Gertrude weckte mich aus tiefem, traumlosem Schlaf. In schwarze Abgründe versunken, hörte ich ihr Klopfen nicht, sondern kam erst langsam zu Bewußtsein, als sie mich sachte schüttelte.
«Miss Leyla«, murmelte sie leise.»Die Familie macht sich Sorgen. Sie sind nicht zum Frühstück gekommen. Möchten Sie zum Mittagessen nicht aufstehen?«
Ich blinzelte verwirrt.»Zum Mittagessen? Wie spät ist es denn?«
«Halb eins, Miss Leyla. Sind Sie krank?«
Ich setzte mich auf. Meine Bettdecke war so glatt, als hätte ich mich im Schlaf überhaupt nicht gerührt.»Nein, nein. Ich bin nicht krank. «Meine Glieder schmerzten, und mein Nacken war steif. Eigentlich hätte ich hungrig sein müssen, aber ich empfand nur Leere, als wäre in mir für immer etwas erloschen.»Ich komme gleich hinunter, Gertrude. Danke.«
Sie zögerte, sichtlich besorgt.
«Wirklich, es geht mir gut. Sagen Sie der Familie, daß ich gleich hinunterkommen werde.«
«Ja, Miss.«
Sie wandte sich zum Gehen, und mein Blick fiel, als ich ihr nachsah, auf das Buch, das neben dem Sofa auf dem Teppich lag.»Gertrude!«
«Ja, Miss Leyla?«
«Wie geht es meinem Onkel?«
Sie drückte beide Hände auf ihren üppigen Busen.»Er ist sehr krank, Kindchen. Sehr, sehr krank.«
«Ach Gott. Danke, Gertrude, daß Sie mich geweckt haben. «Ich wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, ehe ich aus dem Bett glitt und durch das kalte Zimmer zum Waschtisch lief. Während ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch und dann trocknete, fiel mein Blick auf das zierliche Fläschchen mit Rosenwasser, das Edward mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mit Schrecken dachte ich daran, was ich ihm beinahe angetan hätte. Aber er würde verstehen, verstehen müssen, daß ich jetzt nicht mehr seine Frau werden konnte. >. die wir als Gehirnfieber bezeichnen. auf gewisse belastete Familien beschränkt. führt unweigerlich zum Tode.<
Ich öffnete den Flakon und roch daran, um mich mit dem süßen Duft zu füllen. Ich war eine Pemberton, ich war ein Mitglied dieser verfluchten Familie, und darum mußte ich dafür sorgen, daß sie sich nicht fortpflanzte. Ich wollte keinen Sohn gebären, den das gleiche Schicksal erwartete, das mein Vater erlitten hatte; keine Tochter, die leiden würde wie ich jetzt litt. Ich mußte es Edward sagen, ich mußte ihm erklären, daß ich an einer erblichen Krankheit litt und daß es grausam wäre, sie an unschuldige Kinder weiterzugeben. >. die Krankheit ist nicht zu heilen.. <
Ich wußte schon jetzt, wie er die Nachricht aufnehmen würde mit ernster Teilnahme, aber ohne wahrhaftiges Mitgefühl. Edward war stolz auf seine vornehme Erziehung, die ihn Mäßigung in allem gelehrt hatte, und ich wußte, er würde mich mit unbewegtem Gesicht betrachten und so zustimmend nicken, als genehmige er einen neuen Grundriß. Um dieser Eigenschaften willen hatte ich Edward einmal geliebt. Ich hatte seine Objektivität, seine kühle Selbstsicherheit und seine Leidenschaftslosigkeit bewundert. Ich hatte ihn so unglaublich kultiviert gefunden, so höflich und wohlerzogen. Aber jetzt, während ich an dem Rosenwasser roch und mich erinnerte, wie kühl und sachlich sein Heiratsantrag gewesen war, begann ich Edward so zu sehen, wie er wirklich war — steif, langweilig und blasiert.
Ich stellte das Fläschchen nieder und beendete meine Morgentoilette. Dann bürstete ich mein Haar kräftig durch, scheitelte es in der Mitte und flocht es im Nacken zu einem dicken Zopf. Jetzt begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Mit der, die ich gestern noch gewesen war, hatte ich nichts mehr gemeinsam. Jetzt wußte ich, daß ich hierher gehörte, in dieses Haus, zu diesen Menschen; daß ich kein Recht hatte, ein sogenanntes gewöhnliches Leben zu führen. Jetzt wußte ich, was es hieß, eine Pemberton zu sein.
>. In dem Haus auf dem Hügel, wo Sir Geoffrey und sein Sohn der Krankheit erlagen, leben noch andere Mitglieder der heimgesuchten Familie, die das gleiche Schicksal erleiden werden.. Ich legte mir einen Schal um, ehe ich aus dem Zimmer ging, und warf einen letzten Blick in den Spiegel. >. Denn es ist Gottes Wille, daß der Tumor geboren wird und wächst, daß die Behandlungen der Ärzte nichts gegen ihn fruchten und das Gehirnfieber >oder Pember Town Fieber< sich den geläufigen Arzneien nicht beugt.<
Alle außer Henry waren im Speisezimmer, als ich hinunterkam. Ich spürte sofort die niedergedrückte Stimmung; sie paßte gut zu meiner eigenen. Seit ich die Wahrheit über unsere Familie erfahren hatte, war mir, als wäre jeder Funke von Lebendigkeit in mir erloschen, als wäre von mir nur noch eine leere Hülle ohne Kraft und ohne Gefühl übrig. Ich war nicht traurig und nicht verzweifelt; ich war wie taub. Nur Colin sah auf, als ich mich an den Tisch setzte. Er beobachtete mich aufmerksam, aber sein verschlossenes Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorging. Ich mied seinen Blick, senkte meinen Kopf und tat so, als sei ich sehr hungrig.
Theo und Anna sahen blaß aus, mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie hatten wohl die ganze Nacht bei Henry gewacht, doch völlig außerstande, dem schwer Leidenden irgendwie zu helfen. Martha, den unvermeidlichen Handarbeitsbeutel auf dem Schoß, saß still da und starrte geistesabwesend vor sich hin.
«Geht es dir gut?«fragte Colin schließlich, als uns zum Abschluß der Mahlzeit Kaffee und Biskuits gebracht worden waren.»Danke, ja. Würdest du mir die Kekse herüberreichen, bitte?«Er gab sich unbekümmert, aber seine Sorglosigkeit wirkte unecht, und ich wußte nicht, für wen er sich bemühte. Anna und Theo waren in ihrer Bekümmertheit versunken, und Martha schien völlig geistesabwesend. Wenn Colin sich um meinetwillen so verhielt, war mir unklar, aus welchem Grund.
Er wandte den Blick nicht von mir.»Bist du mir denn böse?«Ich sah ihn erstaunt an.»Wieso sollte ich dir böse sein?«Er zuckte die Achseln.»Du bist so seltsam heute. Du wirkst so distanziert und unzugänglich, daß ich glaubte.«
Ich lachte trocken.»Du bist ganz schön eitel, Colin, wenn du meinst, daß meine Stimmungen von dir abhängen. Nein, mit dir hat das nichts zu tun.«
«Oh. «Er schien enttäuscht.»Dann sag mir doch bitte, was es ist. «Ohne ihm zu antworten, trank ich den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse nieder. Den Blick ins Leere gerichtet, dachte ich wieder an jene Passage in Thomas Willis’ Buch — diese eine unscheinbare Buchseite, deren kurzer Text mein ganzes Leben mit einem Schlag verändert hatte. Wo ich allenfalls ein paar Worte über eine Krankheit zu finden erwartet hatte, bei der man mit Mühe vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der angeblichen Erbkrankheit der Pembertons entdecken konnte, hatte ich unwiderlegbaren Beweis dafür gefunden, daß das Leiden der Familie Pemberton Tatsache war.»Was denkst du gerade, Leyla?«
Ich schüttelte den Kopf und sah Colin an. Für einen Augenblick glaubte ich Wärme und Teilnahme in seinen Zügen zu erkennen.»Ich habe gerade daran gedacht, wie ich als Kind meine Mutter oft dabei ertappt habe, daß sie mich so ansah, als warte sie auf irgend etwas. Vielleicht wartete sie wirklich — auf die ersten Anzeichen des Wahnsinns.«
«Leyla!«Er beugte sich über den Tisch.
«Und ihr alle hier! Wie ihr mich angestarrt habt am ersten Tag, als ich ankam! Und eure Fragen, ob ich an Kopfschmerzen leide. Jetzt begreife ich das alles.«
«Was sagst du da, Leyla?«
«Ich sage, daß ihr recht hattet. Es gibt die Krankheit wirklich. «Theo fuhr plötzlich herum und sah mich an. Hatte er vielleicht die ganze Zeit nur so getan, als sei er in seinen Kummer versunken? Hatte er in Wirklichkeit aufmerksam zugehört? Es war ohne Belang, und es war mir gleichgültig.
Colin schien ehrlich entsetzt.»Was ist geschehen, daß du deine Meinung plötzlich änderst? Gestern abend warst du noch fest entschlossen, uns alle Lügen zu strafen. Und jetzt, über Nacht, bist du kleinlaut geworden und erklärst uns, daß du plötzlich auch an die Krankheit glaubst. Wie ist es dazu gekommen?«
Ich blickte von Colin zu Theo und wieder zu Colin. Martha, die neben mir saß, hatte eine Stickerei aus ihrem Pompadour genommen und arbeitete still daran. Anna rührte mit leerem Blick in ihrer Kaffeetasse.»Es ist nun einmal geschehen.«
«Und weiter?«bohrte Theo.
«Ich habe endlich begriffen, was es heißt, eine Pemberton zu sein. Ich kann die Vergangenheit jetzt ruhen lassen. Was ihr über meinen Vater erzählt habt, ist sicher wahr. Und ich kann nun auch nicht mehr zu Edward zurückkehren. Jetzt nicht und niemals.«
Meine beiden Vettern schienen erleichtert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Theo war offensichtlich froh, daß ich meine Bemühungen, meine Erinnerungen wiederzufinden, aufgegeben hatte; Colin hingegen lächelte unwillkürlich, als ich von Edward sprach.»Dann weißt du also von dem Tumor?«fragte Theo.
«Ja. Warum hat keiner von euch mir etwas davon gesagt?«
«Weil wir wünschten, daß du dieses Haus verlassen und dein Leben fortsetzen würdest, als gäbe es uns gar nicht. «Theos Stimme war sanft, aber eindringlich. Sein angespanntes Gesicht wurde weich, als er sich über den Tisch beugte und mit teilnahmsvoller Gebärde meine Hände umfaßte.»Du kamst völlig ahnungslos hierher, Leyla, ohne das geringste Wissen über unsere Familie. Du kanntest nicht einmal die wahre Todesursache deines Vaters und deines Bruders. Wir hatten gehofft, wir könnten es dir verschweigen und du könntest wieder von hier fortgehen, wie du hergekommen warst. Doch du zwangst uns, dir Schritt um Schritt die Wahrheit zu enthüllen. Aber immer noch hofften wir, daß du unverbrüchlich an den Idealen des Guten und der Gerechtigkeit festhalten würdest. Selbst gestern abend, als dir unterstellt wurde, den Ring gestohlen zu haben — was ich nicht einen Moment lang glaubte —, hofften wir noch, du würdest so zornig werden, daß du für immer von hier fortgehen und zu deinem Verlobten zurückkehren würdest.«
Ich nickte langsam, überzeugt von der Wahrheit dessen, was er sagte. Daß jemand mich arglistig mit einem gefälschten Brief in dieses Haus gelockt und versucht hatte, mich hier festzuhalten, indem er mein Schreiben an Edward vernichtete, daran dachte ich gar nicht mehr.»Wenn wir dir bewiesen hätten, daß die Krankheit keine Erfindung ist, wärst du geblieben — wie du dich jetzt, wo du die Wahrheit weißt, zum Bleiben entschlossen hast. Es tut mir in der Seele leid, Leyla, daß deine Heimkehr so unglücklich verlaufen ist. Wir haben das nicht gewollt.«
«Es macht nichts, Theo. Es ist besser, die Wahrheit zu wissen.«
«Dann hast du das Buch gelesen?«
«Ja.«
«Wo hast du es gefunden?«
«Jemand hatte es mir ins Zimmer gelegt. «Beide Vettern sahen mich überrascht an.
«Absichtlich, meinst du?«fragte Colin.»Jemand hat es dir absichtlich hingelegt?«
«Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Es ist mir lieber, daß ich die Wahrheit weiß.«
«Aber das war doch gemein, Leyla. Ohne das Buch hättest du immer noch von hier fortgehen und ein glückliches Leben führen können.«
«Hättest du das denn gewollt? Daß ich die Familie weiterführe, während es dir, Theo und Martha verboten war? Würdest du das nicht gemein nennen, Colin? Derjenige, der mir das Buch hingelegt hat, und ich nehme es ihm nicht übel, hat es mit gutem Grund getan. Er wollte mir zeigen, daß euer Verhalten gerechtfertigt ist und daß die Krankheit tatsächlich existiert. «Mir schnürte sich die Kehle zu, während ich sprach.»Hättest du es denn richtig gefunden, Colin, wenn ich geheiratet und Kinder zur Welt gebracht hätte, während ihr hier ein einsames Leben führen müßt?«
Er sagte nichts, und seine grünen Augen blieben unergründlich, dafür erklärte Theo hastig:»Wir sind nicht so unglücklich mit unserem Leben, Leyla. Keiner braucht uns zu bemitleiden. Wir sind reich und können uns allen Komfort und Luxus leisten.«
«Du hast meine Fragen nicht beantwortet, Colin«, sagte ich,»aber es ist auch nicht so wichtig. Einer von euch, vielleicht auch Tante Anna oder Gertrude oder sogar Großmutter, hat mir das Buch ins Zimmer gelegt. Und aus gutem Grund. «Aus dem Augenwinkel sah ich Marthas flink stichelnde Hände und erinnerte mich ihrer Worte vom vergangenen Abend — daß sie mich um die Möglichkeit beneide, einfach fortgehen und den Mann heiraten zu können, den ich liebte.»Es interessiert mich im Grund gar nicht, wer mir das Buch gebracht hat. Es ist belanglos. Von Belang ist einzig, daß ich die Wahrheit erfahren habe. «Mein Blick fiel auf meine leblosen Hände.»Und dafür bin ich dankbar. «Keiner sagte etwas, und in der bedrückenden Stille war nur das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Schließlich schob ich meinen Stuhl vom Tisch zurück und stand auf.
«Ich mache jetzt einen Spaziergang«, sagte ich.»Oh, keine Sorge, Theo, ich habe nicht die Absicht, zum Wäldchen zu gehen. Ich werde die andere Richtung einschlagen. Ich weiß aus Erfahrung, daß ein Spaziergang mir guttut, wenn ich verwirrt bin und meine Gedanken ordnen möchte. Bitte entschuldigt mich.«
Theo und Colin standen auf. Ihre Gesichter waren verschlossen. Einen Moment lang schien es, als wolle Theo etwas sagen, aber dann tat er es doch nicht.
Während ich mich oben in meinem Zimmer zum Ausgehen ankleidete, hörte ich draußen einen Wagen vorfahren. Ich schaute hinunter und sah einen stattlichen älteren Herrn mit einer schwarzen Ledertasche aussteigen und zum Haus gehen. Einen Augenblick später, gerade als ich mein Zimmer verlassen wollte, hörte ich im Flur jemanden vorübergehen — genau wie in der letzten Nacht —, hörte Annas verzweifeltes Flüstern und daneben die beruhigende Stimme eines Mannes. Dr. Young war erneut gekommen, um nach Henry zu sehen. Ich nahm mir vor, meinen Onkel später zu besuchen, und ging die Treppe hinunter zur Haustür. Der eisige Wind packte meinen Umhang und meine Röcke, als ich ins Freie trat, aber die frische Luft und die beißende Kälte taten mir gut. Mit erhobenem Kopf stellte ich mich dem Wind entgegen und ging tief Atem holend auf dem Kiesweg vom Haus zur Straße nach East Wimsley.
Mehrere Stunden lief ich unter verhangenem Himmel durch morastiges Gelände. Meine Finger waren gefühllos vor Kälte, mein Gesicht prickelte wie von tausend Nadelstichen, aber der lange Marsch tat mir gut, und ich hatte Zeit zum Nachdenken. Bei diesem Wetter war außer mir niemand unterwegs, und so konnte ich ungestört meinen Gedanken nachhängen und versuchen, mich auf die neue Situation einzustellen. Es war wirklich so, daß eine neue Phase meines Lebens begonnen hatte. Seit ich jene Passage in Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, war alles, was mir gestern noch wichtig erschien, bedeutungslos geworden. Tante Sylvias gefälschter Brief, die Vernichtung meines Schreibens an Edward, der Diebstahl von Theos Ring und alle anderen Geheimnisse, die meine Verwandten umgaben. Vor allem aber war der heftige Wunsch, die Erinnerung an meine frühe Vergangenheit wiederzufinden, völlig geschwunden.
Ich wußte jetzt, daß das, was man mir über meinen Vater berichtet hatte, der Wahrheit entsprach. Er war ein Opfer der Pemberton Krankheit geworden und hatte diese unsäglichen Verbrechen im Fieberwahn verübt. Ein wissenschaftlicher Beobachter hatte die Geschichte der Pembertons aufgezeichnet; was meinem Vater widerfahren war, hatte schon seine Vorfahren zugrunde gerichtet, so, wie Henry es erlitt. Und früher oder später würde es auch mich treffen.
Ich konnte jetzt nicht mehr nach London zurückkehren. Damit hatte ich mich bereits abgefunden, denn Edward bedeutete mir nichts mehr. Im Rückblick schien es mir, als hätte ich ihn niemals wirklich geliebt; ich hatte ihn nur leiden mögen und in schwerer Zeit bei ihm Trost und Geborgenheit gesucht.
Jetzt waren diese Menschen meine Familie, und dieses Haus war mein Heim. Und so würde es bleiben bis an das Ende meines Lebens.
Der Wagen stand noch vor der Remise, als ich zurückkam. Ich betrat das Haus durch die Hintertür, da ich niemandem begegnen wollte, und huschte leise die Treppe hinauf in mein Zimmer. Das Mädchen hatte schon Feuer gemacht und die Öllampen angezündet, so daß mich angenehme Wärme und Helligkeit empfingen, als ich eintrat. Thomas Willis’ Buch lag auf dem kleinen Tisch beim Sofa, der Grund für die unerwartete Wende, die mein Leben genommen hatte. Doch ich verspürte weder Bitterkeit noch Groll; still nahm ich das Schicksal hin, gegen das jeder Kampf sinnlos war.
Als ich am Toilettentisch saß und mein Haar ordnete, klopfte es. Einen Moment lang hoffte ich, es wäre Colin, und war selbst überrascht über meine Enttäuschung, als ich Theo auf der Schwelle stehen sah. Bewundernd sah er mich an.
«Wie sehr du deiner Mutter ähnelst«, sagte er leise, und ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund.
«Sie hatte auch immer so rosige Wangen, wenn sie von draußen hereinkam. Deine Mutter war eine richtige Naturliebhaberin, weißt du. Immer arbeitete sie entweder im Garten oder machte lange Spaziergänge oder ritt für Stunden aus.«
«Das wußte ich gar nicht. «Ich sah sie vor mir, wie sie in unserer engen, kleinen Wohnung über ihre Näherei gebeugt saß, der Körper schmal und schmächtig, die Haut weiß, weil sie kaum je an die frische Luft kam.
«Du bist ihr in vielem ähnlich«, fuhr Theo langsam fort.»Sie hat ihr Haar auch immer so getragen. «Er hob den Arm und berührte mit den Fingerspitzen mein lose herabfallendes Haar.
«Großmutter fand es unschicklich. Sie sagte, nur lockere Frauenzimmer trügen ihr Haar offen. Selbst nachdem Jenny deinen Vater geheiratet hatte, blieb sie ungezähmt und eigenwillig wie ein Kind.«
Ich sah Theo erstaunt an. Nie hatte ich ihn in so liebevollem Ton sprechen hören, nie sein Gesicht so weich gesehen.
«Sie hat mir entsetzlich gefehlt, als sie mit dir fortging, Leyla. Ich war außer mir vor Kummer.«
Ich trat einen Schritt zurück, denn Theo stand mir ungewöhnlich nahe.»Warum bist du uns dann nicht gefolgt?«
«Ich konnte nicht, Leyla. Ich konnte einfach nicht. «Ich wandte mich von ihm ab und ging wieder zum Toilettentisch, um mir das Haar zu flechten. Als ich fertig war, drehte ich mich wieder nach Theo um und sagte kühl:»Ich wollte, du wärst uns gefolgt. Es gab Jahre in London, die ich lieber nicht erlebt hätte.«
Etwas Seltsames ging mit ihm vor, das ich nicht bestimmen konnte. Es war, als würden plötzlich Gefühle in ihm wach, Zorn und Reue, die er lange niedergehalten hatte und die ihm jetzt fast die Fassung zu rauben drohten.»Ich wollte es Leyla. Wirklich, ich wollte es!«
«Und wer hat dich davon abgehalten? Großmutter? Ach, es ist nicht mehr wichtig, Theo. Ich bin bereit, wie ihr alle die Vergangenheit ruhen zu lassen, denn es kann nichts Gutes bringen, sich an alten Kummer zu erinnern. Wir alle teilen jetzt dieselbe Zukunft, dasselbe Schicksal. Nichts kann je wieder so sein wie früher.«
Theo sah mich noch einen Moment lang so an, als sähe er gar nicht mich, sondern jemand ganz anderes. Dann aber wich dieser Ausdruck von seinem Gesicht und er machte wieder den selbstsicheren, gewandten Eindruck wie immer. Er plauderte höflich mit mir, während wir zusammen die Treppe hinuntergingen, aber ich hörte ihm kaum zu. Ich hielt nach
Colin Ausschau und hoffte sehr, ihn zu sehen. Wir gingen zuerst in den Salon, um vor dem Abendessen noch ein Glas Sherry zu trinken. Martha saß am Kamin und stickte. An ihrer Seite saß der Herr, den ich vom Fenster meines Zimmers gesehen hatte.»Leyla«, sagte Theo hinter mir,»ich glaube, du hast unseren Hausarzt noch nicht kennengelernt. Das ist Dr. Young.«
Er hatte ein väterliches Gesicht mit gerader Nase und energischem Kinn, und er wirkte so kraftvoll und lebendig, daß ich kaum glauben mochte, daß er fast so alt wie Henry war, also fast sechzig. Sein Lächeln war herzlich, was sich auch in den blitzenden Augen spiegelte. Mehr noch jedoch als das gewinnende Äußere und das warme Lächeln beeindruckte mich Dr. Youngs Stimme. Als ich ins Zimmer trat und sah, wie rasch er aufstand, um mich mit seinem von Herzen kommenden Lächeln zu begrüßen, war er mir augenblicklich angenehm. Doch als er mit seiner weichen, ausdrucksvollen Stimme sagte:»Guten Abend, Miss Pemberton«, wußte ich sofort, daß dies ein Mann war, dem ich vertrauen konnte. Die Stimme war nicht laut, eher gedämpft, aber sie hatte ein so volles Timbre, daß sie den Raum auszufüllen schien. Sie war sanft und doch bestimmt. Es war die Stimme eines Mannes, der sich seiner selbst bewußt war, und wenn Dr. Young mit einem sprach, so hatte man das Gefühl, daß seine Worte wirklich nur an einen selbst gerichtet waren und an niemanden sonst, der sich vielleicht in der Nähe befand.»Guten Abend, Doktor«, erwiderte ich.
Anna eilte ins Zimmer, während ich sprach, und stellte sich an Dr. Youngs Seite. Sie wartete höflich, wenn auch in sichtlicher Besorgnis, und sagte, nachdem der Arzt und ich noch ein Lächeln getauscht hatten, mit zitternder Stimme:»Dr. Young! Bitte, Sie müssen nach Henry sehen.«
Er wandte sich ihr mit einem Lächeln zu, das voller Verständnis und Geduld war.»Ja, natürlich, Mrs. Pemberton. Ich habe soeben Ihre schöne Nichte begrüßt, die ich noch nicht kannte. «Wieder richtete er sich an mich.»Sie haben bisher in London gelebt?«
«Ja, Doktor. Kennen Sie London?«
Er lachte leise, nicht über mich oder meine Frage, sondern über etwas, das ihm durch den Kopf ging; als hätte meine Frage ihn an etwas Erheiterndes erinnert.»Ja, Miss Pemberton, ich kenne London.«
«Dr. Young — «Annas Stimme klang schrill.
«Ich bin ja da, meine Liebe. Sie dürfen sich nicht so aufregen. «Jetzt wandte er Anna seine ganze Aufmerksamkeit zu, und es war, als ob wir anderen nicht mehr vorhanden wären. Ich war erstaunt, wie rasch es ihm durch diese Zuwendung gelang, sie zu beruhigen.
Das war ein Arzt, sagte ich mir, der nicht nur für das Wohl des Körpers zu sorgen verstand, sondern auch für das der Seele.
«Er ist jetzt wach, Dr. Young. Aber er will einfach nichts essen«, sagte Anna.
«Gut, ich gehe gleich zu ihm hinauf. «Dr. Young richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.»Entschuldigen Sie mich jetzt, Miss Pemberton. Ich muß nach Ihrem Onkel sehen. Aber ich werde gleich wieder da sein und dann das Vergnügen haben, in Ihrer Gesellschaft zu Abend zu essen.«
Ich sah ihm nach, als er hinausging, und hatte das Gefühl, als würde es plötzlich kühler im Zimmer. Doch mir blieb keine Zeit über den Eindruck nachzusinnen, den dieser Mann auf mich gemacht hatte; kaum nämlich war er mit Anna zu Henry hinaufgegangen, da kam Colin herein, noch im Reitkostüm, die Hände in den Hosentaschen.
«Garstiges Wetter draußen«, bemerkte er und ging zur Kredenz, um sich ein Glas Sherry einzuschenken.
«Du bist wirklich ein unglaublicher Flegel, Colin«, sagte Theo erbittert.»Kommst hier herein, als gäbst du eine Vorstellung im Hippodrom. Als wüßtest du nicht, daß man sich zum Abendessen kleidet. «Colin sah an sich hinunter.»Bin ich vielleicht nackt?«Martha fuhr hoch.»Colin!«Ihr Gesicht war blutrot.»Entschuldige, Schwesterherz. Ich weiß, das war kein guter Scherz. Nun, Leyla?«Er kam mit seinem Glas in der Hand auf mich zu.»War der Spaziergang schön?«Es klang fast angriffslustig, wie er das sagte.
«Sehr schön, ja.«
«Jetzt brauchst du dir nur noch von mir das Reiten beibringen zu lassen.«
«Das würde mir sicher Spaß machen. «Unsere Blicke trafen sich.»Wirklich?«fragte er ruhig. Er stand nahe bei mir, und während ich ihn unverwandt ansah, begann mein Herz aufgeregt zu pochen. Unmöglich, sagte ich mir beinahe zornig, daß dieser ungehobelte Mensch eine solche Wirkung auf mich haben sollte. Nein, das kam sicher einzig von dem Sherry, den ich getrunken hatte.
«Darf ich dann jetzt ins Speisezimmer führen?«Er bot mir seinen Arm, und ich legte meine Hand darauf. Theo und Martha folgten uns. Da wir nur zu viert waren, veränderten wir die Sitzordnung der Behaglichkeit wegen. Theodore und Colin setzten sich Martha und mir gegenüber, und als das Mädchen mit der Suppe kam, versiegte der Etikette gemäß zunächst einmal unser Gespräch.
Dr. Young und Anna gesellten sich wenig später zu uns. Henry hatte, so berichteten sie, ein Pulver bekommen und lag jetzt in ruhigem Schlaf. Während wir aßen, warf ich immer wieder einen Blick zu Dr. Young hinüber, dessen ruhiges Selbstbewußtsein mich so sehr beeindruckte. Und wenn er es bemerkte, antwortete er mit diesem warmen Lächeln, das ich so vertrauenerweckend fand.
Als nach dem Braten das Gemüse aufgetragen wurde, brach irgend jemand in unserem Kreis das Schweigen. Um Anna, die sehr niedergeschlagen und müde wirkte, ein wenig zu erheitern, erzählte Dr. Young eine witzige Anekdote von der neuen Mode, am Meer Urlaub zu machen. Wir lachten alle, doch Anna brachte nicht einmal ein höfliches Lächeln zustande. Ich hatte den Eindruck, daß sie gar nicht zugehört hatte; sie wirkte in sich gekehrt und aß kaum einen Bissen.
«Ich war noch nie am Meer, Dr. Young, aber ich habe mir sagen lassen, daß so ein Seeaufenthalt sehr gesund ist.«
Er nickte.»Die Luft ist gut für die Atmungsorgane, und das Wasser wirkt auf den ganzen Körper erfrischend. Ich empfehle so einen Aufenthalt allen meinen Patienten, den kranken wie den gesunden.«
«Ich glaube, mir würde das überhaupt keinen Spaß machen«, bemerkte Martha und sah Dr. Young mit einem beinahe koketten Lächeln an.»Der viele Sand und der ständige Wind würden mich nur stören. Ganz zu schweigen von dem schmutzigen Wasser.«
Während das Gespräch dahinplätscherte, beobachtete ich Dr. Young in dem Bemühen, mich seiner zu erinnern. Wenn er während der Krankheit meines Vaters so häufig im Haus gewesen war wie jetzt, wo es Henry getroffen hatte, mußte ich doch eine Erinnerung an ihn haben. Doch genau wie Colin, Theo und die anderen — außer Martha —, blieb Dr. Young im Dunklen.
Nach einer Weile bemerkte er, wie angestrengt ich ihn betrachtete und fragte lächelnd:»Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken, Miss Pemberton?«
«Ich kann einfach nicht glauben«, sagte ich stockend,»daß man so gar nichts für meinen Onkel tun kann.«
«Wenn man etwas tun könnte, Miss Pemberton, dann wäre es schon geschehen, glauben Sie mir. Aber das Gehirn ist ein kompliziertes Organ, über das wir noch sehr wenig wissen. Es gibt kaum anatomische Darstellungen des Gehirns, es gibt kaum Beschreibungen von Krankheitsbildern, die das Gehirn betreffen. Und solange das Gehirn und seine Funktionen nicht gründlich erforscht sind, können wir Ärzte bei Erkrankungen dieses Organs wenig tun.«
«Aber«, warf Theo ein und tupfte sich die Lippen mit seiner Serviette,»es werden ja ständig neue Entdeckungen gemacht. Dieser junge Wissenschaftler in Paris — wie heißt er gleich? — hat endlich die Theorie der Urzeugung widerlegt. Und nach der englischen Entdeckung der Anästhesie eröffnen sich für die Medizin unbegrenzte Möglichkeiten. «Dr. Young lächelte verschmitzt.»Die Anästhesie war eine amerikanische Erfindung, soviel ich weiß, aber Sie haben völlig recht, was Monsieur Pasteur und seine bemerkenswerten Experimente angeht. Wenn man die naturwissenschaftliche Forschung mit der medizinischen vereinen würde, anstatt getrennt zu arbeiten, würden wir wahrscheinlich noch viel schnellere Fortschritte machen.«
«Wie meinen Sie das, Doktor?«
«Ich bin der Auffassung, daß mehr Ärzte auch selbst Forschung betreiben sollten, anstatt sich ausschließlich der Versorgung der Kranken zu widmen. Denn während die Forschung in den anderen Naturwissenschaften große Fortschritte macht, stagniert sie bedauerlicherweise in der Medizin, wo neue Erkenntnisse doch der Menschheit den größten Nutzen bringen könnten. Aber dieses Thema ist für die Damen sicher langweilig. Wir sollten uns etwas von allgemeinerem Interesse zuwenden.«
«Aber nein, Doktor!«protestierte ich.»Mich interessiert dieses Gespräch über den medizinischen Fortschritt sehr. Ich bin ja in ganz direkte Berührung mit dem Tod gekommen, und «
«Sie sprechen wohl von Ihrem Vater?«
«Kannten Sie ihn?«
Dr. Young schüttelte den Kopf.»Ich kam erst vor sechs Jahren nach East Wimsley, nachdem ich beschlossen hatte, mich aus der ärztlichen Praxis zurückzuziehen, oder, genaugenommen, der Hektik der Großstadt zu entfliehen. Ihr Vater wurde von Dr. Smythe behandelt. «Bei diesem Namen kamen mir plötzlich bruchstückhafte Erinnerungen in den Sinn: Der Name Smythe wurde flüsternd gesprochen. Ein korpulenter kleiner Mann, der eilig in das Zimmer meines Vaters geführt wurde. Von drinnen das Schluchzen einer Frau.
Darum also hatte das Zusammentreffen mit Dr. Young keinerlei Erinnerung bei mir ausgelöst. Er gehörte nicht in diese dunkle Vergangenheit.
«— las ich natürlich die Krankengeschichten. «Seine angenehme Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück.»Oh, entschuldigen Sie, Doktor. Ich habe nicht zugehört. «Er lachte nachsichtig.»Ich sagte nur, daß ich, als ich nach East Wimsley kam, selbstverständlich die Unterlagen, die Dr. Smythe mir hinterlassen hatte, durchgesehen habe. Die Krankengeschichten der Pembertons habe ich sehr gründlich gelesen und bekam so Kenntnis von dem Tumor. «Ich senkte die Lider. Dieses Wort Tumor hatte eine tiefe Wirkung auf mich. Dieser Tumor war auch mein Tumor, war auch mein Todesurteil.
Colin schob seinen leeren Teller von sich weg und sagte:»Sind Sie, nach allem, was Sie über die Krankheit unserer Familie wissen, eigentlich je auf eine ähnliche Geschichte gestoßen, Doktor?«
Dr. Young sah einen Moment nachdenklich vor sich hin.»Es gibt natürlich eine Reihe anderer Krankheiten, die in manchen
Familien gehäuft auftreten — Farbenblindheit zum Beispiel, die Bluterkrankheit, Klumpfuß oder Wahnsinn. Aber nie bin ich einem Fall begegnet, der eine so lange Geschichte hat, und ich habe auch nie erlebt, daß alle Familienmitglieder ohne Ausnahme erkranken. Dennoch wundert es mich nicht. Mir sind im Lauf meiner medizinischen Praxis viele unerklärliche Dinge begegnet. Das hat mich gelehrt, niemals überrascht zu sein.«
Wir schwiegen eine Weile. Das Kapitel aus Thomas Willis’ Buch kam mir in den Sinn, in dem er schrieb, daß die Behandlungen der Ärzte gegen das Gehirnfieber oder >Pember-Town-Fieber< fruchtlos und dies auch >Gottes Wille< sei. Und da stellte sich mir plötzlich, trotz dieser keinen Widerspruch duldenden Worte, eine Frage, die ich Dr. Young nur wegen meines großen Vertrauens zu ihm zu stellen wagte:»Glauben Sie denn, Doktor, daß man, obwohl die medizinische Forschung sich so langsam entwickelt, eines Tages ein Mittel gegen den Gehirntumor finden wird?«
«In der Medizin gibt es immer Hoffnung, Miss Pemberton«, antwortete mir Dr. Young mit einem tröstenden Lächeln,»aber ich sagte Ihnen ja schon, wir wissen kaum etwas über die Funktionen und die Krankheiten des Gehirns. Unsere heutigen Ärzte suchen nach einem Heilmittel für die Schwindsucht, sie versuchen, dem Gallenstein und der Blinddarmentzündung beizukommen. An diesen Leiden sterben weit mehr Menschen als an Krankheiten des Gehirns, und wir stehen ihnen immer noch hilflos gegenüber. Wir brauchen Forscher. «Er schüttelt den Kopf.»Irre ich mich, Doktor«, bemerkte Theo,»oder erwähnten Sie nicht einmal, daß Sie nach East Wimsley gekommen sind, um selbst Forschung zu betreiben?«
«Das ist richtig, ja. Das ist auch der Grund, warum ich aufs Land gezogen bin und meine Stadtpraxis aufgegeben habe. Es war ein Glück, daß damals, als ich herkam, gerade der alte
Eichenhof zum Verkauf stand. Dort habe ich Ruhe, bin aber doch nahe genug an der Hauptstraße, um für Notfälle jederzeit zur Verfügung sein zu können. Ich habe dort ein kleines Laboratorium, das sogar mit einem Mikroskop ausgestattet ist. «Theo und Colin, die froh waren, einmal über etwas anderes als Baumwollspinnereien und englische Wirtschaftspolitik sprechen zu können, verwickelten Dr. Young in eine angeregte Unterhaltung, der ich schweigend beiwohnte; ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um etwas beizusteuern. Ich wollte unbedingt Dr. Young allein sprechen und ihn nach seiner fachlichen Meinung über Thomas Willis’ Befunde fragen. Am liebsten hätte ich ihn sofort ins Verhör genommen und ihn genauer über den Tumor befragt, aber ich wagte es nicht, vor der Familie zu sprechen. Gewiß würde sich zu einer anderen Zeit Gelegenheit ergeben, unter vier Augen mit ihm zu sprechen.
Als Dessert gab es eine Caramelspeise mit Sahne. Ich aß schweigend. Anna, die die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatte, entschuldigte sich jetzt, um zu Henry hinaufzugehen. Voller Mitgefühl sah ich ihr nach, als sie müde, mit hängenden Schultern und schleppenden Schrittes zur Tür hinausging. Vielleicht galt meine Anteilnahme auch nicht nur ihr, sondern allen Pembertons, auch mir selbst.
Nach dem Dessert begaben wir uns gemeinsam in den Salon. Die Männer verzichteten, um Martha und mir Gesellschaft leisten zu können, auf ihre Gewohnheit, sich zu einer Zigarre und einem Glas Portwein ins Herrenzimmer zurückzuziehen. Das war wohl der Tatsache zuzuschreiben, daß die Familie unter so starker Belastung stand; denn natürlich blieb keiner von uns von Henrys Leiden unberührt. Seine Qual war ja auch die unsere, und bot einen Ausblick auf das, was eines Tages auch auf uns zukommen würde.
Mit einem Glas Rotwein setzten wir uns alle um den Kamin. Ich gesellte mich zu Dr. Young, der auf einem zweisitzigen Sofa Platz genommen hatte, Colin und Theo ließen sich in zwei Ledersesseln nieder. Martha ging zum Klavier und begann, uns mit einigen leichten Stücken von Chopin zu unterhalten.
In dieser behaglichen Atmosphäre begann ich langsam, mich zu entspannen und freundlichen Träumereien zu überlassen. In den letzten Monaten, seit dem Tod meiner Mutter, war es mir kaum einmal gegönnt, heitere Phantasien zu spinnen. Während Martha, den allgegenwärtigen Pompadour zu ihren Füßen, uns mit ihrem hübschen Spiel erfreute, saß ich in wohliger Zufriedenheit neben Dr. Young.
Angenehm glitt die Zeit dahin, während Martha uns ein Stück nach dem anderen spielte, alle lebhaft und leicht, geeignet, düstere Gedanken zu vertreiben. Als sie nach einer Stunde endlich die Hände von den Tasten nahm, um sich eine Pause zu gönnen, wurde ich mir halb verlegen, halb erschrocken bewußt, daß ich fast die ganze Zeit damit zugebracht hatte, Colin anzusehen.
Sein Profil, das sich vor dem hellen Schein des Feuers scharf umrissen abhob, hatte mir gezeigt, daß ihn etwas bedrückte. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt, der Unterkiefer gespannt, die geschwungenen Brauen waren gerunzelt. Marthas perlendes Spiel hatte das, was Colin offenbar beschwerte, nicht erleichtern können, und als die Musik aufhörte, hatte ich den Eindruck, daß die Spannung ihn fast zu zerreißen drohte.
Wie seltsam dachte ich, Colins sichtbare Unruhe mit Theos äußerer Gelassenheit vergleichend. Unter den gegebenen Umständen hätte eigentlich Theo es sein müssen, der unter Spannung und Rastlosigkeit litt. Sein Vater war es doch, der oben lag und litt. Doch Theo wirkte eher gelöst und nicht im geringsten beschwert.
Als Colin sich plötzlich umdrehte und mich ansah, merkte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoß. Er sah mich mit seinen grünen Augen so durchdringend an, als wollte er mir die Blicke, die ich in der vergangenen Stunde auf ihn gerichtet hatte, erwidern; als hätte er die ganze Zeit gewußt, daß meine Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Ich fühlte mich durchschaut, so daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte.»Wer spielt jetzt?«fragte Theo.»Leyla natürlich«, meinte Colin.
«Nein, nein, ich habe so lange nicht mehr gespielt. Wirklich. Im Vergleich mit Martha — «
«Spielen Sie nur, Miss Pemberton«, sagte Dr. Young aufmunternd, und angesichts seines freundlichen Lächelns konnte ich es nicht abschlagen. Widerstrebend stand ich auf und ging zum Klavier.»Das wird eine klägliche Vorstellung werden nach deinem Spiel«, sagte ich, während sie sich bückte, um ihren Beutel aufzuheben.»Mein Bruder sagt immer, mein Spiel sei seelenlos«, erwiderte sie.»Vielleicht kannst du es Colin recht machen, Leyla. Ich kann es jedenfalls nicht.«
Ich bemühte mich, Colins Blicke zu ignorieren, dennoch war ich nervös, als ich mich niedersetzte. Es war wirklich schon recht lange her, seit ich das letztemal gespielt hatte, und als ich meine Finger auf die Tasten legte, tat ich es mit der Befürchtung, alles, was ich einmal gekonnt hatte, verlernt zu haben.
Ich begann auch tatsächlich sehr unsicher, zum Teil, weil mir die Übung fehlte, zum Teil, weil ich mir immerzu bewußt war, daß Colin mich beobachtete. Daß er eine solche Wirkung auf mich hatte, beunruhigte mich zutiefst, und ich versuchte, in der Musik meine Befangenheit zu verlieren. Aber es gelang mir nicht. Auch wenn das Beethovenstück meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, war mir dabei ständig bewußt, daß ich für Colin spielte und nur für Colin, und daß niemand sonst in diesem Raum für mich existierte.
Als ich >Für Elise< beendete, erntete ich von allen höfliches Lob, aber ich merkte genau, daß Colin mehr von mir erwartet hatte.»Du spielst ausgezeichnet«, sagte Martha.»Viel besser als ich.«
«Danke, Martha, aber da bin ich anderer Meinung. Theo, möchtest du mich nicht ablösen?«
«Ich hatte nie musikalisches Talent. Das Klavierspielen überlasse ich lieber Leuten, die darin begabter sind. Colin, zeig Leyla, was für ein Künstler du bist.«
«Ja, bitte, spiel für uns«, mischte sich Martha ein.»Colin spielt besser als wir alle. Er hat sogar eigene Stücke komponiert.«
Ich stand vom Hocker auf und wartete darauf, daß er meinen Platz einnehmen würde. Als er mit großen Schritten auf mich zukam, versuchte ich, seinem angriffslustigen Blick auszuweichen, aber ich konnte es nicht, und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Er setzte sich, und ich kehrte hastig zu meinem Platz neben Dr. Young zurück, und richtete meinen Blick starr ins Feuer.
Colins Spiel war wirklich ungewöhnlich. Es war mehr als Musik. Die ganze Leidenschaft seiner Seele kam darin zum Ausdruck. Wie ein Zauberer zog Colin uns in seinen Bann und führte uns aus den tiefsten Abgründen in schwindelnde Höhen, spann uns ein in ein Netz vielfältiger Gefühle. Nie zuvor hatte ich so leidenschaftliche Musik gehört, nie zuvor erlebt, daß ein Mensch sich so völlig preisgab wie Colin das mit seinem Spiel tat.
Und während ich, den Blick weiterhin ins Feuer gerichtet, zuhörte und mich in seinen Bann ziehen ließ, wurde mir auf einmal bewußt, daß ich Colin liebte.