oder irgendjemanden.«
Sie baute sich vor mir auf. »Lass meinen Sohn in Frieden. Er weiß nichts. Stell deine elenden Fragen, und verschwinde dann. Ich habe Dringenderes zu erledigen.«
Dieses eine Mal wenigstens sagte sie die Wahrheit. Als die Glocken begonnen hatten zu läuten, waren sie mitten im Packen ihrer Wertsachen gewesen. Wie Jane wusste sie um die Bedeutung dieser Glocken. Sie hatte begriffen, dass ihr Ende nahte. Deswegen hatten sie und Guilford sich darangemacht, die Tür mit der Kiste zu blockieren, um Zeit zu gewinnen, ehe sie offiziell zu Gefangenen erklärt wurden. Genutzt hätte ihnen das freilich nichts. Sie wusste, dass der Kronrat ihn bald des Hochverrats schuldig sprechen würde – ausgerechnet Guilford, ihren Liebling, das einzige ihrer Kinder, an dem ihr Herz hing. Ihrer unersättlichen Rachgier glich nur die animalische Hingabe zu diesem einen Wesen, das sie ganz nach ihren Vorstellungen geformt hatte.
Sie war also auch ein Mensch. Sie konnte lieben. Und hassen.
»Ihr könnt ihn nicht retten«, hielt ich ihr vor. »Die Glocken draußen läuten für Königin Mary. Ihr habt verloren. Guilford Dudley wird nie eine Krone tragen. Wenn er Glück hat, darf er seinen Kopf behalten.«
»Ich zerfetze dich in tausend Stücke, du elender Köter!«, knurrte Guilford.
Lady Dudley ließ ein Lachen erklingen – eine Klinge, die mir tief in die Haut schnitt. »Du bist nicht annähernd so schlau, wie du glaubst! Ich wollte nie eine Krone für ihn! Mein Mann ist derjenige, dem sie deswegen den Kopf abschlagen werden, nicht Guilford. Ich werde ihn retten, selbst wenn ich auf Knien um sein Leben betteln muss. Mary ist eine Frau; sie weiß, was Verlust bedeutet. Sie wird verstehen, dass kein Kind für die Verbrechen seines Vaters büßen sollte.«
Sie trat einen Schritt näher; ihr fauliger Atem schlug mir entgegen. »Aber du – du hast alles verloren! Mistress Alice ist tot, und von mir wirst du nie etwas bekommen. Du existierst nicht. Dich hat es nie gegeben!«
Ich maß sie mit einem abschätzigen Blick. »Ich weiß über Master Shelton Bescheid.«
Sie verharrte regungslos.
»Archibald Shelton«, fuhr ich fort, »Euer ergebener Haushofmeister. Ich weiß, dass er es war, der in der bewussten Nacht in Greenwich auf mich geschossen hat. Damals dachte ich, für einen Mann, der sich in den schottischen Kriegen als treffsicherer Schütze erwiesen hat, hätte er wirklich schlecht gezielt. Jetzt aber weiß ich, dass er gar nicht wirklich versucht hat, mich zu töten. Er hat versucht, mich zu verschonen, und in die Mauer geschossen. Die Kugel ist nur unglücklich abgeprallt.«
»Narr!«, spuckte sie. »Shelton hat die Pistole ergriffen, richtig, aber es war dunkel. Er konnte nichts sehen. Wäre das Licht besser gewesen, hätte er dich getötet. Er verachtet dich für alles, was du getan hast.«
»Ach, das glaube ich nicht«, entgegnete ich – und dann verstummte ich abrupt. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was bis dahin im Dunkeln geblieben war. »Aber Ihr wart ahnungslos, nicht wahr? Und er hat es Euch bestimmt nicht verraten. Ihr wusstet nicht, dass er derjenige war, den Mistress Alice ins Vertrauen gezogen hatte. Ihr wusstet nur, dass noch jemand anders im Bilde war, jemand, der meine Identität offenbaren konnte, wenn Ihr mir oder ihr je ein Leid zufügtet. Und am Ende habt Ihr das tatsächlich getan und Mistress Alice ermordet. Master Shelton dachte immer, sie wäre vor Jahren auf dem Weg zum Jahrmarkt gestorben. Wie ich glaubte auch er die Lüge, die Ihr uns aufgetischt habt, aber als er dann in jener Nacht ins Gemach des Königs trat, hat er sie plötzlich gesehen. Und da begriff er, wie weit Ihr gegangen wart. Ihr dachtet, er wäre Euer Diener und würde alles für Euch tun, aber letztlich sah er seine größte Aufgabe darin, mich zu schützen – den Sohn seines vormaligen Herrn, Charles von Suffolk.«
Mit einem animalischen Schrei stürzte sie sich auf mich. Die Wucht des Aufpralls riss mich von den Beinen. Ich erwehrte mich nach Kräften ihrer Krallen, die mir das Gesicht zerkratzten, als auch schon die Tür aufflog und die Wächter hereinsprangen. Blitzschnell packten sie Lady Dudley und zerrten sie von mir fort. Wild um sich schlagend, kreischte sie die wüstesten Beschimpfungen.
»Nein!«, rief ich. »Lasst sie! Ich muss noch …«
Zu spät. Zwei Männer zerrten sie hinaus. Ihr Heulen hallte von sämtlichen Mauern wider. Bereits in diesem Moment war mir klar, dass es lange dauern würde, bis dieser schauerliche Laut aufhörte, mich bis in meine Alpträume zu verfolgen.
Das Echo verhallte. Stille breitete sich aus. Tom stand auf der Schwelle. »Zeit zu gehen. Auf Geheiß des Kronrats werden jetzt die Tore geschlossen. Ihr wollt doch nicht die Nacht hier drinnen verbringen.«
Ich nickte benommen und trat zur Tür. Hinter mir hörte ich ein ersticktes Schluchzen. Ein letztes Mal blickte ich über die Schulter. Guilford kauerte in sich zusammengesunken auf dem Boden, das Gesicht in den Händen verborgen. Ich versuchte, wenigstens einen Hauch von Mitgefühl aufzubringen. Es betrübte mich, dass sich nichts in mir regte außer Abscheu.
»Wo ist er?«, fragte ich.
Guilford hob die in Tränen schwimmenden Augen. »Wer?«, krächzte er.
»Master Shelton. Wo ist er?«
Tränen erstickten Guilfords Stimme. »Er … er ist unsere Pferde holen gegangen.«
Ich wirbelte herum und rannte hinaus.
Die Nacht war hereingebrochen. Im Außenhof verbreiteten Fackeln ein von Rauch getrübtes Licht. Die Glocken erklangen in bunter Disharmonie, da mehr als ein Gemeindepfarrer freudetrunken auf seinen Kirchturm geklettert war. Vor den Mauern des Towers war ganz London zusammengeströmt, um seine rechtmäßige Königin zu feiern, während im Inneren des Bollwerks das Chaos ausbrach. Spätestens jetzt erkannten diejenigen, die dem Herzog bis zum Schluss die Treue gehalten hatten, ihren Fehler und versuchten im letzten Moment die Flucht, obwohl die Festungsmauern bemannt waren und die Tore verriegelt wurden.
In vollem Lauf rannte ich die Treppe des Hauptgebäudes hinunter, nur um jäh stehen zu bleiben. Ich hielt über das Gewimmel im Hof hinweg nach jener Gestalt Ausschau, die ich zu Beginn wahrgenommen hatte und bei der ich mir inzwischen sicher war, dass meine überreizte Vorstellungskraft mir keinen Streich gespielt hatte.
Das war Master Shelton in einem schwarzen Umhang gewesen. Master Shelton: der Lady Dudley und Guilford bei der Flucht geholfen und Cecil zusammen mit mir zum Hauptgebäude hatte laufen sehen. Er musste immer noch in der Nähe sein. Lady Dudley wartete auf ihn, und er würde erst dann aufgeben, wenn für ihn feststand, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Master Shelton war die Zuverlässigkeit in Person. Was auch geschehen mochte, er erfüllte seine Pflicht.
Aber wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, hatte er noch einiges mehr getan. Bevor er zum Haus Dudley gestoßen war, hatte er Charles von Suffolk gedient. Von ihrer gemeinsamen Zeit dort musste ihn Mistress Alice gekannt haben. Und ohne dass Lady Dudley etwas davon ahnte, hatte meine alte Amme ihm die Wahrheit über meine Geburt anvertraut. In seiner Trauer um meine Mutter hatte er Mary Tudor jenes Fragment eines größeren Schmuckstücks gebracht. Und er war der Mann gewesen, der mich bei meiner Flucht aus Greenwich verschont hatte. Was ich nicht wusste, war, wie tief das Band zwischen ihm und meiner Mutter war, ja, ob es am Ende sogar der Grund gewesen war, warum sie ihre Schwangerschaft verborgen hatte. Nur um Lady Dudley zu überrumpeln, hatte ich mich als Suffolks Sohn bezeichnet, aber irgendwo fehlte noch dasjenige Teilchen, mit dem alles stand und fiel. Einen Schlüssel hatte ich noch nicht, und erst wenn ich ihn entdeckte, würde sich mir das letzte Geheimnis offenbaren.
Diesen Schlüssel besaß Master Shelton. Nur er konnte mir verraten, ob er mein Vater war.
Fluchend spähte ich in die flackernde Dunkelheit, in der in Umhänge gehüllte Gestalten wie Schatten durcheinanderrannten. In diesem Chaos würde ich ihn nie finden. Ich hätte längst aufgeben und mich um meine eigene Flucht kümmern sollen, solange ich noch konnte, bevor sie alle Tore schlossen und ich selbst gefangen war.
Schon begann ich, in die Richtung zu laufen, in die die Mehrheit strebte, als ich unvermittelt einen Schatten vor der Mauer mir gegenüber bemerkte, die bereits in tintenschwarze Dunkelheit getaucht war.
Eine Kapuze schirmte sein Gesicht ab. Er stand regungslos da wie eine Säule. Ich verharrte, jeden Nerv zum Zerreißen angespannt. Da hob der Schatten den Kopf. Für einen elektrisierenden Moment begegneten sich unsere Blicke. Ich sprang auf ihn zu. Gleichzeitig wirbelte Master Shelton herum, rannte los und tauchte in der Menge unter, die wie eine in Panik geratene Herde in blinder Flucht zum Tor drängte.
Ich kämpfte mich vorwärts. Master Shelton war vor mir, zu erkennen an seinen massiven Schultern. Der gepflasterte Weg wurde immer enger und zwang die fliehenden Beamten und Schreiber, sich in einen Flaschenhals zu drängen. Das Fallgitter war geschlossen. Ein Schlund voller spitzer Zähne verhinderte jedes Entkommen. Hinter uns kündigte das Klappern von Hufen die Ankunft der berittenen Patrouille an. Sie wurde begleitet von Dutzenden Wächtern in Helm und Panzer.
Entsetzt beobachtete ich, wie die Soldaten begannen, scheinbar willkürlich Männer herauszugreifen und mit Fragen zu bestürmen. »Wem dienst du? Königin oder Herzog?« Im gleichen Takt stießen Lanzen in Fleisch und Knochen. Binnen Sekunden erfüllte ekelerregender Urin- und Blutgestank die Luft. Am Fallgitter krallten sich Männer in panischer Raserei ineinander, kletterten über Köpfe, Schultern oder Rippen, brachen und zermalmten noch mehr Knochen.
Master Shelton versuchte zurückzuweichen, sich an den Rand dieser Stampede zu kämpfen. Wenn ihn ein Wächter oder sonst jemand als Bediensteten der Dudleys identifizierte, war das sein sicherer Tod. Das Nahen eines blutverschmierten Wächters auf einem mächtigen fuchsbraunen Hengst zwang die Menge dazu, sich zu teilen. Eine Reihe von Männern hatte das Pech, zu stürzen und in den Burggraben zu fallen, wo schon andere schwammen oder gegen das Ertrinken ankämpften. Ich drängte unter Einsatz meiner Schultern an jenen vorbei, die sich hinter Master Shelton befanden. Der Haushofmeister warf den Kopf herum, deutlich zu erkennen an der hervortretenden Narbe quer über seinem Gesicht.
Wut blitzte in seinen Augen auf, als er erkannte, dass der Wächter es auf ihn abgesehen hatte. Ich hatte schon einen Warnschrei auf den Lippen, als mit einem Mal ein Ruck durch die Menge ging und ich ihn aus den Augen verlor. Das Fallgitter war aufgestemmt worden. Und damit brach endgültig das Chaos aus. Bei dem verzweifelten Versuch, unter den Spitzen hindurchzukriechen, rissen sich die Vordersten Hände und Knie auf. Denn sie wussten: Wenn sie blieben, wurden sie verhaftet oder zerquetscht.
Master Shelton war verschwunden. Um nicht von der Masse zu Boden gestoßen zu werden, musste ich mich mit Händen und Füßen wehren. Ich stolperte über die regungslosen Körper derer, die gestürzt und zertrampelt worden waren. Irgendwie geriet ich mit unzähligen anderen auf einen Landungssteg. Dort blickte ich mich erneut um.
Nirgends ein Zeichen von ihm.
Hinter meinem Rücken hörte ich die berittenen Wächter und die mit Spießen bewaffneten Fußsoldaten näher rücken. In nackter Todesangst sprangen viele der Männer um mich herum in den Fluss. Lieber riskierten sie, von der Strömung ins Meer gesogen zu werden, als diesem Gemetzel zum Opfer zu fallen.
»Nein!«, brüllte ich, selbst nach vorn drängend. »Nein!«
Immer noch brüllend, stürzte ich mich in die von der Flut angeschwollene Themse.
Stunden später wankte ich tropfnass und nach Abwässern stinkend über das Feld vor dem Stadttor. Über mir stand der Himmel, von Freudenfeuern erhellt, in Flammen. Hinter mir dröhnte ganz London von Glockenläuten.
Ich hatte es geschafft, die tiefen Stellen des Stromes zu vermeiden, wo mächtige Strudel die Oberfläche aufwühlten, und mich zu einigen halb verfallenen Steinstufen am Südufer zu retten. Erspart geblieben war mir der Anblick all derer, die von den wirbelnden Wassermassen in die Tiefe gezogen worden waren, und auch der von Männern, die sich zurück auf den Steg gerettet hatten, nur um den dort wartenden Soldaten in die Hände zu fallen. Wie viele Menschen heute Nacht noch sterben würden, weil sie dem Herzog – wenn auch in einer vielleicht völlig unbedeutenden Funktion – gedient hatten, darüber konnte ich nur spekulieren. Ebenso stand Cecils Schicksal in den Sternen. Ich bezweifelte freilich nicht, dass er entkommen war. Der Meistersekretär war auch ein Meister des Überlebens.
An Master Shelton wollte ich lieber nicht denken. Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt schwimmen konnte.
Noch schmerzhafter war der Gedanke an Jane Grey, die ab sofort eine Staatsgefangene war, auf Gedeih und Verderb der Gnade der Königin ausgeliefert. Doch statt mich damit zu befassen, konzentrierte ich mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, den triefenden Umhang hinter mir herschleifend, bis ich die Straße erreichte. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie weit es von hier nach Hatfield sein mochte. Vielleicht würde mich am Morgen ein Karren mitnehmen, wenn ich wieder trocken war und nicht mehr wie ein Vagabund aussah.
Als ich die Stadt weit genug hinter mir gelassen hatte und mich einigermaßen sicher fühlte, ließ ich mich zu Boden sinken und untersuchte meinen Umhang. Vorsichtig barg ich das in seinem tropfnassen Tuch verwahrte Goldblatt und steckte es unter das Wams. Gerade wrang ich den Umhang aus, damit ich ihn zu einem Bündel schnüren und auf dem Rücken tragen konnte, als ich das Klappern von Hufen vernahm. Es ging in einen Galopp über – und kam schnurstracks auf mich zu.
Ich kauerte mich hinter einen Weißdornbusch, der natürlich nur wenig Deckung bot. Zum Glück war es eine mondlose Nacht. Und vielleicht waren die Reiter zu sehr auf ihr eigenes Entkommen bedacht, um auf mich zu achten. Ich legte mich so flach wie möglich auf die Erde und hielt die Luft an, als zwei Männer auftauchten. Soweit ich das erkennen konnte, trug jeder von ihnen Kappe und Umhang. Ausgerechnet auf meiner Höhe hielten sie an. Ich verfluchte mein Pech.
»Das wurde aber auch Zeit«, sagte eine vertraute Stimme.
Mit einem erschöpften Lächeln richtete ich mich auf.
Cecil musterte mich von oben bis unten. Er ritt auf Deacon. An seiner Seite saß Peregrine auf Cinnabar. »Na endlich!«, rief der Junge. »Wir suchen dich seit einer Stunde und haben schon gerätselt, welche Suppe du dir diesmal eingebrockt hast.« Er lachte auf. »Sieht ganz nach einem neuerlichen Bad im Fluss aus. Bist du sicher, dass du nicht etwas von einem Fisch in dir hast?«
Ich starrte ihn verdrießlich an.
»Habt Ihr gefunden, was Ihr suchtet?«, fragte Cecil leise.
»Beinahe.« Ich band meinen halb verschnürten Umhang am Sattel fest und saß vor Peregrine auf. »Es war jedenfalls keine erfreuliche Erfahrung.«
»Das hatte ich auch nicht angenommen.« Cecils Augen folgten meinem Blick zur Silhouette des Towers. »Das Gesindel ist wild geworden«, murmelte er. »In den Straßen fordern sie jetzt Northumberlands Kopf. Lasst uns dafür beten, dass Königin Mary sich ihres Amtes als würdig erweist.« Er richtete den Blick wieder auf mich. Ich erwiderte ihn in stillschweigendem Einverständnis. Wir hätten Feinde werden und auf Dauer bleiben müssen. Doch die Zeiten verlangten mehr von uns.
»Dann auf nach Hatfield«, sagte Cecil.
Wir trennten uns Stunden später, als die Morgenröte ihr Licht über den Horizont ergoss. Cecils Landhaus lag nur wenige Meilen entfernt. Ausführlich beschrieb er mir den weiteren Weg nach Hatfield. Ein Moment der Verlegenheit entstand, als ich meine Dankbarkeit dafür ausdrückte, dass er zurückgeblieben war, um Peregrine zu helfen. »Obwohl ich dem Bengel ausdrücklich verboten habe, auf mich zu warten«, rügte ich.
Cecil neigte das Haupt. »Es war mir eine Freude, Euch gefällig zu sein. Und es freut mich zu hören, dass ein Teil von mir doch noch erlöst werden kann. Bitte richtet Ihrer Hoheit und natürlich auch Mistress Stafford meine ergebenen Grüße aus.« Bevor er davonritt, fing ich noch ein wissendes Funkeln in seinen kühlen Augen auf, das mich erschreckte.
Ich blickte ihm nach. Es stand zu viel zwischen uns, als dass sich je eine Freundschaft entwickeln konnte, aber wenn Elizabeth einen Mitstreiter benötigte, der bereit war, jegliche Moral über Bord zu werfen, würde sie keinen besseren als William Cecil finden.
Hinter mir sackte Peregrine übermüdet in sich zusammen. »Klammer dich an mir fest«, riet ich ihm. »Wir halten erst wieder an, wenn wir da sind.«
Ich gab dem Pferd die Sporen, und wir sprengten über Sommerwiesen und durch Buchenwälder, bis wir ein von mächtigen Eichen geschütztes rotes Ziegelschloss erreichten, von dem der süße Duft frisch gebackenen Brotes warm in die Morgenluft emporstieg.
Ich drosselte Cinnabar zu einem gemütlichen Passgang. Beim Näherkommen sah ich, dass Hatfield ein Gut war, wo Landwirtschaft betrieben wurde. Es gab eine Weide für Nutztiere, Obstbäume, Gärten, eine Molkerei und eine Reihe von Scheunen. Ohne sie besichtigt zu haben, wusste ich bereits, dass die Gärten wunderschön, wenn auch etwas wild sein würden – so wie ihre Besitzerin.
Trost stahl sich in meine Seele. Dieses Fleckchen sah ganz so aus, als könnte ich dort Heilung finden.
Als ich ihre Gestalt mit dem goldbraunen Haar vom Haus zur Straße laufen sah, hob ich in freudiger Erleichterung die Hand und winkte.
Zu guter Letzt war ich endlich zu Hause.