Kapitel 13

Mein zehnter Tag auf Pemberton Hurst begann mit schlimmen Kopfschmerzen. In der vergangenen Nacht hatte ich mir, ehe ich eingeschlafen war, noch eine Tasse Tee bringen lassen. Als ich nun lange nach Sonnenaufgang erwachte, merkte ich, daß der Tee mir überhaupt nicht geholfen hatte. Ich hatte schlecht geschlafen und die ganze Nacht wirre Träume gehabt.

Nachdem ich mich gewaschen und mein Trauerkleid aus schwarzem Wollstoff angezogen hatte, setzte ich mich an den Toilettentisch, um mir das Haar zu ordnen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten deutliche Spuren in meinem Gesicht hinterlassen. Meine Augen waren ohne Glanz; meine Haut so bleich, daß sie fast grau wirkte. Feuchte Kompressen und Salbe halfen nur ein wenig, so daß ich am Ende aufgab und mich damit begnügte, mir lustlos das Haar hochzustecken. Mit finsterem Blick sah ich mein Spiegelbild an. Mein Kopf dröhnte vor Schmerzen, und ich wartete ungeduldig darauf, daß das Laudanum endlich wirken würde. Gleichzeitig versuchte ich verbissen, mich an einen bestimmten Traum zu erinnern, den ich in der Nacht gehabt hatte. Die anderen, alle äußerst lebhaft und plastisch, waren ohne Bedeutung gewesen, mit gesichtslosen Gespenstern bevölkert, die durch geheimnisvolle Räume geisterten. Aber dieser eine war anders und mir im Moment des Träumens außerordentlich wichtig erschienen, so als handle es sich um eine Botschaft aus den Tiefen meines Unterbewußtseins; doch so sehr ich mich jetzt bemühte, ich konnte ihn mir nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Ich erinnerte mich undeutlich, daß er etwas mit dem Tumor zu tun gehabt hatte, und daß ich mich unverzüglich um eine bestimmte Sache, die damit zusammenhing, kümmern mußte. Aber der Traum war jetzt vergessen und ließ sich nicht zurückholen.

Unten im kleinen Salon saß der Pastor bei Anna und versuchte, ihr Trost zuzusprechen, während Theo schweigend ihre Hand hielt. Martha saß zu meiner Überraschung ganz gelassen in einem Sessel und stickte, als wäre nichts geschehen. Ihr Gesicht war zwar blaß und angestrengt, aber sie schien sich einfach in eine eigene, unantastbare Welt zurückgezogen zu haben.

Colin saß drüben im großen Salon am Klavier. Die wilden Klänge schallten durch das ganze Haus. Er spielte mit einer Leidenschaft, als wäre er der zornigste Mensch auf Erden. Ich ging nicht zu ihm, obwohl ich es gern getan hätte. Aber mein Platz war jetzt an der Seite Annas und ihres Sohnes.

«Auf so schreckliche Weise sterben zu müssen!«jammerte Anna, die Hände auf ihr Gesicht gedrückt.»Es ist so ungerecht. So entsetzlich ungerecht.«

Ich sah Theo an. Ich konnte mir vorstellen, wie ihm zumute sein mußte. Wir hatten unsere Väter auf die gleiche Weise verloren, und wir wußten, daß uns ein ähnliches Schicksal bevorstand.

Als Theo auf mich aufmerksam wurde, stand er auf und setzte sich zu mir aufs Sofa. Nach einem Augenblick des Überlegens sagte er:»Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir zu danken, Leyla. Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«

Ich dachte an meinen Vater, der meinen Bruder Thomas getötet hatte. Ich stellte mir vor, wie ich, fünf Jahre alt, im Gebüsch gekauert und es mitangesehen hatte.

«Ich habe blind gehandelt, Theo, nicht mutig.«

«Trotzdem.«

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und lauschten den aufgewühlten Klängen der Musik, die aus dem großen Salon kamen. Ich stellte mir Colin vor, wie er mit wildem Blick und fliegendem Haar am Klavier saß. Ich beneidete ihn um diese Möglichkeit, sich Erleichterung zu verschaffen.

«Vater wird morgen in East Wimsley in der Familiengruft begraben.«

«Da werden auch wir eines Tages enden, Theo.«

«Leyla, alle Menschen müssen sterben.«

«Ja, aber nicht auf so grauenvolle Weise. Dein Vater hatte wenigstens dich als Stütze. Sir John hatte einen Sohn und Enkel, die ihn betrauerten. Wir aber haben uns geschworen, keine Kinder in die Welt zu setzen. Wer wird um uns trauern, Theo? Wenn wir krank werden, und das Fieber uns packt, wer wird uns dann stützen und trösten?«

Ich brach ab. Das Fieber. Thomas Willis hatte darüber geschrieben — was war es nur, was ich nicht zu fassen bekam? Was sich mir so beharrlich entzog? Etwas in dem Traum der letzten Nacht.

In diesem Moment kam Dr. Young ins Zimmer. Er teilte dem Pastor mit, daß Henry jetzt aufgebahrt werden und die Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen werden können.

«Ich habe übrigens Mr. Horton in East Wimsley benachrichtigen lassen«, sagte er zu Theo gewandt.»Er kommt heute abend hierher.«

«Danke, Doktor«, antwortete Theo.»Sie sind uns eine große Hilfe. «Dr. Young nickte nur und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf mich.»Mr. Horton wird das Finanzielle mit Ihnen erledigen«, bemerkte Theo, sich auf den Anwalt der Familie beziehend.

Doch Dr. Young reagierte nicht darauf. Seine blauen Augen zeigten einen seltsamen Ausdruck, und er sagte beinahe unhörbar:»Wenn Sie mich in irgendeiner Sache brauchen sollten, können Sie mich zu Hause erreichen.«

«Danke, Doktor«, sagte Theo, obwohl mir schien, als hätte Dr. Young nur mich angesprochen.

«Es ist klug, daß Sie Ihren Vater nicht hier im Haus aufbahren lassen«, bemerkte Dr. Young zu Theo gewandt.»Die Leute von East Wimsley können in der Kirche ebensogut von ihm Abschied nehmen.«

«Das war genau mein Gedanke. Es werden ja sehr viele sein. Die Arbeiter und ihre Familien, die Vertreter der Gemeinde. «Er schüttelte den Kopf.»Unvorstellbar, sie alle hier durch das Haus ziehen zu lassen. «Nein, dachte ich, auf keinen Fall dürfen Fremde in unsere Abgeschlossenheit eindringen. In diese klösterliche Stille und Einsamkeit. Ich stand ruckartig auf. Der Salon wurde mir zu eng, drohte mich zu ersticken.»Ich mache jetzt meinen Spaziergang«, sagte ich.»Gib auf dich acht«, mahnte Theo.

Ein leichter Regen fiel, aber das störte mich nicht. Ich war viel zu tief in Gedanken, um es überhaupt wahrzunehmen. Der Traum der vergangenen Nacht war es, der mich beschäftigte, eine Offenbarung, die mir zuteil geworden war und deren Inhalt ich beim Erwachen vergessen hatte. Im Schlaf war mir der Traum ungeheuer bedeutsam erschienen, und auch jetzt, wo er vergessen war, blieb dieses Gefühl drängend. Er hatte mit Thomas Willis’ Buch zu tun gehabt.

Der Regen tropfte von meinem Hut und rann meine Wangen hinunter. Einzelne Tropfen blieben an meinen Wimpern hängen und verschleierten mir die Sicht. Unablässig kreisten meine Gedanken um die Frage, was es gewesen war, das mir durch den Traum entdeckt worden war. Der Spaziergang half mir nicht zur Lösung des Problems. Nach zwei Stunden unverdrossenen Marschierern durch den Regen konnte ich mich immer noch nicht erinnern. Schließlich mußte ich umkehren, weil mein Umhang und meine Stiefel durchnäßt waren. Durchfroren kam ich im Haus an und beschloß, zum erstenmal ein Bad vor dem Kamin in meinem Zimmer zu nehmen. Danach, erfrischt und aufgewärmt, zog ich ein braunes Samtkleid an, bürstete mein Haar und ging hinunter, um mit der Familie das Abendessen einzunehmen.

Ich trat etwas beklommen, weil ich nicht wußte, was für eine Stimmung mich empfangen würde, ins Speisezimmer und sah mit Erleichterung, daß Colin lächelnd zu mir aufblickte. Er schien sich ausnahmsweise Mühe gegeben zu haben, den allgemeinen Vorstellungen vom eleganten jungen Gentleman zu entsprechen. Sein dunkelgrünes Jackett und die schwarze Hose waren vom neuesten Schnitt, seine Stiefel blank poliert — sein Haar war offensichtlich gekämmt.»Wie geht es dir, Leyla?«fragte er und stand auf.»Ach, ganz gut. Und dir?«

Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich durch das Zimmer ging und mich auf meinen Platz neben Martha setzte. Sie nickte nur kurz und vertiefte sich gleich wieder in ihre Stickerei.

«Du siehst jedenfalls heute entschieden besser aus«, stellte Colin fest. Ich dachte daran, wie ich in der Nacht im Morgenrock und mit wallendem Haar durch die Gänge gelaufen war und wurde rot. Theo saß still vor seinem Gedeck und starrte auf den Stuhl, auf dem sein Vater gesessen hatte. Anna war nicht erschienen.

Wir aßen schweigend wie immer, jedoch ohne großen Appetit. Dafür sprachen wir alle dem Wein um so mehr zu — sogar Martha trank zwei Gläser und bekam davon einen roten Kopf.

Gertrude meldete uns, daß Mr. Horton, der Anwalt, eingetroffen sei und im Arbeitszimmer auf uns warte.

Colin begleitete seine Schwester, während ich mit Theo in das Zimmer ging, das ich noch nicht kannte. Es war, nicht unähnlich der Bibliothek, ein behaglicher Raum, in dem es nach dem Leder der schweren Sessel roch, ganz mit dunklen Möbeln eingerichtet. Im Unterschied zur Bibliothek jedoch stand hier ein großer Mahagonischreibtisch mit vielen Fächern und Schubladen, zweifellos der Ort, wo die Geschäfte der Firma Pemberton erledigt wurden.

An diesem Schreibtisch saß ein ungewöhnlich kleiner, schmächtiger Mann, mit glänzendem, kahlem Kopf und schmalen kleinen Augen. In dem großen Sessel hinter dem Schreibtisch wirkte er noch unscheinbarer, aber ich merkte bald, daß die äußerliche Unscheinbarkeit durch einen scharfen Geist mehr als ausgeglichen wurde.

Anna war schon da, in einem schwarzen Seidenkleid und mit einem schwarzen Schleier über dem Haar. Sie sah blaß aus. Steif und kerzengerade saß sie auf dem Rand ihres Sessels. Wir anderen verteilten uns im Halbkreis um den Schreibtisch und warteten.

Mr. Horton war ein Mann, der von höflichem Geplauder nichts hielt. Ohne uns anzusehen, die Augen auf die Papiere gerichtet, die vor ihm lagen, begann er ruhig und sachlich zu sprechen.

«Mr. Theodore Pemberton und Mr. Colin Pemberton, meine Herren, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Mr. Henry Pemberton kein Testament hinterlassen hat. Unter diesen Umständen können im Rahmen des Gesetzes verschiedene Schritte unternommen werden — «

«Was soll das heißen, Sir«, unterbrach Theo plötzlich so heftig, daß wir alle zusammenfuhren.»Was soll das heißen, mein Vater hat kein Testament hinterlassen?«

«Eben das, Mr. Pemberton.«

«Ja, natürlich, das habe ich schon verstanden. Aber ich möchte wissen, wieso er kein Testament hinterlassen hat. Ich weiß, daß er eines gemacht hat. Das weiß ich ganz genau.«

«Bei mir hat er es nicht hinterlegt, Sir, und ich betreue nun die Angelegenheiten Ihrer Familie seit zwölf Jahren.«

«Dann muß es im Safe liegen. Ja, er hat es sicher in den Safe gelegt.«

«Da haben wir nachgesehen, Mr. Pemberton. Es ist kein Testament vorhanden.«

Theo, der halb von seinem Stuhl aufgestanden war, setzte sich langsam wieder.»Was sind das dann für Schritte, die man, wie Sie eben sagten, in einem solchen Fall unternehmen kann?«fragte er ruhiger.»Das Gesetz hat für solche Fälle Vorsorge getroffen, um die Erbberechtigten zu schützen. Unser Fall jedoch ist insofern etwas anders gelagert, als der Vorgänger Ihres Vaters, Ihr Großvater also, für die Situation, die jetzt eingetreten ist, vorgesorgt hat. Damit will ich sagen, daß das Testament Ihres Großvaters eine Klausel enthält, die den Nachlaß regelt für den Fall, daß Ihr Vater kein Testament hinterlassen sollte.«

«Und Sie haben eine Abschrift dieses Testaments?«

«Selbstverständlich, Sir. «Mr. Horton raschelte bedeutsam mit den Papieren, obwohl er ihren Inhalt gewiß auswendig wußte. Während wir warteten, musterte ich noch einmal meine Verwandten. Anna hielt geistesabwesend die rotgeränderten Augen auf den Teppich gerichtet. Ich bezweifelte, daß sie auch nur ein Wort von dem, was bisher gesprochen worden war, gehört hatte. Martha strickte, ohne den Kopf von den klappernden Nadeln zu heben. Nur Colin und Theo zollten Mr. Horton ungeteilte Aufmerksamkeit, wobei Theo im Gegensatz zu Colin angespannt und verkrampft wirkte.

«Die betreffende Klausel im Testament Ihres Großvaters bestimmt, daß, für den Fall, daß Ihr Vater, Henry Pemberton, bei seinem Tod kein Testament hinterlassen sollte, das gesamte Vermögen samt allen Ländereien und Gebäuden sowie das Geschäftsunternehmen an seinen Enkel — «Theo beugte sich vor —» — Colin Pemberton fallen soll.«

«Das ist nicht möglich!«rief Theo und sprang auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er dem Anwalt das Testament aus der Hand. Colins Gesicht wurde bleich. Sonst zeigte er keine Regung.»Das ist unmöglich!«rief Theo erneut und beugte sich drohend über Mr. Horton.»Davon haben wir nichts gewußt.«

«Es ist völlig rechtmäßig, Mr. Pemberton«, versicherte Horton unerschrocken. Zweifellos waren ihm derartige Ausbrüche von anderen Testamentseröffnungen her bekannt.»Wenn Sie nicht davon wußten, dann nur, weil niemand es für nötig hielt, es Ihnen vorzulesen. Keiner dachte ja daran, daß Ihr Vater sterben würde, ohne ein Testament gemacht zu haben.«

«Sir John scheint sehr wohl daran gedacht zu haben«, fauchte Theo, während er das Papier überflog.

«Bitte, Sir, sehen Sie es sich nur an. Ich kann Ihnen versichern, daß es völlig in Ordnung ist. Da sehen Sie das Datum und darunter mein Siegel.«

Theo las einen Moment schweigend, dann legte er das Dokument auf den Schreibtisch zurück. Der Blick, den er auf Colin richtete, war voller Haß.

«Du — du hinterhältiger Schurke«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen.»Du hast es die ganze Zeit gewußt. Du hast das getan, meinen Großvater gegen uns aufgehetzt, während wir weg waren. Aber glaub ja nicht, daß du damit durchkommst.«

Colin erhob sich. Mühsam die Fassung bewahrend sagte er:»Ich versichere Ihnen, Sir, daß ich davon nichts wußte.«

«Ach was! Natürlich wußtest du es!«schrie Theo ihn an.»Du hinterhältiger, gerissener — «

«Das reicht!«unterbrach ihn plötzlich eine scharfe Stimme.

Wir drehten uns alle dem Kamin zu und sahen zum erstenmal, daß eine sechste Person sich im Zimmer befand. In einem tiefen Lehnstuhl verborgen, der mit dem Rücken zu uns stand, hatte meine Großmutter alles mitangehört.

Allein durch ihre Anwesenheit gelang es ihr jetzt, dem Streit zwischen Theo und Colin ein Ende zu machen. Mit ihren knochigen Händen umfaßte sie energisch die Armlehnen ihres Sessels und richtete sich unsicher auf. Sie war groß und mager. Das schwarze Seidenkleid hing viel zu groß an ihrem Körper. Das schlohweiße Haar stand in hartem Kontrast zu den zornig blitzenden schwarzen Augen.

«Mr. Horton spricht die Wahrheit«, sagte sie kalt.»Bei der Eröffnung seines Testaments vor zehn Jahren habt ihr alle gehört, daß er das gesamte Vermögen seinem einzigen überlebenden Sohn Henry vermacht hatte. Aber er hatte in meinem Beisein eine Klausel angefügt, die die Erbfolge regeln sollte für den Fall, daß Henry ohne Testament sterben sollte — er wußte, wie plötzlich der Tod zu den Pembertons kommt. Nun, und so war es ja auch. Immer schon war es der Wunsch meines Mannes, daß Richards Sohn, nicht Henrys, sein Nachfolger werden sollte. Immer schon wollte er Colin als seinen Erben. Nun ist es so gekommen.«

Ihre Stimme verriet nichts darüber, was sie selber dachte. Ob sie nun die Wahl ihres verstorbenen Mannes guthieß oder nicht, sie zeigte es nicht.

«Ein Fluch lastet auf unserer Familie. Mein Mann ist ihm zum Opfer gefallen. Meine drei Söhne sind ihm zum Opfer gefallen. Und auch meine beiden noch lebenden Enkel werden ihm zum Opfer fallen. «Wenn dies ein Versuch war, unser Mitgefühl zu wecken, so mißlang er. Ihre Stimme war ohne

Wärme, ihr Gesicht so regungslos, daß keiner Mitleid empfinden konnte. Statt dessen war ich zutiefst verwundert über ihre eisige Ruhe, ihre unbeugsame Härte unmittelbar nach dem Verlust ihres letzten Sohnes. Wenn sie trauerte, so zeigte sie es nicht.»Wir werden Sir Johns letzten Wunsch achten«, fuhr sie in gebieterischem Ton fort, und ihre schwarzen Augen richteten sich auf Colin. War das Zorn in ihnen? Haß? Oder war es vielleicht Triumph? Dann wandte sich meine Großmutter dem Anwalt zu.»Mr. Horton?«

Er räusperte sich.»Aus uns unbekanntem Grund versäumte es Henry Pemberton, ein Testament zu machen. Vielleicht war es Nachlässigkeit, vielleicht ein Versehen. Wie dem auch sei, es ist nichts Ungewöhnliches, daß jemand diese Dinge bis zur letzten Minute aufschiebt und ihm das Schicksal dann keine Zeit mehr läßt, seine Angelegenheiten zu regeln. Wie ich schon sagte, im allgemeinen werden dann solche Fälle vor Gericht verhandelt, in unserem besonderen Fall jedoch ist das nicht notwendig. Wir haben eine rechtlich gültige Regelung. «Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:»Sir John Pemberton hat auch für die weiblichen Mitglieder der Familie Vorsorge getroffen. Das heißt, für sie wird immer in dem Rahmen gesorgt sein, den sie selbst wünschen, solange sie unter diesem Dach leben. Sollten sie Pemberton Hurst verlassen, so steht ihnen keinerlei Unterstützung oder finanzielle Abfindung zu. «Marthas Nadeln standen einen Augenblick still, und plötzlich herrschte für einen Augenblick erdrückendes Schweigen. Dann, ohne eine Veränderung in Miene oder Haltung, begann sie wieder zu stricken.»Das ist alles, meine Damen und Herren. Eine Abschrift des Testaments liegt hier zu Ihrer Einsichtnahme aus. Wenn Mr. Colin Pemberton im Laufe der nächsten Woche in meiner Kanzlei vorsprechen möchte, werde ich ihn über alle Einzelheiten unterrichten. Gibt es sonst noch Fragen?«»Nein«, antwortete meine Großmutter stellvertretend für alle. Sie maß uns alle noch einmal mit kaltem Blick, dann wandte sie sich um und ging aus dem Zimmer.

Ich stand auf, als sie an mir vorüberkam, und auch Martha raffte ihre Sachen zusammen und erhob sich. Nur Anna blieb sitzen — es war, als hätte sie von allem überhaupt nichts bemerkt.

Als die schwere Eichentür hinter Gertrude, die meine Großmutter begleitete, zufiel, blieb gespannte Stille zurück. Colin und Theo sahen einander zornig an. Bei Theo überwog der Haß, bei Colin die Empörung.»Und ich sage dir, Colin, es war ein Testament da«, behauptete Theo.»Das kann sein. Mich darfst du danach nicht fragen. Mr. Horton weiß offensichtlich nichts davon — «

«Nein, ich weiß in der Tat nichts von einem Testament von Henry Pembertons Hand«, bestätigte Mr. Horton.

«Nun, es gibt Mittel und Wege«, schrie Theodore wütend.»Ich werde mir einen eigenen Anwalt nehmen und diese Sache vor Gericht bringen. Es gibt schließlich das Erbrecht des Erstgeborenen, und ich — «

«Verzeihen Sie, Mr. Pemberton, aber in diesem Fall werden Sie, denke ich, feststellen — «

«Ich stelle fest, Mr. Horton, daß Sie Ihre Pflicht hier getan haben. Wir bedürfen Ihrer Dienste jetzt nicht mehr.«

Jetzt stand Horton auf. Imposant wirkte er gewiß nicht, aber die Schärfe seiner Augen mahnte zur Vorsicht.»Darüber zu entscheiden, Sir, obliegt Mr. Colin Pemberton, dem neuen Herrn auf Pemberton Hurst.«

Theos Augen funkelten vor Wut, sein Gesicht war hochrot, die Adern an seinem Hals standen wie Stränge heraus.»Noch ist er nicht der Herr hier. Und ich werde verhindern, daß er es jemals wird.«

«Aber Theo, jetzt hör doch mal«, begann Colin blaß und beschwichtigend.»Ich wußte wirklich nicht — «

«Du, mein Bester, bist ein heimtückischer kleiner — «

«Ich lasse mich in meinem eigenen Haus nicht beleidigen!«»Noch ist es nicht dein Haus, Colin Pemberton. Noch nicht!«Mein Kopf begann plötzlich wieder zu schmerzen. Es mußte am vielen Wein liegen, den ich zum Abendessen getrunken hatte. Und an diesem schrecklichen Streit zwischen Colin und Theo. Es war einfach zuviel. Als ich mich entschuldigte, reagierten die beiden Männer gar nicht, so sehr waren sie in ihre hitzige Auseinandersetzung verstrickt. Es bedrückte mich, sie so im Streit zu sehen, doch ich verspürte weder die Neigung noch hatte ich den Mut mich einzumischen. Der Weg hinauf zu meinem Zimmer erschien mir endlos. Die Gaslampen spendeten nur trübes Licht, kaum die Dunkelheit erhellend, die mich von allen Seiten umgab. Vor mir sah ich das Gesicht meines Onkels wie es in der vergangenen Nacht gewesen war: Die wilden Augen, in denen der Wahnsinn sich spiegelte, der höhnisch verzerrte Mund. Ich dachte an die entsetzlichen Qualen, die er vor seinem Tod hatte durchleiden müssen — die peinigenden Kopfschmerzen, die Übelkeit, das Erbrechen, die Leib schmerzen, den Fieberwahn, die Schüttelkrämpfe. Und ich fragte mich, wann meine Zeit kommen würde.

Endlich in meinem Zimmer, streckte ich mich auf dem Sofa vor dem wärmenden Feuer aus. Der Regen schlug an meine Fenster. Meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und Übelkeit stieg in mir auf. Ich nahm etwas Laudanum, mehr als sonst, um die Schmerzen endlich loszuwerden.

Nach einer Weile begann die Arznei zu wirken. Mein Kopf wurde freier, und ich spürte, wie das von Laudanum bewirkte Gefühl leichter Euphorie von mir Besitz ergriff. Müde stand ich auf, kleidete mich aus und schlüpfte in mein Bett. Bevor ich einschlief, nahm ich Thomas Willis’ Buch vom Nachttisch und legte es ungeöffnet auf meine Bettdecke, in der Hoffnung, daß mir, wenn ich es nur lange genug ansah, der flüchtige Traum wieder einfallen würde.

Doch anstelle des Traums kam mir eine andere Erinnerung — an das Gespräch, das ich drei Tage zuvor mit Dr. Young geführt hatte. >Sie haben doch das Buch von Thomas Willis gelesen, nicht wahr?< hatte ich Dr. Young gefragt. Und er hatte geantwortet: >Thomas Willis? Ja, aber damals habe ich noch studiert.<

Ich war sehr schläfrig, aber ich spürte, daß ich der Antwort sehr nahe war. Ich schlug nun doch das letzte Kapitel des Buches auf und überflog den Text, den Thomas Willis vor langer, langer Zeit niedergeschrieben hatte. >Da wir nunmehr die Natur der Seuche aufgezeigt haben. vor allem solche Fiberkrankheiten, die man als seuchenartig und heimtückisch bezeichnet. werden als seuchenartiges Fiber bezeichnet. < Was war es nur, das mich nicht losließ? Irgend etwas an dem Buch war mir als sonderbar aufgefallen, und ich hatte es nur in einem Traum erkannt.

Dr. Youngs Worte fielen mir ein.»Bei Thomas Willis erinnere ich mich an endlos lange Sätze, verblüffende anatomische Diagramme und eine eigenwillige Orthographie.«

Ich blätterte um zur entscheidenden Seite. >Als dieses Fieber das erstemal auftrat..< Ich las die ganze Seite bis zum Ende, kehrte zum Beginn zurück und begann noch einmal zu lesen. Und da sah ich es plötzlich. Gleich im ersten Satz. Das Wort Fieber war hier anders geschrieben als auf den Seiten vorher. Ich las noch einmal den ganzen Text und stellte fest, daß in der ganzen Passage über die sogenannte Pember Town Krankheit das Wort Fieber ohne ie geschrieben war.

Darum war es in meinem Traum gegangen. Jetzt erinnerte ich mich. Im Traum war mir diese Unregelmäßigkeit aufgefallen und hatte mich stutzig gemacht.

Während ich jetzt allerdings auf die anders geschriebenen Wörter starrte und an den Traum dachte, verstand ich nicht, weshalb mich das so bewegt hatte.

Ich legte das Buch wieder auf meinen Nachttisch und blies die Lampe aus. Während ich mit offenen Augen dalag und dem Regen lauschte, der an die Fensterscheiben trommelte, überlegte ich mir, daß ich trotz allem das Buch morgen einmal Dr. Young zeigen wollte.

Damen der guten Gesellschaft, so wollte es die Sitte, hatten Begräbnissen nicht beizuwohnen; doch moderne Frauen, die selbstbewußter waren, sorgten dafür, daß sich das langsam änderte. Zu meiner Überraschung erwies sich auch Anna als eine solche Frau. Ich glaubte allerdings, daß sie weniger aus gesellschaftlicher Rebellion handelte, als vielmehr aus einem tiefen Bedürfnis heraus, ihrem verstorbenen Mann bis zum letzten Moment nahe zu sein. Sie jedenfalls nahm an Henrys Beerdigung teil, während Martha und ich zu Hause blieben; Martha vor allem, weil sie das feuchte Wetter scheute, ich, weil ich es sehr ungehörig gefunden hätte, zu gehen. Selbst dem Begräbnis meiner Mutter hatte ich nicht beigewohnt, sondern hatte in der Stille meines Zimmers um sie getrauert. Anna fuhr also mit ihrem Sohn und Colin im Vierspänner zur Stadt, während Martha und ich zurück blieben.

Nach dem Frühstück verspürte ich leichte Kopfschmerzen, denen ich aber gleich mit einer Dosis Laudanum beikam. Danach versuchte ich eine Weile zu lesen, doch ich konnte mich nicht auf die fremden Schicksale konzentrieren, und auch am Klavier hielt es mich nicht lange. Immer noch beschäftigte mich Thomas Willis’ Buch. Es ließ mich nicht los, obwohl ich mir sagte, daß das, was ich entdeckt hatte, völlig belanglos war. Die Gedanken an das Buch verfolgten mich, während ich in meinem Zimmer ein leichtes Mittagessen einnahm, sie lenkten mich beim Lesen ab, sie beschäftigten mich, während ich am Klavier saß und nach Noten suchte.

Um ein Uhr waren die drei immer noch nicht von der Beerdigung zurück. Ich beschloß, meinen gewohnten Spaziergang zu machen. Aber diesmal sollte er mich direkt zum Eichenhof führen, wo Dr. Young wohnte. Mit Thomas Willis’ gelehrtem Werk fest unter dem Arm marschierte ich los.

Der Eichenhof, den sein früherer Eigentümer vor sechs Jahren verkauft hatte, nachdem er Frau und Kinder bei einer Scharlachepidemie verloren hatte, war nicht schwer zu finden. Nach zweistündigem Marsch durch Wiesen und Felder war man dort. Ich hätte gern den Einspänner genommen, aber das hätte vielleicht zu Fragen Anlaß gegeben, und aus einem mir selbst unerklärlichen Grund hielt ich es für besser, mein Unternehmen geheimzuhalten. Es war mir ein wenig unbehaglich angesichts der Tatsache, daß ich als junge Dame aus gutem Haus ohne Begleitung einen alleinstehenden Herrn aufsuchen wollte. Aber, tröstete ich mich, der Mann war schließlich Arzt, genoß großes Ansehen, war viele Jahre älter als ich und hatte gewiß eine Haushälterin.

Grauer Rauch stieg aus dem Kamin zum bewölkten Himmel auf, ein Zeichen, daß der Doktor vermutlich anwesend war. Als ich näherkam, sah ich, daß in den vorderen Fenstern des Bauernhauses Licht brannte, ebenfalls ein gutes Zeichen. Aber nun wurde mir doch etwas beklommen zumute, und die Füße wurden mir recht schwer, als ich den aufgeweichten Weg entlangging. Ich mußte meine ganze Entschlossenheit zusammennehmen, um nicht umzukehren. Erstens, sagte ich mir, brauchte ich Laudanum — die Kopfschmerzen plagten mich schon wieder; und zweitens wollte ich Dr. Young Thomas Willis’ Buch zeigen.

Zu meiner großen Erleichterung öffnete mir auf mein Klopfen eine handfeste ältere Frau mit einer fleckigen Schürze um den runden Bauch und einem Häubchen auf dem grauen Haar. Sie begutachtete mich mit unverhohlener Verwunderung, als sie sah, daß ich allein gekommen war.

«Sind Sie krank?«fragte sie, mich einfach vor der Tür stehen lassend.»Nein. Ist Dr. Young zu Hause?«fragte ich ein zweites Mal. Sie warf einen Blick auf meinen Bauch, vermutlich um festzustellen, ob ich schwanger sei.»Erwartet er Sie?«

«Nein, das glaube ich nicht. Wir sind miteinander bekannt. Ich komme von Pemberton Hurst und — «

Sie machte ein so erschrockenes Gesicht, daß ich abbrach. Ja, ich kam aus diesem Haus, über das man sich so viele Geschichten erzählte. Was hatte diese Frau nur über uns gehört?

Dr. Young, der unversehens hinter der Haushälterin auftauchte, rettete mich schließlich vor weiterem Verhör.

«Hallo, Miss Pemberton. Das ist aber eine Überraschung. Treten Sie doch ein.«

Die Haushälterin trat widerstrebend zur Seite, beäugte mich aber weiterhin mit Argwohn.

«Mrs. Finnegan, es ist Teezeit. Würden Sie uns den Tee bitte in den Salon bringen?«

Ich war froh, als sie endlich ging.

Dr. Young nahm mir Cape und Hut ab, hängte beides auf und erkundigte sich freundlich nach meinem Befinden.

«Ich habe wieder einmal Kopfschmerzen und kein Laudanum mehr.«

«Ah ja. «Er betrachtete mich mit einiger Besorgnis.»Es sind die Umstände, Doktor. Erst Onkel Henrys Tod, dann gestern abend die Testamentseröffnung, heute die Beerdigung und dazu dieses schreckliche Wetter.«

«Ja, natürlich. «Er führte mich aus der kleinen Empfangshalle in ein sehr gemütliches Wohnzimmer.»Dort drüben«, sagte er und wies auf eine Verbindungstür,»sind mein Sprechzimmer und mein Behandlungsraum. Unten im Keller ist mein Laboratorium, wo ich nach Mrs. Finnegans Meinung mit dem Teufel Hand in Hand arbeite.«

Lachend setzte ich mich nieder. Dr. Young hatte mir augenblicklich alles Unbehagen genommen.

«Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, Miss Pemberton. Es war mir eine solche Freude, nach Jahren des Schweigens wieder von meinem alten Freund Oliver Harrad zu hören. Nachdem ich gestern nach Hause gekommen war, habe ich ihm sofort geschrieben. Man sollte nicht die Verbindung zueinander verlieren, nur weil man räumlich getrennt ist.«

Er setzte sich mir gegenüber und beugte sich über den Tisch, wo ich das Buch abgelegt habe.

«Ich sehe, Sie haben mir ein Buch mitgebracht. Ah ja, Cadwalladers Ausgabe der gesammelten Werke von Thomas Willis. Und da haben wir ja Mr. Willis persönlich. «Er betrachtete das Porträt.»Ja, ich bin sicher, daß ich das Buch auch irgendwo habe. Ich hatte noch keine Zeit nachzusehen.«

«Mir kommt es nur auf eine Seite in dem Buch an, Doktor. Würden Sie sich die einmal ansehen? Es dauert nicht lange, das verspreche ich. «Er lächelte.»Nun, dann werde ich sie wohl lesen müssen. «Ich blätterte bis zu der angemerkten Stelle, schob ihm das Buch wieder hin und wartete gespannt, während er las.

Es dauerte nicht lange, da sah Dr. Young wieder auf, das Gesicht sehr ernst.»Jetzt verstehe ich, Miss Pemberton, warum

Sie es für wichtig hielten, daß ich mir das ansehe. Hier ist der Beweis für den Pemberton Tumor, noch dazu dokumentiert von einem der geachtetsten Wissenschaftler der Geschichte der Medizin. Das ist höchst interessant. Ich bin beeindruckt.«

«Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Doktor?«

«Noch etwas? Nein.«

Ich schlug mir an die Stirn.»Natürlich, es kann Ihnen ja nicht aufgefallen sein. Warten Sie, ich zeige es Ihnen. «Ich griff nach dem Buch und blätterte eine Seite zurück.

«Schauen Sie«, sagte ich,»hier schreibt er das Wort Fieber ohne e, und so ist es, so weit ich gelesen habe, im ganzen Buch, auch vorn im Inhaltsverzeichnis. Aber hier — «ich blätterte wieder um und zeigte auf die entscheidenden Stellen —»ist das Wort Fieber mit ie geschrieben. Finden Sie das nicht auffallend?«

Dr. Young sah mich etwas verblüfft an.»Ich sagte Ihnen ja, daß mir von Thomas Willis vor allem seine eigenwillige Rechtschreibung im Gedächtnis geblieben ist. Beim Abdruck seines Werks hat man wohl das falsch geschriebene Fieber übernommen, aber hier auf dieser Seite versehentlich einen Stilbruch begangen und die richtige Schreibung eingesetzt. Das kann am Drucker gelegen haben. So etwas kommt vor. Was ist, Miss Pemberton, das scheint Sie nicht zufriedenzustellen?«

«Ich weiß nicht, Dr. Young, ich kann es nicht genau sagen. Es ist wie eine Vorahnung. Wahrscheinlich ist es vollkommen überflüssig, aber könnten wir uns nicht Ihr Buch einmal ansehen?«

Er zog die Brauen hoch.»Aber sicher, wenn Sie das möchten. Sie werden nur einen Moment Geduld haben müssen. Ich muß es erst heraussuchen — ah, da kommt Mrs. Finnegan mit dem Tee.«

Ich bemühte mich, die argwöhnische Haushälterin mit einem liebenswürdigen Lächeln zu gewinnen, aber sie blieb streng und unzugänglich. Nun ja. Ich würde mir von ihr diesen gemütlichen Nachmittag nicht verderben lassen.

Dr. Young schenkte mir galant den Tee ein, bot mir Biskuits an, plauderte mit mir, und ich lehnte mich in meinem Sessel zurück, genoß die Wärme des Feuers, die Freundlichkeit meines Gastgebers und vergaß für eine Weile sogar Thomas Willis’ Buch.

«Was sagten Sie da eigentlich vorhin von einer Testamentseröffnung, Miss Pemberton?«fragte Dr. Young interessiert.

«Ach, gestern abend kam Mr. Horton, der Anwalt der Familie, und teilte uns mit, daß mein Onkel kein Testament hinterlassen hat. Für diesen Fall hatte jedoch mein Großvater, Sir John, in seinem Testament eine Klausel eingesetzt, die das Erbe regelte. Sonst, sagte Mr. Horton, hätte die Angelegenheit vor Gericht geregelt werden müssen.«

«Ah, ich verstehe. Sir John hatte Vorsorge getroffen.«

«Ja, und Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Aufregung es daraufhin gab. Er hat nämlich alles Colin vermacht, und Theo bekommt gar nichts.«

«Wie bitte?«Dr. Young stellte seine Tasse nieder und starrte mich verblüfft an.»Sagten Sie, Colin hat geerbt? Er ist Alleinerbe?«

«Ja, Theo, als der älteste Enkel, hätte wahrscheinlich auch bedacht werden müssen, aber Sir John scheint Colin für den Geeigneteren gehalten zu haben. Oh, wenn Sie erlebt hätten, wie außer sich Theo war. «Ich sah den merkwürdigen Ausdruck auf seinem Gesicht und fragte:»Ist etwas, Dr. Young?«

«Ich finde es nur höchst überraschend. «Er nahm wieder seine Tasse und trank einen Schluck.»Unbegreiflich fast, wenn man bedenkt.«

«Wenn man was bedenkt, Doktor?«

«Wenn man bedenkt, daß Colin gar kein Pemberton ist.«

Ich war fassungslos.»Was?«

«Wußten Sie das nicht? Ihr Onkel Richard heiratete Colins Mutter, als dieser noch sehr klein war. Gerade zwei Jahre alt, glaube ich. Richard adoptierte den Jungen, er ist also von Rechts wegen ein Pemberton; der Geburt nach stammt er jedoch aus einer anderen Familie. Gott, wie war doch gleich der Name?«

«Woher wissen Sie das alles, Doktor?«

«Dr. Smythe war nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein Mann, der akribische Aufzeichnungen, machte. Mir liegen die Geschichten sämtlicher Familien im Umkreis von zwanzig Meilen vor, darunter auch alle Daten über die Pembertons. Wenn ich mich recht erinnerte, heiratete der Bruder Ihres Vaters im Jahr 1825 eine Witwe mit einem kleinen Sohn. Das war Colin. Einige Monate nach der Hochzeit wurde Dr. Smythe ins Haus gerufen, weil die junge Mrs. Pemberton sich unwohl fühlte. Es stellte sich heraus, daß sie ein Kind erwartete. Im selben Jahr wurde Martha geboren.«

Dr. Young berichtete weiter, aber ich hörte nicht mehr zu.»Miss Pemberton?«

Ich blickte verwirrt auf.»Oh, verzeihen Sie, Doktor, ich war ganz in Gedanken.«

Ja, tausend Gedanken waren mir durch den Kopf gegangen. Warum hatte Colin mir nie erzählt, daß er kein Pemberton war und deshalb nicht vom schrecklichen Erbe der Familie bedroht? Ich begriff jetzt, warum Theo so erbittert gewesen war, als er von Sir Johns Regelung des Erbes erfahren hatte. Und jetzt war mir auch klar, warum Colin keine Ähnlichkeit mit uns anderen hatte.

«Die Nachricht scheint Sie sehr getroffen zu haben, Miss Pemberton. Sie sind ganz blaß. Wieso nimmt Sie das so mit?«

Weil ich Colin liebe, hätte ich am liebsten geschrien, und weil die Tatsache, daß er mir nichts gesagt hat, einer Lüge gleichkommt.

«Es — es nimmt mich nicht mit, Dr. Young. Ich bin nur sehr überrascht. Ich dachte Colin sei mein Vetter, ein Blutsverwandter. Aber dem ist nicht so. Und er braucht den Tumor natürlich nicht zu fürchten.«

«Nein, das ist richtig. Wobei mir einfällt — «Dr. Young leerte seine Tasse und stand auf —»wollen wir uns jetzt einmal meine Ausgabe von Cadwalladers Buch ansehen?«

Mit seinem Gespür für andere hatte er gesehen, wie erschüttert ich war, und versuchte nun, mich abzulenken. Ich war ihm dankbar dafür. Ich brauchte Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Colin nicht einer von uns war.

Dr. Young blieb nicht lange weg. Jedenfalls schien es mir so. Ich riß mich aus meinen Gedanken, als er sich wieder zu mir setzte, diesmal neben mich, und das Buch auf den Tisch legte.

«So, schauen wir einmal. Das war Seite. «Er warf einen Blick in mein Buch und blätterte dann in seinem.»Da haben wir es schon. Ach nein, stimmt nicht. Falsche Seite.«

Aus dem Augenwinkel sah ich die weißen Seiten flattern, doch vor mir sah ich nur Colins Gesicht. Eigentlich hätte ich froh und glücklich sein müssen, daß er unser Schicksal nicht teilte.

«Augenblick mal«, hörte ich Dr. Young murmeln.»Was ist das denn? Die Seitenzahlen stimmen überein, aber der Text ist ein anderer.«

«Wie bitte?«Ich beugte mich über den Tisch.»Haben Sie in Ihrem Buch die gleichen Fehler?«

«Nein, es ist etwas anderes. Nehmen Sie Ihr Buch, Miss Pemberton, und lesen Sie mir vor, was vor der Passage über die Pemberton Krankheit steht.«»Gut. «Ich nahm das Buch zur Hand und las:»>Es gibt jedoch noch eine andere Fiberkrankheit, die in ihren Symptomen von der Pest abweicht; sie ist nämlich nicht seuchenartiger Natur — <«

«Gut. Das stimmt überein. Jetzt lesen Sie auf der nächsten Seite weiter.«

«Als dieses Fieber das erstemal auftrat, zeigte sich, daß es nicht zu heilen ist und unweigerlich zum Tode führt. Die Geschichte beweist — «

«Halt!«sagte Dr. Young und schob mir wortlos sein eigenes Buch hin. Es enthielt einen ganz anderen Text.»Das verstehe ich nicht.«

«Ich auch nicht. Würden Sie mir bitte einmal Ihr Buch geben, Miss Pemberton?«Dr. Young legte beide Bücher aufgeschlagen nebeneinander, um die Seiten zu vergleichen. Nur mein Buch enthielt die Passage über den Pemberton Tumor.

«Aber die Seitenzahlen stimmen doch überein«, sagte ich verwirrt.»Was ist da passiert? Ich verstehe das nicht.«

Dr. Young nahm mein Buch vom Tisch, drehte es um und sah sich genau an, wie es gebunden war. Plötzlich blickte er auf.»Da haben wir es!«

«Was denn?«

«Die Seite hier gehört gar nicht hinein. Sehen Sie? Man hat die Original sei te, die bei mir noch vorhanden ist, vorsichtig entfernt und durch eine andere ersetzt. Der Originaltext geht dann auf der nächsten Seite weiter.«

«Aber was soll das? Ich verstehe das nicht?«

«Jemand hat die Seiten in diesem Buch ausgetauscht, um die Behauptung der Pemberton Krankheit zu untermauern.«

«Ist das wahr?«rief ich.»Soll das heißen, daß es das Gehirnfieber gar nicht gibt? Daß der Tumor eine Erfindung ist?«

«Nun, Thomas Willis hat jedenfalls nie darüber geschrieben.«

«Dr. Young — «

«Schauen Sie, Miss Pemberton, wenn man genau hinsieht, erkennt man, daß diese Seite nachträglich eingeheftet wurde. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Und wenn wir uns das unter meinem Mikroskop anschauen, werden wir es noch genauer erkennen. Aber was mich vor allem an der Sache interessiert, ist die Frage, warum die Seiten ausgetauscht wurden.«

«Warum?«Meine Stimme klang gepreßt.

«Was würden Sie vermuten, Miss Pemberton? Denken Sie in die gleiche Richtung wie ich?«

Mein Blick wanderte zwischen den beiden Büchern hin und her. Jetzt, da ich wußte, worauf ich zu achten hatte, war offensichtlich, daß die Seite mit der Abhandlung über die Krankheit der Pembertons eine Fälschung war. Es war ebenso offensichtlich, daß sie mit großer Sorgfalt eingeheftet worden war, um als echt zu erscheinen. Aber warum die ganze Mühe?» Nein, Doktor, ich habe überhaupt keine Erklärung. Ich bin nur völlig durcheinander.«

«Ich muß zugeben, mir geht es ähnlich. Derjenige, der diese Seite ausgetauscht hat, war ein Künstler oder zumindest ein Mensch, der sehr aufs Detail achtete. Diese Abhandlung ist, abgesehen von dem Versehen, daß das mit dem Wort Fieber passiert ist, eine hervorragende Fälschung. Willis’ Stil ist beibehalten, der Druck ist identisch, selbst das Papier scheint das gleiche zu sein. Irgendwer wollte der Geschichte von der Erbkrankheit eine feste, unerschütterliche Grundlage geben und suchte sich als Mittel dazu Thomas Willis’ Buch aus. Mit anderen Worten, es scheint, daß die Pemberton Krankheit aus irgendeinem Grund von jemandem erfunden wurde, der dann keine Mühe scheute, Beweise dafür zu erdichten, die alle Welt überzeugen mußten.«

«Aber das ist doch unmöglich! Wenn Ihre Theorie zutrifft, und es gar keinen Tumor gibt, woran sind dann mein Vater, mein Großonkel und mein Großvater gestorben?«Ich hielt einen Moment inne und sah Dr. Young erschrocken an. Ich sah ihm an, daß er die gleichen Gedanken hatte wie ich.»Woran ist denn mein Onkel Henry gestorben?«

«Miss Pemberton«, sagte Dr. Young und legte mir leicht die Hand auf den Arm.»Gestatten Sie mir, daß ich Sie ein Weilchen allein lasse. Ich möchte in meinem Laboratorium eine Untersuchung vornehmen. Ist Ihnen das recht?«

«Ja, natürlich, aber — «

«Ich werde Ihnen nachher alles erklären, falls sich als wahr herausstellen sollte, was ich vermute. Sollte ich mich geirrt haben, so werden Sie weiterhin an die Existenz des Tumors glauben müssen. Sind Sie damit einverstanden? Ich bleibe nicht lange weg, und Sie können jederzeit Mrs. Finnegan läuten, wenn Sie etwas brauchen.«

«Ja.«

Stocksteif saß ich da und sah ihm nach, als er hinausging. Ich mußte ihm jetzt vertrauen. Ganz gleich, was er jetzt dort unten in seinem geheimnisvollen Laboratorium tat, ganz gleich, welche Antwort er mir zurückbringen würde, ich würde sie bedingungslos annehmen dürfen.

Der Regen war stärker geworden, und das Feuer mußte in der folgenden Stunde mehrmals von Mrs. Finnegan geschürt werden, aber mir wurde die Zeit nicht lang. Ich war in Gedanken bei Colin, den ich liebte, trotz seiner Launen und seiner unberechenbaren Stimmungen. Ich liebte ihn immer noch, obwohl er mir nicht die Wahrheit über sich gesagt hatte. Er mußte einen guten Grund dafür gehabt haben, sonst. Als Dr. Young zur Tür hereinkam, fuhr ich zusammen und bekam beinahe einen Schrecken bei seinem Anblick. Das war nicht mehr der elegante alte Herr, der mich empfangen und bewirtet hatte. Er hatte den grauen Gehrock abgelegt und stand in Hemdsärmeln, wie ein Arbeiter, vor mir. Und auf seiner Weste waren zu allem Überfluß auch noch undefinierbare Flecken. Aber noch mehr als sein Aussehen erschreckte mich der Ausdruck seines Gesichts. Es verriet unverkennbar tiefes Entsetzen.

Ich sprang auf.

«Miss Pemberton«, begann er stockend.»Bitte setzen Sie sich.«

«Was ist denn?«

«Bitte, ich — «Er kam durch das Zimmer auf mich zu und nahm meine Hände.»Miss Pemberton, bitte setzen Sie sich. «Wir setzten uns beide auf das Sofa. Er ließ meine Hände nicht los.»Wie Sie wissen«, begann er,»habe ich mich hierher aufs Land zurückgezogen, um in Ruhe meiner Forschungsarbeit nachgehen zu können. Ich kann mir vorstellen, daß Sie über wissenschaftliche Forschung nicht viel wissen, lassen Sie mich darum nur sagen, daß man zu solcher Arbeit ein Laboratorium, gute Geräte, bestimmte Chemikalien und gewisse — andere Substanzen braucht. Bei meiner Forschungsarbeit brauche ich insbesondere menschliches Blut, um die notwendigen Untersuchungen und Versuche durchführen zu können. Mit meinen Chemikalien — ach, es ist ein kompliziertes Verfahren, Miss Pemberton, bei dem ich mit dem Blut gesunder und dem Blut kranker Personen experimentiere, weil ich hoffe, auf diesem Weg der Ursache und dem Wesen bestimmter Leiden auf die Spur zu kommen. Denn erst wenn diese mir bekannt sind, kann ich vielleicht ein Heilmittel entwickeln. Es ist nicht einfach, die für meine Untersuchungen nötigen Blutproben zu bekommen. Im Rahmen des neuen Post Mortem-Gesetzes kann ich mir zwar aus den Londoner Krankenhäusern Blut liefern lassen, aber es kommt in der Regel in schlechtem Zustand hier an. Darum bemühe ich mich, auch hier an Ort und Stelle Blutproben zu bekommen, von den Spinnereiarbeitern zum Beispiel, die ich wegen eines Unfalls oder einer Krankheit behandle. Nach dem Tod Ihres Onkels, Miss Pemberton, erlaubte ich mir, Ihre Tante zu fragen, ob ich eine Blutentnahme vornehmen dürfte, und sie war so liebenswürdig, es mir zu gestatten. Ich hatte also in meinem Laboratorium in einem mit Äther gekühlten Behälter eine Phiole mit Blut Ihres Onkels. «Er hielt einen Moment inne.

«Bitte fahren Sie fort, Dr. Young«, sagte ich ruhig.»Ich falle nicht in Ohnmacht.«

«Gut. Als wir vorhin miteinander sprachen, stellten Sie eine durchaus berechtigte Frage. Woran ist Ihr Onkel gestorben? Dabei kam mir der Gedanke, daß ich das bei mir vorrätige Blut untersuchen könnte. «Ich drückte mir die Hand auf die feuchte Stirn.»Bitte, Dr. Young, sagen Sie mir doch, was Sie gefunden haben.«

«Ihr Onkel, Miss Pemberton, ist nicht an einem Gehirntumor gestorben.«

Ich sah den Mann, der immer noch fest meine Hände hielt, ungläubig an. Das Zimmer schien mir zu schwanken, und mir wurde plötzlich unerträglich heiß.

«Er ist nicht an einem Gehirntumor gestorben?«wiederholte ich benommen.»Onkel Henry ist nicht an einem Gehirntumor gestorben? Aber — aber wissen Sie dann, Doktor, woran er wirklich gestorben ist?«

«Ja. Und es gibt keinen Zweifel an meinem Befund. Erinnern Sie sich unseres Gesprächs in Ihrem Zimmer, als wir über die Symptome Ihres Onkels sprachen? Ich sagte Ihnen damals, daß sie völlig atypisch seien. Jetzt weiß ich, warum das so war. Kopfschmerzen, Übelkeit, Leib schmerzen, Delirium und Schüttelkrämpfe gehören zum Krankheitsbild eines Leidens, das von völlig anderer Art ist als ein Gehirntumor. Und hätte ich in meiner Praxis mehr Umgang damit gehabt, so hätte ich es viel eher erkannt. Ich habe zu bereitwillig die Diagnose des Gehirntumors akzeptiert.«

«Bitte sagen Sie mir, Doktor, was Sie entdeckt haben.«

«Miss Pemberton, das Blut Ihres Onkels enthielt eine hohe Menge Digitalis. Extrakt des Fingerhuts. Da ich selten mit Patienten zu tun hatte, die an Herzkrankheiten litten, bin ich den Symptomen, die für eine Digitalisvergiftung so typisch sind, auch selten begegnet. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, die Kopfschmerzen, die Übelkeit — «

«Dr. Young! Warum hat mein Onkel dieses Medikament genommen?«

Einen Moment lang sah Dr. Young mich schweigend an, dann antwortete er ernst:»Die Mengen Digitalis, die Ihr Onkel im Blut hatte, dienten nicht der Behandlung eines Herzleidens. Man hat ihm das Mittel gegeben, um ihn zu vergiften. «Mir wurde eiskalt.»Man hat ihn vergiftet?«

«Ja. Die Medizin wurde ihm in zunächst kleinen Mengen eingegeben, die langsam gesteigert wurden, und er versuchte, sich mit Laudanum von den Symptomen zu befreien. Es ist schwer zu sagen, was ihn letzten Endes tötete — das Digitalis oder das Morphium. Sein Blut enthielt große Mengen von beidem.«

«Und Sie sagen, es wurde ihm eingegeben?«

«Er hat es zweifelsohne nicht selbst genommen. Digitalis ist ein Herzmittel, und Ihr Onkel hatte am Herzen keinerlei Beschwerden. Das hätte er mir sonst gewiß gesagt, als ich ihn das erstemal untersuchte. Im übrigen enthalten auch Dr. Smythes Aufzeichnungen keinen Hinweis auf ein Herzleiden Ihres Onkels.«

«Sie glauben also, daß mein Onkel ermordet wurde.«

«Ja, Miss Pemberton, das glaube ich.«

Fassungslos sank ich in mich zusammen. Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Erst die Sache mit Colin, dann das Buch, dann Henry. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen.»Wir müssen zur Polizei gehen, Miss Pemberton.«

«Zur Polizei?«

«Ich werde Ihnen beistehen. Wir haben unumstößliche Beweise, daß Ihr Onkel ermordet wurde — «

«Nein!«sagte ich hastig.»Was könnte denn die Polizei schon tun? Soll sie vielleicht die ganze Familie verhaften? Man würde lediglich einen nach dem anderen verhören, und dann alle wieder gehen lassen. Und dann wären wir beide in Gefahr, Dr. Young, Sie und ich. «Noch während ich sprach, kam mir ein neuer Gedanke.»Dr. Young, Sie sagten neulich bei unserem Gespräch, daß Dr. Smythes Aufzeichnungen zufolge, mein Vater und mein Großvater auf die gleiche Weise erkrankten wie mein Onkel.«

«Ja, das ist richtig.«

«Dann müssen sie auch ermordet worden sein. «Ich richtete mich kerzengerade auf.»Dann hatte ich also die ganze Zeit recht. Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen. Mein Vater wurde tatsächlich ermordet.«

«Ich kann das nicht beurteilen, Miss Pemberton. Ich kann nur zum Tod Ihres Onkels aussagen. Die anderen — das liegt in der Vergangenheit. Dahin können wir nicht mehr zurückkehren.«

Ich kniff die Augen zusammen.»O doch, das können wir!«erklärte ich beinahe triumphierend. Es gab einen Weg, in die Vergangenheit zurückzukehren und zu sehen, was damals wirklich geschehen war. Der Weg führte über die Erinnerungen eines kleinen Mädchens namens Leyla Pemberton.

«Meiner Ansicht nach gehen Sie mit dieser Geschichte nicht richtig um, Miss Pemberton. Wenn Sie jemanden aus Ihrer

Familie des Mordes verdächtigen, sollten Sie sich an die Polizei wenden. Sie dürfen diese Sache nicht selbst in die Hand nehmen. Das ist zu gefährlich. Miss Pemberton, bitte, gehen Sie zur Polizei. Ich müßte sonst bedauern, Sie eingeweiht zu haben.«

«Ich wäre der Wahrheit früher oder später sowieso auf die Spur gekommen, Dr. Young. Wenn nicht durch Ihren klaren Beweis durch das Blut, dann doch aufgrund von Mutmaßungen über die gefälschte Buchseite. Die Tatsache, daß der Tumor Erfindung ist, führt doch zwangsläufig zu der Frage, woran mein Onkel denn wirklich gestorben ist. Und ob nicht die Person, die die gefälschte Seite einfügte, den Tod meines Onkels wünschte oder gar herbeiführte. Ungewiß ist nur, wer es tat und warum. Die gefälschte Seite muß vor langer Zeit gedruckt worden sein, vielleicht schon vor dem Tod meines Vaters. Ich verstehe das nicht. Derjenige, der ihn und meinen Großvater getötet hat, muß auch Onkel Henry getötet haben. Das geht aus der Todesart klar hervor. Hat die Polizei dafür nicht ein bestimmtes Wort?«

«Modus operandi«, antwortete Dr. Young und schüttelte resignierend den Kopf.

«Ich muß nachdenken. Ich bin völlig durcheinander. Wer, um alles in der Welt, kann Onkel Henrys Tod gewünscht haben? Und warum? Zu welchem Gewinn? Ganz gewiß nicht Anna und Martha. Sie haben durch seinen Tod nichts gewonnen. Es heißt immer, Gift wäre die Waffe der Frau. Wenn das stimmt, wer von den Frauen in unserer Familie hatte dann einen Grund, Onkel Henry zu töten? Etwa seine eigene Mutter, meine Großmutter? Oder könnte es eines der Mädchen gewesen sein, das einen Groll gegen ihn hegte? Oder Theo und Colin? Was hatten sie zu gewinnen — «

Das Wort blieb mir im Hals stecken, und Dr. Young hob mit einem Ruck den Kopf.

«Colin!«rief er.»Der hatte in der Tat etwas zu gewinnen und nichts zu verlieren.«

«Dr. Young!«

«Etwa nicht? Das gesamte Vermögen der Pembertons. Die Fabriken und das Haus.«

«Nein! Nein!«rief ich.»Das glaube ich nicht. Niemals. «Er versuchte, mich zu beruhigen, indem er wieder meine Hände umfaßte.»Ich habe den Eindruck, Miss Pemberton, daß Sie für Colin mehr empfinden als verwandtschaftliche Neigung. Aber diese Gefühle dürfen Ihren klaren Blick und Ihr Urteil nicht trüben. Sie mögen ihn lieben, aber das heißt nicht, daß er des Mordes nicht fähig ist. Haben Sie mich verstanden, Miss Pemberton?«

«Aber es wußte doch niemand, daß es kein Testament von Henry gab«, sagte ich leise.»Theo war sogar sicher, daß sein Vater eines gemacht hatte. Alle glaubten das. Und da Theo ganz bestimmt ein großes Erbe erwartete, könnte man ebensogut annehmen, daß er den Mord begangen hat. Wenn Sie hätten sehen können, wie außer sich er gestern abend war, als er erfuhr, daß er nichts bekommen würde! Und Colin behauptet, von Sir Johns Testament keine Ahnung gehabt zu haben!«

Ich sah Dr. Young beschwörend an. Nein, ich wollte es nicht einmal denken. Colin war unschuldig. Ganz bestimmt. Am vergangenen Abend hatte er immer wieder erklärt, nichts davon gewußt zu haben, daß Henry kein Testament gemacht und Sir John verfügt hatte, daß er zum Alleinerben eingesetzt werden sollte.

«Außerdem«, sagte ich mit festerer Stimme,»glaube ich, daß alle drei Morde von derselben Person begangen wurden: Mein Vater, Sir John und mein Onkel Henry. Und wenn das zutrifft, kann es Colin gar nicht gewesen sein. Er war zu der Zeit, als mein Vater ums Leben kam, gerade vierzehn.«

Dr. Young schwieg nachdenklich. Dann sagte er zu meiner Erleichterung:»Da haben Sie recht. Das spricht gegen Colins Schuld. Wenn er die Wahrheit sagt und wirklich nicht wußte, daß Ihr Onkel kein Testament gemacht hatte, dann ist der Verdacht, daß Theodore der Schuldige ist, in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Er war damals, als Ihr Vater starb, immerhin achtzehn Jahre alt, rein körperlich des Mordes durchaus fähig.«

Ich fühlte mich schwach und elend. Wie schrecklich war das alles! Hier saß ich in diesem behaglichen Wohnzimmer, meine Röcke über dem weichen Sofa ausgebreitet, vor mir Tee und feine Biskuits und versuchte, mir vorzustellen, wer von meinen Verwandten ein Mörder war. Dr. Young, der wohl spürte, was in mir vorging, sagte:»Hätte ich gewußt, was für Enthüllungen dieser Nachmittag bringen würde, ich hätte Ihnen Brandy statt Tee angeboten.«

Ich lächelte, dankbar für sein Verständnis und dankbar dafür, daß er da war. Hätte ich all diese Entdeckungen allein gemacht, so wären sie noch viel schwerer zu ertragen gewesen.»Was haben Sie jetzt vor, Miss Pemberton?«

«Das weiß ich selbst noch nicht. Ich muß auf jeden Fall sehr vorsichtig sein und mir alles gründlich überlegen. Ich bin überzeugt, daß einer meiner Verwandten ein Mörder ist, und ich bin fest entschlossen herauszufinden, wer.«

Nun stand ich wieder ganz am Anfang. Die vergangene Woche war ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Es war wieder wie am dritten Abend nach meiner Ankunft auf Pemberton Hurst, als ich am großen Tisch im Speisezimmer stand und erregt rief:»Ich glaube, daß der Pemberton-Fluch eine Erfindung ist, ein Schauermärchen, das jemand sich ausgedacht hat, um meinem Vater die Schuld zuzuschieben und den wahren Mörder zu decken!«

Der Beweis aus Thomas Willis’ Buch hatte jetzt keine Bedeutung mehr, da er nun als Lüge enttarnt worden war. Die alte Entschlossenheit erwachte wieder in mir. Die alte Wut und die alte Bitterkeit kehrten dahin zurück, wo eben noch Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ergebenheit in die Macht des Schicksals gewesen waren.

Und noch etwas regte sich in mir; etwas Neues, das vorher nicht dagewesen war. Es war Zorn, rasender Zorn darüber, daß durch einen gemeinen Betrug alle Freude und alles Glück aus diesem Haus vertrieben worden waren. Diese eine Seite in Cadwalladers Buch hatte einer ganzen Familie die Hoffnung und die Zukunft genommen. Diese niederträchtige Fälschung hatte Colin, Martha und Theo dazu getrieben, ein einsames Leben zu führen, ein Leben ohne Liebe, ohne Kinder und ohne Zukunft. Sie hatte meine Familie aller Kraft beraubt.

Darum war ich um so fester entschlossen, das Geheimnis von Pemberton Hurst zu lüften.

«Miss Pemberton, draußen ist es schon dunkel geworden«, hörte ich Dr. Youngs gedämpfte Stimme.

«Mir geht so viel durch den Kopf, Dr. Young. Ich muß das alles erst einmal ordnen. «Meine Gedanken überschlugen sich: Tante Sylvias Brief, Theos Ring, die Vernichtung meines Briefes an Edward. Edward, an den ich seit Tagen nicht mehr gedacht hatte. Die alten Fragen stürzten wieder auf mich ein. Wer hatte den Ring gestohlen und warum? War er gestohlen worden, weil er mit den Vorkommnissen im Wäldchen zu tun hatte? Und was war wirklich im Wäldchen geschehen? Wie sollte ich es schaffen, mir ins Gedächtnis zu rufen, was sich an jenem Tag vor zwanzig Jahren dort abgespielt hatte? Wer hatte meinen Brief an Edward verbrannt? Wer hatte meiner Mutter unter dem Namen Tante Sylvias geschrieben?

Ich spürte die Berührung einer Hand auf meinem Arm. Ich hörte eine freundliche Stimme, die behutsam auf mich einsprach, aber ich achtete nicht auf ihre Worte.

Ich zitterte innerlich vor Zorn. Dieser Mörder hatte nicht nur drei Menschen umgebracht, er hatte auch den Lebensmut der Pembertons getötet. Arme Martha! Armer Colin, zornig und bitter. Arme Großmutter, die schon vor ihrem Tod wie in einer Gruft lebte. Und arme Mutter, die in dem Elendsviertel von Seven Dials ein Leben in Armut gefristet hatte, weil sie geglaubt hatte, ihre Tochter sei das Opfer einer bösartigen, heimtückischen Krankheit. Soviel Elend und soviel Unglück durch einen einzigen verbrecherischen Menschen, der sich die Geschichte von der Erbkrankheit der Pembertons ausgedacht hatte.

Die leise Stimme drängte von neuem. Der Sturm des Zorns legte sich, und ich sah endlicher. Young ins Gesicht.»Verzeihen Sie«, sagte ich leise.

«Sie machen ein so seltsames Gesicht, Miss Pemberton. Sagen Sie mir doch, warum Sie das alles auf sich nehmen wollen.«

«Weil ich in gewisser Weise die Verantwortung trage. Ich bin eine Außenstehende; ich habe nicht jahrelang in klösterlicher Zurückgezogenheit gelebt wie die anderen. Ich allein kann die Ereignisse mit objektivem Blick sehen und der Wahrheit auf den Grund gehen. Die anderen werden es nicht tun.«

Er musterte mich aufmerksam, und ich wurde rot unter seinem forschenden Blick.

Ich wandte mich von ihm ab. Ich wollte mich in diesem Moment nicht durchschaut wissen. In mir tobte ein Aufruhr der Gefühle: Liebe zu Colin, Trauer und Schmerz um die Toten, Trotz und Erbitterung gegen den unbekannten Feind und, vor allem — Zorn.»Darf ich Sie jetzt nach Hause bringen?«fragte Dr. Young. Obwohl er mich schon zuvor daran erinnert hatte, wie spät es war, überraschte es mich jetzt, wie lange ich hier gewesen war. Hastig stand ich auf.

«Danke«, sagte ich,»das ist sehr freundlich von Ihnen. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie von Ihrer Arbeit abgehalten habe. Ich hatte nicht vor, Sie so lange zu belästigen.«

«Aber nein, ich habe mich über Ihren Besuch gefreut und ich bin froh, daß ich Ihnen eine kleine Hilfe sein konnte. «Er meinte es ehrlich, das fühlte ich.

«Danke, Doktor«, sagte ich.»Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«

«Eines muß ich Ihnen allerdings noch sagen, Miss Pemberton, ehe Sie gehen. Es ist meine Pflicht als Arzt, meinen Befund der Polizei mitzuteilen. Nein, warten Sie«, sagte er, als ich ihn unterbrechen wollte.»Lassen Sie mich ausreden. Ich muß die Polizei unterrichten, das wissen Sie. Aber aus Rücksicht auf Sie und das, was Sie tun müssen, werde ich warten, solange es mir mein Gewissen erlaubt, ehe ich Meldung mache. In der Zwischenzeit haben Sie mein volles Vertrauen.«

Mrs. Finnegan betrachtete mich immer noch mit Mißbilligung, als Dr. Young mir in mein Cape half, aber es war mir völlig gleichgültig. So vieles war mir gleichgültig geworden. London und Edward gehörten einer Vergangenheit an, die so fern schien wie ein Traum. Nur Colin bedeutete mir etwas in diesem Moment. Colin und meine Familie. Nie werde ich den Geruch feuchten Leders vergessen, der mich empfing, als ich in den Wagen stieg, niemals das Geräusch des Regens, der an die Wände des Wagens prasselte. Der Hufschlag des Pferdes klang dumpf auf den durchweichten Wegen, manchmal knirschten die Räder, wenn sie über einen Stein rollten. Während der Wagen schwankend dahinfuhr, starrte ich auf den nickenden Kopf des Pferdes und die lange Mähne, die am Hals des Tieres klebte. Die Zweige regenschwerer Tannen streiften den Wagen, als wir vorüberfuhren. Regen sprühte hinein, benetzte mein Gesicht und befeuchtete die Decke über meinen Knien. Ich sprach kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Dr. Young, der die Zügel hielt, verstand es und ließ mich schweigen.

An der Stelle, wo die Auffahrt zum Haus von der Straße abzweigte, bat ich Dr. Young anzuhalten.

«Von hier ist es nur noch ein kurzes Stück, und ich möchte die Familie in dem Glauben lassen, daß ich nur spazieren war.«

«Gut, wenn Sie meinen«, sagte er widerstrebend.»Aber versprechen Sie mir eines, Miss Pemberton: Wenn Sie zu einer Entscheidung gelangt sind, dann lassen Sie es mich wissen, ehe Sie handeln. «Ich mußte ein wenig lächeln über seine Besorgnis.»Das verspreche ich Ihnen gern. Aber es ist sicher, daß ich etwas tun muß. Und bald. Wir wissen ja nicht, ob der Mörder nicht schon wieder ein neues Opfer gefunden hat. Drei Menschen sind tot. Vielleicht trifft es bald den nächsten.«

Dr. Young war erschrocken. Dieser Gedanke war ihm offenbar noch nicht gekommen.»Miss Pemberton«, sagte er eindringlich,»seien Sie vorsichtig. Bitte, seien Sie vorsichtig.«

«Aber gewiß, Doktor. Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe heute nachmittag.«

Dr. Young stieg aus und half mir aus dem Wagen. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, eilte ich mit gerafften Röcken die Auffahrt hinauf, während der Wagen davonfuhr.

Jetzt, da ich allein war, konnte ich beginnen, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Colin hatte natürlich Vorrang, würde ihn immer haben. Ja, ich mußte zugeben, daß Colin der einzige war, der durch Henrys Tod gewonnen hatte. Aber das besagte noch lange nicht, daß er selbst das vorher gewußt hatte. Es war möglich, daß Colin genau wie Theodore geglaubt hatte, Henry hätte ein Testament hinterlassen. Wenn dem so war, folgte daraus, daß nicht derjenige, der tatsächlich durch

Henrys Tod gewonnen hatte, der Schuldige war, sondern viel eher derjenige, der erwartet hatte, aus dem Tod Nutzen zu ziehen.

Diese Überlegung erschien mir überzeugend. Aber als ich mich dem Haus näherte, und seine Türme über den Baumkronen auftauchten, fielen mir mein Vater und Sir John ein. Diese beiden Todesfälle paßten nicht zu meiner Vermutung. Es war zwar möglich, daß Theo geglaubt hatte, durch den Tod seines Vaters ein Vermögen zu gewinnen; was aber sollte er sich davon erhofft haben, meinen Vater und Sir John zu ermorden? Außerdem war er zu der Zeit, als Sir John sich vom Ostturm gestürzt hatte, mit seiner Familie in Manchester gewesen.

Es ergab keinen Sinn. Für jeden einzelnen Mord konnte ich einen Grund finden; ein gemeinsamer war nicht zu erkennen. Und doch waren alle Morde auf die gleiche Weise verübt worden.

Mit dieser äußerst schwierigen Frage beschäftigte ich mich, als ich naß und frierend die Treppe zum Haus hinauflief.

Martha riß überraschend die Haustür auf, noch ehe ich sie erreicht hatte.

«Leyla!«rief sie atemlos.»Wo bist du so lange gewesen? Niemand wußte, daß du ausgegangen bist. Die anderen sind seit Stunden zu Hause, und wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.«

«Ich war spazieren«, erklärte ich kurz.

«Großmutter ist wütend. Wirklich, ich habe sie noch nie so wütend erlebt. Sie wartet seit einer Ewigkeit auf dich — «

«Warum denn? Was soll ich denn jetzt wieder getan haben?«

«Komm erst einmal herein. Nein, nein, du kannst jetzt nicht nach oben gehen. Sie ist im Salon. Mit allen anderen.«

«Aber ich bin ganz durchnäßt.«

«Das kommt davon, wenn man im Regen spazierengeht«, versetzte sie mit einer Schärfe, die mir bei ihr fremd war.»Los, komm jetzt, sonst fällst du noch tiefer in Ungnade.«

Nicht bereit, mich einschüchtern zu lassen, ließ ich Martha davoneilen, während ich ohne Hast Handschuhe, Hut und Umhang ablegte. Willis’ Buch steckte ich in die tiefe Tasche meines Umhangs, ehe ich, mit gleichgültiger Miene, in den Salon ging.

Das Bild war das übliche: Großmutter, unbeugsam und hoheitsvoll im Lehnstuhl, Anna und Martha vor ihr sitzend, zwischen ihnen stehend Theo. Colin war nicht zugegen.

Ich setzte mich nicht. Die Stimmung im Raum war düster, geprägt von der Strenge meiner Großmutter, von ihrer Kälte und ihrer Abneigung gegen Fröhlichkeit und Geselligkeit. Diese harte, versteinerte Frau beherrschte dieses Haus und ihre Familie wie eine Tyrannin.»Wo bist du gewesen?«fragte sie scharf, und ihre Blicke schienen mich durchbohren zu wollen.

«Ich habe einen Spaziergang gemacht, Großmutter.«

«An einem Tag der Trauer? Nennst du das Achtung vor den Toten?«

«Wir trauern jeder auf seine eigene Weise, Großmutter.«

«Komme mir nicht ungezogen. Ich bin nicht in Stimmung, mir deine Unverschämtheiten gefallen zu lassen. Ich bin äußerst verärgert über etwas, das heute geschehen ist. «Sie preßte die Lippen so fest aufeinander, daß alles Blut aus ihnen wich und sie nur noch zwei harte weiße Linien waren.»Wir haben einen Dieb im Haus!«rief sie mit schriller Stimme.»Und ich dulde keine Diebe unter meinem Dach. «Ich hätte beinahe lachen müssen, weil ich an den Mörder unter diesem Dach denken mußte, aber ich nahm mich zusammen und blieb ernst. Ich war nicht erpicht darauf, mir den Zorn dieser Frau zuzuziehen.»Soll ich wieder einmal die Schuldige sein?«fragte ich kühl.»Ich beschuldige niemals. Das tun nur

Schwächlinge. Aber ich verlange, daß das aufhört. Ich werde dafür sorgen, daß der Dieb gefaßt wird und seine Strafe bekommt. Der Diebstahl ereignete sich heute morgen, während ein Teil der Familie bei der Beerdigung war. Meine Schwiegertochter entdeckte ihn bei ihrer Rückkehr. Man stahl ihr eine wertvolle Kette und eine Brosche aus ihrem Zimmer, während sie ihrem toten Mann die letzte Ehre erwies.«

Ich sah zu Anna hinüber, die mit weißem, angespanntem Gesicht in ihrem Sessel saß. Sie wirkte überreizt und äußerst nervös.»Woher weißt du, daß die Sachen heute morgen gestohlen wurden?«fragte ich.

Meine Großmutter runzelte unwillig die Stirn. Es paßte ihr nicht, daß ich an ihren Worten zweifelte.

«Anna sagte, ehe sie ging, seien sie noch dagewesen. Von dir, meine Liebe, möchte ich wissen, wo du heute nachmittag spazierengegangen bist.«

Ich erwiderte, ohne mich einschüchtern zu lassen, ihren herrischen Blick. Ich würde mich dieser starrköpfigen alten Frau nicht unterwerfen. Ich wurde der Notwendigkeit, meiner Großmutter zu antworten, durch Colins Erscheinen enthoben.

«Ah, eine Familienversammlung«, sagte er von der Tür her. Ich drehte mich um. Mein Herz machte einen Sprung — es war ein ganz neues Gefühl für mich, das ich verwirrend und angenehm zugleich fand. Sein Blick glitt flüchtig über die anderen hinweg und blieb schließlich an mir hängen. Ein feines Lächeln, kaum merklich, flog über sein Gesicht, als unsere Blicke sich trafen, und ich hatte den Eindruck — ich betete förmlich darum, daß er stimmte! — , daß Colin das gleiche freudige Erschrecken verspürte wie ich.

Die Miene meiner Großmutter blieb unbewegt, aber ihre Haltung änderte sich auf kaum merkliche Art und damit die Atmosphäre im Raum: Sie wurde freundlicher, wärmer. Das konnte ich nun überhaupt nicht verstehen: Colin war kein

Pemberton und doch schien er der Grund für diese Änderung zu sein.

Mit großen Schritten durchmaß er das Zimmer und war an meiner Seite. Er gab sich lässig, nonchalant, als hätte er nicht die geringste Sorge der Welt.

«Tante Anna hat also ihre Lieblingskette verloren?«

«Nicht verloren«, korrigierte meine Großmutter grimmig.»Sie wurde ihr gestohlen, Colin. Eine niederträchtige Person schlich sich heute morgen in ihrer Abwesenheit in ihr Zimmer. Um die Zeit waren nur zwei Personen im Haus: Leyla und Martha.«

«Und du selbst, Großmutter. «Ihre Augen funkelten.»Richtig. Und ich selbst.«

«Und die Hausangestellten.«

«Die habe ich gefragt — «

«Du solltest vielleicht auch ihre Zimmer durchsuchen.«

«Deine Angriffslust gefällt mir nicht, Colin. «Die Stimme meiner Großmutter wurde keine Nuance lauter, aber ihre Erregung war deutlich zu spüren.»Wie ich diese Untersuchung durchführe, ist meine Sache. Ich habe im übrigen bereits Leylas Zimmer durchsucht.«

«Wie konntest du das wagen!«rief ich zornig und trat einen Schritt auf sie zu. Ich hätte wahrscheinlich einen Streit mit ihr begonnen, wenn nicht plötzlich Colin meine Hand gefaßt hätte. Obwohl er mich nicht ansah, sondern den Blick lächelnd auf Großmutter gerichtet hielt, spürte ich seine Besorgnis um mich.

«Ich habe dir schon vor Tagen gesagt, meine Liebe, daß du dieses Haus verlassen und niemals zurückkehren sollst«, fuhr meine Großmutter mich an.»Aber du bist ja so störrisch wie ein Esel. Dann trage jetzt auch die Konsequenzen. In diesem Haus hat niemand ein Recht auf einen eigenen Bereich, wenn es um das Wohl der Familie geht. Der Wert des Schmucks ist nicht von Belang. Hier geht es um das Prinzip.«

«Sind wir nicht vielleicht alle wegen des Todes von Henry ein wenig überreizt?«meinte Colin.

«Verdammt noch mal, Colin!«schrie Theo ihn so wütend an, daß ich zusammenfuhr.»Was kümmert dich denn der Tod meines Vaters?«Colin blieb ruhig.»Das ist jetzt unwesentlich, Theo. Im Augenblick geht es darum, daß ihr alle hier über Leyla zu Gericht sitzt. «Er drückte meine Hand.»Richter, Geschworene und Henker in einem, ihr alle zusammen. Ich finde das weder gerecht noch englisch.«

«Was du findest, ist mir verdammt noch mal völlig egal — «

«Darf ich dich daran erinnern, daß Damen anwesend sind?«

«Seit wann nimmst du Rücksicht auf den guten Ton?«

«Also, wirklich, Theo — «

«Halt’ endlich den Mund«, schrie Theo.»Ich habe genug von deinem Geschwafel. Und eines sage ich dir: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Es erstaunte mich, daß Colin es fertigbrachte, während dieser Haßtirade vollkommen unerschüttert zu bleiben. Ich hatte erwartet, daß er die Beherrschung verlieren und seinerseits wütend werden würde. Aber nichts dergleichen geschah. Es war beinahe so, als lege er es darauf an, Theo zu reizen, als beherrsche er ihn und hielt dabei selbst alle Fäden in der Hand.

«Ich habe dir«, sagte er ruhig,»die Hälfte des Erbes angeboten.«

«Auf dein Angebot kann ich verzichten.«

«Und die alleinige Leitung der Spinnereien.«

«Du beleidigst mich, Colin. «Theos Augen blitzten vor Zorn, seine Hände waren zu Fäusten geballt.»Ich will keine Almosen. Das, was ich am Ende haben werde, werde ich auf dem Rechtsweg bekommen haben.«

Erst jetzt sah ich zu Colin auf. Er wirkte ganz ruhig, beinahe uninteressiert. War sein Angebot, Theo die Hälfte des Erbes zu überlassen, ernstgemeint?

«Ich bin gern bereit, dir das zu unterschreiben, wenn du das wünschst«, fuhr Colin fort.»Du kannst das alleinige Eigentum an den Spinnereien haben.«

«Ich traue dir nicht und ebensowenig irgendwelchen Dokumenten, die du dir von deinem Anwalt aufsetzen läßt. Ich werde nach London vor Gericht gehen und die Sache dort ausfechten.«

«Theo, das ist wirklich überflüssig — «

«Gebt jetzt endlich Ruhe! Alle beide!«sagte meine Großmutter schneidend. Die knochigen Hände zitterten, als sie die Armlehnen ihres Sessels umklammerte.»Ich dulde keinen Streit in der Familie. Und ich dulde auch nicht, daß die Wünsche meines verstorbenen Mannes mißachtet werden. Er war bei klarem Verstand, als er sein Testament machte. Er muß gute Gründe gehabt haben, das gesamte Vermögen Colin zu hinterlassen. Ich verbiete dieses erbärmliche Gezänk. Ihr entwürdigt damit den Namen der Familie und euch selbst. Ich verbiete jede weitere Debatte über dieses Thema. Und jetzt geht alle miteinander. Ihr habt mich müde gemacht. Ich bin eurer todmüde.«

Theo stand unbewegt mit finsterer Miene, während sich Colin nach mir umdrehte und leise sagte:»Kann ich dich nach oben begleiten?«

«Ja«, antwortete ich ebenso leise.

Erst als wir die Treppe hinaufgingen, entzog ich ihm meine Hand, um meine Röcke zu raffen. Wir gingen schweigend nebeneinander her, und ich genoß es, seine Nähe zu spüren, seine Wärme und seine Entspanntheit. So ganz anders war dieser Mann, der da mit leichtem Schritt und unbekümmert schwingenden Armen an meiner Seite ging, als der steife

Edward, den ich, wie mir schien, vor Ewigkeiten einmal gekannt hatte. Am Ende der Treppe blieb Colin stehen und faßte mich sanft am Arm.»Eine Gemeinheit«, sagte er,»dich des Diebstahls zu beschuldigen. «Ich senkte nur schweigend den Kopf. Sein leidenschaftlicher Ton hatte mich tief berührt. Doch die Anschuldigungen meiner Großmutter ließen mich im Grund kalt; sie waren nichts im Vergleich zu dem, was ich während meines Besuchs bei Dr. Young erfahren hatte. Ich hob den Blick und sah Colin an, erstaunt und beglückt über die prickelnde Aufregung, die ich in seiner Gegenwart verspürte. Sein Haar war zerzaust wie fast immer, sein Halstuch saß schief, aber gerade darum liebte ich ihn. Ich liebte ihn um seiner menschlichen Schwächen und seiner Fehlbarkeit willen. Und ich fragte mich, was für Gefühle er mir entgegenbrachte.

«Heute abend ißt jeder hier im Haus für sich, Leyla. Ich sage Gertrude, daß sie dir etwas Gutes hinaufschicken soll.«

«Danke dir.«

Er sah mich noch einen Moment an, schien etwas sagen zu wollen, drehte sich aber dann unvermittelt um und eilte die Treppe wieder hinunter. Ich kleidete mich gleich aus, als ich in meinem Zimmer war, schlüpfte in Nachthemd und Morgenrock und setzte mich dann auf das Sofa vor dem Kamin. Wie versprochen erschien kurz darauf Gertrude mit meinem Abendessen. Sie benahm sich seltsam, fand ich, sehr zurückhaltend, beinahe mißtrauisch. Ich erkundigte mich nach ihrem Befinden, aber sie gab mir nur eine einsilbige Antwort und ging wieder aus dem Zimmer. Dem Abendessen folgte ein Glas warmer Milch, das mir ein Mädchen heraufbrachte, und während ich sie in langsamen Schlucken trank, überließ ich mich meinen Gedanken. Zahllose Fragen gingen mir durch den Kopf. Was hatte es mit den gestohlenen Schmucksachen auf sich? Wer hatte meine Mutter und mich hierher locken wollen, indem er uns unter Sylvias Namen den Brief geschrieben hatte? Wer hatte mein Schreiben an Edward vernichtet? Und wer war die Frau, die ich im Zimmer meiner Großmutter hatte weinen hören?

Auf all diese Fragen wußte ich keine Antwort. Rätsel, die vielleicht nur Teile eines viel größeren Rätsels waren. Wenn ich nur wüßte, wie sie alle zusammengehörten!

Ich lehnte mich behaglich in die Polster und schaute in das hell lodernde Feuer, das mich angenehm wärmte. All diese kleinen Geheimnisse waren Teile des einen großen Geheimnisses, das ich von Anfang an aufzudecken versucht hatte: Wer hatte damals im Wäldchen meinen Vater und meinen Bruder getötet?

Die Antwort auf diese Frage lag in meiner Erinnerung begraben. Ich würde immer wieder ins Wäldchen zurückkehren müssen, solange, bis eines Tages alle Umstände stimmten — die Witterung, das Licht, die Tageszeit, vielleicht sogar die Jahreszeit — und plötzlich der Vorhang sich öffnete, hinter dem meine Vergangenheit verborgen war. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen. Verärgert über diese neue Empfindlichkeit, die ich von mir nicht gewöhnt war, begann ich, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich hatte nie unter Kopfschmerzen gelitten. Wieso war ich jetzt auf einmal so anfällig? Dr. Young hatte erklärt, sie wären durch Spannung ausgelöst. Aber ich fühlte mich überhaupt nicht angespannt. Und jetzt verspürte ich auch noch leichte Übelkeit, genau wie schon am Morgen, als würden diese Anfälle von Mal zu Mal schlimmer.

Als ich vor dem Spiegel stand und mir gerade eine großzügige Dosis Laudanum eingießen wollte, sah ich plötzlich im Spiegel meine Hände. Aus irgendeinem Grund ließ der Anblick mich innehalten. Ich blickte auf das Glas in meiner Hand. Dann auf die Phiole, die Dr. Young mir mitgegeben hatte. Und plötzlich schossen mir die Worte durch den Kopf, die er gesprochen hatte. >Die Menge Digitalis, die Ihr Onkel im Blut hatte, dienten nicht der Behandlung eines Herzleidens. Man hat ihm das Mittel gegeben, um ihn zu vergiften, und er wollte sich mit Laudanum von den Symptomen befreien. < Ich erstarrte vor Entsetzen.

Seine Stimme fuhr fort: >Kopfschmerzen, Übelkeit,

Leibschmerzen. gehören alle zum Krankheitsbild eines Leidens von ganz anderer Art als eines Gehirntumors.<

«Mein Gott!«rief ich laut heraus.»Mein Gott! Man will mich vergiften.«

Ich ließ mich auf mein Sofa niederfallen und schlug die Hände vor mein Gesicht.»Das kann nicht sein«, murmelte ich vor mich hin.»Das kann nicht sein. Oh, mein Gott. Erinnere dich, Leyla. Denk zurück!«Aber es war eindeutig. Die Kopfschmerzen waren zum erstenmal aufgetreten, nachdem ich das Restchen meines Briefes an Edward im Kamin in der Bibliothek gefunden hatte. Von da an hatten sie mich jeden Tag geplagt. Jedesmal, daran erinnerte ich mich genau, hatten sie angefangen, nachdem ich etwas getrunken hatte. Den Tee beim Frühstück, der schon in meiner Tasse gewartet hatte, als ich gekommen war. Den Wein beim Essen, den mir jemand anders eingegossen hatte. Die heiße Milch vor dem Schlafengehen, die man mir auf mein Zimmer brachte. Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben, daß man mir das gleiche antat, was man Henry angetan hatte, und ich war überzeugt davon, daß Dr. Young, wenn ich ihm eine Probe meines Frühstückstees brachte, darin Extrakt des Fingerhuts feststellen würde.

Zu meinem Zorn und meiner Entschlossenheit von zuvor gesellte sich jetzt Furcht; eine Furcht, die mich zu lähmen drohte. Wer ist es? fragte ich mich wieder. Wer will mich töten? Und warum?

Ich schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Alpträume und schreckliche Beklemmungen quälten mich. Und da ich kein Laudanum mehr nehmen wollte, mußte ich die ganze Nacht die unangenehmen Auswirkungen des Digitalis ertragen — rasende Kopfschmerzen, Übelkeit und schließlich auch noch Leibschmerzen.

Als ein Mädchen mir das Frühstück aufs Zimmer brachte, wartete ich, bis sie gegangen war, dann goß ich etwas von dem Tee in das kleine Flaschen, in dem vorher das Laudanum gewesen war und das ich gründlich ausgespült hatte. Den Rest des Tees schüttete ich ins Feuer. Ich wartete bis Mittag, ehe ich aus dem Haus ging, da ich wußte, daß sich inzwischen alle an meine nachmittäglichen Spaziergänge gewöhnt hatten und nichts Merkwürdiges mehr daran fanden. Anna war in ihrem Zimmer, sie fühlte sich nicht wohl; Theo und Martha saßen im Salon, Theo las und Martha stickte, und Colin war nicht im Haus, vermutlich ausgeritten.

Das kleine Fläschchen in der Tasche meines Umhangs, machte ich mich auf den Weg zu Dr. Young.

Er war ernst, als er wieder in den gemütlichen kleinen Salon trat, und ich sah meinen Verdacht bestätigt, als er sagte:»Sie hatten recht, Miss Pemberton. Dieser Tee enthält genug Digitalis, um Sie sehr krank zu machen.«

«So ist das also. «Ich drehte meine Handschuhe in den Händen.»Dann hat vermutlich jemand aus der Familie damit gerechnet, daß ich heute krank in meinem Bett bleiben und mir wegen des Tumors die Augen ausweinen würde«, sagte ich bitter.

«Es war gut, daß Sie mir den Tee gebracht haben. Jetzt können wir zur Polizei gehen.«

«Nein!«»Miss Pemberton, wir haben unwiderlegbare Beweise — «

«Bitte, Doktor, ich will keine Polizei. Das wäre nur gefährlich für mich.«

«Und ist es jetzt vielleicht nicht gefährlich für Sie?«

«Nun, vorläufig wenigstens kann ich so tun, als fühle ich mich nicht wohl. Ich muß versuchen, mich zu erinnern, Dr. Young. «Ich hatte ihm erklärt, warum mir das so wichtig war.»Und wenn ich mich erinnere, können wir zur Polizei gehen.«

«Aber vielleicht ist es dann zu spät.«

«Diese Gefahr muß ich auf mich nehmen.«

«Sie sind eine mutige Frau, Miss Pemberton.«

Ich lachte.»Jemand anders würde es leichtsinnig nennen. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Dr. Young, und auch für den Tee und die Kekse. Ich werde von jetzt an wohl sehr vorsichtig sein mit dem Essen.«

«Dann bleiben Sie doch zum Abendessen, Miss Pemberton. Es ist manchmal recht einsam hier, obwohl ich meine Arbeit und meine Bücher habe.«

«Nein, Doktor«, antwortete ich,»Sie wissen, daß ich gehen muß. Aber ich komme wieder. Und das nächstemal hoffentlich, um Sie zu bitten, mich zur Polizei nach East Wimsley zu begleiten. «Da der Nachmittag noch jung war und ich gern mit meinen Gedanken allein sein wollte, schlug ich Dr. Youngs Angebot, mich nach Pemberton Hurst zu bringen, dankend aus. Widerstrebend ließ er mich gehen, nachdem ich ihm hatte versprechen müssen, sofort zu ihm zu kommen, wenn Gefahr im Verzug sein sollte.

Jemand auf Pemberton Hurst wollte meinen Tod, wollte nun auch mich ermorden. Aber warum? Warum hatte man mich mit dem gefälschten Brief aus London hierher gelockt? Nur um mich zu töten? Henry gehörte jetzt nicht mehr zu den Verdächtigen. Konnte Anna, seine Frau, die Täterin sein? Anna war höflich gewesen zu mir, aber ich hatte keinen

Moment das Gefühl gehabt, daß ich ihr willkommen war oder daß sie mich mochte. Erst hatte ich sie sichtlich beunruhigt, dann hatte sie sich in vornehmer Zurückhaltung geübt. Meine Großmutter war über meine Ankunft nicht erfreut gewesen und hatte keinen Hehl daraus gemacht. Sie vor allen anderen hatte sich größte Mühe gegeben, mich so rasch wie möglich nach London zurückzuscheuchen. Nein, Liebe hatte ich von dieser kalten, harten Frau nicht zu erwarten; aber wohl auch kein anderer.

Und Theo? Er war immer zuvorkommend, immer darum bemüht, der Gentleman ohne Fehl und Tadel zu sein. Wenn er mir nach dem Leben trachtete, so waren seine Absichten geschickt hinter seiner Wohlerzogenheit verborgen.

Martha? Sie hatte mich vielleicht als einzige von Anfang an gemocht. Sie war eine immer noch sehr kindliche Frau, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß sie des Mordes fähig war.

Da Colin als Verdächtiger für mich ausschied, und ich Gertrude und die anderen Angestellten nicht in Betracht zog, blieben nur diese vier: Anna, Theo, Großmutter und Martha. Doch so angestrengt ich auch überlegte, konnte ich mir, während ich an diesem grauen Nachmittag durch den Wald stapfte, für keinen einen Grund vorstellen.

Im Haus war Totenstille, als ich eintrat. Sehr langsam ging ich zu meinem Zimmer hinauf, in der Hoffnung, einem meiner Verwandten zu begegnen. Der Schuldige, dachte ich, würde sich vielleicht verraten, wenn er sah, daß ich nach einer solchen Dosis Digitalis, wie er sie mir am Morgen mit dem Tee verabreicht hatte, noch auf den Beinen war. Leider traf ich niemanden. Als ich in meinem Zimmer meinen Hut abnahm, zitterten mir die Hände. Jetzt brach doch die Angst durch. Wie lange würde ich diesen Zustand aushalten können? Als es klopfte, fuhr ich zusammen. Aber als ich die Tür öffnete und

Colin sah, der mir entgegenlachte, entspannte ich mich sofort.»Du warst wohl spazieren?«

«Ja.«

«Hast du Lust, mit mir hinunterzugehen und ein Glas Sherry zu trinken, Leyla?«

«Gern.«

Wir gingen langsam durch den Flur zur Treppe. Er war in jenes graue Zwielicht gehüllt, das entsteht, wenn von draußen nicht mehr genug Licht hereinkommt, die Gaslampen aber noch nicht angezündet sind. Er führte mich in den kleinen Salon zu einem Sessel beim Feuer.»Ich habe das Gefühl, der Winter nimmt dieses Jahr überhaupt kein Ende«, bemerkte er, während er uns beiden einschenkte. Er wirkte so ungezwungen und ruhig, als wäre er der einzige, der von der Spannung und Bedrücktheit verschont war, die uns alle belastete.»Das ist ein ganz besonderes Gebräu«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.»Großmutters Spezialsherry. Sie bietet nie jemandem davon an. Und wenn sie wüßte, was wir hier tun, würde sie uns zum Teufel jagen. Hier. «Ich nahm das Glas und starrte in die dunkle Flüssigkeit. Colin beobachtete mich.»Willst du nicht trinken?«

«Doch. Natürlich. «Der Sherry schmeckte süß und weich, besser als jeder, den ich bisher getrunken hatte.

Während wir tranken, betrachtete mich Colin mit unverwandtem Blick auf eine Weise, die mich bei einem anderen Mann verlegen und vielleicht ärgerlich gemacht hätte. Aber da es Colin war, den ich liebte, erwiderte ich mutig und offen seinen Blick.

«Leyla«, sagte er unvermittelt und stellte sein Glas nieder.»Seit Tagen versuche ich, einen Entschluß zu fassen, und jetzt bin ich so weit. Ich möchte mit dir reden.«

«Ja?«Seine Stimme klang plötzlich sehr ernst.

«Aber nicht hier. Ich möchte nicht, daß plötzlich jemand von der Familie hier auftaucht und uns stört. Und ich möchte auch nicht Angst haben müssen, daß wir belauscht werden. Gehst du mit mir an einen Ort, wo wir ungestört sind?«

Ich blickte in mein Glas. Es war leer.»Ja, natürlich, Colin.«

«Gut. «Er führte mich wieder nach oben. Von einem kleinen Tisch nahm er eine Kerze und entzündete sie an einer der Öllampen im Flur. Als er mich dann eine weitere Treppe hinaufführte, war ich verwundert, aber ich stellte keine Frage. Colin war ja bei mir; in seiner Begleitung fühlte ich mich sicher und beschützt.

Wir traten in einen dunkleren Flur, wo die einzige Lichtquelle unsere Kerze war, und ich ließ Colin meine Hand nehmen, um mich weiterzuführen. Als mir der Modergeruch in die Nase stieg, erinnerte ich mich, daß dies der Flur war, durch den ich in der Nacht vor Henrys Tod gelaufen war, als wir alle ihm zum Türmchen gefolgt waren. Ich atmete schneller. Mir war unheimlich in der beklemmenden Finsternis, aber ich dachte nicht an Umkehr. Ich war sicher, daß Colin gute Gründe hatte, mich hierher zu bringen.

Es wunderte mich schon gar nicht mehr, als wir vor dem kleinen Torbogen anhielten, hinter dem die Treppe zum Türmchen sich emporschwang. Dennoch schauderte ich bei der Erinnerung an jene Nacht. Colin beobachtete mich schweigend. Sein Gesicht war seltsam bleich im flackernden Schein der Kerze.

«Anders geht es nicht, Leyla«, sagte er leise.»Es tut mir leid. «Ich sah ihm aufmerksam in die Augen.

«Wir müssen vermeiden, daß wir belauscht werden, und Großmutter hat überall ihre Spitzel. Ist es sehr schlimm für dich, da hinaufzugehen?«Ich spähte hinauf, wo die schmale Treppe in der Dunkelheit verschwand. Colin hielt meine Hand sehr fest. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und schmeckte noch ein wenig Großmutters Sherry.»Ja. Aber ich kann verstehen, warum du dort hinauf willst. Was du mir sagen willst, ist wohl sehr wichtig?«

«Ja. Ich bin froh, daß du mir vertraust, Leyla. Ich hatte Angst, du würdest es nicht tun. Gehen wir?«

Mit der Kerze in der Hand ging er mir voraus, langsam eine Stufe um die andere nehmend. Meine Hand ließ er nicht los, hielt sie so fest, daß ich sie ihm nicht hätte entziehen können. Meine Neugier siegte über meine Angst. Was hatte Colin mir so Wichtiges mitzuteilen, daß dafür kein anderer Ort im Haus sicher genug war?

Oben angelangt, blieb ich einen Moment schaudernd stehen. Ich mußte mich unwillkürlich an Henrys wahnverzerrtes Gesicht und weit aufgerissene Augen erinnern. Colin stellte die Kerze auf den Steinboden, in sicherer Entfernung von meinen Röcken und doch so nahe, daß wir etwas Licht hatten. Das Turmzimmer war ein kleiner, runder Raum, klamm und kalt, mit einem Fenster, das zum nächtlichen Wald hinausblickte.»Von hier hat unser Großvater sich hinuntergestürzt«, bemerkte Colin und nahm nun auch meine andere Hand. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, seine Stimme war ohne Ausdruck.»Hast du mich hierher gebracht, um mir das zu sagen?«

«Nein, Leyla, das ist nicht der Grund, weshalb ich dich hierher gebracht habe. «Colins Stimme klang seltsam fern.»Zunächst wollte ich dir sagen, daß ich über das, was ich gleich tun werde, lange nachgedacht habe. Du sollst wissen, daß ich es nicht leichten Herzens tue. Es bewegt mich schon seit dem Morgen, an dem du uns gesagt hast, du hättest Thomas Willis’ Buch gelesen. Erinnerst du dich?«

«Ja, natürlich.«

«Du warst so sonderbar an dem Morgen, Leyla. Das hat mich sehr beunruhigt, und es hat mich seitdem eigentlich unablässig geplagt. Mehrmals war ich nahe daran, mit dir zu sprechen, aber dann habe ich es mir aus diesem oder jenem Grund immer wieder anders überlegt. Aber jetzt. «Seine Stimme war noch leiser geworden, kaum mehr als ein Flüstern, und er trat einen Schritt näher an mich heran. Ich sah ihn an wie hypnotisiert, erregt durch seine Nähe, gespannt darauf, was er mir zu sagen hatte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er:»Ich werde es nicht länger aufschieben. «Er sah sich um, spähte angespannt in die Dunkelheit jenseits unserer kleinen Lichtpfütze.»Es darf uns niemand belauschen. Niemand darf wissen, daß wir hier oben sind, Leyla. Wenn du ein lautes Geräusch machen solltest, schreien solltest, darf niemand es hören.«

«Warum sollte ich schreien?«

«Es war nur ein Beispiel, um dir klarzumachen, wie wichtig es ist, daß wir ungestört sind. Ich glaube, hier sind wir sicher vor dem Rest der Familie. Ich habe dich absichtlich hier heraufgebracht, weil keiner erfahren darf, was hier vorgeht.«

«Colin, du weißt, daß ich dir vertraue.«

Ich hatte den Eindruck, daß er lächelte. Kein Geräusch war zu hören, nichts rührte sich außer den tanzenden Schatten, die unsere Kerze warf. Colin und ich waren ganz allein.

«Leyla. «Er drückte meine Hände noch fest.»Ich weiß, daß du mich bisher nicht gemocht hast und mir gewiß auch nicht getraut hast. Ich kann dir das nicht verübeln. Aber ich muß dich jetzt bitten, mir rückhaltlos zu vertrauen, ganz gleich, was geschieht.«

Ich war gebannt von seiner Stimme und seinem Blick.»Ja«, flüsterte ich.

«Dann verzeih mir, was ich jetzt tun werde. Ich fürchte, es wird schmerzhaft werden für dich.«

Ein wenig verwirrt antwortete ich:»Ich würde dir alles verzeihen, Colin.«»Gut. «Er ließ meine Hände los und umfaßte fest meine Schultern.»Ich bitte dich, noch einmal zu versuchen, dich an das zu erinnern, was vor zwanzig Jahren im Wäldchen geschah.«

«Was?«sagte ich verblüfft.

«Bitte, Leyla, auch wenn es vielleicht sehr schmerzhaft für dich ist, versuche, dich zu erinnern, was damals war.«

«Aber ich verstehe nicht. Warum denn?«

«Weil ich glaube, daß dein Vater ermordet wurde, und ich muß wissen, von wem.«

«Colin!«

«Ich weiß, was du denkst! Daß es sinnlos ist — «

«Nein, warte —!«

«Laß mich zu Ende sprechen, Leyla. «Seine Augen waren plötzlich sehr lebendig.»Ich habe nie geglaubt, daß dein Vater Hand an sich gelegt hat, aber ich konnte nichts beweisen. Und ich konnte nicht darüber sprechen, weil die ganze Familie mich haßt. Ich weiß, wie unglaubwürdig das für dich klingen muß, nachdem ich die ganze Zeit das Spiel der Familie mitgemacht habe und so getan habe, als wäre ich mit den anderen einig. Als du nach zwanzig Jahren plötzlich hier vor der Tür standest, war das für mich wie ein Geschenk des Himmels. Und als du sagtest, du wolltest dir deine Vergangenheit zurückerobern, schöpfte ich Hoffnung. Ich war von Anfang an auf deiner Seite, ich wartete sehnlichst darauf, daß du dich erinnern würdest. Aber als du dann plötzlich aufgabst, einfach die Waffen strecktest, weil du das Buch gelesen hattest, war ich verzweifelt. «Er sah mich flehend an, als er sagte:»Ich weiß, daß du kein Verlangen mehr hast, dich der Ereignisse zu erinnern, die du als Kind miterlebt hast, aber ich bitte dich, Leyla, versuche es noch einmal — mir zuliebe.«

«Colin, ich bin ganz verwirrt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«»Du weißt jetzt, daß es die Erbkrankheit gibt, und du glaubst daran, daß dein Vater Selbstmord beging, nachdem er deinen Bruder getötet hatte. Warte, laß mich ausreden. Ich möchte, daß du wieder die wirst, die du warst, bevor du das Buch gelesen hattest; daß du noch einmal versuchst, dich zu erinnern. Ich glaube, daß dein Vater unschuldig war.«

«Und du hast das den anderen nicht gesagt?«

«Ich kann nicht, Leyla. Sie hören nicht auf mich. Sie — «

«Warum hassen sie dich, Colin?«fragte ich leise. Er starrte mich einen Moment an, dann ließ er plötzlich meine Schultern los, und seine Arme sanken herab.»Aus einem Grund, den ich dir schon längst hätte sagen sollen.«

«Was ist das für ein Grund?«

«Ich bin kein Pemberton, Leyla, jedenfalls nicht von Geburt. Mein leiblicher Vater war ein Mann namens Haverson, ein Schiffskapitän, der auf See ums Leben kam, als ich gerade geboren war. Etwa anderthalb Jahre später heiratete meine Mutter Richard Pemberton und brachte mich hierher.«

«Aber warum hassen sie dich dafür?«

«Weil ich den Tumor nicht zu fürchten brauche.«

«Ach, Colin — das kommt alles so plötzlich.«

«Sir John faßte damals, als ich ins Haus kam, eine ungewöhnliche Zuneigung zu mir. Er änderte sein Testament und setzte mich zum Alleinerben ein unter der Voraussetzung, daß Onkel Henry kein Testament machen sollte. Aber ich wußte nicht, daß er tatsächlich keines gemacht hatte, Leyla, das schwöre ich dir.«

«Ich glaube dir.«

Er sah mich an, als sähe er mich zum erstenmal.»Du glaubst mir?«

«Aber ja«, antwortete ich.»Wie merkwürdig, daß du mir gerade jetzt all diese Dinge erzählst.«»Willst du dann noch einmal versuchen, dich zu erinnern? Ich weiß, wie verwirrend es für dich sein muß — «

«Ach, das ist es nicht, Colin«, unterbrach ich ihn aufgeregt. Am liebsten hätte ich gelacht.»Das ist es nicht. Im Gegenteil, du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Endlich kann ich dir alles sagen.«

«Was denn?«

«Alles, was ich herausgefunden habe und was ich bis jetzt für mich behalten mußte. Endlich kann ich mit dir darüber sprechen.«

«Dann hast du dich erinnert?«

«Nein, nein. Noch nicht. Ich will es aber, und nicht nur, weil du mich darum gebeten hast. Du weißt nicht, Colin, wie schrecklich es für mich war, alles mit mir allein herumtragen zu müssen.«

«Worum geht es denn? Was hast du herausgefunden?«Ich erzählte ihm alles. Ich berichtete ihm von meinem ersten Besuch bei Dr. Young, von der gefälschten Seite in Cadwalladers Buch, von meinen Gefühlen, meinem Zorn und meiner Erbitterung und von Dr. Youngs Überlegungen. Als ich von der tödlichen Dosis Digitalis berichtete, die Dr. Young in Henrys Blut festgestellt hatte, wandte Colin sich erschüttert von mir ab und schlug mit der Faust an die Steinmauer.

«Wie grauenhaft!«rief er.»Dann ist es also wirklich wahr, und ich habe die ganze Zeit recht gehabt.«

Eine ganze Weile starrte er hinaus in die Dunkelheit. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich hörte seinen schweren Atem und konnte mir vorstellen, was jetzt in ihm vorging.

«Aber dann — «begann er unsicher.»Der Tumor, Leyla. Der Tumor. «Er kam stockend einen Schritt auf mich zu.»Heißt das, daß er Lüge ist? Daß es die Krankheit der Pembertons gar nicht gibt?«

«Ja, Colin.«

«Mein Gott! Alles eine niederträchtige Lüge, eine gemeine Erfindung!«

«Ja.«

«Ich kann es nicht glauben«, flüsterte er.»Ich kann es einfach nicht glauben. Und ich wußte es nicht. «Er begann, in dem kleinen Turmzimmer hin und her zu gehen.»Es ist unfaßbar! Jahrelang glaubten wir alle daran. Und es ist nichts als Lüge. Jahrzehnte, Jahrhunderte. «Er schlug wieder an die Wand.»Sir John, Onkel Robert, Onkel Henry! Dann hatte ich also von Anfang an recht. Dein Vater wurde tatsächlich ermordet, Leyla. «Er drehte sich zu mir herum. Und plötzlich rief er freudig aus:»Dann — dann bist du ja frei, Leyla! Dann hast du nichts zu fürchten!«

«Ja.«

Ich kann nicht sagen, was dann geschah. Ich erinnere mich nur, daß ich plötzlich in Colins Armen lag, und er mich an sich drückte, als wollte er mich nie wieder loslassen. Und ich hatte das Gefühl, als hätte ich nie woanders hingehört, als sei ich endlich nach Hause gekommen. Ich spürte seine Wärme und seine Kraft, und sie sagten mir mehr als tausend Worte.

Lange standen wir so, dicht zueinander geschmiegt, und sprachen kein Wort.»Leyla, Liebste«, flüsterte Colin dann,»du weißt ja nicht, was ich ausgestanden habe. Diese letzten Tage — dich zu sehen, dich zu lieben und dabei zu wissen, daß du früher oder später das Opfer dieser grauenvollen Krankheit werden würdest. Oft habe ich dagesessen und dich nur angesehen und gedacht, ich könnte die Qual nicht ertragen. Ich war so verbittert, du kannst es dir gar nicht vorstellen.«

Er schob mich ein wenig von sich ab und strich mir über das Haar, während er mich ansah.»Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich sah keine Zukunft für uns. Es war schrecklich. Aber jetzt bist du frei, Leyla. Wir sind beide befreit von diesem schrecklichen Fluch, der über Generationen auf dieser Familie lag. Ach Leyla, meine Leyla!«

Voll Zärtlichkeit sah er mich an, doch plötzlich veränderte sich sein Gesicht, zeigte tiefe Verlegenheit. So plötzlich, wie er mich in seine Arme geschlossen hatte, ließ er mich jetzt los und wich zurück.»Guter Gott! Entschuldige, Leyla. Bitte verzeih’ mir. Ich habe völlig kopflos gehandelt. In meiner Glückseligkeit über das, was du mir gesagt hast, habe ich mich völlig vergessen. Ich muß mich für mein Benehmen bei dir entschuldigen und könnte es dir nicht einmal übelnehmen, wenn du mich jetzt ohrfeigst.«

«Weshalb sollte ich das tun?«Ich hätte gleichzeitig weinen und lachen können.

«Ich habe mich wie ein Flegel benommen und deine Schwäche ausgenützt. Aber glaube mir, ich war — «

Jetzt mußte ich wirklich lachen.»Ach, Colin, hör’ auf, dich zu entschuldigen. Wenn du den Kopf verloren hast, liebe ich dich dafür um so mehr.«

Er sah mich ungläubig an.

Ich war selbst erstaunt über mich — nicht über das, was ich gesagt hatte, sondern darüber, wie leicht es mir über die Lippen gekommen war.»Ich liebe dich wirklich, Colin«, sagte ich leise.

Wieder nahm er mich in seine Arme, und diesmal küßte er mich, leidenschaftlich und zärtlich zugleich, auf eine Art, wie nie zuvor ein Mann mich geküßt hatte. Nichts war mehr wichtig in diesem Augenblick, nur wir beide.

Sein Gesicht schien sich verändert zu haben; es war weicher, offener, als hätte sein ganzes Wesen in dieser kurzen Zeit sich gewandelt.»Ich kann nicht glauben, daß mir das geschieht«, sagte er vor Freude lachend.»Ich komme mir vor wie im Traum. Ich glaubte fest, ich würde mich niemals in meinem Leben verlieben, sondern bis ans Ende meiner Tage ein zynischer Junggeselle bleiben. Und dann kamst plötzlich du. «Er legte mir sacht eine Hand auf die Wange.»Erinnerst du dich noch an die ersten Worte, die du mit mir gewechselt hast? Du sagtest: >Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde und riet mir eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe.««

«Ja, ich weiß. Ich war in schrecklicher Verlegenheit.«

«Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Das werde ich nie vergessen. Ich hätte nie geglaubt, daß jemand gleichzeitig rot und blaß werden kann.«

«Ach, Colin!«Er zog mich wieder an sich und drückte mich so fest, daß ich kaum luftholen konnte.»Ich lasse dich nie wieder fort«, sagte er.»Vor zwanzig Jahren bist du spurlos aus meinem Leben verschwunden, aber jetzt bist du zurück und wirst für immer bei mir bleiben. Nichts kann uns mehr trennen, Leyla.«

Ich war glücklich. Colin gefunden zu haben, war für mich das Ende eines Alptraums. Mit Colin an meiner Seite brauchte ich nichts mehr zu fürchten, brauchte ich die Last meines Wissens nicht mehr allein zu tragen.»Ich frage mich, welches gute Werk ich in der Vergangenheit getan habe«, sagte Colin mit einem leisen Lachen,»daß Gott dich plötzlich zu mir schickte.«

Diese Worte holten mich mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück.»Es war kein Zufall, Colin, daß ich hierher kam. Ich kam aufgrund eines Briefes.«

«Aufgrund eines Briefes?«Colin ließ mich aus seinen Armen, hielt aber weiter meine Hände fest, während ich ihm von dem Brief berichtete, der uns kurz vor dem Tod meiner Mutter in London erreicht hatte.»Er war von Großtante Sylvia unterzeichnet«, erklärte ich,»aber hier entdeckte ich, daß sie den Brief in Wirklichkeit gar nicht geschrieben hatte. Ich sah an ihrem Tagebuch, daß es nicht ihre Handschrift war.«

«Aber das verstehe ich nicht«, versetzte Colin verblüfft.»Du meinst, dich hat tatsächlich jemand hierhergelockt? Aber warum ausgerechnet unter Tante Sylvias Namen?«

«Ich vermute, weil sie damals schon im Sterben lag, und der Briefschreiber sich deshalb gut hinter ihr verstecken konnte. Er wollte seinen Namen nicht preisgeben, und jetzt, da ich hier bin, tut er so, als wünsche er meine Abreise. Aber wer kann das sein, Colin?«

Er überlegte.»Du mußt mir den Brief zeigen. Vielleicht erkenne ich die Schrift. Trotzdem verstehe ich das nicht: Warum soll dich jemand hierherlocken und sich dann nicht zu erkennen geben?«

«Das weiß ich auch nicht. Aber das ist noch nicht alles, Colin«, sagte ich dann.»Von dem Tag an, als ich Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, bekam ich plötzlich jeden Tag Kopfschmerzen. Nachdem Dr. Young mir erklärt hatte, daß Onkel Henry mit Digitalis vergiftet worden war, bekam ich Angst, und darum habe ich heute heimlich eine Probe von meinem Frühstückstee zu Dr. Young zur Analyse gebracht.«

«Und?«fragte Colin heiser.»Er hat Spuren des Gifts darin gefunden.«

«Nein! Mein Gott, Leyla, ich muß dich sofort von hier wegbringen.«

«Colin — «

«Das ist ja unfaßbar. Und ich ahnte nicht einmal, was hier im Haus vorging. Ich bin nur mit dir hier heraufgekommen, um dich zu bitten, doch noch einmal zu versuchen, deinen Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Ich dachte, du würdest mir widersprechen, meine Vermutungen für lächerlich erklären, bestenfalls widerstrebend auf meinen Vorschlag eingehen. Statt dessen höre ich all diese grauenvollen

Tatsachen von dir. Leyla!«Er faßte mich wieder bei den Schultern.»Du mußt von hier weg. Geh sofort nach London zurück.«

«Nein, Colin«, widersprach ich ruhig.

«Es ist nicht nötig, daß du dich in Gefahr begibst. Ich werde das hier allein lösen, und wenn alles geklärt ist, komme ich dir nach — «

«Nein, Colin. Ich muß hier bleiben.«

«Das kann ich nicht zulassen«, sagte er zornig.

«Aber ich kann von hier nicht weggehen. «Ich sprach ruhig, aber bestimmt.»Wir wissen so viel, Colin, und doch wissen wir das Entscheidende nicht. Wir wissen nicht, wer der Mörder ist. Wenn wir es je erfahren wollen, muß ich mich erinnern, was damals im Wäldchen geschehen ist. Und das kann ich nur hier, nicht in London.«

Colin war sehr aufgeregt, doch er wußte keinen Ausweg. Er konnte die Wahrheit dessen, was ich gesagt hatte, nicht leugnen, hatte aber große Angst um mich.

«Solange der Mörder glaubt, ich wüßte nicht, daß ich langsam vergiftet werde, bin ich nicht in Gefahr«, sagte ich.»Ich muß einfach meine Rolle weiterspielen, Kopfschmerzen und Übelkeit vortäuschen, bis es mir gelingt, mich an alles zu erinnern. Nur wenn der Mörder merkt, daß ich seinen Plan entdeckt habe — «

«Oder ihren.«

«— bin ich in Gefahr. Wenn er — oder sie — nichts merkt, haben wir Zeit.«

Ich hörte Colins schweren Atem. Unsere kleine Kerze war so weit abgebrannt, daß sie kaum noch Licht spendete.

«Wieviel Zeit?«fragte er angstvoll.»Bei deinem ersten Besuch im Wäldchen hast du dich an gar nichts erinnert. Wie oft wirst du noch zurückgehen müssen?«

Ich überlegte mir meine Worte, ehe ich antwortete.»Doch, an eine Kleinigkeit habe ich mich erinnert, ich habe dir nur nichts davon gesagt. Als ich da unten ganz allein unter den Bäumen stand, hatte ich plötzlich ein flüchtiges, aber sehr deutliches Bild.«

«Wovon?«

«Es kann sein, daß es mit den Geschehnissen von damals nichts zu tun hat — «

«Aber es kann auch ungeheuer wichtig sein. Woran hast du dich erinnert?«

«Ich sah plötzlich den Rubinring, der Theo gehört. «Ich merkte, wie Colin erstarrte.»Den Ring?«sagte er tonlos.»Das ist merkwürdig.«

«Das fand ich auch. Er hat wahrscheinlich mit dem Tod meines Vaters gar nichts zu tun, und trotzdem erinnerte ich mich seiner, als ich im Wäldchen stand. Ich hätte wahrscheinlich überhaupt nichts darauf gegeben, wäre der Ring nicht kurz danach verschwunden.«

«Ich bin sicher, das ist nur ein Zufall«, sagte er wenig überzeugend. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hatte ich das deutliche Gefühl, daß Colin stark beunruhigt war.»Darf ich dich etwas fragen?«Er nickte.

«Wieso warst du eigentlich so sicher, daß mein Vater unschuldig war? Wieso hast du nicht, da du doch auch an die Krankheit glaubtest, die allgemeine Erklärung hingenommen? Hast du an der Geschichte von dem Tumor gezweifelt?«

«Nein. Ich glaubte genauso daran, wie alle anderen. Und ich glaubte wie alle anderen, daß Sir John und sein Bruder von der Krankheit in den Wahnsinn getrieben worden waren. Aber bei deinem Vater konnte ich nicht daran glauben.«

«Warum nicht, Colin?«

Er schien einen Moment zu brauchen, um seine Worte zu bedenken, dann sagte er:»Du warst an dem Tag, an dem dein

Vater und dein Bruder starben, nicht der einzige Beobachter im Wäldchen. Es war noch jemand da.«

«Wer?«

«Ich.«

Im ersten Moment war ich sprachlos.»Du?«sagte ich dann ungläubig.

«Ja. Ich war auch im Wäldchen, Leyla. Ich war dabei, als dein Vater und Thomas getötet wurden.«

«Dann hast du alles gesehen?«

«Nein, das nicht. «Er sprach hastig.»Ich streifte in der Nähe im Wald herum, als ich Thomas aufschreien hörte. Da ich glaubte, er hatte sich wehgetan, rannte ich sofort in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, aber ich kam zu spät. Als ich ins Wäldchen eindrang, sah ich dich im Gebüsch stehen. Du hattest einen ganz fremden Ausdruck auf dem Gesicht. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, als sei jemand zu Boden gestürzt, und als ich mich umdrehte, sah ich deinen Vater neben deinem Bruder auf dem Boden liegen. Zur gleichen Zeit hörte ich es ganz in der Nähe rascheln und wußte sofort, daß da jemand davonlief. Ich rannte hinterher, aber ich konnte nicht sehen, wer es war.«

«Und das war der Mörder!«

«Ja, aber ich habe nur noch eine undeutliche Gestalt und die Bewegung der Äste an den Bäumen gesehen.«

«Hast du denn mit niemandem darüber gesprochen?«

«Mit wem hätte ich denn darüber sprechen können, Leyla? Ich war vierzehn Jahre alt und zu Tode geängstigt. Ich hatte zum erstenmal in meinem Leben einen Toten gesehen. Ich war tief erschrocken. An wen hätte ich mich wenden können? Ich wußte nur, daß jemand auf Pemberton Hurst zwei Morde begangen hatte. Woher hätte ich wissen sollen, daß die Person, der ich mich anvertraute, nicht selbst der Mörder war und mich ebenfalls töten würde, wenn sie hörte, was ich wußte? Mit wem hätte ich reden dürfen, Leyla? Sag mir das. Zwanzig Jahre lang habe ich mit diesem furchtbaren Geheimnis gelebt, saß Abend für Abend mit der ganzen Familie beim Essen und fragte mich immer wieder, wer von ihnen es gewesen war.«

«Ach, Colin«, sagte ich in tiefem Mitgefühl.

«Und dann standest plötzlich du vor der Tür wie ein rettender Engel.«

«Aber warum hast du mir das alles nicht schon viel früher erzählt?«

«Das konnte ich nicht, Leyla. Du trautest mir nicht. Ich konnte nicht erwarten, daß du mir glauben würdest. Ich wollte, daß die Erinnerung von selbst kam, unbeeinflußt von dem, was ich dir hätte erzählen können. Ich drängte dich ein wenig, gab dir ein paar Anhaltspunkte, aber ich konnte dir doch nicht alles erzählen, sonst hättest du vielleicht meine Schilderungen verwechselt und sie für Erinnerungen gehalten. Sag ehrlich, Leyla, hättest du mir denn damals getraut?«

«Ich — ich weiß es nicht. Es ist alles so unglaublich, Colin. Wer kann es getan haben? Hast du denn gar keinen Verdacht?«

«Verdächtig ist im Grunde jeder. «Er wandte sich von mir ab und begann wieder, auf und ab zu gehen.»Ich habe nächtelang wachgelegen und gegrübelt. Beweggründe gab es für jeden genug. Mein eigener Vater oder Onkel Henry konnten es getan haben, um ihren Anteil am Erbe zu vergrößern. Aber Henry kann es nicht gewesen sein, denn er ist jetzt selbst tot. Und mein Vater kann es nicht gewesen sein, denn er kam vor vielen Jahren ums Leben, und seitdem hat es zwei weitere Todesfälle gegeben.«

«Die drei Söhne Sir Johns waren Opfer und nicht Täter. Aber hast du mal an Theo gedacht? Könnte er einen Grund haben?«Colin blieb plötzlich stehen.»Theo? Leyla, gerade ihm mußte der Tod deines Vaters sehr gelegen kommen. Aber das weißt du ja nicht.«

«Aber warum?«

«Theo liebte deine Mutter. «Ich wich einen Schritt zurück.»Was?«

«Theo war damals achtzehn«, erzählte Colin,»und deine Mutter fünfundzwanzig. Sie war eine sehr schöne Frau. Theo gab sich überhaupt keine Mühe, seine Gefühle für sie zu verbergen. Und er zeigte auch offen seine Bitterkeit darüber, daß er sie nicht haben konnte. Theo haßte deinen Vater, Leyla, und alle wußten es.«

«Wie seltsam. «Ich dachte an den Abend vor fast einer Woche, als Theo in mein Zimmer gekommen war. Mir war sofort aufgefallen, wie ungewöhnlich er sich verhielt. Ich wußte noch, daß ich den Eindruck gehabt hatte, er sähe gar nicht mich, sondern eine andere. Jetzt hatte ich die Erklärung.

«Und Tante Anna war eine Mutter jener Art, die allen Fehlern ihrer Söhne gegenüber blind sind. Vielleicht meinte sie, Theo solle Jennifer ruhig haben. Vielleicht hegte sie aus unbekannten Gründen einen Groll gegen deinen Vater. Es ist möglich, daß auch Tante Anna das Erbe ihres Mannes vergrößern wollte und darum deinen Vater tötete.«

«Und Martha?«

«Sie war damals erst zwölf, Leyla.«

«Und was ist mit Großmutter?«

«O ja, sie dürfen wir nicht vergessen. Sie ist eine harte Frau, und ich könnte mir denken, daß sie unter gewissen Umständen vor einem Mord nicht zurückschrecken würde. Aber warum sollte sie ihre eigenen Söhne töten? Alle drei? Sie liebte deinen Vater sehr, das wußte jeder. Und sie hatte auch deine Mutter gern. Großmutter wünschte, daß das Erbe gleichmäßig zwischen ihren drei Söhnen aufgeteilt werden würde. Ich kann da keinen Grund sehen, auch wenn wir sie natürlich nicht außer Acht lassen können.«»Mein Gott, Colin, wer kann es nur gewesen sein?«fragte ich.»Ja, wer kann es gewesen sein, Leyla? Und was ist der Grund für die Morde?«

«Ich wollte, ich könnte mich erinnern.«

«Geh noch einmal ins Wäldchen, Leyla. Geh bald, ich bitte dich. Ich habe große Angst um dich.«

Er kam zu mir und nahm mich wieder in seine Arme. Den Kopf an seinem Hals, wünschte ich aus tiefster Seele, daß dieser Alptraum endlich enden möge, damit ich mein gemeinsames Leben mit Colin beginnen konnte. Und es gab für mich nur einen Weg, dem Alptraum ein Ende zu bereiten: Noch einmal das Wäldchen aufsuchen.

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