Ich erstarrte, unfähig, ein Wort hervorzubringen; dennoch beobachtete ich Theos Reaktion auf seine Worte und sah, daß er sich ärgerte. So beiläufig ich meine Frage gestellt hatte, so beiläufig hatte Theo geantwortet, und nun hätte er sich wahrscheinlich am liebsten die Zunge abgebissen. Aber es war zu spät.
Nun wußte ich, daß es in Pemberton Hurst tatsächlich ein Geheimnis gab, das mir vorenthalten werden sollte. Und gleichzeitig wurde mir klar, daß meine Mutter mich nicht nur durch ihr Schweigen, sondern durch eine bewußte Lüge in Unwissenheit gehalten hatte. Ich setzte mich wieder. Theo blieb noch einen Moment unschlüssig stehen, dann nahm auch er wieder Platz.
«Wie sind sie wirklich ums Leben gekommen, Theo?«fragte ich.»Leyla, was hilft es dir, wenn du es erfährst? Ich bin überzeugt, deine Mutter hat dir mit gutem Grund nicht die Wahrheit gesagt. Vertraue ihrem Urteil. Zwanzig Jahre sind vergangen — «
«Wie sind sie ums Leben gekommen?«wiederholte ich leise, aber unnachgiebig. Ich war ruhig und gefaßt. Theo war es, der nervös zu werden begann.
Er schüttelte den Kopf.»Ich möchte es dir nicht sagen.«
«Dann frage ich eben Colin.«
«Lieber Gott, nein, Leyla — «Er beugte sich vor.»Ich habe ein Recht, es zu wissen.«
«Du wirst es mir immer nachtragen, daß ich es dir gesagt habe, Leyla. Du wirst es mir dein Leben lang nicht verzeihen.«
«Wieso?«
«Weil es dich unglücklich machen wird. Kannst du nicht einfach wieder von hier fortgehen — nein, das geht jetzt wohl nicht mehr. Du bist hierher gekommen, weil du deine Familie und deine Vergangenheit kennenlernen willst. Gut, ich erzähle dir alles. Komm mit. «Wir gingen durch den von Gaslampen erleuchteten Flur in die Bibliothek, wo wir uns am Abend zuvor das erstemal begegnet waren. Das helle Feuer im Kamin und die brennenden Kerzen in den silbernen Leuchtern machten den Raum warm und behaglich. Nachdem ich eingetreten war und mich nahe dem Kamin gesetzt hatte, schloß Theo die Tür und nahm mir gegenüber Platz. Das Licht des Feuers spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Lange blickte er in die Flammen, ohne ein Wort zu sagen. Und als er zu sprechen anfing, sah er mich immer noch nicht an.
«Es ist für uns alle hier außerordentlich schmerzhaft, von der Vergangenheit zu sprechen, Leyla. Darum versuchen wir, das Thema zu meiden. Du hast Vater und Bruder verloren; Colin hat seine Eltern verloren. Todesfälle in einer Familie sind, so schmerzlich sie sein mögen, etwas Natürliches. Doch diese Todesfälle waren tragisch durch die Art und Weise, wie sie sich ereigneten, und weil die Opfer noch so jung waren. Der Unfall, dem Colins Eltern zum Opfer fielen, bleibt bis heute unerklärlich. Es war schönes Wetter, das Pferd war frisch und ausgeruht, der Wagen war neu. Niemand weiß, wie es zu dem Unglück kam. Sowohl Onkel Richard als auch Tante Jane waren auf der Stelle tot. Wie ich schon sagte, ich selbst war damals nicht hier, aber ich weiß, daß Colin sich von diesem Tag an völlig veränderte. Und er hat sich nie von diesem Schlag erholt. «Nachdem Theo einmal begonnen hatte, schien ihm das Sprechen leichter zu fallen. Er setzte sich bequemer in seinen Sessel, wirkte fast entspannt.
«Es hat hier nie eine Cholera-Epidemie gegeben, Leyla«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort.»Dein Vater war lange Zeit sehr krank. Er litt an einem unbekannten Fieber, das die Ärzte nicht behandeln konnten. Es kam in Schüben, dann verging es wieder, doch die Abstände zwischen den Schüben wurden immer kürzer, die Schübe selbst immer heftiger. Wir versuchten alles. Aufenthalte an der See, Opium und andere starke Mittel, aber nichts half. Onkel Robert war nicht zu retten. Und eines Tages dann — «Er brach ab und räusperte sich. Ich wartete wortlos, bis er fortfahren konnte.»Eines Tages sagte er, er fühle sich sehr wohl und wolle mit Thomas einen Spaziergang machen. Die beiden blieben lange fort. Als die Sonne unterging, begannen wir, uns Sorgen zu machen. Mein Vater und ich machten uns auf die Suche nach ihnen. Wir waren vor allem wegen Onkel Roberts Gesundheitszustand beunruhigt. Wir — fanden sie — im Wäldchen.«
Im Kamin zerbrach knisternd ein Holzscheit. Nichts von dem, was Theo erzählte, schlug eine Saite der Erinnerung an. Ich wußte nichts von meinem Vater und seiner Krankheit, nichts von Thomas, nichts von den Ereignissen im Wäldchen.
Theos Stimme kam wie aus weiter Ferne, als er wieder zu sprechen begann.»Irgendwie hatte sich Onkel Robert ein Messer beschafft. Er hatte offenbar einen seiner Schübe bekommen, während er mit Thomas unterwegs war. Sie waren beide tot. Er hatte deinen Bruder getötet und dann sich selbst. «Es war still. Ich starrte in die Flammen und spürte, wie mein Gesicht brannte. Ich suchte in den Flammen nach zwei Menschen, einem Mann, den ich als meinen Vater erkennen, und einem Knaben, den ich als Bruder erkennen würde. Aber sie zeigten sich nicht. Sie kamen nicht zu mir.»Du bist mit deiner Mutter unter so tragischen Umständen von hier fortgegangen, Leyla, daß wir gestern, als du plötzlich wieder vor uns standest, nicht wußten, was wir sagen sollten. Wir wußten nicht, wie wir uns verhalten sollten; denn wir wußten auch nicht, wie weit du dich an vergangene Ereignisse erinnertest und was deine Mutter dir erzählt hatte. Ich sehe jetzt, daß wir recht hatten, Stillschweigen zu bewahren. «Ich hob den Kopf und sah Theo an.»Ja, natürlich«, sagte ich.»Ich verstehe.«
«Wir wußten, daß Colin mit dir darüber sprechen würde, ohne Rücksicht darauf, ob du etwas davon wußtest oder nicht. Ich bin froh, daß ich es dir jetzt sagen konnte. Früher oder später hätte er es dir auf jeden Fall erzählt.«
«Ja, Theo, ich danke dir. «Dies also war der Grund, weshalb sich alle mir gegenüber so seltsam verhalten hatten. Dies war die Lösung. Mein Vater hatte einen Mord verübt und sich dann selbst das Leben genommen. Kein Wunder, daß diese Menschen sich in meiner Anwesenheit zutiefst unbehaglich fühlten.»Ehrlich gesagt, Theo, ich würde jetzt lieber auf den Rundgang verzichten, wenn es dir nichts ausmacht. Ein andermal vielleicht.«
«Natürlich, das verstehe ich.«
«Weißt du, es ist — es ist als hätte ich meinen Vater und meinen Bruder soeben noch einmal verloren. Zwanzig Jahre lang glaubte ich, sie seien an der Cholera gestorben. Und jetzt erfahre ich, daß sie — daß sie auf ganz andere Art ums Leben gekommen sind. Es ist, als wären sie zweimal gestorben. Ich kann es dir nicht beschreiben. Innerhalb von zwei Monaten habe ich vier Menschen verloren. Meine Mutter und meinen Vater — «Ich ging wie in Trance zur Tür —»Thomas und Tante Sylvia. Ich wünsche so sehr, ich hätte sie gekannt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ist, um Menschen zu trauern, an die du nicht einmal eine Erinnerung hast. Bitte, entschuldige mich jetzt.«
Er öffnete mir die Tür und begleitete mich durch den Flur. Am Fuß der Treppe wandte ich mich ihm noch einmal zu und sagte:»Ich würde gern allein hinaufgehen, Theo, wenn es dir recht ist.«
«Brauchst du wirklich keine Hilfe?«
Ich lachte ein wenig.»Aber nein. Ich bin es gewöhnt, allein zurechtzukommen. Entschuldige mich bitte bei den anderen, ja?«
Die Stufen glitten unter mir hinweg, als flöge ich aufwärts, ohne sie mit den Füßen zu berühren. Mein Kopf war leer und wie von dicken Schleiern umhüllt. Der Schock dieser Nachricht ging viel tiefer, war viel schmerzhafter als der über Sylvias Tod, denn mit dieser neuen Erkenntnis veränderte sich alles: Pemberton Hurst und meine Familie, meine Mutter, die vergangenen zwanzig Jahre, und letztlich veränderte sie auch mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich an jenem Tag auf meinem Bett lag, aber als ich endlich den Kopf hob und zum Fenster schaute, sah ich, daß die schräg einfallenden Strahlen der Sonne schon den rötlichen Schimmer des Abends hatten. Ich hatte mich viele Stunden meinem Schmerz überlassen.
Ich hatte noch einmal um meinen Vater getrauert, der ein Mörder war. Ich hatte die tiefen Ängste und Qualen seiner Seele beweint, die er gelitten haben mußte, um eine solche Tat zu begehen. Ich weinte mir die Augen aus dem Kopf um diesen armen, gequälten Wahnsinnigen und den kleinen Jungen, meinen Bruder Thomas, den er mit sich in den Tod genommen hatte.
Vater, schrie mein Herz, hast du darum das Messer gegen dich selbst gerichtet? Hattest du einen einzigen lichten Moment, in dem du — zu spät — erkanntest, was du getan hattest, und es nicht ertragen konntest? Ich weinte auch um meine Mutter, die zwanzig Jahre lang in Leid und Einsamkeit in London in Armut gelebt hatte, um das Kind, das ihr geblieben war, vor der Vergangenheit und der Gegenwart zu schützen. Nun hatte ich gefunden, was ich hier in Pemberton Hurst gesucht hatte: meine Familie und meine Vergangenheit. Und jetzt wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Was mußte meine Mutter all die Jahre hindurch gelitten haben! Und immer, wenn sie in mein Gesicht gesehen hatte, hatte sie die Gesichter ihres Mannes und ihres Sohnes gesehen. Ach, hätte sie diese grauenvolle Last nur mit mir geteilt! Hätte sie nur mit mir gesprochen, damit ich das Leid mit ihr hätte tragen können. Aber sie hatte mich geschont. Sie hatte als die mutige Frau, die sie gewesen war, die ganze Last allein getragen, um mir Schmerz und Kummer zu ersparen. Und alles vergeblich. Denn nun hatte ich doch erfahren, was sie zwanzig Jahre lang vor mir verborgen hatte.
Draußen wurde es dunkel, und es blies ein grimmiger Wind. Ich spürte, daß ich hungrig war. Ich hatte zehn Stunden in diesem Zimmer verbracht und die Vergangenheit betrauert. Es war an der Zeit, in die Gegenwart zurückzukehren. Schon um meiner Mutter willen, die nicht gewollt hätte, daß ich wie sie mein Leben lang trauerte. Es war fruchtlos und dem Leben hinderlich, bei jenen Dingen zu verweilen, die sich nicht mehr ändern ließen.
Ich trocknete die letzten Tränen, zog mir ein anderes Kleid an, ordnete mein Haar und war gerade dabei, meine geschwollenen Augen mit feuchten Tüchern zu kühlen, als es an meiner Tür zaghaft klopfte. Ich hielt inne und lauschte. Da klopfte es wieder. Als ich zur Tür ging und öffnete, sah ich Martha vor mir stehen.»Darf ich hereinkommen?«fragte sie.»Natürlich. Bitte. Ich wollte gerade hinuntergehen.«
«Wir haben uns Sorgen gemacht, Leyla. Theo erzählte uns, was heute morgen vorgefallen ist. Es tut mir so leid. Es tut uns allen leid. «Sie trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
«Wenn wir dir gestern abend kühl und reserviert erschienen, dann weißt du jetzt, warum wir uns so verhalten haben. Keiner wollte versehentlich etwas Falsches sagen. Niemand wußte, was deine Mutter dir über deinen Vater und deinen Bruder erzählt hatte. Und es hat sich gezeigt, daß wir richtig gehandelt haben.«
«Das sagte Theo auch.«
Ich setzte mich an den Toilettentisch und drückte mir wieder ein feuchtes Tuch unter die Augen. Im Spiegel sah ich Martha langsam im Zimmer umhergehen. Erst betrachtete sie das Bild meiner Mutter, dann las sie das Etikett auf dem Parfumfläschchen, blieb am Nachttisch stehen und nahm eines nach dem anderen die Bücher zur Hand, die dort lagen. Ich hatte den Eindruck, daß sie angestrengt überlegte, was sie als nächstes sagen sollte.
«Onkel Henry hat mir erzählt, daß du verlobt bist.«
«Ja. «Ich lächelte in den Spiegel.»Und du willst bald heiraten?«
«Im Frühjahr. Aber vorher stelle ich euch Edward bestimmt vor. Er wird euch gefallen. Er ist ein sehr gutaussehender und eleganter Mann.«
«Er ist Architekt, nicht?«
«Ja, einer der besten in London.«
«Du bist zu beneiden, Leyla.«
Ich warf wieder einen Blick in den Spiegel und sah, daß Martha mich beobachtete. Wieder war diese Traurigkeit in ihren Augen, dieses tiefe Mitleid, das ich bei ihr auszulösen schien. Aber nun war es nicht mehr angebracht; nun wußte ich ja die Wahrheit über den Tod meines Vaters, und wenn man die Wahrheit einmal akzeptiert hat, ist sie leicht zu tragen.
«Ist etwas, Martha?«
«Nein, nein«, antwortete sie hastig.»Gar nichts. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, daß wir schon zu Abend gegessen haben. Aber Gertrude hat dir etwas aufgehoben. Sie meinte, du würdest hungrig sein.«
«Da hatte sie recht. Wie nett von ihr.«
Ich legte das feuchte Tuch aus der Hand und stand auf. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte mir, daß ich wieder präsentabel aussah. Abgesehen von der Veränderung, die in meinem Inneren vorgegangen war, war ich noch immer dieselbe Leyla Pemberton, die am Abend zuvor hier angekommen war. Aber jetzt würde alles ganz anders werden. Meine Familie brauchte nicht mehr jedes Wort, das sie mit mir sprach, vorsichtig abzuwägen, brauchte nicht mehr darauf zu achten, daß bestimmte Themen gemieden wurden. Nun konnten wir alle ganz offen miteinander sein. Als wir aus meinem Zimmer traten, stießen wir beinahe mit Henry zusammen.
«Entschuldige«, sagte er.»Ich wollte mich nach deinem Befinden erkundigen. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
«Ach, das hast du auch nicht«, behauptete ich, obwohl ich tatsächlich einen Schrecken bekommen hatte, als er plötzlich aus dem Schatten getreten war.
«Geht es dir wieder gut, Leyla?«fragte er besorgt.»Theo sagte uns — «
«Oh, ja, es ist alles gut. «Ich zog die Tür hinter mir zu und drehte mich mit einem beruhigenden Lächeln nach ihm um. Aber als mein Blick auf sein Gesicht fiel, überfiel mich sogleich wieder jenes eigenartige Gefühl, genau wie am Abend zuvor.»Ist dir nicht gut?«
«Doch, doch, ich. «Ich drückte die Hand auf die Stirn, als könnte ich das ungute Gefühl vertreiben. Aber als ich ihn wieder ansah, flog es mich erneut an, stärker als zuvor — eine Ahnung rettungslosen Verlorenseins. Was hatte Henry an sich, daß er ein derartiges Gefühl in mir hervorrief? Regten sich da vielleicht verschüttete Erinnerungen? Es konnte nur so sein, daß ich in ihm meinen unglücklichen Vater sah. Aber nein — ich hatte dieses schreckliche Gefühl ja schon am vergangenen Abend gespürt, als ich die Wahrheit über den Tod meines Vaters noch gar nicht erfahren hatte!» Vielleicht solltest du lieber hier oben bleiben.«
«Nein, Onkel Henry, wirklich — «
«Sie hat seit heute morgen nichts gegessen, Onkel Henry«, mischte sich Martha ein.»Daran wird es liegen. Komm, gehen wir mit ihr hinunter. Gertrude hat ihr Braten und Kartoffeln warmgehalten. «Marthas Stimme war sanft und beredsam. Je länger ich mit Colins Schwester zusammen war, desto lieber wurde sie mir. Sie war liebevoll und geduldig. Und sie war vor allem verständnisvoll. Auch sie hatte ja auf tragische Weise ihre Eltern verloren.
«Komm, Leyla. Unten ist es warm und gemütlich. Du brauchst jetzt etwas zu essen, dann fühlst du dich gleich wieder besser. «Henry bot mir seinen Arm, und wir stiegen zusammen die Treppe hinunter.
Nur Anna und Colin waren im Salon, als wir drei eintraten.»Komm, Kind, setz dich. «Anna sprang auf und rückte mir fürsorglich einen Sessel zurecht.»Du kannst gleich hier essen. Ich sage Gertrude Bescheid.«
Meinen Einwand, daß es besser sei, wenn ich in der Küche äße, ließ sie nicht gelten.
«Unsinn! Du bleibst jetzt hier, Kind«, befahl sie mit mütterlicher Strenge.»Setz dich und leg die Füße hoch. So! Sitzt du bequem?«
«Ja. Danke, Tante Anna. «Ich lehnte mich in wohligem Behagen in meinem Sessel zurück, gewiß, daß nun alles gut werden würde.»So, so«, sagte Colin trocken,»Vetter Theo hat also die sprichwörtliche Katze aus dem sprichwörtlichen Sack gelassen, wie ich höre. Und mir solltest du unbedingt fernbleiben, liebe Cousine, weil alle fürchteten, daß ich eben das tun würde. «Er lächelte amüsiert.»Ist das nicht der Gipfel der Ironie?«
«Ach, Colin, sei doch still.«
Er sah Martha an und nickte wie ein gehorsamer Junge. Aber dann fing ich den zornigen Blick auf, den Anna ihm zuwarf, und fühlte mich augenblicklich an ihr Verhalten vom vergangenen Abend erinnert: Wieder hatte ich den Eindruck, daß sie etwas zu verbergen suchte. Als hätte Theo mir noch nicht die ganze Wahrheit gesagt; als gäbe es immer noch etwas zu vertuschen.
«Ich bin froh, daß mir Theo alles gesagt hat«, bemerkte ich.»Ich wünschte, ich hätte es schon viel früher erfahren. Dann hätte meine Mutter nicht ganz allein damit fertigwerden müssen. «Impulsiv wie immer entgegnete Colin:»Und wie kommst du darauf, daß Theo dir alles gesagt hat?«
Ich sah ihn erschrocken an.»Was meinst du damit?«
«Colin!«rief Anna scharf.
Er zuckte wieder auf seine lässige Art die Achseln und sagte:»Ich höre, Großmutter ist ziemlich aufgebracht darüber, daß du sie nicht wie vereinbart besucht hast.«
Das hatte ich ganz vergessen!» Aber einer von euch hat ihr doch sicher gesagt.«
Anna machte sich an ihren weiten Chiffonröcken zu schaffen. Es begann mich zu ärgern, daß sie dauernd auszuweichen versuchte und nicht imstande war, das zu sagen, was sie wirklich beschäftigte.»Großmutter ist der Ansicht, daß einmal getroffene Verabredungen unter allen Umständen eingehalten werden müssen, ganz gleich, was geschieht. Du weißt doch, wie sie ist.«
«Nein, das weiß ich nicht. Erzähl’ mir etwas über sie, bitte. «Anna sprangen fast die Augen aus dem Kopf.»Du erinnerst dich nicht an Großmutter Abigail?«rief sie in einem Ton, als hätte ich ihr soeben erklärt, daß ich Jesus Christus vergessen hatte.»Aber ich dachte, du erinnerst dich an uns alle!«
«Cousine Leyla erinnert sich an weit weniger als sie zuzugeben bereit ist.«
Ich warf Colin einen zornigen Blick zu. Es schien ganz so, als sollte das Versteckspiel weitergehen, als hätte Theos Bericht nichts gelöst. Diesmal kam Martha mir zu Hilfe. Sie trat zu ihrem Bruder und drohte ihm mit dem Zeigefinger wie einem kleinen Jungen.»Du bist ein unverschämter Flegel, Colin. Du siehst doch, daß du Leyla unglücklich machst. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, lieber Bruder: Entweder du bist von jetzt an höflich, oder du verläßt den Raum.«
Mit einem entwaffnenden Lächeln zuckte er wieder die Achseln.»Was kann ich darauf sagen? Verzeih mir, Leyla. Wärst du bereit, mir zum Zeichen deiner Vergebung zu erlauben, dir morgen das Grundstück zu zeigen?«
Ich hatte schon ein scharfes >Nein< auf der Zunge, als ich den Blick auffing, den Anna und Martha wechselten. In beider Augen meinte ich Furcht zu sehen, und genau das veranlaßte mich, Colins Einladung anzunehmen. Colin mochte frech und unverschämt sein, aber er schien mir bisher der einzige Ehrliche in dieser Familie. Und wenn es über meinen Vater und meinen Bruder noch mehr zu erfahren gab, so wollte ich keine Zeit verlieren.
In diesem Augenblick kam Theodore ins Zimmer, wie immer sehr elegant und sehr gepflegt. Er begrüßte zuerst seine Mutter, dann Martha und zuletzt mich und entschuldigte sich für seine Abwesenheit.
«Ich war bei Großmutter. Ihr wißt ja, wie schwierig es ist, sie zu beschwichtigen. Ich denke, das Wetter setzt ihr zu. Der Wind und die plötzliche Kälte. Sie möchte dich morgen zum Tee sehen, Leyla. Ich habe ihr erklärt, warum du heute nicht zu ihr gekommen bist.«»Danke.«
«Bißchen kühl hier, nicht wahr?«
«Ich finde es angenehm«, erwiderte ich, da ich dem Feuer am nächsten saß.
Theo ergriff meine Hand, um die Temperatur festzustellen, und als ich lachend abwehrte, fiel mein Blick auf den großen Rubinring am Mittelfinger seiner rechten Hand. Impulsiv hielt ich die Hand fest.»Dieser Ring«, sagte ich verwirrt.»Was ist mit ihm?«
«Ich — ich. «Die Erinnerung wollte nicht greifbar werden. Ich ließ Theos Hand los.»Ach, nichts wahrscheinlich. Ich hatte den Eindruck, ich kenne ihn von früher. Er erschien mir plötzlich so vertraut, aber das war gleich wieder vorbei.«
«Solche Ringe gibt es viele. «Er hob die Hand nahe vor sein Gesicht und kniff die Augen zusammen.»Der Stein ist nicht lupenrein, glaube ich. In London hast du so etwas sicher schon einmal gesehen.«
«Ja, wahrscheinlich.«
«Der Ring gehörte Großvater«, warf Colin ein.»Und er vererbte ihn an Theo, als er starb.«
«Dann erinnere ich mich vielleicht doch an ihn. Ich habe ihn sicher an Großvaters Hand gesehen, als ich noch ein Kind war. Es ist nur ein Bruchstück einer Erinnerung, aber es bedeutet mir sehr viel. An Menschen und Gesichter kann ich mich überhaupt nicht erinnern; aber bei so kleinen Dingen rührt sich manchmal etwas.«
«Und sonst erinnerst du dich an nichts?«fragte Henry.»Nein«, gestand ich.
«An gar nichts?«Anna starrte mich ungläubig an.»Du erinnerst dich an gar nichts?«
«Für mich ist es, als hatte mein Leben erst mit meinem sechsten Geburtstag angefangen.«»Aber du warst doch so glücklich hier«, sagte Anna mit gepreßter Stimme.
«Sie hat hier aber auch sehr Schlimmes erlebt«, warf Colin ein.»Es ist schon merkwürdig, daß Leyla keinerlei Erinnerungen hat. Was meint ihr, woher das kommt?«
«Viele Menschen haben keine Erinnerungen an ihre frühe Kindheit«, behauptete Henry, der breitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor dem Kamin stand.
Ich sah keinen Grund, es ihnen länger zu verheimlichen.»Das war einer der Gründe, warum ich schließlich hierher gekommen bin — um die Erinnerung an meine frühen Jahre wiederzufinden. Ich glaubte, das Wiedersehen mit euch und dem Haus würde mir dabei helfen.«
«Und hat es geholfen?«fragte Anna beinahe ängstlich.»Nicht sehr. Das Haus ist mir gänzlich unvertraut. Und auch ihr seid mir fremd.«
«Aber an mich hast du dich erinnert.«
«Ja, Martha, als du in die Bibliothek kamst, sah ich dich plötzlich, wie du vor zwanzig Jahren warst.«
«Zwölf Jahre alt und zu groß für mein Alter.«
«Ja, aber du warst damals schon so hübsch wie heute.«
«Und sonst erinnerst du dich an keinen von uns?«fragte Anna. Ich vermied es, Henry anzusehen.»Nein, an keinen. Ab und zu blitzt mal etwas auf. Es ist als ob ein Vorhang sich öffnet und gleich wieder zufällt. Nie wird der Eindruck greifbar.«
«Ich wette, wenn du morgen bei Großmutter bist, wirst du dich an einiges erinnern. Du hattest immer große Angst vor ihr.«
«Wer hat die nicht?«fragte Colin.
Anna neigte sich etwas näher zu mir.»Hast du denn deine Mutter nie nach der Vergangenheit gefragt?«
«Doch, sehr oft sogar, zumindest am Anfang. Aber sie antwortete entweder gar nicht oder nur ausweichend. Nach einer Weile begriff ich, daß ich nicht fragen sollte, und tat es nicht mehr. Ich bin froh, daß ich sie nicht gedrängt habe; es hätte sie nur gezwungen, mir noch mehr Lügen zu erzählen. Sie wollte mich schützen.«
«Und was glaubst du, wovor sie dich schützen wollte?«fragte Colin in herausforderndem Ton. Er fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Zum Glück kam in diesem Moment Gertrude mit dem Tablett ins Zimmer. Anna half ihr, den kleinen Tisch zu decken, der neben meinen Sessel geschoben wurde. In stillschweigender Übereinstimmung zogen die drei Männer sich aus dem Salon zurück; Martha zog eine Stickerei aus ihrem Pompadour und war bald in ihre Arbeit vertieft, während Anna nachdenklich an meiner Seite sitzenblieb.
Es wurde ein ruhiger, friedlicher Abend. Die nagenden Zweifel, die mir immer wieder in den Sinn kamen, unterdrückte ich. Ich hatte nur den Wunsch, wieder zu dieser Familie zu gehören, wie ich offensichtlich früher zu ihr gehört hatte.
Nach meinem Abendessen kehrten die Männer in den Salon zurück, und Martha spielte für uns etwas auf dem Klavier. Ehe wir uns danach alle zurückzogen, erinnerte mich Colin an mein Versprechen, ihn am folgenden Tag bei einem Rundgang über das Grundstück zu begleiten. Ich bedauerte jetzt, zugesagt zu haben, aber mit Henry oder mit Theo, dessen tadellose Wohlerzogenheit sehr abweisend auf mich wirkte, wäre ich auch nicht lieber gegangen.
Ich nahm den Führer durch den Cremorne Park mit zu Bett und gab mich Gedanken an Edward hin. Ich rief mir unsere erste Begegnung ins Gedächtnis, die vielen schönen Stunden, die wir seitdem miteinander verbracht hatten. Edward war ein wunderbarer Mann, ich konnte mich glücklich preisen, daß er mich gewählt hatte. Doch in der Nacht träumte ich von Colin Pemberton.
Als ich am folgenden Morgen erwachte, heulte ein derartiger Wind ums Haus, daß die Bäume unter seiner Gewalt ächzten und seufzten. Beim Frühstück war die ganze Familie versammelt, es herrschte eine Atmosphäre allgemeinen Wohlwollens, die mir guttat und mich dem traurigen Nachdenken über das Schicksal meines Vaters und meines Bruders entriß.
Martha und Anna wollten zusammen mit Henry, der die Fabrik aufsuchen wollte, nach East Wimsley fahren. Sie machten diese Fahrt gewöhnlich zweimal im Monat, um dem Pastor ihre Aufwartung zu machen und ihm Kleider für die Armen zu spenden. In East Wimsley gab es, wie ich ihren Gesprächen entnahm, sehr viel Armut und eine große Arbeitersiedlung.
«Wenn die Pembertons nicht wären«, bemerkte Henry bei Toast und Marmelade,»hätten diese Leute nicht einmal Arbeit. Sie würden wie so viele andere dem allgemeinen Exodus in die Großstädte und die übervölkerten Elendsviertel folgen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Bauern auf dem Land bleiben können, dort, wo sie hingehören.«
«Es kommt nur von der Eisenbahn, Vater«, bemerkte Theo, der stets ängstlich darauf bedacht schien, genau das Richtige zu sagen.»Vor der Dampfmaschine konnten die Bauern gar nicht weg. Jetzt können sie jederzeit für einen Penny die Meile mit der ganzen Familie und ihrer Habe gehen, wohin sie wollen. Darum ist es auch in London so schlimm geworden.«
«So schlimm ist es in London gar nicht«, warf ich ein.»Natürlich ist es dort schrecklich laut, immer mehr Menschen drängen in die Stadt. Aber wir haben die besten Krankenhäuser der Welt.«
«Ach, was! Die würden wir gar nicht brauchen, wenn die Städte sauberer wären. «Damit war mein Einwand für Henry erledigt. Es lag auf der Hand, daß die Meinung einer Frau für ihn nicht zählte.»Leyla, mein Kind«, mischte sich Anna ins Gespräch,»hast du denn für dieses schreckliche Wetter auch die richtige Kleidung mitgebracht? Ich denke, du hast etwa Marthas Größe, und ich — «
«Danke, Tante Anna. Ich habe Garderobe genug. Ich habe gelernt, bei Kleidung mehr auf Nützlichkeit als Eleganz zu achten.«
«Man kann beides haben. «Sie betrachtete mein Kleid, und ich sah ihr an, daß sie es recht armselig fand.»Ich komme schon zurecht, vielen Dank.«
Zum erstenmal schaltete sich Colin ein.»Ich glaube, Tante Anna meint, daß du jetzt, da du wieder zur Familie gehörst, du dich auch kleiden solltest wie eine Pemberton.«
«Ach ja, schneidern wir doch ein paar neue Kleider für dich, Leyla«, rief Martha.»Das würde mir Spaß machen.«
Colin beobachtete mich gespannt. Ich konnte mir ganz gut vorstellen, was er dachte: Die gute Cousine ist in den Schoß der Familie zurückgekehrt, um an ihrem Wohlstand teilzuhaben und ein luxuriöses Leben zu führen.
«Das ist wirklich lieb von dir, Martha, aber wenn ich heirate, lasse ich mir sowieso eine neue Garderobe machen.«
«Ach, natürlich!«Martha wurde noch lebhafter.»Und die Hochzeit findet hier, in Pemberton Hurst, statt.«
«Was?!«rief Henry scharf.
«O nein«, protestierte ich.»Das hatte ich nicht vor. Ich wollte nur eine kleine Feier in der Kirche mit ein paar Freunden — «
«Aber, Leyla! Feiern wir doch hier. Meinst du nicht auch, Tante Anna? Wir haben hier schon seit Ewigkeiten keine
Hochzeit mehr gehabt. Es wäre so schön. Nicht wahr, Onkel Henry?«
«Ich nehme an, Leyla und ihr Verlobter haben bereits ihre eigenen Pläne«, sagte Henry steif. Er sah mich nicht an, während er sprach, und ich hatte den Eindruck, daß er das Thema meiner bevorstehenden Hochzeit am liebsten vermieden hätte.
Das sollte mir nur recht sein. Ich hatte die Absicht, Pemberton Hurst vorher zu verlassen.
«Gehen wir?«Colin stand auf, ohne auf Etikette und guten Ton Rücksicht zu nehmen.
«Also wirklich, Colin!«tadelte Anna.
«Leylas Tasse ist seit zehn Minuten leer, und sie hat sich nicht nachgeschenkt. Das kann nur bedeuten, daß sie mit dem Frühstück fertig ist. Wir haben heute viel vor.«
«Du hast recht, Colin«, sagte ich.»Ich laufe nur hinauf und hole meinen Umhang.«
«Gut. Ich warte hier auf dich.«
Henry und Theo standen auf, als ich aus dem Zimmer ging. Ich eilte rasch die Treppe hinauf, packte Umhang, Hut und Handschuhe und lief schon wieder nach unten. Ich war sehr gespannt auf diesen Rundgang. Aber als ich mich dem Salon näherte, hörte ich erregte Stimmen und blieb stehen.
«Ich werde ihr zeigen, was mir Spaß macht«, sagte Colin hitzig.»Und was sie sehen möchte.«
«Das wirst du nicht tun. «Das war Henrys Stimme. Er schien wütend zu sein.»Du wirst sie nicht dorthin führen, sonst verbiete ich den Rundgang.«
«Leyla hat ihren eigenen Kopf, Onkel«, entgegnete Colin ungerührt.»Über kurz oder lang wird sie allein dorthin gehen. Da ist es doch besser, einer von uns begleitet sie.«
«Aber nicht heute, Colin. Ich verbiete es dir.«
Ich wollte nicht länger lauschen. Ich raffte meine Röcke, rief schon draußen vor der Tür» ich bin fertig «und eilte atemlos in den Salon. Henry und Colin standen sich am Tisch gegenüber wie zwei Kampfhähne.
«Colin?«rief ich, und als er sich umdrehte, sah ich den blitzenden Zorn in seinen Augen. Was konnte das für ein Ort sein, den Henry mich nicht sehen lassen wollte?» Ich bin jetzt fertig.«
«Gut.«
Er schob seinen Stuhl zurück und kam auf mich zu. Nachdem er mir den Umhang abgenommen hatte, warf er einen letzten zornigen Blick in die Runde, dann ging er mit langen Schritten aus dem Zimmer. Ich lief ihm nach und holte ihn im Vorsaal ein.»Ist etwas nicht in Ordnung, Colin?«
Er antwortete mir nicht, hielt mir nur schweigend den Umhang hin, legte ihn mir um die Schultern. Während ich meinen Hut aufsetzte und die Handschuhe überzog, stand er, offenbar tief in Gedanken mit gerunzelter Stirn neben mir und wartete. Als er sah, daß ich fertig war, zog er, immer noch ohne ein Wort, die Haustür auf, bedeutete mir vorauszugehen und ließ die Tür dann krachend hinter uns zufallen. Ein eisiger Wind blies uns ins Gesicht, zerzauste Colins Haar und ergriff meinen Umhang, daß ich Mühe hatte, ihn zu bändigen. Lange standen wir so auf der Treppe, Colin mit finsterem Gesicht, ich geduldig wartend, daß er sich meiner erinnere.
«Wohin wollen wir zuerst gehen?«fragte er unvermittelt.»Hast du einen bestimmten Wunsch?«
«Nein, gar keinen.«
«Dann fangen wir mit den Stallungen an.«
Er ging so schnell, daß ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich befürchtete, daß diese Besichtigung von Pemberton Hurst bei weitem nicht so angenehm und unterhaltsam werden würde, wie ich geglaubt hatte. Colins Miene blieb grimmig und verschlossen, während wir, gegen den Wind ankämpfend, über den Vorplatz eilten; ihm ging vermutlich immer noch der Streit mit Henry durch den Kopf. Da Henry das Oberhaupt der Familie war, mußte man seinen Anweisungen natürlich Folge leisten, aber ich hatte mehr und mehr den Eindruck, daß Colin nicht bereit war, sich durch Henrys Befehle einschränken zu lassen.
Die Stallgebäude befanden sich links vom Haus, etwas zurückgesetzt. Neben der Remise, zu der eine eigene Zufahrt führte, war der Pferdestall, in dem sich vier Pferde befanden und wo ein Stalljunge wohnte. Nachdem wir die Tür hinter uns zugedrückt hatten, mußte ich erst einmal Atem holen und meinen Hut wieder zurechtrücken, während Colin ziemlich erfolglos sein zu Berge stehendes Haar glattzustreichen suchte.
Es war still im Stall, dämmrig und warm. Ein paar erschrockene Mäuse huschten an unseren Füßen vorüber zu ihren Löchern. Ab und zu schnaubten die Pferde.
«Das ist es«, sagte Colin.»Nicht sehr eindrucksvoll, aber zweckmäßig.«
Ich trat einen Schritt vor, Colin jedoch blieb an der Tür stehen.»Colin«, sagte ich, einer plötzlichen Regung folgend und beobachtete dabei aufmerksam sein Gesicht.»Bitte, geh’ mit mir zum Wäldchen.«
«Zum Wäldchen?«Er zog die Augenbraue hoch.»Wozu denn das?«
«Du hast mir erzählt, daß wir als Kinder dort gespielt haben. Ich möchte es so gern sehen. Vielleicht kommen dann meine Erinnerungen zurück.«
Mir schien, als sei Colin nahe daran, in Gelächter auszubrechen.»Du weißt nicht, was du verlangst.«
«Wieso?«
«Onkel Henry möchte nicht, daß wir dorthin gehen. «Jetzt wußte ich es.»Warum nicht?«fragte ich, den Blick weiterhin unverwandt auf Colin gerichtet.»Mit dem Wind werden wir schon fertigwerden.«
«Es ist nicht der Wind, Leyla. Ich glaube, du weißt, warum er nicht möchte, daß du dorthin gehst.«
«Wegen meines Vaters und meines Bruder, meinst du? Ich weiß, daß ihr euch um mein Wohlergehen sorgt, aber das werde ich schon aushalten.«
Er schüttelte langsam den Kopf.»Du weißt wirklich nicht, warum du besser nicht dorthin gehen solltest?«
«Nein, aber dann erzähle du es mir doch!«
«Das kann ich nicht.«
«Ich habe ein Recht darauf, alles zu wissen.«
Da nahm Colin mich plötzlich bei den Schultern und sah mich mit einem Blick an, bei dem mir selbst in der Wärme des Stalls eiskalt wurde.
«Warum mußtest du zurückkommen, Leyla? Du glaubst, alles zu wissen, aber du weißt gar nichts. Geh wieder fort! Reise noch heute ab — «
«Nein!«
«— kehre zu deinem Architekten zurück. Vergiß die Pembertons. Wir machen dich nur unglücklich.«
«Colin, bitte sag mir, was mir alle verschweigen. Ich spüre es an ihrem Verhalten. Ich weiß, daß ihr, du und Theo, Onkel Henry und Tante Anna, Geheimnisse vor mir habt. Ich möchte die Wahrheit wissen. Ich habe ein Recht darauf.«
«Du hast kein Recht.«
«Ich habe das gleiche Recht wie ihr alle, denn ich bin auch eine Pemberton. Ich bin in diesem Haus geboren. Dein Vater und mein Vater waren Brüder. Ich habe ein Recht darauf, alles zu wissen, was diese Familie betrifft, auch wenn es noch so beschämend oder schändlich ist. Ich habe ein Recht zu wissen. Darum bin ich zurückgekommen. Nicht wegen des Geldes oder schöner Kleider!«
Er musterte mich mit diesem forschenden Blick, der mir nun schon so vertraut war.
«Also gut«, murmelte er.»Ich werde es dir sagen. Aber versprich mir eines, nämlich, daß du, wenn ich dir alles erzählt habe, daß du mich dann nicht dafür verachten und hassen wirst, daß ich es dir gesagt habe!«
«Colin — «
Die Düsternis um uns schien dichter zu werden, und der Wind draußen heulte mit tausend Stimmen. Colin begann mit tonloser Stimme zu sprechen.
«Als deine Mutter vor zwanzig Jahren dieses Haus verließ, tat sie es nicht nur, weil sie den Schmerz nicht ertragen konnte; sie verließ es auch, um dich wegzubringen, um dich von einem Ort zu entfernen, an dem Schlimmes geschehen war, Leyla. Ich kann mir vorstellen, daß du dir Gedanken darüber gemacht hast, warum du dich nicht an die Zeit vor deinem sechsten Geburtstag erinnern kannst; ich weiß den Grund dafür, und die anderen wissen ihn auch. Wir alle teilen die Erinnerung, die für dich nicht erreichbar ist. Ja, es hat mit dem Wäldchen zu tun und mit dem Tod deines Vaters und deines Bruders dort. Aber es hat auch noch mit etwas anderem zu tun.«
Colin holte tief Atem. Seine Hände lagen fest auf meinen Schultern.»Wir waren an dem Tag alle hier in Pemberton Hurst: Sir John und Großmutter Abigail, Großtante Sylvia, mein Vater und meine Mutter, Onkel Henry und Tante Anna, Theo und Martha. Und natürlich du und deine Mutter. Wir waren alle zu Hause. Es — «Er brach ab und sah mir mit tiefem Zweifel ins Gesicht.»Leyla, es fällt mir ungeheuer schwer, die Worte auszusprechen, weil ich weiß, was sie dir antun werden. Wenn du niemals zurückgekommen wärst, hättest du in ruhiger Unwissenheit weiterleben, Edward Champion heiraten können, ohne je nach Pemberton Hurst zurückblicken zu müssen. Aber du bist zurückgekommen, und jetzt muß ich dir die Wahrheit sagen, und dein Leben wird dann nie wieder so sein wie vorher.«
Wieder hielt er inne, um Atem zu schöpfen, und seine Finger gruben sich tiefer in meine Schultern.
«Es geht um deinen Vater und deinen Bruder und die Art, wie sie den Tod gefunden haben. Das, was Theo dir erzählt hat, stimmt alles, aber er hat eine Tatsache weggelassen. Er hat dir nicht gesagt, daß an dem Tag noch jemand im Wäldchen war.«
Ich erstarrte.
«Ja, es war noch jemand da, der, in den Bäumen versteckt, das schreckliche Verbrechen mit ansah. Du, Leyla, du hast gesehen, wie dein Vater erst Thomas tötete und dann sich selbst.«