30



Katya hatte nicht gewusst, wie blau ihr See in der warmen Jahreszeit war. Ein Stück vom Himmel, wenn sich die Wolken darin spiegelten, glitzernd im Sonnenlicht. Wo sonst Eis und Schnee das Land bedeckten, wuchs nun saftiges Grün. So weit das Auge reichte, ein satter Weidegrund für Hunderte von Rentieren und blökenden Schafen.

An diesen langen hellen Tagen lag eine Leichtigkeit in der Luft, die nach Wildkräutern duftete, nach sonnendurchwärmtem Stein und Moos. Bereitwillig ließen sich die Hunde davon anstecken, schnappten im vergnügten Spiel nacheinander, lieferten sich Wettrennen oder aalten sich hechelnd auf der Wiese. Bis die Hirten sie mit einem scharfen Pfiff an ihre Pflicht erinnerten und sie schuldbewusst geduckt herbeischlichen.

»Ist schön, dass du mal im Sommer herkommst«, sagte Birra, die neben Katya auf einem Stein saß, beide eine Schüssel mit Teig für die Mittagsmahlzeit zwischen den Knien.

»Ich wusste erst nicht, ob es eine gute Idee ist«, erwiderte Katya. »Ob ihr mich hierhaben wollt.«

Birra warf ihr überrascht einen Blick zu. »Natürlich. Dies ist doch dein Land.«

So stand es in den Papieren vom Amt in Bergen. Was diese hier draußen noch wert waren, vermochte Katya nicht einzuschätzen, fast eineinhalb Jahre, nachdem Tore und Mokci im Schneesturm erfroren waren.

Noch im selben Winter hatten Grischa und Johann den Ältesten die Zustimmung abgerungen, weiterhin Eis aus den beiden Seen holen zu dürfen, mehr jedoch nicht. Gegen den Willen der Männerversammlung hatten sich im darauffolgenden Jahr zwar ein paar zupackende Hände in der Siedlung gefunden, weil die Bezahlung zu verlockend gewesen war oder aus reiner Hilfsbereitschaft. Trotzdem war es eine Herkulesarbeit gewesen, mit viel zu wenigen Arbeitskräften das Eis zu heben und zum Schiff zu transportieren.

Katya war das nicht genug, deshalb war sie hier.

Zwischen den Männern, die mit Sägegeräuschen und hallenden Hammerschlägen an Katyas Hütte und dem Arbeiterhaus werkelten, konnte sie Harris weißblonden Haarschopf ausmachen. Seine Begrüßung bei ihrer Ankunft vor bald vier Monaten war freundlich ausgefallen, aber weit entfernt von seiner früheren Herzlichkeit. Die meiste Zeit schien er ihr aus dem Weg zu gehen; dass er sich überhaupt bereit erklärt hatte, die längst fälligen Reparaturen zu übernehmen, schien jedoch ein gutes Zeichen.

»Ich habe mich noch gar nicht richtig für die herrlichen Sachen bedankt«, sagte Birra. »Du ahnst ja nicht, wie die Mädchen jetzt bei mir um das Haus herumstreichen und fragen, ob sie mir zur Hand gehen können. Weil sie hoffen, dass vielleicht irgendwie ein Kleid oder wenigstens eine Bluse aus einem dieser schönen Stoffe für sie abfällt. Und Zimt, meine Güte, Zimt! Ich kann mich gar nicht recht erinnern, wann wir uns das letzte Mal welchen geleistet haben.«

Katya lächelte verlegen. »Ich weiß nicht, warum ich nicht schon früher daran gedacht habe, euch etwas mitzubringen.«

Birra zuckte mit einer Schulter, während sie sich den zähklebrigen Teig von den Fingern zupfte.

»Das ist doch der Lauf der Dinge. Dass man auf einmal Gedanken hat, die früher noch nicht da waren.«

»Mir kam es wohl immer so vor, als hättet ihr alles, was ihr braucht.«

Birra lachte, dass ihre Augen blitzten. »Das ist schon wahr. Aber gegen ein bisschen Luxus ist trotzdem nichts einzuwenden. Allein dass wir jetzt hier Pferde haben. Keiner von unseren Eltern oder Großeltern hätte sich das je leisten können.«

Ihr Blick wanderte auf die Weide hinaus, wo sich zwei der kurzbeinigen und stämmigen Pferde von den Rentieren entfernten, in dem einen Sattel ein flachsblonder junger Mann, im anderen ein Mädchen mit brandrotem Haar. Schelmisch sah sie Katya von der Seite her an.

»Als junges Ding hab ich natürlich von einem leichten und süßen Leben geträumt, da war ich nicht anders als die Mädchen heute. In die Stadt hatte ich gehen wollen. Raus aus dem Rentierdung und dieser einsamen Gegend. Am besten in einem feinen Kleid und Schuhen mit Absatz.«

Kopfschüttelnd lachte Birra über sich selbst, wie ungläubig.

»Aber dann kam Mittsommer, und Harri hat mich zum Tanz um das Feuer geholt. Und wie er getanzt hat, als gäbe es kein Morgen! Dabei war Harri immer einer der Stillen, weißt du. Einer, der lieber mit den Tieren draußen schwieg, als mit markigen Sprüchen um die Mädchen herumzustreichen. Atemlos vom Tanzen hat er mich dann irgendwann gefragt, ob ich nicht doch bleiben will. Seinetwegen. So traurig und hoffnungsvoll hat er dabei ausgesehen. Auch wenn die Jahre seither nicht immer einfach waren, bereut habe ich es nie.«

Katya erwiderte Birras Lächeln und wog ihre nächsten Worte sorgfältig ab.

»Ich hatte Sorge, ihr könntet es falsch verstehen, wenn ich euch Geschenke mitbringe. Es als herablassend empfinden. Und wegen Tore und Mokci.«

Birras Bewegungen, mit denen sie den Teigklumpen bearbeitete, verlangsamten sich, in sich gekehrt wirkte sie.

»Wenn man hier aufwächst«, begann sie nach einer Weile leise, »ist einem der Tod nicht fremd. Jede Generation hat die Ihren zu beklagen, die zu früh geholt worden sind. Die Schafe über die Pfade am Berghang auf die Weide zu treiben ist nicht ungefährlich, da ist schon mancher abgestürzt. Es gab Winter, die so hart waren, dass sogar die Rentiere unter dem festgefrorenen Schnee kein Moos mehr fanden und auch die Menschen Hungers starben. Oder weil ein Rudel Wölfe alle Schafe gerissen hatte. Manche ereilte aus heiterem Himmel ein Fieber, gegen das unsere Kräuter machtlos waren. Mein Vetter Ovla ist im Fjord ertrunken, da war er gerade fünf Jahre alt. Oder nimm Lejos Mutter Dula, die ist bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben, und der kleine Wurm gleich mit. Ihr Mann Juho hat das nie verwunden, ich bin sicher, es war sein gebrochenes Herz, das ihn bald darauf auch umgebracht hat.«

Sie hielt kurz inne, Schatten von Verlust und Trauer auf ihrem breiten, offenen Gesicht.

»Trotzdem reißt es einen in den Abgrund, wenn man den Mann verliert, das Kind, den Vater. Da hadert man und zürnt dem Schicksal. Es hilft, wenn man aneinander Halt findet und Trost im Gebet. Wenn man seine verstorbenen Lieben auf den himmlischen Weiden weiß und dass sie mit den Polarlichtern kommen, um uns zu sehen.«

Mit dem Handgelenk strich sie sich ein loses Härchen aus der Stirn, das Grau in ihrem hanfhellen Flechtkranz dichter als noch im vergangenen Jahr, und mit neuer Energie begann sie, den Teig in der Schüssel zu walken.

»Es war nicht euer Eis, das uns Mokci und Tore genommen hat. Mit euch nicht mehr ins Eis zu gehen, das gibt uns unseren Sohn nicht zurück, Jaska und Erva nicht ihre Männer. Aber das Eis kann uns viel Segen bringen. Sollten wir wieder einen Hungerwinter erleben, weil uns die Rentiere wegsterben, haben wir genug Geld, um uns in Bergen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Wenn jemand krank wird oder sich beim Baumfällen schwer verletzt, können wir einen Doktor bezahlen und Medizin. Ich habe auch schon überlegt, ob wir nicht Morten und Jonne und Nastis zwei Kleine in Bergen zur Schule schicken. Damit sie eines Tages einen Beruf erlernen, in dem sie nicht nur weniger schuften müssen, sondern auch gutes Geld verdienen.«

In ihre Gedanken versunken, teilte sie den Teig in Bällchen, die sie sorgsam flach drückte. Von selbst verfielen ihre und Katyas Hände in einen harmonischen Rhythmus.

»So habe ich das Harri auch gesagt«, fuhr Birra nach einer kleinen Pause fort. »Je mehr Eis ihr hier holt, desto mehr haben auch wir davon, habe ich gesagt. Und das ist doch seine Aufgabe. Für unser aller Wohl Sorge zu tragen. Ich glaube, das hat ihm zu denken gegeben.«

Während das Fladenbrot im Feuer buk, ließ Katya Birras Worte in sich hineinsinken.

Der See im Landesinneren gehörte niemandem. Uglevatnet wollte sie ihn gern nennen, nach den Schneeeulen, den Boten zwischen den Welten.

Wahrscheinlich gäbe es nicht viele Hindernisse zu überwinden, um ihn mitsamt seinem Grund und Boden für sich zu beanspruchen oder gegen eine kleine Summe von der Krone zu erwerben. Genug Arbeitskräfte könnten sie sich aus Hamburg mitbringen, die notwendige Ausrüstung und das Holz für Unterkünfte in Bergen beziehen; wenn es sein musste, auch Rentiere.

Alles über die Köpfe der Fjordleute hinweg.

Das war jedoch nicht die Art, wie Katya an ihr Eis kommen wollte, das entsprach ihr nicht. Vor allem hatten sie zu viel miteinander erlebt und durchgestanden, als dass Katya sich vorstellen konnte, diesen Weg ohne die Menschen hier zu gehen. Ohne Rücksicht auf deren Lebensweise und Werte, ihre Gefühle.

Sie füllte zwei Henkelbecher mit Kaffee und ging zu ihrer Hütte hinüber. Nur zögerlich legte Harri den Hammer zur Seite und stieg die Leiter herab. Da seine Miene sich auflockerte, schien er dankbar, dass Katya den Mut aufgebracht hatte, den ersten Schritt zu wagen.

Am Ufer des Sees, der ihnen beiden so viel bedeutete, ließen sie sich nieder. Auf diesem Land, das sie miteinander teilten. Um die Freundschaft zu erneuern, die Winter um Winter hier im Fjord zwischen ihnen gewachsen war und in jenem todbringenden Schneesturm so schwer gelitten hatte.

Betje spürte Lejos Blick auf sich, während sie auf den Pferden über die Ebene zuckelten.

»Ist was?«, forderte sie ihn heraus, eher verspielt als ruppig.

Unter Lejos helle Haut, von der Sonne leicht gebräunt wie Weißbrot im Ofen, kroch eine feine Röte. Er setzte zu einem hastigen Kopfschütteln an, besann sich dann aber anders.

»Du hast ein Gesicht wie ein ganzer Sternenhimmel«, platzte er bewundernd heraus.

Jetzt war es Betje, die errötete, um eine Antwort verlegen.

Vertraut gingen sie miteinander um, nachdem sie so viel Zeit zusammen verbracht hatten. Fast so wie mit Hanno damals, in ihren ersten Wochen in Hamburg.

Lejo hatte ihr beigebracht, wie man eine Rentierkuh molk und Steinchen über das Wasser hüpfen ließ. Weit über die Wiesen und Moospolster waren sie gewandert; die Finger buntfleckig und klebrig vom Saft, hatten sie die goldorangenen Perlen der Multbeeren gesammelt, die blauen Glöckchen der Honigbeeren, mit denen Katya und Betje buken und daraus Marmelade kochten. Manchmal hatten sie und Lejo auch einfach nur irgendwo gesessen und hatten sich zugelächelt, herzenseinig in den Gedanken, die jedem für sich durch den Kopf gingen.

Betje bemerkte sehr wohl, wie Lejos Blicke immer wieder verstohlen über die Rundungen unter ihrem geblümten Sommerkleid wanderten; mit bald sechzehn Jahren hatte sie jetzt schon mehr Oberweite als Katya. Sie störte sich nicht daran, seine ganze Art war sanftmütig und ein bisschen schüchtern. Außerdem schielte sie genauso zu den breiten Schultern unter dem locker fallenden Hemd, den strammen Oberschenkeln, die sich unter seinen Hosen abzeichneten. Zu Lejos Gesicht, das mit seinen siebzehn Jahren schon männlich kantig war, die dunkelblauen Augen immer leicht verhangen, wie traumverloren.

»Du packst die Zügel zu fest«, sagte sie jetzt. »Lass ruhig etwas locker und leite das Pferd mehr mit den Knien. Schau, so.«

Den Rock geschürzt, demonstrierte sie mit bloßen Beinen, was sie meinte. Schuhe trug Betje hier nur, wenn spätabendliche Kühle heraufzog oder das Wetter schlecht war.

Lejo nickte und versuchte, es ihr nachzumachen, eine steile Falte über der Nasenwurzel; für ihn war das neu, auf einem Pferd zu sitzen.

»Wo hast du so gut reiten gelernt?«, fragte er.

»In Indien. Anfangs dachte ich, das wäre nichts für mich. Wegen meinem Arm. – Wegen meines Armes«, korrigierte sie sich sogleich.

Die dänische Mundart hatte sie aufgesaugt wie ein Schwamm, auch wenn sie darin noch nicht so firm war wie im Englischen, das sie aus Indien mitgebracht hatte.

»Aber mit ein bisschen Übung hatte ich dann schnell den Bogen raus«, fügte sie hinzu und streichelte den Pferdehals vor sich. Hübsche kleine Pferde waren es, hellgolden schimmernd, fast zu niedlich für starke Arbeitspferde. Ganz anders als die eleganten Rösser, die sie in Indien kennengelernt hatte, ohne dass sie hätte sagen können, welche ihr letztlich mehr gefielen.

Wie der Unterschied zwischen ihr und Katya, dachte sie manchmal.

»Wie fandest du es in Indien?«, wollte Lejo wissen.

»Erst einmal mochte ich es dort gar nicht. Es war alles so fremd. So … überwältigend. Irgendwann fand ich es aufregend und schön, aber nicht so, dass ich ewig dort bleiben wollte. Vor allem an die Hitze habe ich mich nie richtig gewöhnt. Hier in Norwegen fühle ich mich viel wohler. Ich bin wohl einfach ein Kind des Nordens.«

Lejo lächelte, sichtlich stolz auf seine Heimat; vielleicht galt sein Lächeln auch Betje, da war sie sich plötzlich unsicher.

»Nur euer Essen ist manchmal komisch«, fügte sie naserümpfend hinzu, und Lejo brach in schallendes Lachen aus.

»Was hast du sonst noch alles in Indien gemacht? Ihr wart doch ein halbes Jahr dort, nicht?«

Betje nickte.

»Viele Hausaufgaben habe ich gemacht«, erklärte sie mit einem Augenrollen, das bei Lejo ein Grinsen hervorrief. »Ich war mit in den Spinnereien und Webereien und habe mir angesehen, wie die Stoffe entstehen, und in den kleinen Manufakturen habe ich gelernt, wie Gewürze und Kaffee hergestellt werden. Oft waren wir auch einfach aufs Geratewohl unterwegs, um uns das Land anzusehen, und ich habe schwimmen gelernt.«

Lejo nickte anerkennend, bemüht, nicht allzu offensichtlich im Sattel hin und her zu rutschen.

»Brauchst du eine Pause?«, erkundigte sich Betje.

Er schnitt eine Grimasse. »Ich dachte schon, du fragst nie.«

Während die Pferde genüsslich ästen, saßen Betje und Lejo auf der Wiese in der Sonne und sahen den Wolken zu.

»Das muss toll sein«, sagte Lejo nach einer Weile und kaute dabei auf einem Grashalm, »so viel von der Welt zu sehen. Du hast wirklich Glück mit deiner Mutter.«

Mit einem tiefen Durchatmen, halb schon ein seliges Seufzen, nickte Betje.

Ein bisschen vermisste sie Hamburg, aber nicht allzu sehr, ihre Entdeckerlust, die Freude an allem Neuen, was sie kennengelernt und erlebt hatte, verdrängte alles andere.

Auf dieser Reise hatte sie gelernt, was sie alles schaffen konnte, wenn sie nur wollte. Reiten. Schwimmen im warmen Meer, ihr linker Arm von einer selbst genähten Schlinge im Zaum gehalten, und im See hier, der furchtbar kalt war und trotzdem herrlich. Im Gasthaus von Silja Guðmundsdóttir hatte sie mitgeholfen und sogar das Essen serviert, eben immer nur einen Teller und dafür mit umso schnelleren Schritten. Sogar die aufdringlichen Blicke der Nachbarin Oddveig Halvorsdotter hatte sie ausgehalten und nach ein paar knappen Worten dazu, was mit ihrem Arm los war, auch nicht weiter darauf geachtet. Sie hatte im Monsunregen gestanden und im Lied der Zikaden geschlafen, Wale gesehen und Delfine, war auf einem Elefanten geritten und hatte freche Äffchen gefüttert.

Am meisten bedeuteten ihr die Menschen, denen sie begegnet war. Diejenigen, die Betje so mochten, wie sie war, lahmer Arm hin oder her.

Dinge, die ihr früher ganz und gar unmöglich vorgekommen waren, waren Wirklichkeit geworden.

»Katya ist nicht meine richtige Mutter«, gestand sie leise. Ein bisschen verschämt und wie schuldbewusst, dass sie es überhaupt für nötig befunden hatte, es zu erwähnen.

»Na, doch«, widersprach Lejo. Während der Grashalm zwischen seinen Mundwinkeln hin und her wanderte, krempelte er die Ärmel auf. »So wie Gunna für mich. Als meine Mutter nicht mehr da war und mein Vater sich nicht recht um mich gekümmert hat, bin ich in der Siedlung von Haus zu Haus gereicht worden. Bei Gunna war ich am liebsten, ich weiß selber nicht, warum. Und als mein Vater dann auch starb, hab ich sie gefragt, ob ich ganz zu ihr kommen kann.«

Er zwirbelte den Grashalm im Mund herum und zwinkerte Betje fröhlich zu.

»Manche von uns haben nämlich das Glück, dass sie sich ihre neuen Eltern selbst aussuchen können.«

Betje gefiel dieser Gedanke.

Manchmal staunte sie darüber, wie alles gekommen war. Dass sie am Ende unter so vielen Menschen auf dieser Welt ausgerechnet bei Katya ein neues Zuhause gefunden hatte. Die genauso wenig einen echten Geburtstag feiern konnte, weil sie nur wusste, dass sie ein Kind des russischen Winters war und ihr Bruder ihre Lebensjahre mitgezählt hatte, bis sie es selbst tun konnte. So wie Betje nur wusste, dass sie ein Herbstmädchen war, geboren im Jahr des starken Regens, als in Ostfriesland Flüsse und Kanäle über die Ufer traten, Deiche und Brücken brachen. Und wie Betje mutterlos aufgewachsen, schien auch Katya damals, als Mädchen, eine neue Mutter gefunden zu haben, in Silja Guðmundsdóttir

Auf den ersten Blick kühl und ein wenig streng, hatte Silja Guðmundsdóttir ein großes und gutes Herz, das hatte Betje schnell gespürt. Siljas Sohn schlug da ganz nach ihr, sein enormes Wissen über die Dinge der Welt ein Ansporn für Betje, fleißiger zu lernen. Trotzdem steckte auch ein Lausejunge in Magnus; der Grasfrosch, den er in ihrem Zimmer ausgesetzt hatte und der Betje in den Nacken gesprungen war, hatte eine lautstarke Verfolgungsjagd durch das ganze Haus zur Folge gehabt. Bis Silja ein Machtwort gesprochen hatte, aus Rücksicht auf die Gäste, aber mit einem verräterischen Zucken um den Mund.

Natürlich stritten Betje und Katya, oft sogar, über irgendwelchen Tinnef, den Betje unbedingt haben wollte, den Tagesablauf oder das Ausflugsziel. Ein Zusammenprall ihrer verschiedenen Temperamente, ihres starken Willens, aber längst kein Machtkampf mehr und schnell wieder gut, sobald Betje den Kopf an Katyas Schulter legte, Katya sie in den Arm nahm.

»Ihr fahrt aber nicht so bald wieder nach Hause, oder?«, erkundigte Lejo sich vorsichtig und warf den Grashalm von sich.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Betje leise.

In einer der wenigen ruhigen Stunden im Gästehaus sah Betje die beiden Frauen mit einem Kaffee hinter dem Haus sitzen. Entsetzlich traurig hatte Katya dreingeblickt, sich sogar ein paarmal über die Augen gewischt, und Silja hatte ihr über den Rücken gestrichen. In Grund und Boden schämte Betje sich da, weil sie Katya ganz selbstverständlich die alleinige Schuld an dem Zerwürfnis mit Thilo gegeben hatte. Sie konnte dafür keine Worte finden, aber sie hatte sich alle Mühe gegeben, besonders lieb zu ihr zu sein, und Katya hatte es ihr mit einem Lächeln und einem Streicheln über die Wange vergolten.

Nur wenige Briefe von Thilo hatten Betje erreicht, kleine Ewigkeiten auf den Meeren der Welt unterwegs. Hauptsächlich ein Echo auf ihre Schilderungen der Reise, gespickt mit Zahlenrätseln und Logikspielereien; was immer sie über Katya schrieb, schien jedes Mal ungehört über dem Ozean verhallt zu sein. Ihre eigene Post las Katya mit undurchdringlicher Miene, bevor sie den Brief in ihrer Rocktasche verschwinden ließ. Vermutlich schrieben sie und Thilo sich nicht einmal mehr persönliche Dinge, sondern beschränkten sich ganz auf das Geschäft.

Bei dem Gedanken, zurück in Hamburg eine endgültige Trennung von Katya und Thilo miterleben zu müssen, drehte sich ihr der Magen um.

Betje wandte den Kopf. »Warum fragst du?«

»Nur so.«

Ein kleines Grinsen im Gesicht, rupfte Lejo einen frischen Grashalm ab und kitzelte sie damit am Hals. Lachend schlug sie nach ihm, rempelten sich beide spielerisch mit der Schulter an. Im Duft der blühenden Wiese war die Anziehungskraft des anderen unwiderstehlich; wie die Sommerblumen im Wind neigten sie sich einander zu.

Ein sanfter Kuss war es, federleicht und warm wie die Sonne, der Betje schweben ließ und doch seltsam enttäuschte.

»Ist trotzdem schön«, murmelte Lejo beim nächsten Atemzug. »Auch wenn ich merke, dass du einen anderen im Sinn hast.«

Betje runzelte die Stirn. Sie wusste nicht, was er meinte, sie hatte seit Ewigkeiten nicht mehr an Zacharias gedacht.

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