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Betje sah die Welle auf sich zurollen. Panisch drosch sie mit ihrer Rechten auf das Wasser ein und strampelte mit den Beinen, unschlüssig, ob sie Wasser treten oder lieber nach dem sicheren Boden angeln sollte, dann hatte das Meer sie auch schon verschlungen.

Prustend tauchte sie in Katyas Armen wieder auf, beißendes Salz in Augen und Nase.

»Ich kann das nicht«, gurgelte Betje aus verätzter Kehle und spuckte Wasser aus. »Ich kann das einfach nicht.«

»Versuch es weiter«, bat Katya und wischte ihr über das nasse Gesicht. »Irgendwann lernst du es.«

In einiger Entfernung stapfte eine Handvoll einheimischer Männer durch den Sand, jeder einen Sack auf der Schulter. Neugierig beobachteten sie die beiden Frauen, die triefend in langen Pluderhosen und Blusen im Wasser standen; die Heiterkeit ihrer Stimmen spiegelte sich auch auf den Mienen wider.

»Warum muss ich überhaupt schwimmen lernen?«, fauchte Betje und versetzte der nächsten Welle, die an ihr aufspritzte, einen nutzlosen Hieb.

Sie wusste nicht, auf wen sie wütender war, auf sich selbst, die so schwerfällig, so ungeschickt war, oder auf das Meer, das mit ihr machte, was es wollte.

»Weil keine Schiffsreise ohne Risiko ist«, erklärte Katya. »Ich hätte dich eigentlich gar nicht mit an Bord nehmen sollen. Falls etwas passiert, will ich, dass du dich wenigstens eine Zeit lang über Wasser halten kannst. Außerdem tut es dir sicher gut, mehr Kraft im rechten Arm und im Rücken zu bekommen.«

Seit Wochen mühten sie sich am Strand unweit des Bungalows ab, wo das Wasser schon tief war, aber Betje noch gut stehen konnte. In Wellen, die Betje mal wie eine unüberwindliche Mauer vorkamen, dann wieder viel zu durchlässig waren, als dass sie darin einen Halt gefunden hätte. Manchmal gluckste es lange noch in ihrem Bauch von all dem Wasser, das sie bei ihren Schwimmversuchen geschluckt hatte.

Unglücklich stampfte sie mit dem Fuß auf, im Meer eine kraftlose und lächerlich langsame Trotzgeste.

»Es ist der Arm, Katya. Der blöde Arm«, schniefte sie, der Salzgeschmack in ihrem Mund vielleicht noch vom Meer, vielleicht schon von Tränen. »Im Wasser pendelt er in alle Richtungen und bringt mich ins Trudeln.«

Immer wenn sie glaubte, mit diesem verwünschten Arm zurechtzukommen, machte er ihr erneut einen Strich durch die Rechnung.

Einen grüblerischen Ausdruck auf dem Gesicht, nickte Katya.

»Darf ich?«, fragte sie dann.

Behutsam fasste sie unter das Oberteil des Badekostüms, das sie aus steifem Stoff für Betje genäht hatte, an den Säumen mit kleinen Gewichten beschwert, und zog Betjes linken Arm aus dem Ärmel, sodass er unter der Bluse an ihren Rippen anlag.

»Versuch’s noch einmal so. Wenigstens für den Anfang, bis du den Dreh raushast.«

Murrend ließ Betje sich nach vorn kippen, auf Katyas ausgestreckte Hände, wie sie es fast jeden Tag geübt hatten. Komisch fühlte es sich jetzt an, ohne den eigenwilligen Arm, als wäre ihre linke Seite viel kleiner und leichter als die schwere und massige rechte, sie musste sich erst an dieses Ungleichgewicht gewöhnen. Umso energischer schlug sie mit den Beinen, dem gesunden Arm. Bewegungen, die etwas Grimmiges bekamen, als die nächsten Wellen auf sie zuwogten.

Der Unterschied war zunächst kaum bemerkbar, aber mit jedem weiteren Luftholen spürte Betje es dann umso deutlicher. Wie zäh das Wasser sich nach und nach zwischen ihren Beinen anfühlte, während ihr Arm Welle um Welle zur Seite schaufelte und sie vorwärtstrug. Erst als sie einen Jubelruf hinter sich hörte, bemerkte sie, dass sie Katya hinter sich gelassen hatte.

»Ich kann schwimmen«, blubberte sie, schon wieder Wasser im Mund und ein Lachen in der Brust, während sie tapfer weiterpaddelte. »Katya, ich kann schwimmen!«

Auf der Decke, die Katya im Sand ausgebreitet hatte, streckte Betje die Beine von sich, eine wohlige Mattigkeit im ganzen Körper, ein Glücksgefühl in den Adern. Herrlich war es, wie die Sonne den nassen Stoff durchwärmte und der Wind kühlend über die Haut strich. Im salzgebeizten Mund schmeckte die Ingwerlimonade noch besser, die Stücke von Ananas und Mango, die sie mit den Fingern aßen.

»Wer hat dir das Schwimmen beigebracht?«, wollte Betje wissen.

»Bestimmt Grischa«, erwiderte Katya. »Genau erinnere ich mich nicht mehr, ich war noch sehr klein. Ich nehme an, ich bin einfach meinen Brüdern hinterher, wenn die an den ersten warmen Tagen im See badeten. Und dann hieß es eben strampeln oder untergehen, dazwischen gab es nichts.«

»Gibst du deshalb niemals auf?«

Katya lachte. »Vielleicht habe ich auch einfach nur denselben russischen Dickkopf wie Grischa.«

Ihr Lächeln war von wehmütiger Zärtlichkeit, während sie zu der Wolkenbank am Horizont sah.

»Mein Zicklein«, fügte sie leise hinzu. »So hat mich unser Großvater genannt, wenn ich als kleines Mädchen bockig war. Jakov, der Regenmacher und Sonnenbeschwörer. Der Geschichtenerzähler. Mit seinen knorrigen Fingern hat er mir dann über den Kopf gerieben, dort, wo bei einer Ziege die Hörner sitzen.«

Betje dachte an ihren eigenen trotzigen Hitzkopf. »Hast du dir dabei nicht manchmal die Nase blutig gestoßen?«

»Oft sogar. Ich musste erst lernen, dass es das aber wert ist. Man darf sich nicht alles gefallen lassen, gerade als Mädchen nicht. Als Frau. Trotzdem ist es mir bis heute lieber, ein paar Schritte zurückzutreten und Ausschau zu halten, ob es nicht irgendwo einen Weg um das Hindernis herum gibt. Ein Schlupfloch im Dickicht zu finden. Rennt man in blindem Zorn dagegen an, verfängt man sich zu leicht darin, weißt du.«

Abgeklärt und geradezu weise klang sie dabei. Betje versuchte sich vorzustellen, auch einmal so zu sein, in zehn, in zwanzig Jahren. Vielleicht war es in diesem Moment, als sie wirklich begriff, welch weiten Weg sie von Onkel und Tante bis hierher zurückgelegt hatte. Viel weiter als von Ostfriesland bis nach Indien, von mulchigen Kartoffeln zu Früchten, die wie die Sonne selbst schmeckten.

Genießerisch leckte sie sich den Saft von den Fingern. Sie musste an Hanno denken, vielleicht würde er Ananas und Mango genauso gern mögen.

»Schade, dass wir das nicht auch zu Hause haben können.«

Katya wusste sofort, was sie meinte. »Das denke ich jedes Mal, wenn ich hier bin.«

»Lagerst du deshalb das ganze Obst bei uns im Bungalow?«

Katya warf ihr einen überraschten Blick zu. Es war das erste Mal in all den Wochen, dass Betje nach dem von Eis gekühlten Kämmerchen fragte.

Sie nickte. »Ich will wissen, wie lange es frisch bleibt. Dass Ananas und Mango schnell braun und matschig werden, wenn sie direkt auf Eis liegen, habe ich inzwischen gelernt. Jetzt versuche ich es mit einer Umhüllung aus trockenem Gras und beobachte außerdem, ob die Früchte vielleicht auch bei niedrigen Temperaturen nachreifen. Arno hatte schon den Gedanken, Lebensmittel gekühlt über weite Strecken zu transportieren, bevor wir überhaupt unser erstes Eis aus Norwegen geholt haben. Seitdem haben wir in der Firma immer wieder darüber gesprochen. Ich war nur nie lange genug in Indien, um es einmal auszuprobieren, bevor ich Geld und Stauraum für eine Fuhre opfere, die womöglich dann verdorben ankommt.«

»So was lässt sich zu Hause bestimmt gut verkaufen«, nuschelte Betje mit vollem Mund.

»Das glauben wir auch.«

Betje zögerte, während sie sich mit dem Handrücken über das Kinn wischte.

»Vermisst du Thilo gar nicht?«

Jeden Tag, lag es Katya auf der Zunge, und es wäre doch nur die halbe Wahrheit gewesen.

»Ich weiß gerade nicht«, antwortete sie nach einer längeren Pause, »ob ich wirklich ihn vermisse. Oder die Vorstellung, die ich von einem Leben mit ihm hatte.«

Die Nüchternheit, mit der sie es gesagt hatte, ließ den alten Groll in Betje aufsteigen; vermutlich konnte es auf der ganzen Welt keinen besseren Mann geben als Thilo. Doch da war auch etwas Brüchiges in Katyas Stimme gewesen, das Betje nachdenklich machte. Sie fragte sich, wie man sicher sein konnte, mit dem einen Menschen sein Leben verbringen zu wollen und sonst mit niemandem. Eine Antwort darauf wollte sich nicht einstellen. Letztendlich war sie froh, noch viel zu jung zu sein, um eine solche Entscheidung treffen zu müssen.

Wie ein Aufatmen lief es durch sie hindurch, während sie auf das Meer hinaussah, das unter dem weiten Himmel unwahrscheinlich blau leuchtete.

Ein Reiter näherte sich ihnen, wahrscheinlich einer der Engländer, die in der Verwaltung tätig waren oder wie Katya hier Geschäfte machten. Achtsam zügelte er sein Ross und lenkte es in einem großen Bogen durch das flache Wasser, damit die Hufe keinen Sand in die Richtung von Katya und Betje aufwirbelten. Sie erwiderten seinen höflichen Gruß.

Einige Herzschläge lang versank Betje ganz im Kommen und Gehen des Meeres, wie es rauschend und flüsternd über den Strand wusch, unendlich und zeitlos.

Die Magie Indiens steckte nicht nur in seiner Fremdartigkeit. Hier in der Ferne bekam Betje einen Eindruck davon, wie groß und weit die Welt war. Nicht in Meilen und Abermeilen gemessen, sondern in den Dingen, die es zu sehen und zu erleben und zu lernen gab. Geradezu grenzenlos schien diese Welt, hatte man einmal den Mut gefunden, sich von Hürden und Hindernissen nicht abschrecken zu lassen.

Sie wandte den Kopf und sah dem Reiter nach, der sein Pferd antrieb und in Sandwirbeln davonstob. Ein kraftvoller und eleganter Anblick, so stolz und frei, dass ein Hunger nach mehr in Betjes Bauch kribbelte.

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