Barbara Wood Lockruf der Vergangenheit

Kapitel 1

Als ich im peitschenden Wind endlich vor dem großen alten Haus stand, zweifelte ich plötzlich, ob meine Entscheidung richtig war; denn nicht einmal ein Funke der Erinnerung glomm auf, nicht der Schimmer eines Bildes aus längst vergangenen Tagen erhellte das Dunkel, während ich, mit der einen Hand meinen Hut, mit der anderen meinen Umhang festhaltend, das düstere Gemäuer betrachtete.

Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht herzukommen. Gewiß, dies war das Haus, in dem ich zur Welt gekommen war, hier waren mein Vater und meine Vorfahren geboren, aber hatte ich denn überhaupt einen Anspruch auf dieses Haus und diese Familie, da ich mich noch nicht einmal der Jahre erinnern konnte, die ich hier verbracht hatte, und ebensowenig an die Menschen, die hier lebten?

Die Menschen… Unschlüssig stand ich in dem immer heftiger werdenden Wind und lauschte der Droschke nach, die sich rasch entfernte. Was für Menschen waren das, die hier lebten? Wieso konnte ich mich ihrer nicht erinnern? Wie würden sie mich nach so langen Jahren der Abwesenheit aufnehmen? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich mit kaltem Gesicht und kalten Händen vor dem ehrwürdigen alten Haus stand.

Der Brief fiel mir ein. Ein Umschlag aus feinem Büttenpapier, mit einer Zwei-Penny-Marke, einer >Victoria blue< frankiert. Er war an meine Mutter adressiert gewesen, und ich hatte ihn ihr, während sie schlief, ins Zimmer gelegt. Am Abend, als ich wieder zu ihr hinaufgegangen war, war der Brief nicht mehr da und meine Mutter hatte ihn mit keinem

Wort erwähnt. Ich dachte mir, sie müsse wohl ihre Gründe für ihr Schweigen haben, und da sie zu jener Zeit sehr krank war, hatte ich aus Rücksicht auf sie keine Fragen gestellt.

Ich fand den Brief eine Woche später wieder, als ich nach der Beerdigung ihre Sachen ordnete. Warum sie ihn aufgehoben hatte, werde ich nie erfahren; aber ich weiß heute, warum sie mit mir über seinen Inhalt nicht sprechen wollte. An jenem stürmischen, wolkenverhangenen Tag jedoch, als ich vor Pemberton Hurst aus der Droschke stieg, konnte ich nicht ahnen, auf welch sonderbaren und schweren Weg der Brief mich führen würde.

Hätte ich es gewußt, so wäre ich niemals nach Pemberton Hurst zurückgekehrt.

Auch so kostete mich diese Rückkehr viel Mut, denn viel hatte ich nicht in Händen: einen verwirrenden Brief und undeutliche Erinnerungen an das Wenige, was meine Mutter über diesen Ort gesagt hatte. Während jetzt mein Blick auf das Herrenhaus gerichtet war, sah ich zugleich meine Mutter vor mir, und auf ihrem Gesicht lag jener merkwürdig forschende Ausdruck, mit dem sie mich manchmal angesehen hatte — so als suche sie etwas in meinen Zügen. Als ich sie später einmal danach gefragt hatte, antwortete sie nur:»Du bist eine Pemberton.«

Ich wußte also, daß zwischen mir und diesem Haus eine Verbindung bestand; ich wußte, daß ich früher einmal hier gelebt hatte, und doch hatte ich keine Erinnerung an jene Zeit. Denn meine Mutter hatte in den zwanzig Jahren, in denen wir in ärmlichen Verhältnissen in London gelebt hatten, nur wenig aus der Vergangenheit erzählt. Mein Zögern an jenem tristen Tag hatte noch einen anderen Grund. Mir gingen die Geschichten und Schauermärchen nicht aus dem Sinn, die ich am Bahnhof und im Dorfgasthaus am Rande gehört hatte. Pemberton Hurst, so schien es, war ein verfluchter Ort. Die

Bauern der Gegend munkelten von Spuk und Hexerei. Doch während ich jetzt vor dem grauen Gebäude stand, sah ich nur ein schönes altes Herrenhaus im elisabethanischen Stil, Relikt einer vielleicht besseren Zeit. Ja, so zeigte sich mir das Haus an jenem zur Neige gehenden Wintertag des Jahres 1857. Es war ein großartiges und beeindruckendes Gebäude, wenn auch düster in diesem Licht, aber so stattlich und nobel, daß es den vornehmen Häusern, die man in der Park Lane in London sehen konnte, in nichts nachstand. Nur der Park war eigentümlicherweise wenig ansehnlich; beinahe wirkte er verwahrlost. Der Vorplatz bot dem Auge kaum etwas, woran es sich hatte erfreuen können: eine mit Kieselsteinen bedeckte Auffahrt, braunes, von Efeu überwuchertes Gitterwerk, welkes Gras und kahle Bäume. Obwohl es nur ein ungepflegtes Stück Land war, hatte es etwas Wildes und Ungezähmtes an sich und vermittelte einen Eindruck trotzig herausfordernder Ungebärdigkeit. Die mächtigen Bäume, deren Äste sich knorrig über die Auffahrt streckten, wirkten wie dunkle Riesen, die im böigen Wind ihre Arme schüttelten. Ihre braunen Blätter fielen raschelnd auf die Beete herab, auf denen tote Blumen ihre Köpfe hängenließen. Vögel kreischten am dunkler werdenden Himmel. Als die Sonne am Horizont verschwand, hatte Pemberton Hurst plötzlich den unheimlichen Charakter, den die Einheimischen ihm zuschrieben.

Mir wurde immer banger, mein Impuls umzukehren immer stärker. Jetzt, da ich nach vielen Jahren wieder hier war, meiner Kindheit gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, hielt mich etwas zurück. In der Geborgenheit meiner kleinen Londoner Wohnung hatte die Vorstellung, das alte Haus wiederaufzusuchen, etwas Verlockendes gehabt. In der Eisenbahn sitzend, hatte ich in Bildern von opulenten Festessen und alten, offenen Kaminen, in denen wärmende

Feuer loderten, geschwelgt. Nun aber fragte ich mich ängstlich, ob meine Erwartungen nicht enttäuscht werden würden. Doch der Drang zur Rückkehr war stärker als meine Ängste. Ich wollte Antworten auf die Fragen, die mich bedrängten, und die, so schien mir, würde ich nur in Pemberton Hurst bekommen. Noch stärker jedoch als meine Neugier war der Wunsch, wieder zu einer Familie zu gehören. Zwanzig Jahre zuvor, im selben Jahr, als Prinzessin Victoria zur Königin von England gekrönt worden war, war ich von einem Tag auf den anderen aus meinem Zuhause gerissen, meiner Familie beraubt worden, um von nun an unter Fremden zu leben.

Die Sehnsucht nach einem Zuhause war der wahre Grund meiner Rückkehr an diesem Tag. Ich wollte meine Familie wiedersehen, ganz gleich, wie fremd sie mir vielleicht geworden war; und ich wollte mir meine Vergangenheit zurückerobern, ehe ich in die Zukunft aufbrach. Langsam stieg ich die breite Treppe hinauf. Vor der schweren Eichentür angekommen, zögerte ich jedoch erneut. Nicht die geringste Erinnerung regte sich. Gehörten nicht Treppen, dachte ich mit einem Blick zurück, zu den liebsten Spielplätzen kleiner Kinder? Wie kam es dann, daß ich jetzt, wo ich hier stand, keinerlei Erinnerung daran hatte, auf dieser schönen alten Treppe mit meinem Bruder Thomas gespielt zu haben? Diese Umgebung hätte doch Bilder der Erinnerungen auslösen müssen; wie kam es, daß mir alles so fremd war, als wäre ich nie in meinem Leben hier gewesen?

Ich ließ die Hand, die schon auf dem schweren Türklopfer lag, noch einmal sinken. Noch konnte ich diesem Haus den Rücken kehren und nach London zurückfahren, wo Freunde auf mich warteten. Ich kannte keinen der Menschen in diesem Haus; ich hatte nicht einmal den Anflug einer Erinnerung, der mir etwas über sie hätte sagen können. Wie würden sie mich aufnehmen, eine Fremde, die ihren Namen trug und von ihrem Blut war? Würden sie mir wie einer Fremden begegnen, oder würden sie mich freudig willkommen heißen und in ihre Arme schließen?

Wieder fiel mir der Brief ein, den meine Großtante Sylvia an meine Mutter geschrieben hatte. In gewisser Weise war er eine Einladung, der zu entnehmen war, daß diese Menschen mich erwarteten. Nun, nach dem Tod meiner Mutter, die hier gelebt hatte, war es meine Pflicht ihr und den Pembertons gegenüber, dem Ruf des Briefs zu folgen. Vielleicht hätte ich telegrafieren sollen. Vielleicht hätte ich mit einem kurzen Brief ankündigen sollen, daß ich anstelle meiner Mutter kommen würde. Doch ich hatte es für unangemessen gehalten, der Familie den Tod meiner Mutter auf so unpersönlichem Weg mitzuteilen. Und Großtante Sylvia verdiente, auch wenn ich sie nicht kannte, wenigstens eine persönliche Erwiderung auf ihre Bitte.

Ich schluckte die letzten Zweifel hinunter, straffte entschlossen die Schultern und griff zum Türklopfer. Als er dröhnend auf das alte Holz fiel, spürte ich, daß meine Handfläche schweißnaß war. Es schien mir ewig zu dauern, ehe die Tür geöffnet wurde. Dann aber hörte ich das Knirschen des Riegels, und gleich darauf fiel ein Lichtstrahl auf mich, der so hell war, daß ich einen Moment blinzeln mußte; im nächsten Augenblick sah ich vor mir die dunkle Silhouette einer fülligen Frau.

«Guten Tag«, sagte ich.»Ich bin Leyla Pemberton. Würden Sie bitte meiner Tante Sylvia sagen, daß ich hier bin.«

Die Frau sagte keinen Ton. Ich dachte schon, ich hätte nicht laut genug gesprochen und meine Worte seien im Heulen des Windes und im Seufzen der Bäume untergegangen. Gerade, als ich meine Worte wiederholen wollte, fragte die Frau mit schroffer Stimme:»Sie sind Leyla Pemberton?«Es klang beinahe anklagend.

«Ja. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt meiner Familie melden und mich eintreten lassen würden.«

Augenblicklich wich die Frau zurück, um mir Platz zu machen. Ich eilte ins Haus, ehe der Wind mir den Hut vom Kopf reißen konnte, und glättete geschwind meinen Umhang, um präsentabel vor die Familie treten zu können. Als ich aufblickte, sah ich, daß die Frau immer noch dastand und mich mit offenem Mund ungläubig anstarrte.»Ist etwas nicht in Ordnung?«fragte ich leicht beunruhigt.»Leyla Pemberton?«flüsterte die Frau statt einer Antwort. Was hatte ich denn so Erstaunliches gesagt? Doch nur meinen Namen. Ich fragte mich, ob auch diese Frau zu der fernen Vergangenheit gehörte, die mir verschlossen war. Hatte ich diese rundliche Person schon in meiner Kindheit gekannt?

«Bitte melden Sie mich meiner Tante Sylvia. Ich denke, sie erwartet mich.«

«Sie sagen, Miss Sylvia erwartet Sie?«fragte sie noch immer irritiert. Sie sprach mit einem leichten deutschen Akzent.»Aber sicher, ich werde erwartet.«

Das Geräusch schneller Schritte durchbrach die Stille. Mit den Worten,»wer war denn an der Tür?«kam eine zweite Frau auf mich zu; offensichtlich war sie keine Hausangestellte. Als sie mich sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.»Jenny!«flüsterte sie.

«Nein, ich bin nicht Jenny. Ich bin ihre Tochter Leyla. «Der Blick der zweiten Frau huschte zur Haushälterin, und mir war, als flögen unausgesprochene Worte zwischen ihnen hin und her.»Leyla?«wiederholte die Frau dann.»Du bist Leyla?«Ich hatte selten jemanden so überrascht gesehen. Dabei hatte Tante Sylvia doch gewiß im Namen der ganzen Familie geschrieben, und man mußte schon seit einiger Zeit meinen Besuch erwartet haben. Aber nein, der Brief war ja an meine Mutter gerichtet gewesen, und daher war es meine Mutter, die man hier erwartet hatte.»Ja, ich bin Leyla, Jennys Tochter. Ihr habt gewiß nicht damit gerechnet, daß ich an ihrer Stelle kommen würde. Verzeiht mir, das war sehr gedankenlos von mir — «

«An ihrer Stelle?«Die zweite Frau zwinkerte ungläubig.»Mein liebes Kind, wir haben weder dich noch deine Mutter erwartet. Das ist wirklich ein Schock«, sagte sie und griff sich mit theatralischer Geste ans Herz.»Das tut mir leid. Wirklich.«

«Wir dachten, wir würden dich nie wiedersehen! Leyla, Leyla! Mein Gott, ist das eine Überraschung.«

Etwas höflicher und wohlerzogener als die Haushälterin, die mich mit ihren blauen Augen immer noch wie ein Gespenst anstarrte, kam die Frau auf mich zu und bot mir die Hand. Ein dünnes Lächeln spielte um ihre Lippen, und ihre Stimme war warm. Doch die Augen blieben hart.

«Bitte verzeih’ meine Unhöflichkeit.«

«Bist du Tante Sylvia?«Wieder huschte ihr Blick zur Haushälterin.

«Nein, Kind. Ich bin nicht deine Tante Sylvia. Gott, was für eine Überraschung. Nach all diesen Jahren. Was ist aus der kleinen Leyla geworden.«

Ich hatte mich also getäuscht. Sie war nicht überrascht, mich anstatt meiner Mutter zu sehen; sie wäre genauso überrascht gewesen, wenn meine Mutter selbst gekommen wäre. Es war mir ein Rätsel, warum Tante Sylvia den anderen nichts von ihrem Brief gesagt hatte. Wir umarmten einander höflich, als spielten wir eine Szene in einem Theaterstück, dann trat ich einen Schritt zurück, um diese unbekannte Verwandte zu mustern, die in mir ein Gefühl diffusen Unbehagens auslöste.

Sie hatte ein reizloses, aber durchaus sympathisches Gesicht mit leicht vorstehenden Augen und trug ein rehbraunes Samtkleid nach der neuesten Mode mit Volants und eng zulaufender Taille. Das Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden;

Korkenzieherlöckchen, die über die Ohren herabfielen, nahmen der Frisur ein wenig die Strenge. Das Grau in ihrem Haar, die Falten um die Augen und die schlaffen Wangen verrieten mir, daß sie nicht mehr jung war; ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. Da ich niemanden von der Familie Pemberton kannte, wußte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, bot sie mir nochmals die Hand und sagte:»Ich bin Anna Pemberton, deine Tante und die Schwägerin deiner Mutter. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich.?«

«Nein. Müßte ich das denn?«

Ihr kleines Auflachen klang gezwungen, aber der Ton war angenehm. Die füllige Haushälterin in ihrer Schürze starrte mich immer noch fassungslos an. Es sah aus, als würde sie sich ohne ausdrücklichen Befehl nicht von der Stelle rühren. Dennoch war es weniger das Verhalten dieser Frau, als das Verhalten von Tante Anna, das mich stutzig machte und beunruhigte: Dieses Lächeln der schmalen, rotgefärbten Lippen war nicht herzlich, es war eine Maske. Trotz des Lächelns, der Umarmung, der freundlichen Worte war Tante Anna überhaupt nicht erfreut, mich zu sehen, das fühlte ich.

«Gertrude, bringen Sie uns den Tee in den Salon. «Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, und die Haushälterin eilte davon.»Laß deine Tasche hier. Einer unserer Angestellten kann sie in dein Zimmer hinaufbringen. Du mußt dich erst einmal ein wenig ausruhen. Gott, wie kalt es draußen geworden ist.«

So sehr mich die Aussicht auf ein warmes Zimmer und eine Tasse Tee lockten, ich wollte erst meiner Pflicht Genüge tun.»Kann ich nicht zuerst Tante Sylvia sehen?«

Mir schien es, als ob Anna zurückfuhr. Sie wußte offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Stumm standen wir einander gegenüber, zwei Fremde. Ich konnte mir vorstellen, daß Anna gern gewußt hätte, warum ich hier war, da sie offenbar von Sylvias Brief keine Kenntnis hatte. Gleichzeitig spürte ich, daß sie über Sylvia nicht sprechen wollte; das schien ein heikles Thema zu sein.

«Bitte«, sagte sie schließlich leise,»gehen wir in den Salon. Du wirst von der Reise sicher müde sein. Bist du mit der Eisenbahn gekommen?«

Ich bejahte.»Ich bin mit dem Zug nach Brighton bis East Wimsley gefahren. Von dort habe ich mir eine Droschke genommen. «Anna schauderte.»Schrecklich, die Eisenbahn. Ich bin selbst nie damit gefahren und werde es auch nie tun. Ich sage immer, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, daß wir uns auf diese Weise fortbewegen, hätte er uns mit Rädern ausgestattet.«

Ich mußte lächeln, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Ich folgte ihr aus der Halle in einen Flur, der durch die Gaslampen an der Decke nur trübe erleuchtet war. Anna ging langsam, und ein Blick auf ihr Gesicht verriet mir, daß sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen war. Während ich neben ihr herging, schaute ich mich um, suchte nach Erinnerungen, aber der düstere Flur blieb mir so fremd wie das elegante Zimmer, in das Anna mich führte.

Lichterglanz und heller Feuerschein empfingen uns, schwere, geschnitzte Möbel und hochgepolsterte Sessel und Sofas. An einer Wand stand ein Klavier. Tischchen mit Blumenvasen, Kerzenleuchtern und dekorativen kleinen Kästchen nahmen den größten Teil des freien Raums ein, so daß ich mich vorsichtig bewegen mußte, um mit meinem ausladenden Rock nicht eine kleinere Katastrophe heraufzubeschwören. Auf dem Kaminsims, umgeben von Nippes und Staffordshire Figurinen stand eine Uhr, deren Zeiger auf kurz vor fünf zeigten.

Nachdem Anna mir den Umhang und den Hut abgenommen hatte, setzten wir uns auf ein Sofa und unterhielten uns über das unfreundliche Wetter. Ich bemerkte, daß Anna mich mit hastigen Blicken von Kopf bis Fuß musterte — die abgetragenen Lederstiefeletten, das schmucklose Kleid mit den altmodisch engen Ärmeln, die schlichte Haartracht. Ich kam ihr wahrscheinlich vor wie eine arme Kirchenmaus, in der Mode von gestern gekleidet. Aber vor allem schien sie mein Gesicht zu fesseln. Ich hatte das Gefühl, daß sie in meinen Zügen etwas ganz Bestimmtes suchte; während sie über das Wetter plauderte, musterte sie es sehr genau — meine dunklen Augen mit den dichten Wimpern, die etwas zu große Nase, den geschwungenen Mund, das feine Grübchen am Kinn. Und während sie mich aufmerksam betrachtete, beobachtete ich sie, wartete auf eine Reaktion, die mir zeigen würde, daß sie entdeckt hatte, was sie suchte.

«So, du bist also gekommen, um uns zu besuchen?«fragte sie, als der Tee gebracht wurde.»Sahne und Zucker?«

Das prachtvolle silberne Service war offensichtlich sehr alt. Ich fragte mich, ob ich früher schon einmal aus diesen Tassen getrunken hatte.»Weißt du, wir haben so selten Gäste hier, wir sind gar nicht darauf eingerichtet. Wenn wir nur gewußt hätten nun, du hattest vielleicht keine Zeit zu telegrafieren. Du hättest vom Bahnhof aus keine Droschke zu nehmen brauchen. Wir hätten dir gern einen Wagen geschickt. Dann hätten wir dich auch in passenderer Weise empfangen können. Du weißt gar nicht, welche Überraschung dein Besuch ist. «Ihr silberner Teelöffel schlug klirrend an den Tassenrand.»Das Haus birgt sicher viele Erinnerungen für dich, Leyla. «Beim Teetrinken schien Anna gelöster und lebhafter zu werden.»Wie aufregend muß dieser Besuch für dich sein. Nach so langer Zeit!«

«Ja, sehr aufregend«, sagte ich langsam.

An den Wänden hingen keine Porträts, keine gerahmten Daguerrotypien, die mir einen Hinweis hätten geben können, wie die anderen Angehörigen meiner Familie aussahen.

Tatsächlich wußte ich nicht einmal, wie viele Menschen unter diesem Dach lebten, ob sie mich kannten, sich meiner erinnern würden. Ein inneres Gefühl warnte mich davor, Anna wissen zu lassen, daß ich hier fremder war als sie ahnte. Zumindest vorläufig, bis ich sie — und die anderen — besser kannte, wollte ich das für mich behalten.

«Du warst ein entzückendes Kind«, plauderte sie weiter.»Und wie ähnlich du deiner Mutter bist. Wirklich, als ich dich vorhin in der Halle sah, glaubte ich, du wärest Jennifer.«

«Oh — danke. «Ich war wirklich geschmeichelt. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen.

«Aber sag doch — «Sie rührte gedankenverloren in ihrem Tee.»Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«

Ich senkte den Kopf. Zwei Monate waren vergangen, aber immer noch war es so schmerzhaft, als wäre es gestern gewesen.»Meine Mutter ist tot.«

«Tot? Oh, das tut mir aber leid!«Schwang da nicht Erleichterung in ihrer Stimme.»Dein Vater und mein Mann waren Brüder. Ich fühlte mich mit ihr immer wie mit einer Schwester verbunden. Wir haben viele vergnügte Stunden zusammen verlebt, deine Mutter und ich.«

Ich sah diese redselige Frau erstaunt an. Niemals, so weit ich zurückdenken konnte, hatte meine Mutter Anna Pemberton erwähnt.»Dein Onkel Henry wird sich sehr freuen, wenn er dich sieht. Er und Theo — dein Vetter Theodore — haben dich immer mit einem Spitznamen gerufen. Erinnerst du dich? Sie nannten dich Bunny, weil du immer herumgehüpft bist wie ein kleines Häschen. Damals warst du fünf Jahre alt, Leyla. Ja, es ist lange her.«

Nicht die leiseste Erinnerung daran regte sich. Die Jahre bis zu meinem sechsten Geburtstag lagen in tiefstem Dunkel. Es war, als wäre ich in London zur Welt gekommen und nicht hier. Vor vielen Jahren hatte ich in kindlicher Neugier meine

Mutter gefragt, warum ich mich nicht wie andere an meine frühe Kindheit erinnern konnte. Die kurze Antwort, die sie mir gegeben hatte, hatte nichts geklärt.»Das liegt an dem, was damals geschehen ist«, hatte sie gesagt und war auf weitere Fragen von mir nicht eingegangen. Danach hatte ich das Thema nie wieder zur Sprache gebracht.

«Und deine Cousine Martha erinnert sich natürlich an dich. Sie war zwölf, als man dich — äh, als du von hier fortgingst. «Anna schwieg, und ich hatte einen Moment Zeit, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Bildete ich es mir ein, oder war das Verhalten dieser Frau äußerst vorsichtig? Ihre Sprechweise erschien mir verkrampft und zögernd, als fürchte sie ständig, etwas Falsches zu sagen. Sie ließ noch ein Stück Zucker in ihre Tasse fallen und rührte wieder geräuschvoll um.»Großmutter kann dich jetzt noch nicht empfangen. Du hast also Zeit, dich frischzumachen.«

Ich zog die Brauen hoch. Eine Großmutter hatte ich also auch. Innerhalb weniger Minuten war aus der Waise Leyla Pemberton eine junge Frau mit einer großen Familie geworden.

Anna wandte sich jetzt von mir ab und zwang sich, scheinbar gleichmütig ins Feuer zu blicken, doch ich spürte deutlich, daß sie nicht die gelassene Gastgeberin war, die sie mir vorzuspielen suchte.»Und wenn du deinem Vetter Colin begegnen solltest«, sagte sie jetzt mit einem künstlich scherzhaften Lächeln,»dann solltest du ihm am besten mit einer höflichen Entschuldigung aus dem Weg gehen. «Ich hatte also noch einen Vetter.»Warum denn?«

«Nun, Colin ist — wie soll ich sagen?«Sie lachte ein wenig.»Er hat eine Neigung zur Exzentrik. Wir haben ihn alle von Herzen gern, aber er schlägt gern einmal über die Stränge, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat überhaupt keine Manieren, und es wäre mir gar nicht recht, wenn du ihn vor den anderen kennenlernst. Du wirst ihn natürlich kennenlernen, aber erst später, nach Theodore und Martha.«

«Danke«, sagte ich ohne Überzeugung. Da ich die Frau überhaupt nicht kannte, wußte ich nicht, wie ich ihre Worte auslegen sollte. Wollte sie mich vor Colin schützen oder Colin vor mir?» Und Tante Sylvia?«fragte ich.

«Warte es ab, Kind. Du wirst die ganze Familie kennenlernen, wie du dir das sicher wünschst. Und wenn sie hören, daß du hier bist, werden sie sich ebenso sehr wünschen, dich wiederzusehen. Nach zwanzig Jahren sind gewiß alle sehr gespannt zu hören, was aus dir geworden ist, Leyla. Ah, ich sehe, du bist mit dem Tee fertig. Komm, ich bringe dich jetzt in dein Zimmer hinauf. Du wirst müde sein. Dann suche ich Theo. Er wird dich so bald wie möglich kennenlernen wollen.«

Mit raschelnden Unterröcken standen wir auf. Der Feuerschein lag warm auf unseren Gesichtern, während draußen der Wind wilder als zuvor an den Fenstern rüttelte. Ich hatte ein Gefühl, als stünde ich neben mir, als sei dieses elegante Zimmer eine Bühne und ich die Zuschauerin. Ich sah ein warmes, behagliches Zimmer, das mit Geschmack und allen Symbolen des Wohlstandes eingerichtet war. Ich sah zwei Frauen, die einander in stummer Konfrontation gegenüb erstanden: teuer gekleidet die eine, mit der selbstsicheren Gewandtheit der Reichen; schlicht und bescheiden die andere. Und in diesem Augenblick fragte ich mich, was, um alles in der Welt, diese beiden Frauen miteinander zu tun hatten.

«Erzähle mir doch etwas aus London, Leyla. Ist die Stadt immer noch so laut und schmutzig? Ich war 1851 das letztemal dort, zur Weltausstellung. Es war eine atemberaubende Woche. Theo, dein Onkel Henry und ich waren fast Tag und Nacht unterwegs, um alles anzusehen; die Westminster Abbey, den Tower, den Zoo im Regent’s Park. Und die unglaublichen

Gerichte aus aller Herren Länder, die man uns dort vorsetzte.«

Während ich an ihrer Seite durch das Haus ging, schaute ich mich neugierig um. Die Böden waren mit schweren Teppichen bedeckt, die unsere Schritte dämpften, Gobelins schmückten die Wände. Hohe Topfpflanzen neigten sich aus schattigen Winkeln. Öllampen spendeten flackerndes Licht. Wir stiegen die Treppe zu den oberen Zimmern hinauf, und nirgends hing auch nur ein einziges Familienporträt.»Wir haben nur in der Halle und in einigen Zimmern Gasbeleuchtung. In London gibt es wohl überall Gas, sogar auf den Straßen, wie ich gehört habe. Theo wollte es unbedingt haben; er behauptet, es sei weniger gefährlich. Aber deine Großmutter ist absolut dagegen. Teufelswerk, sagt sie immer. Sie hat für die modernen Errungenschaften nichts übrig. Sie lebt lieber in der Vergangenheit.«

Warum gab es hier keine Bilder? Warum hing nirgends auch nur das kleinste Porträt eines oder einer Pemberton?

«Ich habe dir das Zimmer ganz hinten auf dem Flur gegeben. Es ist recht komfortabel. Es hat ein Himmelbett und eine dieser neuen Sitzbadewannen aus Paris. Das war Großmutters einziges Zugeständnis an die heutige Zeit — daß man sich jetzt im Schlafzimmer baden kann und nicht mehr in die Küche muß. Ich finde es sehr angenehm. Du nicht auch?«Ich nickte nur.

«Wir haben jetzt auch Seife. Gott, wie die Zeiten sich ändern. So, da sind wir.«

Anna erzählte immer noch weiter, während wir in das Gästezimmer traten, und ich begann mich zu fragen, ob das endlose Gerede nicht dazu dienen sollte, unangenehme Themen zu vermeiden. Das Zimmer war sehr schön, mit einer alten Kassettendecke und hohen Fenstern. Spiegel gab es gleich mehrere; ein Toilettentisch stand an der Wand links vom Fenster. Das Himmelbett war bereits aufgeschlagen, und im Kamin brannte ein helles Feuer. Der Porzellankrug auf der Kommode war mit Wasser gefüllt, frische Handtücher lagen daneben. Meine Reisetasche stand auf dem Stuhl neben dem Toilettentisch. Bemüht, die aufmerksame Gastgeberin zu sein, aber dennoch unverkennbar in großer Eile, ging Anna wieder zur Tür und sagte:»Ich schicke Theo in die Bibliothek. Geh zu ihm hinunter, wenn du fertig bist. Dann könnt ihr euch gleich kennenlernen. Wenn du etwas brauchst, dann läute einfach. Der Klingelzug ist neben dem Bett. Bis nachher, mein Kind. «Sie schickte sich an, die Tür zu schließen.»Ach und — du denkst doch daran, nicht wahr? Colin, meine ich. Wenn du ihm zufällig begegnen solltest — aber nein, das wird nicht geschehen. «Ihre Hände flatterten unruhig.»Zuerst wirst du Theo kennenlernen. Dafür will ich schon sorgen. «Geräuschlos schloß sie die Tür hinter sich. Das war nicht der Empfang, den ich erwartet hatte, auch wenn man berücksichtigte, daß niemand im Haus von meinem Kommen gewußt hatte. Annas Nervosität konnte ihrem Alter zuzuschreiben sein oder vielleicht meiner starken Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Von einem Moment auf den anderen um zwanzig Jahre zurückversetzt zu werden, konnte wohl jeden aus der Fassung bringen.

Das seltsam beklemmende Gefühl abschüttelnd, das meine redselige Tante bei mir ausgelöst hatte, begann ich auszupacken und versuchte, mir das Zimmer so persönlich und wohnlich wie möglich einzurichten. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich unsere gemeinsame Wohnung aufgegeben, die Möbel verkauft oder verschenkt und nach Pemberton Hurst nur meine Garderobe und einige persönliche Dinge mitgenommen, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen. Diese kleinen Dinge verteilte ich jetzt in dem fremden Zimmer.

Die Daguerrotypie meiner Mutter stellte ich neben das kleine Schmuckkästchen aus Muscheln auf den Kaminsims. Auf den Nachttisch legte ich drei Bücher: >Stolz und Vorurteil< von Jane Austen, >Tancred< von Benjamin Disraeli und die Bibel. Auf den Toilettentisch mit dem hohen Spiegel legte ich den Führer durch den Cremorne Park, eine Erinnerung an sehr glückliche Tage, und neben den Wasserkrug stellte ich den kleinen Flakon Rosenwasser, ein Geschenk von Edward Champion, dem Mann, den ich liebte und bald heiraten wollte.

Nachdem ich dem Zimmer auf diese Weise etwas persönliches Flair gegeben, nachdem ich meine Kleider aufgehängt, mich gewaschen und mein Haar gründlich gebürstet hatte, fühlte ich mich gleich viel besser. Ja, die Reise mit der Eisenbahn war anstrengend gewesen, aber bei weitem nicht so strapaziös wie sie mit der Droschke gewesen wäre. Ich war müde und hungrig, vor allem aber war ich glücklich, endlich wieder eine Familie zu haben, in das Haus zurückgekehrt zu sein, wo ich geboren war, einem neuen Leben entgegenzusehen. Hätte ich gewußt, wie sehr ich mich täuschte!

Als ich etwas später die Treppe hinunterstieg, fiel mir die tiefe Stille des Hauses auf. Es war fast sieben Uhr, draußen war es stockfinster und hier drinnen so ruhig wie in einem Museum. Leise raschelnd streifte der Saum meiner Röcke über die dicken Teppiche, die meine Schritte verschluckten. Hätte ich jetzt sprechen müssen, so hätte ich sicher geflüstert.

Und wieder kam mir deutlich zu Bewußtsein, daß nirgends in diesem Haus ein Bild eines Familienmitglieds hing. Ich kam zum Salon, warf einen Blick hinein und sah, daß er leer war. Mit einiger Mühe, vorsichtig Raum um Raum inspizierend, gelangte ich schließlich in die Bibliothek, in der es nach altem

Leder roch. Das Feuer im offenen Kamin spendete willkommene Wärme und Gaslampen drängten die Schatten in die Ecken. Als ich eintrat, sah ich sogleich, daß ich nicht allein war.

In einem Sessel beim Feuer saß lässig, die Beine in den Schaftstiefeln lang ausgestreckt, die Arme über der Brust verschränkt, ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Als ich mich näherte, sah er auf, schien aber von meinem Erscheinen weder überrascht noch gestört. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er mich erwartet hatte. Ich holte einmal tief Atem und ging direkt auf ihn zu.»Hallo, Theo«, sagte ich so gewinnend wie möglich.»Ich bin Leyla. Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde, und riet mir«- ich lächelte spitzbübisch —»eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe. «Er stand auf, groß und gerade, und sagte trocken:»Guten Tag, Leyla. Ich bin allerdings nicht Theodore, sondern Colin.«

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