15


Ich versinke in einem Albtraum und jedes Mal, wenn ich daraus erwache, stelle ich fest, dass noch größerer Schrecken mich erwartet. Alles, wovor ich mich am meisten fürchte, und alles, was ich am meisten für andere fürchte, erscheint mir so detailgetreu vor Augen, dass ich überzeugt bin, es wäre Wirklichkeit. Jedes Mal, wenn ich aufwache, denke ich: Endlich ist es vorbei, aber es ist nicht vorbei. Es ist nur der Anfang eines neuen Kapitels der Tortur. Auf wie viele Arten sehe ich Prim sterben, durchlebe ich die letzten Sekunden meines Vaters wieder, spüre ich, wie mein Körper auseinandergerissen wird? Das ist die Natur des Jägerwespengifts; es wurde systematisch immer weiter gezüchtet, bis es genau an der Stelle im Gehirn wirkte, wo die Angst sitzt.

Als ich schließlich wieder zu mir komme, liege ich nur still da und warte auf den nächsten Ansturm der Bilder. Aber irgendwann wird mir klar, dass das Gift endlich meinen Körper verlassen und ihn als kraftloses Wrack zurückgelassen hat. Ich liege immer noch so da wie vorher, zusammengekauert wie ein Baby im Mutterleib. Ich taste nach meinen Augen und stelle fest, dass sie unversehrt sind, es hat keine Ameisen gegeben. Allein der Versuch, meine Glieder zu strecken, kostet mich enorme Anstrengung. So viele Stellen meines Körpers schmerzen, dass ich sie mir gar nicht einzeln ansehe. Ganz, ganz langsam schaffe ich es, mich aufzusetzen. Ich befinde mich in einer flachen Grube, die keineswegs mit summenden orangefarbenen Blasen gefüllt ist, wie ich sie in meinem Wahn gesehen habe, sondern mit alten, vertrockneten Blättern. Meine Kleidung ist klamm, aber ich weiß nicht, ob von Tümpelwasser, Tau, Regen oder Schweiß. Lange Zeit kann ich nichts tun, als kleine Schlucke aus meiner Flasche zu trinken und einem Käfer zuzuschauen, der seitlich an einem Heckenkirschenstrauch emporkrabbelt.

Wie lange war ich bewusstlos? Als ich den Verstand verloren habe, war es Morgen. Jetzt ist es Nachmittag. Aber die Steifheit in meinen Gelenken legt nahe, dass mehr als ein Tag vergangen ist, vielleicht sogar zwei. Wenn dem so ist, dann habe ich keinen Überblick, welche Tribute den Angriff der Jägerwespen überlebt haben. Glimmer und das Mädchen aus Distrikt 4 jedenfalls nicht. Aber da waren ja noch der Junge aus Distrikt 1, die beiden Tribute aus Distrikt 2 und Peeta. Sind sie an den Stichen gestorben? Falls sie überlebt haben, müssen die letzten Tage für sie genauso grauenvoll gewesen sein wie für mich. Und was ist mit Rue? Sie ist so klein, es brauchte nicht viel Gift, um sie zu töten. Andererseits … Sie hatte einen ordentlichen Vorsprung, die Jägerwespen hätten sie erst einmal einholen müssen.

Ein widerwärtiger, fauliger Geschmack erfüllt meinen Mund und das Wasser kann ihn kaum vertreiben. Ich schleppe mich zu der Heckenkirsche und pflücke eine Blüte. Vorsichtig ziehe ich die Staubblätter hervor und lasse mir den Nektartropfen auf die Zunge fallen. Die Süße verbreitet sich im Mund, läuft die Kehle hinunter und wärmt meine Adern mit Erinnerungen an den Sommer, an meinen Heimatwald und an Gale, der neben mir sitzt. Aus irgendeinem Grund muss ich an unser Gespräch an jenem letzten Morgen denken.

»Wir könnten es tun, weißt du.«

»Was?«

»Den Distrikt verlassen. Davonlaufen. Im Wald leben. Wir beide könnten es schaffen, du und ich zusammen.«

Plötzlich denke ich nicht mehr an Gale, sondern an Peeta und … Peeta! Er hat mir das Leben gerettet!, denke ich. Bei unserer letzten Begegnung hätte ich nicht sagen können, was Wirklichkeit war und was Halluzination. Aber wenn er mir das Leben gerettet hat, und mein Gefühl sagt mir, dass es so war, dann frage ich mich, warum. Zieht er einfach die Loverboy-Geschichte durch, mit der er im Interview begonnen hat? Oder wollte er mich wirklich beschützen? Und wenn ja, warum hat er sich dann zuerst mit den Karrieretributen zusammengetan? Das ist völlig unlogisch.

Kurz überlege ich, was Gale wohl von alldem halten mag, aber dann schiebe ich das von mir fort. Aus irgendeinem Grund ist für Gale und Peeta in meinen Gedanken nicht gleichzeitig Platz.

Lieber konzentriere ich mich auf das einzig Positive, das passiert ist, seit ich in der Arena gelandet bin. Ich habe Pfeil und Bogen! Ein volles Dutzend Pfeile, wenn man den einen, den ich aus dem Baumstamm gezogen habe, mitzählt. Nirgends ist eine Spur von dem widerlichen grünen Schleim zu sehen, der aus Glimmers Körper quoll, weshalb ich annehme, dass diese Erinnerung nicht der Wirklichkeit entspricht. Dafür findet sich jede Menge getrocknetes Blut an den Pfeilen. Sauber machen kann ich sie später, erst einmal schieße ich für eine Weile Pfeile in einen Baumstamm in der Nähe. Sie ähneln mehr den Waffen im Trainingscenter als denen zu Hause, aber was soll’s? Ich komme schon damit zurecht.

Die Waffen verändern meine Einstellung gegenüber den Spielen völlig. Ich weiß, dass ich harte Gegner habe. Aber jetzt bin ich nicht mehr nur Beute, die davonrennt oder sich versteckt oder ihr Heil in Verzweiflungstaten sucht. Wenn Cato jetzt durchs Gebüsch herangestürzt käme, würde ich nicht fliehen. Ich würde schießen. Ich merke, dass ich mich auf diesen Augenblick regelrecht freue.

Aber erst einmal muss ich wieder zu Kräften kommen. Ich bin wieder kurz vorm Austrocknen und mein Wasservorrat ist gefährlich knapp. Das kleine Fettpolster, das ich mir in der Vorbereitungszeit im Kapitol zugelegt hatte, ist dahin und mit ihm noch ein paar weitere Pfunde. Ich glaube, meine Hüftknochen und Rippen stehen noch mehr hervor als in den schrecklichen Monaten nach dem Tod meines Vaters. Und dann sind da noch die lästigen Wunden - Verbrennungen, Schnittwunden und Blutergüsse von Zusammenstößen mit Bäumen, Jägerwespenstiche, die noch immer so entzündet und geschwollen sind wie vorher. Die Verbrennungen behandele ich mit der Salbe und trage auch ein bisschen davon auf die Stiche auf, doch die Wirkung ist gleich null. Meine Mutter kannte eine Behandlungsmethode, irgendein Kraut, das das Gift herauszog, aber sie musste es nur selten anwenden und ich erinnere mich nicht an den Namen, geschweige denn daran, wie es aussah.

Zuerst Wasser, überlege ich. Jagen kann ich jetzt unterwegs. Die Richtung, aus der ich gekommen bin, lässt sich leicht anhand der Spur der Zerstörung ausfindig machen, die mein rasender Körper im Grün hinterlassen hat. Also gehe ich in die entgegengesetzte Richtung in der Hoffnung, dass meine Gegner noch immer in der surrealen Welt des Jägerwespengifts gefangen sind.

Besonders schnell komme ich nicht vorwärts, abrupte Bewegungen machen meine Gelenke nicht mit. Ich falle in den langsamen Jägergang, als würde ich Wild verfolgen. Nach ein paar Minuten erspähe ich ein Kaninchen und erlege meine erste Beute mit Pfeil und Bogen. Kein Schuss durchs Auge wie sonst, aber ich rege mich nicht darüber auf. Nach einer guten Stunde finde ich einen seichten, breiten Bach, der für meine Bedürfnisse völlig genügt. Die Sonne brennt heiß und unerbittlich, deshalb ziehe ich mich in der Zeit, in der das Jod wirkt, bis auf die Unterwäsche aus und wate in den schwachen Strom. Ich bin von Kopf bis Fuß verdreckt. Erst versuche ich, mich zu bespritzen, aber dann lege ich mich einfach ein paar Minuten lang ins Wasser, damit es Ruß und Blut und die Haut fortwäscht, die sich an den Verbrennungen schält. Nachdem ich meine Kleider ausgewaschen und zum Trocknen über die Büsche gehängt habe, setze ich mich eine Weile ans Ufer in die Sonne und kämme mit den Fingern mein Haar. Mein Appetit kommt zurück und ich esse einen Kräcker und einen Streifen Rindfleisch. Mit einer Handvoll Moos reibe ich das Blut von meinen silbernen Waffen.

Erfrischt verarzte ich noch einmal meine Verbrennungen, flechte meinen Zopf neu und steige in meine feuchten Kleider, die in der Sonne rasch trocknen werden. Es scheint mir am vernünftigsten, dem Bach gegen die Fließrichtung zu folgen. Ich gehe nun bergan, was mir lieber ist, und der Bachlauf dient ja nicht nur mir, sondern auch allem möglichen Wild als Trinkwasserquelle. Mühelos erlege ich einen Vogel, bei dem es sich um einen wilden Truthahn oder etwas in der Art handeln muss. Jedenfalls erscheint er mir ziemlich essbar. Am späten Nachmittag beschließe ich, ein kleines Feuer zu machen und das Fleisch zu braten. In der Dämmerung wird der Rauch nicht so auffallen und bei Einbruch der Nacht kann ich das Feuer wieder löschen. Ich nehme das Wild aus und sehe mir den Vogel besonders aufmerksam an, aber ich kann nichts Verdächtiges an ihm entdecken. In gerupftem Zustand ist er nicht größer als ein Huhn, aber er ist drall und fest. Gerade als ich den ersten Teil auf die Glut lege, knackt ein Zweig.

Mit einer einzigen Bewegung drehe ich mich um und lege Pfeil und Bogen an. Niemand da. Oder wenigstens kann ich niemanden sehen. Dann entdecke ich hinter einem Baumstamm die Spitze eines Kinderschuhs. Ich lasse die Schultern sinken und grinse. Sie bewegt sich durch den Wald wie ein Schatten, das muss man ihr lassen. Wie sonst hätte sie mir folgen können? Die Worte kommen aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten kann.

»Warum sollen sie die Einzigen sein, die Bündnisse eingehen können?«, sage ich.

Zuerst kommt keine Antwort. Dann späht Rue mit einem Auge langsam hinter dem Stamm hervor. »Ich soll deine Verbündete sein?«

»Warum nicht? Du hast mich vor diesen Jägerwespen gerettet. Du bist schlau genug, um immer noch am Leben zu sein. Und offenbar kann ich dich sowieso nicht abschütteln«, sage ich. Sie blinzelt mich an und versucht sich zu entscheiden.

»Hast du Hunger?« Ich sehe, wie sie tief Luft holt und ihr Blick zum Fleisch schießt. »Dann komm, ich hab heute zwei Tiere erlegt.«

Zaghaft tritt Rue ins Freie. »Ich kann deine Stiche verarzten.«

»Tatsächlich?«, sage ich. »Und wie?«

Sie kramt in dem Bündel, das sie dabeihat, und holt ein Büschel Blätter heraus. Ich bin fast sicher, dass es die gleichen sind, die meine Mutter benutzt. »Wo hast du die gefunden?«

»Hier in der Nähe. Wir nehmen sie immer mit, wenn wir in den Obstgärten arbeiten. Dort gibt es noch viele Nester«, sagt Rue. »Und hier gibt es auch viele.«

»Das stimmt. Du bist Distrikt 11. Landwirtschaft«, sage ich. »Obstgärten, hm? Deshalb kannst du also durch die Bäume fliegen, als ob du Flügel hättest.« Rue lächelt. Offenbar habe ich eine der wenigen Sachen angesprochen, auf die sie stolz ist. »Na, dann los. Verarzte mich.«

Ich setze mich neben das Feuer und krempele mein Hosenbein bis zu dem Stich am Knie hoch. Zu meiner Überraschung nimmt Rue die Blätter in den Mund und kaut darauf herum. Meine Mutter hätte das anders gemacht, aber hier haben wir ja auch nicht viele Möglichkeiten. Nach etwa einer Minute presst Rue eine klebrige grüne Masse aus zerkauten Blättern und Speichel auf mein Knie.

»Ohhh.« Der Laut entfährt mir, ehe ich ihn aufhalten kann. Es ist, als würden die Blätter den Schmerz geradewegs aus dem Stich herausziehen.

Rue kichert. »Sei froh, dass du so schlau warst, die Stacheln zu entfernen, sonst würd’s dir jetzt viel schlechter gehen.«

»Mach das am Hals! An der Wange!«, bettele ich fast.

Rue stopft sich wieder eine Handvoll Blätter in den Mund und schon bald lache ich, weil die Linderung so guttut. Da sehe ich eine Brandwunde über die ganz Länge von Rues Unterarm. »Dagegen hab ich was.« Ich lege meine Waffen hin und reibe ihren Arm mit der Brandsalbe ein.

»Du hast gute Sponsoren«, sagt sie sehnsüchtig.

»Hast du schon was bekommen?«, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. »Kommt schon noch. Wirst sehen. Je näher es dem Ende zu geht, desto mehr Leute werden merken, wie clever du bist.« Ich drehe das Fleisch.

»Das war kein Scherz, dass du mich als Verbündete willst?«, fragt sie.

»Nein, das meine ich ernst«, antworte ich. Fast kann ich Haymitch aufstöhnen hören, dass ich mich mit diesem zerbrechlichen Kind verbünde. Aber ich will sie. Denn sie ist eine Überlebende und ich vertraue ihr und - ja, warum es nicht zugeben? Sie erinnert mich an Prim.

»Gut«, sagt sie und hält mir die Hand hin. Ich schlage ein. »Abgemacht.«

Natürlich kann diese Abmachung nur für eine bestimmte Dauer gelten, aber keiner von uns erwähnt das.

Rue steuert ein großes Büschel stärkehaltige Wurzeln zur Mahlzeit bei. Über dem Feuer geröstet, haben sie den scharfsüßen Geschmack von Pastinaken. Rue kennt auch den Vogel, irgendein Wildtier, das sie in ihrem Heimatdistrikt Grusling nennen. Manchmal, erzählt sie, verirrt sich eine Schar in den Obstgarten und dann bekommen sie eine anständige Mahlzeit auf den Tisch. Eine Zeit lang sagen wir nichts und schlagen uns nur die Bäuche voll. Der Grusling besitzt köstliches Fleisch, das Fett tropft einem vom Kinn, wenn man hineinbeißt.

»Oh«, sagt Rue und seufzt. »Ich hab noch nie ein ganzes Bein für mich allein gehabt.«

Das glaube ich gern. Ich schätze, sie bekommt kaum Fleisch zu Gesicht. »Nimm auch das andere«, sage ich.

»Wirklich?«, fragt sie.

»Nimm, so viel du willst. Jetzt, da ich Pfeil und Bogen habe, kann ich mehr besorgen. Und ich habe Fallen. Ich kann dir zeigen, wie man sie stellt«, sage ich. Rue betrachtet noch immer unentschlossen das Bein des Vogels. »Nun nimm schon«, sage ich und drücke ihr die Keule in die Hand. »Es hält sich sowieso nur ein paar Tage und wir haben den ganzen Vogel und noch das Kaninchen.« Sobald sie das Bein in der Hand hält, siegt ihr Hunger und sie verschlingt einen riesigen Bissen.

»Ich hätte gedacht, ihr in Distrikt 11 habt ein bisschen mehr zu essen als wir. Weil ihr doch Nahrungsmittel anbaut«, sage ich.

Rues Augen weiten sich. »Oh nein, wir dürfen von der Ernte nichts essen.«

»Werdet ihr dann verhaftet oder was?«, frage ich.

»Man wird ausgepeitscht und die anderen müssen alle zuschauen«, sagt Rue. »Da ist der Bürgermeister sehr streng.«

Aus ihrem Blick schließe ich, dass das nicht so selten vorkommt. Bei uns in Distrikt 12 gibt es kaum öffentliche Auspeitschungen. Streng genommen könnten Gale und ich jeden Tag ausgepeitscht werden, weil wir im Wald wildern - na ja, ganz streng genommen könnte es uns auch noch viel schlimmer ergehen. Aber die Beamten kaufen ja alle unser Fleisch und abgesehen davon scheint unser Bürgermeister, Madges Vater, wenig Gefallen an solchen Spektakeln zu finden. Vielleicht hat es ja auch Vorteile, wenn man der am wenigsten angesehene, ärmste, am meisten verspottete Distrikt des Landes ist. Zum Beispiel den, dass man vom Kapitol ignoriert wird, solange man nur die Kohlequoten erfüllt.

»Bekommt ihr denn so viel Kohle, wie ihr wollt?«, fragt Rue.

»Nein«, antworte ich. »Nur, was wir kaufen plus die Krümel, die wir mit den Schuhen ins Haus tragen.«

»Während der Ernte bekommen wir ein bisschen mehr zu essen, damit die Leute länger durchhalten«, sagt Rue.

»Musst du denn nicht zur Schule?«, frage ich.

»Nicht während der Ernte. Dann arbeiten alle«, sagt Rue.

Es ist interessant, etwas über ihr Leben zu erfahren. Wir haben ja kaum Kontakt zu den Leuten außerhalb unseres Distrikts. Ich frage mich, ob die Spielmacher unsere Unterhaltung wohl ausblenden. Auch wenn die Informationen harmlos erscheinen, die Leute in den einzelnen Distrikten sollen nichts über die anderen erfahren.

Rue schlägt vor, unsere Lebensmittel auszubreiten, damit wir planen können. Sie hat meine ja schon größtenteils gesehen, aber ich lege noch die letzten paar Kräcker und Rindfleischstreifen auf den Stapel. Sie hat eine ansehnliche Sammlung von Wurzeln, Nüssen, Gemüse und sogar Beeren angelegt.

Ich drehe eine unbekannte Beere zwischen den Fingern. »Bist du dir sicher, dass man die essen kann?«

»Oh ja, die haben wir zu Hause auch. Die esse ich schon seit Tagen«, sagt sie und steckt sich rasch eine Handvoll in den Mund. Zögernd beiße ich in eine Beere und sie schmeckt so lecker wie unsere Brombeeren. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es eine gute Entscheidung war, Rue zur Verbündeten zu nehmen. Wir teilen unsere Vorräte untereinander, damit wir, falls wir getrennt werden, beide ein paar Tage damit auskommen. Außer dem Essen besitzt Rue noch einen kleinen Lederbeutel für Wasser, eine selbst gemachte Zwille und ein Extrapaar Socken. Und sie hat eine scharfe Steinscherbe, die sie als Messer benutzt. »Das ist nicht viel, ich weiß«, sagt sie, als wäre es ihr unangenehm, »aber ich musste so schnell wie möglich vom Füllhorn weg.«

»Daran hast du gut getan«, sage ich. Als ich meine Vorräte ausbreite und sie die Sonnenbrille sieht, verschlägt es ihr fast den Atem.

»Woher hast du die denn?«, fragt sie.

»Aus meinem Rucksack. Ich konnte sie noch gar nicht verwenden. Sie hält die Sonne nicht ab und erschwert die Sicht eher«, sage ich achselzuckend.

»Die ist nicht für tagsüber, die ist für nachts«, ruft Rue. »Manchmal, wenn wir auch nachts ernten, geben sie denen von uns, die ganz hoch in die Bäume hinaufklettern, dort, wo die Fackeln nicht hinreichen, solche Brillen. Einmal hat ein Junge, Martin, versucht, seine zu behalten, und sie in der Hose versteckt. Sie haben ihn auf der Stelle getötet.«

»Sie haben einen Jungen getötet, weil er so eine Brille geklaut hat?«, frage ich.

»Ja, dabei wussten alle, dass von ihm keine Gefahr ausging. Martin war nicht ganz richtig im Kopf. Er war wie ein Dreijähriger. Er wollte mit der Brille nur spielen«, sagt Rue.

Als ich das höre, kommt mir Distrikt 12 vor wie ein sicherer Hafen. Ab und zu fallen die Leute zwar vor Hunger um, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Friedenswächter ein zurückgebliebenes Kind töten würden. Bei uns gibt es ein kleines Mädchen, eine von Greasy Saes Enkelinnen, die immer auf dem Hob herumläuft. Sie ist auch nicht ganz richtig im Kopf, aber sie wird wie eine Art Haustier behandelt. Die Leute werfen ihr Essensreste und andere Sachen hin.

»Und wozu kann man die gebrauchen?«, frage ich Rue und greife nach der Brille.

»Damit kann man bei völliger Dunkelheit sehen«, sagt Rue. »Setz sie mal heute Abend auf, wenn die Sonne untergeht.«

Ich gebe Rue ein paar Streichhölzer ab und sie versorgt mich mit ausreichend Blättern für den Fall, dass meine Stiche sich wieder entzünden. Wir löschen das Feuer und gehen weiter stromaufwärts, bis es fast Nacht ist.

»Wo schläfst du?«, frage ich sie. »Auf den Bäumen?« Sie nickt. »Nur mit der Jacke?«

Rue hält das Ersatzpaar Socken in die Höhe. »Die nehme ich für die Hände.«

Ich denke daran, wie kalt die Nächte gewesen sind. »Du kannst mit in meinen Schlafsack, wenn du möchtest. Da passen wir problemlos beide rein.« Ihre Miene hellt sich auf. Das ist mehr, als sie gehofft hatte.

Wir suchen uns eine Astgabel hoch oben in einem Baum aus und haben es uns gerade gemütlich gemacht, als die Hymne erklingt. Keine Toten heute.

»Rue, ich bin erst heute wieder zu mir gekommen. Wie viele Nächte habe ich verpasst?« Die Hymne müsste unsere Worte eigentlich übertönen, aber ich flüstere trotzdem. Ich bin sogar so vorsichtig, die Lippen hinter den Händen zu verbergen. Ich möchte nicht, dass die Zuschauer erfahren, was ich ihr über Peeta erzählen will. Rue macht es mir nach.

»Zwei«, sagt sie. »Die Mädchen aus Distrikt 1 und 4 sind tot. Jetzt sind wir noch zu zehnt.«

»Es ist etwas Komisches passiert. Zumindest glaube ich, dass es passiert ist. Es kann aber auch sein, dass ich es mir durch das Jägerwespengift eingebildet habe«, sage ich. »Kennst du den Jungen aus meinem Distrikt? Peeta? Ich glaube, er hat mir das Leben gerettet. Aber er war mit den Karrieros zusammen.«

»Jetzt ist er nicht mehr mit ihnen zusammen«, sagt sie. »Ich habe ihr Basislager am See ausspioniert. Sie haben es dorthin geschafft, bevor sie unter den Stichen zusammengebrochen sind. Aber er ist nicht da. Vielleicht musste er fliehen, nachdem er dich gerettet hat.«

Darauf sage ich nichts. Sollte Peeta mir tatsächlich das Leben gerettet haben, dann stehe ich schon wieder in seiner Schuld. Eine Schuld, die ich nicht zurückzahlen kann. »Wenn er es getan hat, dann war das wahrscheinlich nur Teil seiner Show. Damit die Leute denken, er wäre in mich verliebt, weißt du?«

»Ach«, sagt Rue nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass das Show war.«

»Doch, natürlich«, sage ich. »Er hat das alles mit unserem Mentor ausgetüftelt.« Die Hymne endet und der Himmel verdüstert sich. »Lass uns die Brille ausprobieren.« Ich ziehe sie hervor und setze sie auf. Rue hat die Wahrheit gesagt. Ich kann alles sehen, die Blätter am Baum ebenso wie ein Stinktier, das gut fünfzehn Meter entfernt durchs Gebüsch streift. Wenn ich wollte, könnte ich es von hier aus töten. Jeden könnte ich töten.

»Ich frage mich, ob die anderen auch so eine haben«, sage ich.

»Die Karrieros haben zwei. Aber in ihrem Lager am See haben sie sowieso alles«, sagt Rue. »Und sie sind unheimlich stark.«

»Wir sind auch stark«, sage ich. »Nur auf andere Weise.«

»Du bist stark. Du kannst schießen«, sagt sie. »Aber was kann ich schon?«

»Du kannst dich ernähren. Können die das?«, frage ich.

»Sie müssen es nicht. Sie haben jede Menge Vorräte«, sagt Rue.

»Nehmen wir mal an, sie hätten keine. Nehmen wir an, die Vorräte wären weg. Wie lange könnten sie durchhalten?«, sage ich. »Es heißt nicht umsonst >Hungerspiele<, oder?«

»Aber Katniss, sie haben keinen Hunger«, sagt Rue.

»Nein, haben sie nicht. Das ist das Problem«, stimme ich zu. Und zum ersten Mal habe ich einen Plan. Einen Plan, der nicht nur darauf abzielt, zu fliehen oder möglichst jede Begegnung zu vermeiden. Einen Angriffsplan. »Ich finde, das sollten wir ändern, Rue.«


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