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Riiiieeetsch! Ich beiße die Zähne zusammen, als Venia, eine Frau mit blauen Haaren und goldenen Tattoos über den Augenbrauen, blitzschnell einen Stoffstreifen von meinem Bein zieht, um die Haare auszureißen. »Entschuldigung!«, flötet sie mit ihrem albernen Kapitolakzent. »Aber du hast überall Haare!«

Warum sprechen diese Leute mit so hoher Stimme? Warum machen sie beim Sprechen kaum den Mund auf? Warum geht ihre Stimme am Ende eines Satzes immer in die Höhe wie bei einer Frage? Komische Vokale, abgehackte Wörter und ein zischendes S … Kein Wunder, dass sie immer nachgeäfft werden.

Venia bemüht sich, ein mitfühlendes Gesicht zu machen. »Aber ich habe eine gute Nachricht. Das hier ist der Letzte. Fertig?« Ich halte mich am Rand des Tisches fest, auf dem ich sitze, und nicke. Mit einem schmerzhaften Ruck wird der letzte Rest meiner Beinbehaarung ausgerissen.

Seit über drei Stunden bin ich jetzt schon im Erneuerungsstudio und habe meinen Stylisten immer noch nicht zu Gesicht bekommen. Anscheinend hat er kein Interesse, mich zu sehen, bevor Venia und die anderen Mitglieder meines Vorbereitungsteams nicht gewisse offensichtliche Probleme beseitigt haben. Das heißt, meinen Körper mit einem körnigen Schaum abzuschrubben, der nicht nur den Dreck entfernt hat, sondern auch mindestens drei Schichten Haut, meine Fingernägel in gleichmäßige Form zu bringen und vor allem meinen Körper zu enthaaren. Beine, Arme, Achselhöhlen und Unterarme sind frei von Haaren, auch die Brauen sind gezupft und ich komme mir vor wie ein gerupfter Vogel, bereit für den Grill. Es gefällt mir nicht. Meine Haut fühlt sich wund und prickelnd und extrem verletzlich an. Aber ich habe mich an meinen Teil der Abmachung mit Haymitch gehalten und alles klaglos ertragen.

»Du hältst dich wacker«, sagt ein Typ namens Flavius. Er schüttelt seine orangefarbenen Korkenzieherlocken und bemalt seinen Mund mit einer frischen Schicht lila Lippenstift. »Wenn wir eins nicht leiden können, sind es Heulsusen. Cremt sie ein!«

Venia und Octavia, eine rundliche Frau, deren ganzer Körper in einem blassen Erbsgrün gefärbt ist, rubbeln mich mit einer Lotion ab, die im ersten Moment beißt, dann aber meine aufgeraute Haut beruhigt. Danach holen sie mich vom Tisch herunter und ziehen mir den dünnen Morgenrock aus, den ich anziehen durfte. Da stehe ich nun, splitternackt, während die drei mich umkreisen und mit Pinzetten die letzten Härchenreste beseitigen. Eigentlich müsste es mir peinlich sein, aber sie sind so andersartig, dass es mir so wenig ausmacht, als würde ein Trio seltsam gefärbter Vögel zu meinen Füßen picken.

Die drei treten zurück und bewundern ihr Werk. »Ausgezeichnet! Jetzt siehst du fast aus wie ein Mensch!«, sagt Flavius und alle lachen.

Ich zwinge meine Lippen zu einem Lächeln, um meine Dankbarkeit zu zeigen. »Danke«, flöte ich. »In Distrikt 12 gibt es kaum Anlass, hübsch auszusehen.«

Das nimmt sie endgültig für mich ein. »Natürlich gibt es den nicht, arme Kleine!«, sagt Octavia und ringt betrübt die Hände.

»Aber keine Sorge«, sagt Venia. »Wenn Cinna erst mit dir fertig ist, wirst du absolut hinreißend aussehen!«

»Versprochen! Weißt du, ohne die Haare und den ganzen Dreck siehst du gar nicht mehr so schlimm aus!«, sagt Flavius aufmunternd. »Kommt, wir rufen Cinna!«

Sie eilen aus dem Raum. Es fällt schwer, mein Vorbereitungsteam zu hassen. Es sind solche Schwachköpfe. Aber ich weiß, dass sie mir auf ihre komische Art zu helfen versuchen.

Ich betrachte die kalten weißen Wände und den Fußboden und widerstehe dem Impuls, den Morgenrock aufzuheben. Dieser Cinna, mein Stylist, wird mir sowieso befehlen, ihn wieder auszuziehen. Deshalb fahre ich mit den Händen über meine Frisur, das Einzige an mir, was das Vorbereitungsteam unangetastet lassen sollte. Meine Finger streicheln den seidigen Zopf, den meine Mutter so sorgfältig arrangiert hat. Meine Mutter. Ich habe ihr blaues Kleid und die Schuhe auf dem Boden meines Zugabteils liegen lassen, ohne auch nur daran zu denken, sie aufzuheben, ein Stück von ihr zu behalten, ein Stück Heimat. Jetzt tut es mir leid.

Die Tür geht auf und ein junger Mann kommt herein; das muss Cinna sein. Ich bin verblüfft, wie normal er aussieht. Die meisten Stylisten, die im Fernsehen interviewt werden, sind so gefärbt, so schablonenhaft und schönheitschirurgisch verändert, dass sie einfach grotesk wirken. Aber Cinnas kurz geschnittene Haare haben offenbar noch ihr natürliches Braun. Er trägt ein schlichtes schwarzes Hemd und eine Hose. Das einzige Zugeständnis scheint der goldglitzernde Eyeliner zu sein, der mit leichter Hand aufgetragen wurde. Er betont die goldenen Flecken in seinen grünen Augen. Und trotz meiner Abscheu vor dem Kapitol und seinen scheußlichen Moden muss ich mir eingestehen, dass das sehr gut aussieht.

»Hallo, Katniss. Ich bin Cinna, dein Stylist«, sagt er mit ruhiger Stimme, die kaum affektiert klingt.

»Hallo«, erwidere ich vorsichtig.

»Warte einen Moment, ja?«, bittet er und geht um meinen nackten Körper herum. Er berührt mich nicht, nimmt mit seinen Blicken aber jeden Zentimeter wahr. Ich widerstehe dem Impuls, die Arme vor der Brust zu verschränken. »Wer hat dein Haar frisiert?«

»Meine Mutter«, sage ich.

»Sehr schön. Richtig klassisch. Und in fast perfekter Harmonie mit deinem Profil. Sie hat geschickte Hände«, sagt er.

Ich hatte eine extravagante Person erwartet, jemand Älteren, der verzweifelt versucht, jung auszusehen, jemanden, der mich betrachtet wie ein Stück Fleisch, das für die Schlachtplatte zubereitet werden soll. Cinna ist ganz und gar nicht so.

»Du bist neu, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal gesehen habe«, sage ich. Die meisten Stylisten sind bekannt, Konstanten im dauernd wechselnden Reservoir der Tribute. Manche sind schon dabei, seit ich auf der Welt bin.

»Ja, dies ist mein erstes Jahr bei den Spielen«, sagt Cinna.

»Du hast Distrikt 12 abbekommen«, sage ich. Neulinge landen im Allgemeinen immer bei uns, dem unbeliebtesten Distrikt.

»Ich habe um Distrikt 12 gebeten«, sagt er ohne weitere Erklärung. »Zieh doch etwas über und wir plaudern ein bisschen.«

Während ich den Morgenrock überziehe, folge ich ihm durch eine Tür in einen Salon. Zwei rote Sofas stehen einander gegenüber, dazwischen ein niedriger Tisch. Drei Wände sind kahl, die vierte besteht vollständig aus Glas und bildet ein Fenster zur Stadt. Am Licht kann ich erkennen, dass es Nachmittag sein muss, auch wenn der Sonnenhimmel inzwischen mit Wolken bedeckt ist. Cinna bietet mir einen Platz auf einem der Sofas an und setzt sich mir gegenüber. Seitlich am Tisch betätigt er einen Knopf. Die Tischplatte springt auf und von unten wird eine zweite Tischfläche hochgefahren, auf der unser Mittagessen steht. Hühnchen und Orangenstücke in Sahnesoße auf einem Bett aus perlweißem Getreide, kleine grüne Erbsen und Zwiebeln, Brötchen in Blumenform und zum Nachtisch ein honigfarbener Pudding.

Ich versuche mir vorzustellen, wie ich diese Mahlzeit mit meinen Mitteln zu Hause zusammenstellen könnte. Hühner sind zu teuer, aber ich könnte stattdessen einen wilden Truthahn nehmen. Ich müsste noch einen zweiten Truthahn schießen, um ihn gegen eine Orange einzutauschen. Die Sahne müsste ich durch Ziegenmilch ersetzen. Erbsen könnten wir im Garten ziehen. Wilde Zwiebeln bekäme ich aus dem Wald. Das Getreide kenne ich nicht, unser Tesserazeug wird beim Kochen zu einer unansehnlichen braunen Pampe. Für ausgefallene Brötchen müsste ich dem Bäcker noch etwas zum Tausch bringen, vielleicht zwei oder drei Eichhörnchen. Was den Pudding angeht, so habe ich nicht die leiseste Ahnung, was darin ist. Tagelang Jagen und Sammeln nur für diese eine Mahlzeit, und selbst dann wäre es bloß ein armseliger Ersatz für das Original hier im Kapitol.

Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, in einer Welt zu leben, wo das Essen auf Knopfdruck erscheint. Was würde ich in all den Stunden tun, die ich derzeit damit verbringe, den Wald auf der Suche nach Nahrung zu durchkämmen, wenn uns der Unterhalt so leichtfiele? Was tun sie den ganzen Tag, diese Leute im Kapitol, abgesehen davon, dass sie ihre Körper dekorieren und auf eine neue Lieferung Tribute warten, die zu ihrem Amüsement sterben sollen?

Ich schaue auf, Cinnas Blick ist auf mich gerichtet. »Wie verabscheuenswert wir dir vorkommen müssen«, sagt er.

Hat er das in meinem Gesicht gesehen oder meine Gedanken gelesen? Aber er hat recht. Der ganze miese Haufen ist verabscheuenswert.

»Sei’s drum«, sagt Cinna. »Jetzt, Katniss, zu deinem Kleid für die Eröffnungsfeier. Meine Partnerin, Portia, ist die Stylistin für deinen Mittribut, Peeta. Und im Moment planen wir, euch komplementär einzukleiden«, sagt Cinna. »Wie du weißt, ist es üblich, das besondere Merkmal des Distrikts widerzuspiegeln.«

Bei der Eröffnungsfeier soll man etwas tragen, das an den wichtigsten Wirtschaftszweig des Distrikts erinnert. Distrikt 11: Landwirtschaft. Distrikt 4: Fischerei. Distrikt 3: Fabriken. Das bedeutet für Peeta und mich, die wir aus Distrikt 12 kommen, dass unsere Aufmachung irgendwie an Bergleute erinnern soll. Da die sackartigen Overalls der Bergarbeiter nicht besonders kleidsam sind, stecken sie unsere Tribute gewöhnlich in spärliche Kleider und Hüte mit Stirnlampe. In einem Jahr standen unsere Tribute splitterfasernackt da, nur mit schwarzem Puder bedeckt, der den Kohlenstaub darstellen sollte. Es ist jedes Mal grauenvoll und trägt nicht dazu bei, die Gunst der Menge zu gewinnen. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst.

»Ich werde also in ein Bergarbeiteroutfit gesteckt?«, frage ich und hoffe, dass es nichts Unanständiges ist.

»Nicht ganz. Weißt du, Portia und ich finden, dass die Sache mit den Bergarbeitern ziemlich übertrieben wird. So würde sich niemand an dich erinnern. Aber wir beide halten es für unsere Aufgabe, die Tribute aus Distrikt 12 unvergesslich zu machen«, sagt Cinna.

Bestimmt muss ich nackt dastehen, denke ich.

»Das heißt, wir werden weniger die Kohleförderung in den Mittelpunkt stellen als vielmehr die Kohle selbst«, sagt Cinna.

Nackt und mit Kohlenstaub bedeckt, denke ich.

»Und was machen wir mit der Kohle? Wir verbrennen sie«, sagt Cinna. »Du hast doch keine Angst vor Feuer, Katniss, oder?« Er sieht meinen Gesichtsausdruck und grinst.

Ein paar Stunden später stecke ich in einem Kleid, das entweder das spektakulärste oder das tödlichste Kostüm der Eröffnungsfeier sein wird. Ich stecke vom Hals bis zu den Knöcheln in einem schlichten schwarzen Einteiler. Glänzende Lederschnürstiefel bis zu den Knien. Die Krönung aber ist der wallende Umhang aus orangefarbenen, gelben und roten Stoffstreifen und die dazu passende Kopfbedeckung. Cinna will sie im letzten Moment, kurz bevor unser Kampfwagen auf die Straße rollt, in Brand stecken.

»Natürlich keine echte Flamme, nur ein kleines künstliches Feuer, das Portia und ich erfunden haben. Dir kann gar nichts passieren«, sagt er. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob ich nicht schon gut durchgebraten sein werde, wenn wir das Stadtzentrum erreichen.

Mein Gesicht ist relativ frei von Make-up, nur ein paar Highlights hier und da. Mein Haar wurde ausgebürstet und dann wie vorher geflochten. »Ich will, dass das Publikum dich wiedererkennt, wenn du in der Arena bist«, sagt Cinna versonnen. »Katniss - das Mädchen, das in Flammen stand.«

Da denke ich, dass sich hinter Cinnas Ruhe und unauffälligem Benehmen ein Wahnsinniger verbirgt.

Trotz der Entdeckung von Peetas wahrem Charakter heute Morgen bin ich irgendwie erleichtert, als er auftaucht, in der gleichen Aufmachung wie ich. Mit Feuer müsste er sich als Bäckersohn ja auskennen. Portia, seine Stylistin, und ihr Team begleiten ihn, und alle sind ganz aus dem Häuschen vor lauter Vorfreude auf unseren großartigen Auftritt. Außer Cinna. Er wirkt ein bisschen erschöpft, während er die Glückwünsche entgegennimmt.

Schnell werden wir hinunter ins Erdgeschoss des Erneuerungsstudios gebracht, das im Grunde nur ein großer Stall ist. Die Eröffnungsfeier wird gleich beginnen. Die Tribute werden paarweise in die Streitwagen gestellt, die von Gespannen aus je vier Pferden gezogen werden. Unsere sind kohlschwarz. Die Tiere sind so gut dressiert, dass niemand ihre Zügel halten muss. Cinna und Portia geleiten uns in den Wagen, wo sie sorgfältig unsere Körperhaltung und die Falten unserer Umhänge arrangieren, bevor sie wieder hinuntersteigen und sich beraten.

»Was hältst du davon?«, flüstere ich Peeta zu. »Von dem Feuer?«

»Wenn du meinen Umhang runterreißt, reiß ich deinen runter«, sagt er durch zusammengebissene Zähne.

»Abgemacht«, sage ich. Wenn wir sie schnell genug vom Leib bekommen, können wir die schlimmsten Verbrennungen vielleicht verhindern. Es ist auch so schrecklich genug. Ganz gleich, in welchem Zustand wir uns befinden, in die Arena werfen sie uns auf jeden Fall. »Ich weiß, wir haben Haymitch versprochen, immer zu tun, was sie sagen, aber das hier hat er bestimmt nicht bedacht.«

»Wo ist Haymitch überhaupt? Soll er uns nicht eigentlich vor solchen Sachen beschützen?«, fragt Peeta.

»Bei all dem Alkohol, den er intus hat, ist es wahrscheinlich nicht ratsam, wenn er sich in die Nähe von offenem Feuer wagt«, sage ich.

Und plötzlich lachen wir, alle beide. Ich glaube, wir sind beide so nervös wegen der Spiele und wie gelähmt bei der Aussicht, in menschliche Fackeln verwandelt zu werden, dass wir nicht vernünftig handeln können.

Die Eröffnungsmusik erklingt. Man hört sie gut, sie dröhnt durchs ganze Kapitol. Schwere Türen werden aufgeschoben und geben den Blick frei auf von Menschen gesäumte Straßen. Die Fahrt dauert rund zwanzig Minuten und endet am Zentralen Platz, wo sie uns empfangen, die Hymne abspielen und ins Trainingscenter bringen werden, das bis zum Beginn der Spiele unser Zuhause und Gefängnis sein wird.

Die Tribute aus Distrikt 1 fahren in einem Streitwagen hinaus, der von schneeweißen Pferden gezogen wird. Sie sehen wunderschön aus, mit silberner Farbe eingesprüht, in geschmackvollen, mit Juwelen besetzten Tuniken. Distrikt 1 stellt Luxuswaren für das Kapitol her. Man kann das Gebrüll der Menge hören. Distrikt 1 ist immer der Favorit.

Distrikt 2 geht in Position, um ihm zu folgen. Bald gelangen auch wir zum Tor und ich kann sehen, dass das Licht des verhangenen, zur Dämmerung neigenden Himmels grau wird. Als die Tribute aus Distrikt 11 hinausfahren, erscheint Cinna mit einer brennenden Fackel. »Los geht’s«, sagt er, und bevor wir reagieren können, setzt er unsere Umhänge in Brand. Ich schnappe nach Luft und warte auf die Hitze, aber ich spüre nur ein leises Kitzeln. Cinna klettert auf den Wagen und entzündet unsere Kopfbedeckungen. Er seufzt erleichtert. »Es funktioniert.« Dann nimmt er sanft mein Kinn in die Hand. »Denkt dran, Kopf hoch. Lächeln. Sie werden euch lieben!«

Cinna springt vom Wagen und hat noch eine letzte Idee. Er ruft etwas zu uns herauf, doch die Musik übertönt ihn. Wieder schreit er und gestikuliert.

»Was sagt er?«, frage ich Peeta. Zum ersten Mal schaue ich ihn an und sehe, wie die falschen Flammen ihn erstrahlen lassen. Und ich muss genauso aussehen.

»Ich glaube, er hat gesagt, wir sollen uns bei den Händen fassen«, sagt Peeta. Er nimmt meine rechte Hand mit seiner linken und wir schauen zur Bestätigung zu Cinna hin. Er nickt und hält den Daumen nach oben und das ist das Letzte, was ich sehe, bevor wir in die Stadt hinausfahren.

Die anfängliche Panik, die die Menge bei unserem Erscheinen erfasst, verwandelt sich rasch in Jubel und »Distrikt 12!«-Rufe. Alle wenden sich uns zu und beachten die drei Wagen vor uns nicht weiter. Im ersten Moment bin ich wie erstarrt, aber dann erblicke ich uns auf einem großen Bildschirm und bin sprachlos, denn wir sehen einfach atemberaubend aus. In der einfallenden Dämmerung erleuchtet das Feuer unsere Gesichter. Wir sehen aus, als würden unsere wehenden Umhänge eine Schleppe aus Feuer hinter sich herziehen. Mit dem sparsamen Make-up, da hatte Cinna recht, sehen wir beide besser aus und sind doch sehr gut wiederzuerkennen.

Denkt dran, Kopf hoch. Lächeln. Sie werden euch lieben! Cinnas Stimme hallt in meinem Kopf. Ich recke das Kinn ein wenig höher, setze mein gewinnendstes Lächeln auf und winke mit meiner freien Hand. Jetzt bin ich froh, dass ich mich an Peeta festhalten kann, er ist so standhaft, wie ein Fels in der Brandung. Ich fasse so viel Zutrauen, dass ich der Menge sogar Küsschen zuwerfe. Die Leute vom Kapitol rasten total aus, sie überschütten uns mit Blumen, rufen unsere Namen, unsere Vornamen, die sie im Programm nachgelesen haben.

Die dröhnende Musik, der Jubel, die Bewunderung gehen mir ins Blut, ich kann meine Erregung nicht unterdrücken. Cinna hat mir einen großen Vorteil verschafft. Niemand wird mich vergessen. Weder mein Aussehen noch meinen Namen. Katniss. Das Mädchen, das in Flammen stand.

Zum ersten Mal spüre ich einen Hoffnungsschimmer in mir aufsteigen. Bestimmt wird sich ein Sponsor finden, der mich unterstützt! Und mit ein wenig zusätzlicher Hilfe, etwas Essen, der richtigen Waffe - wieso sollte ich die Spiele verloren geben?

Jemand wirft mir eine rote Rose zu. Ich fange sie auf, schnuppere leicht daran und werfe eine Kusshand in die grobe Richtung des Spenders. Hundert Hände gehen hoch, um meinen Kuss aufzufangen, als wäre er wirklich etwas Greifbares.

»Katniss! Katniss!« Von allen Seiten wird mein Name gerufen. Alle wollen sie meine Küsse.

Erst als wir auf den Zentralen Platz fahren, merke ich, dass ich Peeta fast das Blut abgeschnürt habe. So fest habe ich seine Hand gehalten. Während ich loslasse, schaue ich hinunter zu unseren verschränkten Fingern, aber er greift sofort wieder danach. »Nein, lass mich nicht los«, sagt er. Das Feuer flackert in seinen blauen Augen. »Bitte. Sonst falle ich noch um.«

»Na gut«, sage ich. Ich halte also weiter seine Hand, aber irgendwie kommt es mir komisch vor, wie Cinna uns miteinander verbunden hat. Irgendwie ist es nicht richtig, uns als Team zu präsentieren und uns dann in eine Arena zu sperren, damit wir uns gegenseitig umbringen.

Die zwölf Wagen füllen den Kreisverkehr des Zentralen Platzes. An den Fenstern der Häuser ringsum drängen sich die angesehensten Bürger des Kapitols. Die Pferde ziehen unseren Wagen genau vor die Residenz von Präsident Snow und wir bleiben stehen. Die Musik endet mit einem Tusch.

Der Präsident, ein kleiner, dünner Mann mit papierweißem Haar, heißt uns von einem Balkon hoch über uns willkommen. Es ist Tradition, während der Rede die Gesichter der Tribute einzublenden. Doch auf den Bildschirmen kann ich sehen, dass sie uns viel mehr Zeit widmen, als uns eigentlich zusteht. Je dunkler es wird, desto schwieriger wird es, den Blick von unseren Flammen abzuwenden. Als die Nationalhymne ertönt, versuchen sie einen schnellen Schwenk zu allen Tributpaaren, aber die Kamera bleibt auf den Distrikt-12-Wagen gerichtet, der ein letztes Mal den Zentralen Platz umkreist und dann im Trainingscenter verschwindet.

Kaum haben sich die Türen hinter uns geschlossen, da umringen uns auch schon die Vorbereitungsteams, deren Lobhudelei auf uns fast nicht zu verstehen ist. Als ich mich umschaue, sehe ich, dass viele der anderen Tribute uns böse Blicke zuwerfen, was meine Vermutung bestätigt, dass wir sie alle überstrahlt haben. Dann sind Cinna und Portia da und helfen uns vom Wagen herunter, wobei sie uns vorsichtig die brennenden Umhänge und Kopfbedeckungen abnehmen. Portia löscht sie mit einem Spray.

Ich merke, dass ich immer noch an Peeta klebe, und zwinge meine steifen Finger, sich zu öffnen. Wir massieren unsere Hände.

»Danke, dass du mich festgehalten hast. Ich war ganz schön wacklig auf den Beinen«, sagt Peeta.

»Davon war aber nichts zu sehen«, sage ich. »Das hat garantiert niemand bemerkt.«

»Ich bin sicher, die haben überhaupt nichts bemerkt außer dir. Du solltest öfter Flammen tragen«, sagt er. »Stehen dir gut.« Und dann lächelt er mich so süß und mit genau dem richtigen Tick Schüchternheit an, dass es mich unvermittelt warm durchströmt.

Eine Alarmglocke schrillt in meinem Kopf. Sei doch nicht dumm. Peeta plant gerade, wie er dich töten kann, sage ich mir. Er versucht dich einzuwickeln, damit du eine leichte Beute bist. Je liebenswürdiger er ist, desto gefährlicher ist er.

Und weil ich das auch kann, stelle ich mich auf Zehenspitzen und küsse ihn auf die Wange. Genau auf seinen Bluterguss.


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