Als Mignon am Morgen um halb acht die Tür zum Flur öffnete, packte sie eine kräftige Hand an der Schulter.
«Los komm. Wir machen einen Spaziergang«, befahl Vic.
«Wohin?«Mignon versuchte ängstlich, sich ihrer Schwester zu entwinden.
«Zum Briefkasten und zurück oder vielleicht auch bis Richmond.«
«Ist bestimmt kalt draußen.«
«Dafür haben wir Jacken. «Vic bugsierte sie zum Fuß der Treppe, durch den breiten Mittelflur zur Kammer hinter der Küche. Sie warf Mignon eine Jacke zu und schnappte sich auch eine.
Als sie aus der Tür waren — Piper trottete mit ihnen durch den leichten Nebel — , quengelte Mignon:»Wir dürfen nicht zu spät zum Frühstück kommen. Mom flippt sonst aus.«
«Sie kriegt sich auch wieder ein. So, Mignon, raus mit der Sprache, was soll das alles?«
«Was soll was?«
Vic gab ihr den Zettel.»Fang hiermit an.«
Der Austernsplitt knirschte unter ihren Schuhen. Mignon warf einen Blick auf den Zettel und steckte ihn dann in ihre kariert gefütterte Allwetterjacke.»Nichts.«
«So leicht kommst du mir nicht davon.«
«Ist mir doch egal, was du machst.«
«Na klar, und drum hast du den Zettel unter die Tür geschoben, Mignon. Machen wir's kurz. Sag mir, was du denkst.«
Eine aufgeschreckte Wachtel flog aus einer Hecke, ein paar kehlige Laute zeugten von ihrem Mißmut.
Mignon trat mit der Schuhspitze nach einem Steinchen.»Ich denke nicht, daß du dich mit Chris über Astrophysik unterhältst.«
«Getroffen. Schieß weiter.«
«Also, es ist mir egal. «Sie zog gleichmütig die Schultern hoch.»Ist mir egal, was du tust.«»Hör mal, du willst wissen, was ich tue, du willst wissen, warum ich es tue. Du bist die typische freche, gemeine, mistige, naseweise kleine Schwester. «Sie sagte es liebevoll.
«Willst du hören, was du bist?«
«Abartig. Wolltest du das sagen? Tu dir nur keinen Zwang an.«
Mignon machte ein beleidigtes Gesicht.»Nein, das wollte ich nicht sagen. Das würde ich nie sagen. Ist mir doch egal, ob du abartig bist. Ist nicht grade ein nettes Wort, oder?«
«Keine Ahnung. Ich habe nicht viel über die Worte nachgedacht.«
«Und, bist du's?«
«Ja.«
«Immer?«
«Ich weiß nicht. Glaub nein.«
«Auf der Highschool keine Mädchen geküßt?«Mignon zog die Schultern hoch, eine komische, koboldhafte Geste.
Vic lachte.»Gott, nein.«
«Aha. «Völlig durchfroren atmete Mignon die feuchtkalte Luft ein.»Wie ist's passiert?«
Vic hakte sich bei ihrer Schwester unter.»Ich weiß nicht. Ich hab Chris eines Tages einfach angeguckt, die Sonne fiel auf sie wie Goldpuder, und mein Herz hat gepocht wie wild. Hab fast keine Luft mehr gekriegt, und da. «Sie hielt inne.»Da wußte ich, daß ich sie liebe. Und ich war gierig nach ihr. Ich kann dir keine Gründe nennen. Ich hab keine, hab nur Gefühle.«
«Glaubst du, das wird mir auch passieren?«
«Ach Mignon, schon bist du wieder bei dir, wie immer. «Vic senkte in gespielter Entrüstung die Stimme.
«So meine ich das nicht. Und außerdem, was erwartest du denn? Hast du vielleicht mit fünfzehn an alle anderen gedacht? Du hast bestimmt rumgesessen und nur an dich gedacht. Du hast's bloß nicht gesagt. Ich sag's wenigstens. Aber das meine ich gar nicht.«
«Was meinst du dann?«
«Werde ich mich eines Tages auch so verlieben?«
«Woher soll ich das wissen?«»Du bist meine große Schwester. Du solltest alles wissen. Du solltest es vormachen. So läuft das. «Vic lächelte und Mignon fuhr fort:»Wie verlieben sich die Menschen? Knallt einem ein Ziegelstein auf den Kopf? Rutscht einem das Hirn in die Hose? Wie ist das?«
«Es ist bei jedem anders. Bei mir war es wohl so was wie Liebe auf den ersten Blick, aber das wußte ich da noch nicht. Jemand anderem wächst die Person langsam ans Herz. Es dauert seine Zeit. Bei anderen fängt es damit an, daß sie sich hassen. Sagt Tante Bunny. Sie fand Onkel Don so attraktiv wie Hundepuste, 'tschuldigung, Piper.«
Die Golden-Retriever-Hündin wedelte mit dem Schwanz. Sie nahm es nicht krumm.
«Sie haben gestritten und sich gegenseitig beleidigt, und hey, irgendwann fand sie dann wohl doch was an ihm. Wer weiß, wie es bei dir sein wird?«
«Wenn du lesbisch bist, bin ich es vielleicht auch. Könnte ein Gen sein oder so. Ich kann's geerbt haben.«
«Du hast ja 'nen Knall. Himmeldonnerwetter noch mal. Du bist was du bist. Was ich bin, hat nichts mit dir zu tun.«
«Aber du dachtest nicht, daß du lesbisch bist, als du so alt warst wie ich.«
«Als ich so alt war wie du, Mignon, dachte ich an nichts als Lacrosse und Hockey. Ich wollte nur Sport treiben und die Schule schaffen. Wir sind sehr verschieden.«
«Aber wie merkt man es?«
«Man merkt es, wenn man's wissen muß — das ist bei allem so, nicht nur ob man Homo ist oder wenn man sich verliebt. Wenn du etwas im Leben wissen mußt, dann kommt es zu dir oder du lernst es oder jemand taucht auf und bringt's dir bei. Näher kann ich's nicht erklären.«
«Ich hab dich lieb. Du bist meine Schwester. Ich müßte dich auch lieb haben, wenn ich dich nicht lieb hätte. Aber ich will nicht lesbisch sein.«
«Bist du nicht. «Vic atmete ein und sagte dann:»Ich hab dich lieb. Ich weiß nicht immer warum. Sieben Jahre sind ein großer Unterschied. Wenn wir älter werden, wird die Kluft kleiner, aber als ich vierzehn war, warst du sieben und eine schreckliche Nervensäge. Ich weiß nicht, warum Mom und Dad so lange gewartet haben, um dich zu kriegen.«
«Ich war nicht geplant.«
«Aber du weißt, daß sie dich ersehnt haben wie nichts auf der Welt.«
«Jetzt kannst du keine Kinder kriegen. «Mignon dachte hierüber nach, als sie beim Briefkasten ankamen. Sie griff hinein und holte denRichmond Times-Dispatch heraus.
«Du bist mir weit voraus. So weit hab ich noch gar nicht gedacht.«
«Vic, was wird aus Charly?«
«Ich weiß es nicht. «Vic legte ihren Arm über den Briefkasten.»Ich muß was tun, muß das Richtige tun, aber Herrgott, mir ist bange davor. «Sie sah Mignon offen an.»Läufst du jetzt zu Mom und erzählst es ihr brühwarm?«
«Nein«, antwortete Mignon aufgebracht; sie hob die Stimme.
«Das war wohl nicht sehr nett von mir. Entschuldige. Ich hab noch so viel zu überdenken.«
Sie kehrten um und gingen die lang gezogene Zufahrt zurück.
«Könntest du nicht mit Charly zusammenbleiben, bis ich alt genug bin, so daß er mich vielleicht anguckt? Er ist so absolut cool.«
Vic lachte.»Nein, das kann ich nicht.«
«Aber wenn du weiter mit Charly zusammenbleibst, wirst du's dir vielleicht anders überlegen. Du wirst Chris vielleicht satt haben.«
«Ich werde Chris nicht satt haben, und selbst wenn, woher willst du wissen, daß ich dann nicht mit einer anderen Frau zusammen bin? Mignon, ich bin kein Wasserhahn. Man kann mich nicht auf- und zudrehen.«
«Nein, aber du bist die ganze Zeit nicht lesbisch gewesen.«
«Ich kann's nicht erklären, aber ich schwöre dir, Mignon, es ist einfach da. Es ist einfach da — wie der Nebel, der sich jenseits vom Fluß lichtet. Es ist einfach da. Ich kann nicht zurück. Ich kann nicht.«
Mignon stieß einen langen, tiefen Seufzer aus.»Das wird seltsam. Eine lesbische Schwester zu haben.«»Ach, nenn mich einfach verdrehte Schwester. Klingt besser als abartige Schwester. Und was soll's? Bist du der einzige Mensch auf der Welt mit einer lesbischen Schwester? Du Ärmste.«
«Ist mir egal. Ich hab bloß gesagt, es wird seltsam. Werd mich schon dran gewöhnen.«
«Das ist echt Spitze von dir.«
«Ich bin großzügig veranlagt.«
«Wirst du dich jetzt Chris gegenüber komisch benehmen?«
«Nee. Ich werd mich bemühen, nicht dran zu denken, wie du sie küßt.«
«Mignon, du machst mich fertig, ehrlich. Ich werd mich bemühen, nicht dran zu denken, wie du Buzz Schonfeld küßt.«
«Nie im Leben! Wie kannst du so was sagen?«
Vic pfiff ein paar Takte von>Dixie<, auch eine Möglichkeit, Quatsch mit Soße zu sagen.
«Hey, Marjorie Solomon will ihn küssen, nicht ich. Mannomann. «Mignon hielt einen Moment inne.»Sie macht mir das Leben zur Hölle, wenn sie rauskriegt, daß ich eine lesbische Schwester habe. Scheiße. Vic, oute dich bloß nicht, bevor ich mit der Highschool fertig bin.«
«Ich bezweifle, daß ich auf der Surry High das hochaktuelle Thema des Tages sein werde.«
«Du nicht, aber ich.«
«Ach ja. Hatte ich vergessen. Du bist das beliebteste Mädchen der Schule.«
«Arschloch.«
«Geht's auch origineller?«
«Schwule Jule.«
«Interessant.«
«Hey, Arschloch stimmt nicht.«
«Sehr richtig. «Vic sah zu, wie sich ein Nebelschwaden in einer Bodensenke langsam auflöste.»Ich sag's Mom, wenn ich bereit bin.«
«Das kann Jahre dauern.«
«Nicht Jahre, sondern wenn ich bereit bin. Zuerst muß ich mit Charly sprechen.«
«Hast du dich entliebt?«»Nein. Ich hab ihn geliebt, aber ich hab dieses Gefühl nicht gekannt. Es ist schwierig, was zu erkennen, wenn alle um dich herum dich auf eine andere Schiene schieben. Klingt das plausibel? Ich kannte es nicht anders, Mignon. Hatte keinen blassen Schimmer.«
«Dann liebst du Chris wirklich und wahrhaftig?«
«Ja.«
«Okay. Was soll ich jetzt machen?«
«Gar nichts. Tu so, als wär nichts, laß keine Andeutung fallen. Ich kenn dich. Wenn du von einem Geheimnis weißt, bringt es dich um, es nicht weiterzusagen.«
«Ich weiß vielleicht mehr Geheimnisse als bloß deins«, schoß Mignon zurück.
«Um so mächtiger kannst du dich fühlen.«
«Willst du nicht versuchen, sie aus mir rauszukriegen?«
«Nein. Im Moment hab ich mit meinem eigenen Leben genug am Hals. Wenn ich das alles hinter mir habe, werd ich dich bitten, sie mir zu erzählen.«
«Du glaubst mir nicht.«
«Doch. Ich bin sicher, daß du Geheimnisse hast.«
«Keine eigenen. Geheimnisse von anderen.«
«Toll. Mignon, ich bin fix und fertig. Herrgott, ich hab festgestellt, daß ich lesbisch bin. Zumindest liebe ich eine Frau, also werden mich alle lesbisch nennen. Ich kann mich genauso gut dran gewöhnen. Es gibt einen großartigen Mann, der mich liebt. Ich muß mit ihm Schluß machen, obwohl ich ihn wirklich gern habe, ehrlich. Mom und Dad rechnen damit, daß ich ihn nach dem College heiraten werde. Ich muß mich mit ihnen auseinander setzen. Dad hat uns um unser ganzes Geld gebracht. Ich kann nicht weggehen und Mom im Stich lassen. Und ich kann dich nicht im Stich lassen. Du wirst aufs College gehen, und wenn ich es bezahlen muß.«
Mignon lehnte sich ein paar Schritte lang mit der Schulter an Vics.»Ich möchte wirklich gern aufs College.«
«Tja, Moppelchen, du mußt nächsten Sommer arbeiten. Ich auch.«
«Vielleicht kriegt Dad das Geld zurück.«
«Geld und Dad sind allergisch aufeinander.«»Tja. Aber warum kann Mom es sich nicht von Tante Bunny leihen?«
«Mmm, ich glaube nicht, daß Onkel Don sich drauf einläßt. Wenn er uns Geld leiht, kriegt er es wahrscheinlich nicht zurück. So denkt er. Er wird's nicht tun.«
«Warum kann Tante Bunny uns keins leihen?«
«Weil sie genauso denkt. Sie spricht es vielleicht nicht aus, aber ich glaube nicht, daß Tante Bunny Dad Geld geben würde.«
«Sie gibt es nicht Dad. Sie gibt's Mom.«
«Mignon, schlag dir das aus dem Kopf. Die Menschen sind sehr eigen, wenn's um Geld geht. Dabei meint man, die Menschen sind eigen, wenn's um Sex geht. «Sie schüttelte den Kopf.»Egal. Wir kriegen das schon hin. Aber du mußt nächsten Sommer arbeiten.«
«Mach ich. Ich arbeite mit Hojo zusammen.«
«Was hast du bloß mit Hojo?«
«Nichts. Ich finde sie ulkig.«
«So ulkig, daß sie dir Löcher in die Ohren piekst.«
«Ja. Ich sollte wohl lieber nicht bei Onkel Don arbeiten.«
Vic sah den Rauch vom Schornstein über dem Dach hängen.»Arbeite bei wem du willst, wer immer dich anstellt.«
«Vic?«
«Was?«
«Was, wenn Chris dich satt kriegt? Hast du da schon mal dran gedacht?«
«Nein.«
«Solltest du vielleicht. Du willst mit Charly Schluß machen. Was ist, wenn sie mit dir Schluß macht?«
«Ich kann meine Gefühle nicht ändern. Wenn sie Schluß macht, hey, so ist das Leben eben.«
«Vielleicht nimmt er dich ja zurück.«
«Mignon, ich kann nicht zu ihm zurückgehen. Das ist nicht meine Art. «Vic blies Luft aus ihren Nasenlöchern, zwei Kondensstreifen.»Ist es so schlimm, eine lesbische Schwester zu haben?«
«Keine Ahnung. Ich hatte noch nie eine«, antwortete Mignon keß.
«Gewöhn dich dran. «Sie überlegte kurz.»Wann hast du's gemerkt?«
«Beim letzten Besuch.«
«Wie?«
Mignon zuckte mit den Achseln.»Einfach so.«
«Glaubst du, Mom hat's gemerkt oder Tante Bunny? Dad würde nie auf die Idee kommen.«
«Nein, aber sie werden es irgendwann rauskriegen. Vor allem Tante Bunny, die Königin des Sexradars.«
«Das mußt ausgerechnet du sagen.«
«Ich hab kein Sexradar. Neulich bin ich mitten in der Nacht in dein Zimmer geschlichen und du warst nicht da. So hab ich's gemerkt.«
Piper hob den Kopf, sie schnupperte den Speckgeruch, der aus dem Dunstabzug des Küchenherdes drang.
«Gehn wir rein.«
«Bist du sauer auf mich?«Mignons Stimme schwankte ein bißchen.
«Nein. Ich will mir bloß wegen dir keine Sorgen machen müssen. Hab so schon Sorgen genug.«
«Hast du Angst?«
«Nein. Irgendwie fühl ich mich besser. Aber ich muß mit einem ganzen Haufen Zeug fertig werden.«
«Alles ist wie immer. Nur du bist anders«, sagte Mignon.
«Vielleicht bin ich wie immer und alles andere ist anders. Verdammt, wenn ich es nur wüßte.«