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Der Aufprall auf dem festgestampften Boden der Ebene nimmt mir den Atem. Mein Rucksack federt den Schlag kaum ab. Zum Glück hat sich der Köcher in der Armbeuge verfangen, was sowohl meine Schulter schützt als auch ihn selbst, und meinen Bogen lasse ich sowieso nicht los. Der Erdboden wird noch immer von Explosionen erschüttert. Ich kann sie nicht hören. Fürs Erste kann ich gar nichts hören. Aber die Äpfel müssen genug Minen ausgelöst haben, dass die umherfliegenden Trümmer die anderen Minen zur Explosion bringen. Ich schütze mein Gesicht mit den Armen vor den teilweise brennenden Brocken, die auf mich herabregnen. Scharfer Rauch hängt in der Luft - nicht gerade günstig für jemanden, der nach Luft ringt.

Nach gut einer Minute kommt die Erde zur Ruhe. Ich drehe mich auf die Seite und empfinde beim Anblick der schwelenden Ruine, die bis eben noch die Pyramide war, einen Moment der Genugtuung. Unwahrscheinlich, dass die Karrieros darin noch irgendetwas Brauchbares finden können.

Nichts wie weg hier, denke ich. Sie werden auf schnellstem Weg herkommen. Doch als ich mich aufrappele, merke ich, dass es nicht so leicht ist, zu fliehen, wie ich dachte. Mir ist schwindlig. So sehr, dass die Bäume sich im Kreis um mich drehen und die Erde sich in Wellen unter meinen Füßen bewegt. Ich mache ein paar Schritte und lande irgendwie auf allen vieren. Ich warte ein paar Minuten, damit es vorbeigeht, doch es geht nicht vorbei.

Ich werde panisch. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muss fliehen. Aber ich kann weder gehen noch hören. Ich lege die Hand auf mein linkes Ohr, das der Explosion zugewandt war. Sie ist blutverschmiert. Bin ich durch den Knall taub geworden? Die Vorstellung jagt mir Angst ein. Als Jägerin bin ich auf meine Ohren genauso angewiesen wie auf meine Augen, manchmal sogar noch mehr. Aber ich darf meine Angst nicht zeigen. Bestimmt bin ich jetzt live auf jedem Bildschirm in Panem zu sehen, hundertprozentig.

Keine Blutspuren, sage ich mir, ziehe die Kapuze über den Kopf und verknote mit meinen unwilligen Fingern irgendwie die Schnur unterm Kinn. Die Kapuze müsste das Blut aufsaugen. Gehen kann ich nicht, aber vielleicht kriechen? Vorsichtig bewege ich mich vorwärts. Ja, wenn ich sehr langsam mache, geht es. Die meisten Gebiete im Wald bieten nur unzureichenden Schutz. Meine einzige Hoffnung ist, dass ich es zurück zu Rues Dickicht schaffe und mich dort verstecken kann. Ich darf mich hier draußen nicht auf Händen und Knien erwischen lassen. Nicht nur, dass ich dann sterben muss. Cato wird dafür sorgen, dass es ein langer und qualvoller Tod ist. Der Gedanke, dass Prim das mit ansehen muss, ist so unerträglich, dass ich mich beharrlich zu meinem Versteck weiterkämpfe.

Da gibt es eine weitere Explosion und ich liege auf der Nase. Eine einzelne Mine, die durch herunterfallende Trümmer ausgelöst wurde. Zwei weitere folgen. Es erinnert mich daran, wenn Prim und ich zu Hause Popcorn machen und wie dann die letzten Körner im Topf platzen.

Ich schaffe es buchstäblich in letzter Sekunde. Kaum habe ich mich in das Gewirr der Sträucher am Fuß der Bäume geschleppt, als Cato und seine Gefährten auftauchen und auf die Ebene stürmen. Cato ist dermaßen außer sich, dass es fast ulkig sein könnte - es gibt also tatsächlich Menschen, die sich die Haare ausreißen und mit den Fäusten auf den Boden hauen -, wenn ich nicht wüsste, dass sein Zorn mir gilt und dem, was ich ihm angetan habe. Hinzu kommt, dass ich ganz in der Nähe bin und nicht weglaufen oder mich verteidigen kann, und deshalb ängstigt es mich über die Maßen. Ich bin froh, dass die Kameras mich in meinem Versteck nicht aus der Nähe zeigen können, denn ich kaue wie wahnsinnig auf den Nägeln. Ich nage die letzten Reste des Nagellacks ab und versuche, nicht mit den Zähnen zu klappern.

Der Junge aus Distrikt 3 hat Steine in die Trümmer geworfen und den anderen offenbar verkündet, dass alle Minen ausgelöst worden sind, denn jetzt gehen die Karrieros zu der zerstörten Pyramide.

Cato hat die erste Phase seines Wutanfalls überwunden. Er lässt seinen Zorn nun an den qualmenden Überresten aus und tritt gegen mehrere Behälter. Die anderen Tribute stochern in dem Durcheinander herum und suchen nach etwas, das sie retten können, aber vergebens. Der Junge aus Distrikt 3 hat seine Aufgabe zu gut gemacht. Dieser Gedanke kommt offenbar auch Cato, denn er wendet sich dem Jungen zu und brüllt ihn an. Der Junge aus Distrikt 3 dreht sich noch schnell um und rennt los, als Cato ihn von hinten in den Schwitzkasten nimmt. Ich sehe, wie Catos Armmuskeln sich anspannen, als er den Kopf des Jungen mit einem Ruck zur Seite dreht.

So schnell geht das. Der Junge aus Distrikt 3 ist tot.

Die beiden anderen Karrieros versuchen Cato zu beruhigen. Man sieht ihm an, dass er zurück in den Wald will, aber sie deuten die ganze Zeit zum Himmel, was mich erst wundert, doch dann begreife ich: Natürlich. Sie denken, derjenige, der die Explosion ausgelöst hat, ist tot. Sie wissen nichts von den Pfeilen und den Äpfeln. Sie vermuten, dass die Sprengfalle falsch eingerichtet war und dass der Tribut, der ihre Vorräte in die Luft gejagt hat, dabei umgekommen ist. Der fällige Kanonenschuss wäre im Lärm der Folgeexplosionen leicht zu überhören gewesen. Die Leichenteile des Diebs von einem Hovercraft entfernt worden. Sie ziehen sich ans andere Ufer des Sees zurück, damit die Spielmacher den Körper des Jungen aus Distrikt 3 bergen können. Und warten.

Dann wird wohl eine Kanone abgeschossen. Ein Hovercraft erscheint und nimmt den toten Jungen mit. Die Sonne taucht hinter den Horizont. Die Nacht bricht herein. Am Himmel sehe ich das Wappen und weiß, dass die Hymne eingesetzt haben muss. Einen Augenblick ist es dunkel. Sie zeigen den Jungen aus Distrikt 3. Sie zeigen den Jungen aus Distrikt 10, der heute Morgen gestorben sein muss. Dann wieder das Wappen. Jetzt wissen sie es also. Der Bomber hat überlebt. Im Licht des Wappens sehe ich, wie Cato und das Mädchen aus Distrikt 2 ihre Nachtsichtbrillen aufsetzen. Der Junge aus Distrikt 1 entzündet einen Ast und im Fackelschein sehe ich die grimmige Entschlossenheit auf ihren Gesichtern. Die Karrieros brechen auf in den Wald, um zu jagen.

Das Schwindelgefühl hat nachgelassen, und während mein linkes Ohr immer noch taub ist, habe ich im rechten ein Klingeln, was mir ein gutes Zeichen zu sein scheint. Aber es hätte keinen Sinn, mein Versteck zu verlassen. Sicherer als hier am Tatort kann ich gar nicht sein. Wahrscheinlich denken sie, der Bomber hat zwei bis drei Stunden Vorsprung. Trotzdem dauert es lange, bis ich mich zu rühren wage.

Als Erstes krame ich meine eigene Brille hervor und setze sie auf. Es beruhigt mich ein bisschen, dass wenigstens einer meiner Jägersinne funktioniert. Ich trinke ein wenig und wasche das Blut aus meinem Ohr. Aus Angst, Fleischgeruch könnte unerwünschte Raubtiere anlocken - frisches Blut ist schon schlimm genug -, bereite ich eine ordentliche Mahlzeit aus dem Gemüse, den Wurzeln und den Beeren, die Rue und ich heute Morgen gesammelt haben.

Wo mag meine kleine Verbündete sein? Hat sie es zurück zum Treffpunkt geschafft? Macht sie sich Sorgen um mich? Wenigstens hat der Himmel gezeigt, dass wir beide am Leben sind.

An den Fingern zähle ich die überlebenden Tribute ab. Der Junge aus 1, beide aus 2, Fuchsgesicht, beide aus 11 und 12. Nur noch acht. Im Kapitol geht es jetzt bei den Wetten bestimmt hoch her. Sie werden Porträts über uns alle bringen. Wahrscheinlich auch Interviews mit unseren Freunden und Familien. Es ist lange her, dass ein Tribut aus Distrikt 12 es unter die letzten acht geschafft hat. Und jetzt sogar zwei. Allerdings macht Peeta es nicht mehr lange, wenn Cato recht behält. Nicht dass er die Wahrheit für sich gepachtet hätte. Hat er nicht soeben seine gesamten Vorräte verloren?

Mögen die vierundsiebzigsten Hungerspiele beginnen, Cato, denke ich. Mögen sie richtig beginnen.

Ein kalter Wind ist aufgekommen. Ich will nach meinem Schlafsack greifen, aber da fällt mir ein, dass ich ihn ja bei Rue gelassen habe. Ich wollte noch einen aus dem Lager der Karrieros mitnehmen, aber wegen der Minen und allem, was dann passiert ist, habe ich es vergessen. Ich fange an zu zittern. Da es sowieso nicht ratsam scheint, in der Nacht auf einem Baum zu schlafen, grabe ich unter den Sträuchern eine Mulde und bedecke mich mit Blättern und Kiefernnadeln. Ich friere immer noch. Ich lege mir die Plastikplane über den Oberkörper und stelle den Rucksack so hin, dass er den Wind abhält. Schon ein bisschen besser. Jetzt kann ich das Mädchen aus Distrikt 8 ein wenig verstehen, das damals in der ersten Nacht ein Feuer gemacht hat. Heute bin ich es, die die Zähne zusammenbeißen und bis zum Morgen durchhalten muss. Mehr Blätter, mehr Kiefernnadeln. Ich ziehe die Arme in die Jackenärmel und die Knie an die Brust. So schlafe ich irgendwann ein.

Als ich die Augen öffne, sieht die Welt ein wenig gebrochen aus und es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass die Sonne schon hoch am Himmel steht und die Brille meine Sicht zersplittert. Ich setze mich auf und nehme sie ab, als ich irgendwo am See jemanden lachen höre. Ich erstarre. Das Lachen ist verzerrt, aber die Tatsache, dass ich es überhaupt bemerkt habe, bedeutet, dass ich offenbar mein Gehör wiederfinde. Ja, mein rechtes Ohr kann wieder hören, obwohl es noch immer klingelt. Und mein linkes Ohr, nun ja, das hat wenigstens aufgehört zu bluten.

Ich spähe durch die Büsche und befürchte, die Karrieros könnten zurück sein und mich hier auf unbestimmte Zeit festsetzen. Nein, es ist Fuchsgesicht, sie steht im Schutt der Pyramide und lacht. Sie ist schlauer als die Karrieros, sie findet in der Asche sogar noch ein paar nützliche Dinge. Einen Metalltopf. Eine Messerklinge. Es verblüfft mich, dass sie so guter Laune ist, aber dann wird mir klar, dass auch sie jetzt, da die Vorräte der Karrieros vernichtet sind, plötzlich eine Chance hat. Genau wie wir anderen. Einen Augenblick lang erwäge ich, mich zu zeigen und sie als zweite Verbündete gegen die Meute zu gewinnen, verwerfe die Idee dann aber. Etwas an ihrem listigen Grinsen sagt mir, dass ein Bündnis mit Fuchsgesicht irgendwann mit einem Messer in meinem Rücken enden würde. So gesehen wäre jetzt die Gelegenheit, sie zu erschießen. Aber da horcht sie auf. Sie hat etwas gehört; nicht mich, denn sie wendet das Gesicht in die andere Richtung, zum Abhang, und rennt schnurstracks in den Wald. Ich warte. Niemand, nichts ist zu sehen. Was immer es war - wenn Fuchsgesicht es für gefährlich hielt, ist es vielleicht auch für mich Zeit, hier wegzukommen. Außerdem möchte ich Rue unbedingt von der Pyramide erzählen.

Da ich keinen Anhaltspunkt habe, wo die Karrieros suchen, erscheint mir der Weg zurück durch den Bach so gut wie jeder andere. Ich laufe los, den gespannten Bogen in der einen Hand, ein Stück Grusling in der anderen, denn jetzt habe ich Hunger, und zwar nicht nur auf Blätter und Beeren, sondern auf Fett und Eiweiß. Der Weg zum Bach verläuft ereignislos. Dort angekommen, fülle ich meine Flasche auf und wasche mich, wobei ich mich besonders um das verletzte Ohr kümmere. Dann marschiere ich bergauf, immer durch den Bach. An einer Stelle entdecke ich Stiefelabdrücke im Uferschlamm. Die Karrieros waren hier, aber das muss schon länger her sein. Die Abdrücke sind tief, weil der Schlamm weich war, doch inzwischen hat die heiße Sonne sie fast getrocknet. Bisher habe ich kaum auf meine eigenen Spuren geachtet, ich habe mich auf meinen leichten Gang verlassen und bin davon ausgegangen, dass die Kiefernnadeln die Spuren verdecken. Jetzt ziehe ich die Stiefel aus und gehe barfuß durchs Bachbett.

Das kühle Wasser erfrischt meinen Körper und weckt die Lebensgeister. Ich schieße zwei Fische, leichte Beute in dem langsamen Gewässer, und während ich weitergehe, esse ich den einen roh, obwohl ich gerade erst den Grusling verspeist habe. Den zweiten hebe ich für Rue auf.

Das Klingeln im Ohr wird immer schwächer, bis es schließlich ganz verschwunden ist. Regelmäßig fasse ich an mein linkes Ohr und versuche herauszufinden, warum es keine Geräusche mehr einfängt. Sollte es sich gebessert haben, so merke ich jedenfalls nichts davon. An die Taubheit im Ohr kann ich mich nicht gewöhnen. Es fühlt sich so an, als wäre ich aus dem Gleichgewicht geraten und auf der linken Seite wehrlos. Regelrecht blind. Immer wieder drehe ich den Kopf zur verletzten Seite und versuche mit dem rechten Ohr die Mauer des Nichts auszugleichen, die dort ist, wo noch gestern stetig Informationen flössen. Je länger es dauert, desto geringer meine Hoffnung, dass diese Verletzung je wieder heilen wird.

Als ich zu der verabredeten Stelle komme, bin ich mir sicher, dass niemand hier gewesen ist. Von Rue keine Spur, nicht auf dem Boden und nicht in den Bäumen. Das ist merkwürdig. Sie müsste längst zurück sein, es ist schon Mittag. Zweifellos hat sie die Nacht irgendwo in einem Baum verbracht. Etwas anderes blieb ihr kaum übrig, ohne Licht, während die Karrieros mit ihren Nachtsichtbrillen durch den Wald stapften. Außerdem war das dritte Feuer, das sie entzünden sollte - darauf habe ich gestern Abend ganz vergessen zu achten -, am weitesten von dieser Stelle hier entfernt. Wahrscheinlich ist sie einfach nur vorsichtig, was den Rückweg angeht. Mir wäre lieber, sie würde sich beeilen, denn ich will hier nicht allzu lange herumhocken. Ich würde den Nachmittag gern nutzen, um in höheres Gelände zu gelangen und unterwegs zu jagen. Aber im Grunde bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten.

Ich wasche das Blut aus Jacke und Haar und säubere meine Wunden, die immer mehr werden. Die Verbrennungen sehen schon viel besser aus, aber ich salbe sie trotzdem ein. Ich muss jetzt vor allem verhindern, dass sie sich entzünden. Dann esse ich den zweiten Fisch. In der Sonne würde er sich sowieso nicht lange halten und es dürfte kein Problem sein, für Rue noch mehr zu schießen. Wenn sie nur endlich auftauchen würde.

Mit meinem einseitigen Gehör fühle ich mich auf dem Boden zu verwundbar, deshalb erklimme ich einen Baum und warte dort. Falls sich die Karrieros zeigen, könnte ich von hier aus prima auf sie schießen. Langsam wandert die Sonne weiter. Ich versuche mir die Zeit zu vertreiben. Kaue Blätter und lege sie auf meine Stiche, die abgeschwollen, aber immer noch empfindlich sind. Kämme mit den Fingern mein feuchtes Haar und flechte es. Schnüre die Stiefel wieder zu. Kontrolliere den Bogen und die verbliebenen neun Pfeile. Raschele probeweise mit einem Blatt an meinem linken Ohr, aber ohne Erfolg.

Trotz Grusling und Fisch grummelt mein Magen. Ich weiß, dass es für mich ein hohler Tag werden wird. So nennen wir in Distrikt 12 einen Tag, an dem man sich so vollstopfen kann, wie man will, und trotzdem nicht satt wird. Dass ich nichts zu tun habe, als im Baum zu sitzen, macht es noch schlimmer, deshalb beschließe ich nachzugeben. In der Arena habe ich ja einiges an Gewicht verloren, ich brauche ein paar zusätzliche Kalorien. Und seit ich Pfeil und Bogen habe, bin ich viel zuversichtlicher geworden.

Langsam knacke ich eine Handvoll Nüsse und esse sie. Meinen letzten Kräcker. Den Hals des Gruslings. Das ist gut, weil es dauert, bis ich ihn ganz abgenagt habe. Zum Schluss noch einen Gruslingflügel, dann ist der Vogel Vergangenheit. Aber wie gesagt, es ist ein hohler Tag und deshalb träume ich trotzdem von noch mehr Essen. Vor allem von den dekadenten Speisen, die uns im Kapitol aufgetischt wurden. Hühnchen in Orangen-Sahne-Soße. Kuchen und Puddings. Brot mit Butter. Nudeln in grüner Soße. Lammeintopf mit Backpflaumen. Ich sauge ein paar Minzeblätter aus und befehle mir, mich damit zufriedenzugeben. Minze ist gut, weil wir zu Hause nach dem Mittagessen oft Pfefferminztee trinken, sodass mein Magen jetzt denkt, die Essenszeit ist vorbei. Theoretisch zumindest.

Hoch oben in meiner Astgabel, in der wärmenden Sonne, Minzeblätter im Mund, Pfeil und Bogen in Reichweite … so entspannt wie jetzt war ich noch nie, seit ich die Arena betreten habe. Wenn nur Rue auftauchen würde und wir verschwinden könnten. Je länger die Schatten werden, desto unruhiger werde ich. Am späten Nachmittag beschließe ich, mich auf die Suche zu machen. Zumindest kann ich zu der Stelle gehen, wo sie das dritte Feuer entzünden wollte, und nachsehen, ob sich dort Hinweise auf ihren Verbleib finden.

Bevor ich aufbreche, streue ich ein paar Minzeblätter rings um unser altes Lagerfeuer. Da wir sie ein Stück entfernt gesammelt haben, wird Rue verstehen, dass ich hier war. Den Karrieros werden sie nichts sagen.

In weniger als einer Stunde bin ich an der Stelle, wo wir das dritte Feuer machen wollten. Ich merke sofort, dass etwas schiefgegangen sein muss. Das Holz ist fein säuberlich aufgestapelt, fachmännisch mit Zunder gestopft, aber es wurde nie in Brand gesteckt. Rue hat das Feuer vorbereitet, ist aber nicht mehr zurückgekommen. Irgendwo zwischen der zweiten Rauchsäule, die ich gesehen habe, bevor ich die Vorräte in die Luft gejagt habe, und dieser Stelle ist sie in Schwierigkeiten geraten.

Ich sage mir, dass sie noch am Leben ist. Oder etwa nicht? Kam der Kanonenschuss, der ihren Tod verkündete, womöglich in den frühen Morgenstunden, als selbst mein gutes Ohr noch zu angeschlagen war, um ihn zu hören? Wird ihr Bild heute Abend am Himmel erscheinen? Nein, ich weigere mich, das zu glauben. Es gibt hundert andere Erklärungen. Vielleicht hat sie sich verlaufen. Oder sie ist auf Raubtiere gestoßen oder auf einen anderen Tribut, Thresh etwa, und musste sich verstecken. Was auch geschehen ist, ich bin mir fast sicher, dass sie irgendwo zwischen dem zweiten Feuer und dem nicht entzündeten hier festsitzt. Etwas sorgt dafür, dass sie nicht vom Baum herunterkann.

Ich werde dieses Etwas zur Strecke bringen.

Nach dem untätigen Herumsitzen am Nachmittag ist es eine Erleichterung, etwas zu tun. Leise schleiche ich durch die Schatten, die mir Schutz bieten. Aber ich sehe nichts Verdächtiges. Nirgendwo Anzeichen für einen Kampf, keine Stelle, an der die Nadeln auf dem Boden aufgewühlt wären. Als ich kurz stehen bleibe, höre ich es. Ich muss den Kopf zur Seite drehen, weil ich mir nicht sicher bin, aber da ist es wieder. Rues Viertonlied aus dem Mund eines Spotttölpels. Die Melodie, die bedeutet, dass es ihr gut geht.

Ich grinse und gehe auf den Vogel zu. Nicht weit davon nimmt ein anderer Vogel die wenigen Töne auf. Rue hat sie ihnen vorgesungen und das ist noch nicht lange her. Sonst hätten sie schon längst wieder ein anderes Lied angestimmt. Ich schaue hinauf in die Bäume und suche nach einem Lebenszeichen von ihr. Ich schlucke und singe leise zurück, damit sie weiß, dass sie gefahrlos zu mir kommen kann. Ein Spotttölpel wiederholt meine Melodie. In diesem Augenblick höre ich den Schrei.

Den Schrei eines Kindes, eines jungen Mädchens, und außer Rue gibt es in der Arena niemanden, der einen solchen Schrei ausstoßen könnte. Ich renne los, obwohl ich weiß, dass es eine Falle sein könnte, dass drei Karrieros darauf lauern könnten, sich auf mich zu stürzen, aber ich kann nicht anders. Wieder höre ich einen schrillen Schrei, diesmal ist es mein Name: »Katniss! Katniss!«

»Rue!«, rufe ich zurück, damit sie weiß, dass ich in der Nähe bin. Das heißt aber auch, sie wissen, dass ich in der Nähe bin, und hoffentlich reizt sie das Mädchen, das ihnen die Jägerwespen auf den Hals gehetzt und unerklärlicherweise elf Punkte bekommen hat, genug, um sie von Rue abzulenken. »Rue! Ich komme!«

Als ich auf die Lichtung stürze, liegt sie hoffnungslos in einem Netz verfangen auf dem Boden. Sie hat gerade noch Zeit, ihre Hand durch eine Masche zu strecken und meinen Namen zu sagen, dann bohrt sich der Speer in ihren Körper.


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