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Eis ist erstarrte Zeit.

Daran musste Katya denken, während die Rentierschlitten in die weiße Weite hinauszogen. Kaum vorstellbar, dass es in diesem Landstrich jemals eine wärmere, eine grüne Jahreszeit geben konnte, so ewig schien der Winter hier. Sobald das Auge die frischen Spuren von Schneehühnern und Schneehasen ausgemacht hatte und die ihres Jägers, des Eisfuchses, waren sie im nächsten Augenblick schon wieder verweht.

Tag und Nacht hielten sich die Waage, ihr Wechsel markiert von langen Schatten, einer glühenden Sonne am Horizont. In der Frühe das Signal zum Aufbruch, am Abend das Zeichen, einen Lagerplatz zu suchen und die Zelte aufzustellen, bevor die Dunkelheit einfiel.

Im Feuerschein blies Katya auf den kochend heißen Tee aus Beeren, Kräutern und Wurzeln. Auch Tage nach dem letzten Schnitt im Eis spürte sie noch jeden Muskel, die Blasen und Schwielen, die sich trotz der dicken Handschuhe auf Handflächen und Fingern gebildet hatten.

Es hatte sich gelohnt, eine gute Ernte hatten sie diesen Winter wieder eingebracht. Die zweite Fuhre war bereits an Bord der treuen Albatros auf dem Weg nach Hamburg, alles an Eis schon verkauft, bevor Katya überhaupt nach Norwegen aufgebrochen war. Sofern nichts schiefging, war zumindest die Grundlage für das kommende Jahr gesichert.

Alles, was jetzt kam, war ein Griff nach den Sternen.

»Fehlt dir dein altes Leben in Bergen nicht manchmal?«, fragte sie Tore, der sich neben ihr am Feuer aufwärmte.

Erst durch die Heirat mit Jaska ein Teil der Gemeinschaft geworden, erinnerte Tore auch mit Mitte zwanzig noch an einen Lausebengel, rundwangig und stupsnasig, die Haare unter der Mütze wie gebleichtes Stroh. Nachdenklich rieb er sich das Kinn, während er ins Feuer blickte.

»Meine Eltern würde ich gern öfter sehen. Auch meinen Bruder und seine Familie, den einen oder anderen Freund von früher. Manche Annehmlichkeit aus der Stadt vermisse ich. Aber sonst … eigentlich nicht, nein.«

Mokci, das Gesicht kantig wie das seines Vaters, aber mit dem weichen Mund und den schelmischen Augen seiner Mutter Birra, sah seinen Schwager aufmerksam an, während er in großen Schlucken aus dem dampfenden Becher trank, als hätte er Hornhaut auf Zunge und Gaumen.

»Ich kenne Harri ja schon, seit ich so klein war.« Tore ließ seine Hand einen guten halben Meter über dem Boden schweben. »Wann immer er zu uns in den Laden gekommen ist. Aber als er dann das erste Mal Jaska dabeihatte … Wie sagt man so schön? Da war es um mich geschehen.«

Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem angedeuteten Grinsen.

»Unser Vater war alles andere als glücklich darüber«, mischte sich Mokci ein. »Bei einem von außerhalb.«

Tores Grinsen vertiefte sich. »Einen ganzen Sommer lang musste ich draußen mit den Hirten verbringen, zwischen Rentieren und Schafen. Vorher durfte ich noch nicht einmal Jaskas Namen erwähnen. Und Harri und Mokci haben gründlich dafür gesorgt, dass ich bei jeder Gelegenheit als Dummerjan dastand.«

»Sonst hättest du ja nie gelernt, wie man hier Frau und Kinder ernährt«, rechtfertigte sich Mokci mit herzlicher Ruppigkeit, und Katya und Tore stimmten in sein Lachen ein.

»Harri war auch dagegen, dass ich hier dabei bin«, erzählte Tore. »Als Frischling im Eis. Aber ich wollte unbedingt mit. Nicht nur des Geldes wegen.«

»Weshalb er mich eigens dafür abgestellt hat, ständig ein Auge auf dich zu haben«, beschwerte sich Mokci, packte seinen Schwager im Nacken und schüttelte ihn.

Tore boxte ihn dafür zwischen die Rippen. »Bisher ja keine besonders herausfordernde Aufgabe.«

Mokci lachte, trank seinen Tee aus und stapfte aus der Wärme des Feuers hinaus, sein Atem ein dicker Nebel vor dem Gesicht.

»Ich würde alles wieder genauso machen«, sagte Tore und schlug den Bogen zurück zum Anfang. »Ist ein gutes Leben hier, unter diesen Leuten. Mit Jaska und unserem kleinen Wicht.«

Katya erwiderte sein Lächeln.

»Wenn ich das sagen darf«, begann Tore dann nach einer kleinen Pause erneut, »mit jeweils einem Bein in zwei Welten … Den Leuten hier bedeutet das Geschäft mit dem Eis eine Menge. Nicht nur wirtschaftlich. Sie sind sehr von der Wertschätzung angetan, die ihr dem Eis entgegenbringt, du und dein Bruder. Für dieses Land und seine Menschen.«

Katyas Blick wanderte zu der zweiten Feuerstelle. Grischa wog gerade mit Harri und Ailo und ein paar anderen Männern das Für und Wider eines Abstechers ins Gebirge ab. Wertvolles Gletschereis könnte dort auf sie warten, aber auch unwegsames Gelände, das einen Abtransport erschweren, vielleicht sogar unmöglich machen würde.

Dahinter konnte sie Johanns Silhouette ausmachen, der gedankenversunken durch die Nacht spazierte. Natürlich ließ er sich eine solche Entdeckungsfahrt nicht nehmen, nicht nur um Katyas willen. Jeder Winter, den er im Eis verbrachte, hatte doppelt gezählt; jedes Jahr konnte das letzte sein, in dem sein Körper den Strapazen der Kälte widerstand, das wusste er, hatte es selbst so gesagt. Sein gewohnter Elan war spürbar spröde geworden, und ein zärtliches Weh machte sich hinter Katyas Brustbein breit.

Johann hatten sie es zu verdanken, dass sie im Eidfjord damals so freundlich aufgenommen worden waren und zwei Seen mit dem dazugehörenden Land ihr Eigen nennen durften.

»Mir bedeutet es auch sehr viel«, sagte sie leise. »Auch weit über das Geschäftliche hinaus.«

Den Kopf in den Nacken gelegt, sah sie zu den Polarlichtern hinauf, die die Sterne umtanzten. Sie konnte sich ihr Leben nicht vorstellen, ohne immer wieder Zeit hier zu verbringen, zusammen mit diesen Menschen.

Mit ihren Falten und Schrunden, den weißen Häuptern, erinnerten die Berge an uralte Männer und Frauen, die müßig in der Sonne saßen und mit milder Nachsicht das Vorwärtsstürmen der Jugend beäugten, in unbeteiligter Ferne.

Trotzdem schien der Zug der Rentierschlitten höher und höher dem Himmel entgegenzustreben, hart und glänzend wie blaues Glas. Geradewegs in die Sonne hinein fuhren sie, schwitzend unter Leder und Pelz, während der Wind mit Messerklingen in Augen und Nase schnitt.

Auf Johanns Karte kaum größer als ein Daumenabdruck, schien die Hochebene sich immer mehr auszudehnen, je weiter sie hineinfuhren. Über die alten Routen, auf denen die Ahnen der Fjordleute ihre Herden geführt hatten und zur Jagd gewesen waren. An Wäldern vorbei, bei denen es glaubhaft schien, dass unter den Baumwurzeln Trolle hausten und Feen die Stämme umtanzten.

Ein ganzer Kontinent für sich, weit und leer, der nur auf sie gewartet zu haben schien.

Niemandsland.

Johanns Thermometer fiel. Minus vierzehn Grad. Minus siebzehn. Minus dreiundzwanzig. Eine Kälte, die sich um die Schädelknochen spannte wie ein Nussknacker und die Lippen beizte. Eiskristalle funkelten in Bärten und Wimpern, und die Rentiere trabten unter dichten Dampfwolken dahin.

»Der Eiskeller Europas«, schnurrte Johann zufrieden im Schlitten hinter Katya. »Ein kleines Grönland mitten im Süden Norwegens.«

Nord und Süd schienen losgelöst von Kompass und Karte. Was immer der Mensch ausmaß und kategorisierte und kartografierte, besaß hier keine Gültigkeit. Hier befand sich der Nordpol, auf den Katyas eigene Kompassnadel unbeirrbar zuhielt; hier, in dieser knackigen Kälte, war sie ihrer Kindheit wieder so nahe wie nie zuvor.

Alle ihre Sinne waren geschärft in diesem weißen Ozean, der ein Geheimnis daraus machte, wo Fels und Erdboden ineinander übergingen. Wo sich frostharter Sumpf verbarg und wo gefrorenes Wasser. Katya ließ sich nicht täuschen. Sie konnte das Eis fühlen, das überall unter der Schneedecke schlummerte, gewichtig und still. Ein Sehen mit geschlossenen Augen war es, ein Aufhorchen, das die Haut auf ihren Unterarmen kräuselte. Unwillkürlich hielt sie den Atem an und lauschte unter dem Schnaufen der Rentiere, dem Schleifen der Schlittenkufen in die Welt hinaus.

Ailos Schlitten zog mit dem Harris gleichauf.

»Willst du dich nicht irgendwann entscheiden?«, rief Grischa zu Katya hinüber.

»Erst wenn es so weit ist«, erwiderte sie übermütig.

»Du weißt aber, dass wir das Eis dann den ganzen Weg wieder zurückschleppen müssen«, mahnte er.

Sein Lachen verriet jedoch, dass er ihr die Führung überließ, und Ailos Rentiere fielen wieder hinter denen seines Schwiegervaters zurück.

Katyas Herzschlag verlangsamte sich und pochte dann umso kräftiger. Dieses Mal war es keine überschäumende Aufregung wie damals an jenem namenlosen See, den sie Voroninvatnet getauft hatten. Eine tiefe und beruhigende Gewissheit war es, mitten in dieser weißen Leere.

Nur halb nahm sie wahr, wie Johann, immer feinfühlig, immer aufmerksam, Harri darum bat, seine Rentiere anzuhalten.

Es spielte keine Rolle, wo das Ufer endete und der See begann, das eine war so fest und sicher wie das andere. Katya ließ sich auf die Knie nieder und schaufelte den Schnee zur Seite. Grelles Licht blendete sie, so hart warf das Eis die Sonne zurück. Makellos rein und klar war es und so dick, dass sie das Wasser des Sees darunter nur erahnen konnte.

Seit sie und Grischa das Gehöft in Russland verlassen hatten, war das Messer ihres Urgroßvaters Glücksbringer und Wünschelrute zugleich gewesen. Jetzt zog es einen haarfeinen Schnitt durch das Eis, ohne das kleinste Krümelchen abzuscheren, den dünnsten Riss hineinzusprengen. Dieses Eis hatte lange Zeit gehabt zu wachsen, vielleicht schon seit September.

Harris Männer schwärmten über die Ebene aus und gruben im Schnee, um die Fläche des Sees abzustecken. Bald schon waren die Ersten zu dunklen Umrissen geschrumpft, und noch immer war das andere Ufer nicht erreicht.

Als Katya ihren Namen hörte, wandte sie den Kopf. Grischa stand etliche Meter entfernt, ein Lachen auf dem bärtigen Gesicht. Was er ihr zurief, verwehte größtenteils im Wind der weiten Landschaft.

Eine Goldgrube , glaubte sie trotzdem gehört zu haben, und sie nickte.

Dieser See war riesig, vielleicht sogar größer als der Voroninvatnet und der Isvatnet zusammengenommen. Vor ihr erstreckte sich mehr Eis, als die mitgeführten Rentiere auf einmal zurück in den Fjord ziehen konnten. Mehr, als in den gewaltigen Bauch der Albatros und in den Lagerraum an den Mühren passte.

Zusätzliche Arbeiter würden sie brauchen, die ihrerseits für die Zeit hier draußen im Eis ein wärmendes Dach über dem Kopf benötigten und kräftige Mahlzeiten und heißen Kaffee. Holz würden sie in den umliegenden Wäldern schlagen können, aber Löhne und Proviant und zusätzliche Schiffscharter würden einiges an Geld verschlingen.

Ausgaben, die sie mühelos wieder hereinbekämen, um ein Vielfaches sogar. Katya wünschte, Thilo wäre hier und könnte diesen Reichtum an Eis mit eigenen Augen sehen. Neue Flügel könnten ihrer Firma jetzt wachsen, kraftvoller und mächtiger als zuvor.

Weithin ließ sie ihren Blick schweifen, um so viel wie möglich von diesem Ort in sich aufzunehmen und zu Hause dann Christian zu schildern. Sicher würde er einen treffenden Namen für dieses Eis finden. Die richtigen Worte, um es später mit maximalem Gewinn an den Mann, an die Frau zu bringen.

Katya hatte sich schon lange nicht mehr so stark und im Gleichgewicht gefühlt wie in diesen Augenblicken, als Herrin über das Eis wie über ihr eigenes Schicksal.

Ihr Blick kreuzte sich mit dem Johanns, der wie sie über dem Eis kauerte, um es genauer zu studieren. Vielsagend hob er die Brauen, und sie antwortete mit einem Lächeln.

Vermutlich hatte er recht. Jetzt, da ihre wirtschaftliche Zukunft verheißungsvoll glänzte wie das Eis unter ihr, würde auch alles andere in Ordnung kommen.

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