In der Frühe des folgenden Tages ward Klaudine durch einen Boten der Herzoginmutter, welche ihr einen köstlichen Blumenstrauß nebst einem Brillantring sandte, aus schwerem bleiernem Schlaf geweckt.
Es tat ihr weh, sich auf das Gestern besinnen zu müssen, und nur mit Anstrengung konnte sie sich erheben. Die Kammerfrau der Herzogin erschien, als sie eben angekleidet war, und beschied sie in das Krankenzimmer.
Mit müden Schritten trat sie über die Schwelle. Das ganze purpurrote Gemach war von Sonnenglanz erfüllt, am Lager seiner Gemahlin stand der Herzog mit den kleinen Prinzen, die beiden jüngsten hielten Rosen in den Händen, der älteste etwas anderes, das funkelte und blitzte. Der Herzog schritt ihr entgegen und küßte ihr die Hand.
»Nehmen Sie meinen und meiner Söhne innigsten Dank für Ihren freudigen Opfermut«, sprach er, indem er sie zum Bette führte. »Sehen Sie selbst, gnädiges Fräulein, er hat großes vollbracht!«
Die Herzogin streckte ihr die Hände entgegen, während der Erbprinz sich jubelnd an sie hing. »Ich habe ja immer gewußt«, sagte er, »Sie haben Mut, Fräulein von Gerold, und dies geben wir Ihnen, ich und mein Bruder, weil Sie Mama wieder gesund gemacht haben.«
Er reichte ihr ein kostbares Schmuckstück und die Händchen der anderen hielten ihr stumm die Rosen entgegen.
»Klaudine«, flüsterte die Herzogin.
Sie kniete in alter Gewohnheit am Bette nieder, aber der Kopf legte sich nicht wie sonst zutraulich an die Wange der Freundin, sie verharrte wie eine jener gemalten Beterinnen in der Schloßkirche, mit niedergeschlagenen Augen und unbeweglicher Miene. »O, warum denn Dank! Ich tat ja nichts«, sagte sie.
Die Herzogin gab, von ihr ungesehen, ihrem Gemahl ein Zeichen, sich zu entfernen. Leise trat er hinaus, die beiden ältesten Prinzen folgten ihm, nur das Kleinste blieb auf dem Bette sitzen und spielte mit den Rosen.
»Dank, Klaudine, tausendfachen Dank! Und nimm auch meinen treuesten Glückwunsch zu deiner Verlobung. Ich erfuhr sie vorhin durch Mama. Es hat mich überrascht, Klaudine. Warum sagtest du mir nie davon, daß du ihn liebst?«
Klaudine blieb stumm, dann erschrak sie. Wenn sie ihre Rolle so schlecht spielte, dann war ja die ganze Komödie vergeblich! Hier galt es also vor allen Dingen, sich mutig zu zeigen.
»Mir wurde es so schwer, darüber zu sprechen«, stammelte sie, »ich wußte ja nicht, ob er mich wiederliebt.«
Die Herzogin drückte ihr die Hand.
»Klaudine«, flüsterte sie, »weißt du – der Herzog dauert mich, denn er liebt dich!«
»Hoheit, nein!« rief das Mädchen, »er liebt mich nicht!«
»Doch, Klaudine«, versicherte die Kranke, »sieh, ich hatte ja einen Brief von ihm in den Händen – an dich.«
Klaudine fuhr empor. »Einen Brief? Ich habe nur einen von Seiner Hoheit erhalten, und der –«
»Pst!« flüsterte die Herzogin. »Ganz recht! Ich verstand ihn gestern nicht, heute erklärte mir Adalbert seine Bedeutung selbst. Er hat mir alles gesagt, es ist ihm nicht leicht geworden. Ich weiß alles, Klaudine, und er dauert mich, weil du ihm nun verloren bist.«
»Elisabeth!« stotterte das Mädchen, dem fast die Sprache versagte. »Es ist ein Irrtum Seiner Hoheit, und welcher Mensch –«
»Ja, ein Irrtum! Oh, ich verstehe, ich kann es begreifen, aber hier innen ist's so öde, so still geworden, Klaudine.« Sie legte einen Augenblick eine Hand auf die Brust und strich dann schmeichelnd über Klaudines Arm, der in der Binde hing.
»Elisabeth«, sprach diese, »du bist immer eine so fromme Natur gewesen, du richtest sonst so mild die Handlungen der Menschen. Willst du hier ein harter Richter sein?«
Die Herzogin schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe verziehen. Die kleine Spanne Zeit, die mir noch bleibt, soll freundlich verfließen. Ach, Klaudine, zum ersten Male, seit ich sein Weib bin, hat er heute früh mit mir gesprochen, wie ich es immer ersehnt habe, wachend und träumend. Herzlich und aufrichtig, mild und gut hat er gesprochen. Es kommt zu spät, ja, ja – aber es ist so schön, so süß, und deshalb habe ich ihm verziehen. Es ist nur noch ein Rest, so ein Rest dummer Eitelkeit in mir. Weißt du, ich wollte ihm immer gefallen und bedachte gar nicht, daß ich ein so elendes, krankes Geschöpf bin. Da habe ich mir rasch den Spiegel hier genommen und hineingeschaut, es tat ein bißchen weh zuerst, aber dann –«
Sie verstummte, und in ihren Augen schimmerte es feucht, während sie sich zum Lächeln zwang.
Klaudine konnte es nicht hindern, ihr rollten ein paar große Tränen über die Wangen.
»Er dauert mich so«, sagte die Herzogin noch einmal, »ich will gut und geduldig und liebevoll gegen ihn sein. Und wer mir noch leid tut«, fuhr sie fort, »das ist Helene – sie liebt deinen Bräutigam.«
»Ja!« hauchte das Mädchen.
»O du schönes, von Gott begnadetes Geschöpf du«, sagte die Kranke, »dem aller Herzen sich zuneigen! Wie mag es wohl sein, wenn man so geliebt wird?« Es klang so traurig, so hoffnungslos.
Klaudine stand auf und wandte sich zum Fenster. Sie durfte nicht zeigen, wie weh ihr war.
»Ich will dich nicht länger zurückhalten, Klaudine«, fuhr die Herzogin fort, »du hast so viele, viele Pflichten heute. Du mußt dich Mama als Braut vorstellen und deinem Kindchen als Mutter, und ihr werdet so viel zu sprechen haben, du und er. Geh, Klaudine, geh mit Gott!« Sie lächelte. Der kleine Prinz hatte ihr jauchzend das Spitzenhäubchen von dem dunklen Haar gezagen und brachte seinen geöffneten Mund an ihre blassen Lippen. Hastig wandte sie das Gesicht. »Mein Liebling«, hörte Klaudine sie flüstern, »Mama darf dich ja nicht küssen, Mama ist krank.«
Das erregte Mädchen vermochte kaum mit Fassung die durchsichtige Hand zu küssen und ruhig hinauszugehen. Sie sank in ihrem Zimmer auf einen Sessel und barg die weinenden Augen in den Händen. Verwundert schaute das Kammermädchen sie an. Das sollte eine Braut sein? Eine reiche, glückliche Braut, die da so blaß und finster saß? Die Zofe bückte sich und nahm ein Kästchen auf, das eben achtlos von dem Schoß ihrer Dame geglitten, es war beim Fallen aufgesprungen und den überraschten Augen der Dienerin sprühte es buntfarbig entgegen, ein wunderbares Halsband aus Brillanten. Klaudine beachtete es nicht, sie fühlte nur eines, sie würde die Verstellung, welche nun beginnen sollte, nicht ertragen.
Gedankenlos kleidete sie sich endlich um. Da das Kleid von gestern verdorben war, war sie genötigt, ein schwarzes Spitzenkleid anzulegen, welches sie mit ein paar Rosen aufputzen wollte. Diese aber, farblos wie ihr Gesicht, machten das dunkle Kleid nicht freundlicher, ebensowenig wie die weiße Armbinde, welche sich grell von dem Schwarz des Anzugs abhob. So ging sie am Arme Lothars in die Gemächer der alten Herzogin, wo beide dann be einem Frühstück, zu dem das Brautpaar von Seiner Hoheit befohlen wurde, die Glückwünsche des kleinen Hofstaates entgegennahmen.
Am frühen Nachmittag fuhr Lothar mit ihr in seinem Wagen nach Neuhaus. Die ganze Dienerschaft des Gutes war auf der Freitreppe versammelt und rief dem jungen Paar ein schallendes Hurra! entgegen. Beate stand mit ausgebreiteten Armen, in der rechten Hand einen Rosenstrauß, auf der Schwelle, neben ihr die alte Dörte, welche die Kleine im weißen Kleidchen auf ihren Armen tanzen ließ. Über Beates großes, lachendes Gesicht liefen die hellen Freudentränen.
»Dina, Herzenskind«, rief sie, das Mädchen an sich ziehend, »wer hätte das gedacht!« Und sie riß das Kind von dem Arm seiner Wärterin: »Da hast du eine Mutter, du Wurm! Und was für eine!« jubelte sie.
Lothar wehrte der allzu lauten Freude mit einem Blick auf die stumme Klaudine.
»Sie kann Leonie ja nicht halten, Beate«, sagte er und gab das Kind der Wärterin zurück, um gleich darauf seine Braut in das nächste Zimmer zu führen. »Du quälst mir Klaudine heute nicht mit Fragen, sorgst jetzt für eine Erfrischung, Schwesterchen, und dann machst du mit uns eine Spazierfahrt nach Brötterode.«
»Aber, Lothar, da ist ja heute großes Konzert vor dem Kurhause.«
»Gerade deshalb, liebe Beate!«
Die Schwester ging kopfschüttelnd, ihre Befehle zu geben, und während sie sich rasch fertig machte, murmelte sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, vor sich hin: »Ich denke, Brautleute sitzen immer am liebsten in einer einsamen Laube, und die, welche sonst von Natur nicht zu solchem Trara neigen, fahren am ersten Verlobungstage mittenhin unter die Lästermäuler!«
Sie begriff überhaupt heute noch nicht alles, ihr war noch von der geräuschvollen Abreise der durchlauchtigsten Damen ganz wirbelig zu Sinne, sie hatte auch in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Als gestern abend spät Lothar mit der Prinzessin allein angefahren kam, stand ihr vor Schreck das Herz einen Augenblick still. Ihre Blicke hatten zwar nur flüchtig des Bruders Gesicht gestreift, aber sie hatte es doch gewußt, der ist Bräutigam! Es lag so ein eigener Glanz darauf. Und die Prinzessin lief so eilends die Stufen empor.
»Die berichtet der Frau Mama jetzt ihr Glück«, hatte sie sich gedacht. – Und da rief Lothar sie in sein Zimmer, und als sie hereinkam, lehnte er an seinem Gewehrschrank. »Schwester Beate«, sagte er, »ich habe mich verlobt.«
Sie hatte ihm die Hand gedrückt und ihn herzlich auf den Mund geküßt. »Ich gratuliere dir, Lothar.« »Und du freust dich gar nicht, Beate?«
»Lothar«, hatte sie gesagt, »man denkt immer, wenn ein Bruder heiratet, man müsse eine Schwester bekommen, aber –« und sie hatte gutmütig gelächelt, »du kannst dir doch unmöglich deine Beate neben der Prinzessin als Schwester vorstellen? Wir würden nebeneinander sein wie so ein gutes, braves Haushuhn und ein Goldfasan, gelt? Aber das ist Nebensache, wenn du nur glücklich wirst.«
»Ich habe die Absicht, es zu werden. Und wenn auch ein Schwan nicht besser passen mag zum Haushuhn als ein Goldfasan, so hoffe ich doch, daß sich diese beiden, ins Menschliche übertragen, ganz leidlich füreinander schicken werden. Ich habe mich nämlich mit Klaudine verlobt, du kluge Schwester.«
Mit Klaudine! Nun, da ließ sich ihrer Klugheit doch wahrlich nicht spotten, wenn man es so heimlich anfing! »Gott sei gedankt!« hatte sie gesagt, als sie sich von dieser Überraschung allmählich erholte. »Da setze dich hin und erzähle!«
Er hatte auch erzählt, alles mögliche – von der Operation und der Gefahr der Kranken, von Klaudines Mut und Opferwilligkeit – alles, nur nicht das, was sie hören wollte. Und sie hatte nicht weiter geforscht.
Nun holte sie ihren allermodernsten Hut hervor, und dachte, indem sie ihn aufsetzte, an die Abreise heute früh und an die schreckliche Szene in der Kinderstube. Die kleine Leonie lag nach dem Bade schlafend im Bettchen. Da war Ihre Durchlaucht Prinzeß Thekla erschienen, fix und fertig zur Abreise, hinter ihr Frau von Berg, und hatte nichts mehr und nichts weniger verlangt als das Kind! Die alte Dörte hatte sich darauf mit ausgebreiteten Armen vor das Bettchen gestellt und erklärt, das müßte der Herr ihr erst selbst sagen, daß die Kleine mit der Großmutter abreisen solle! Durchlaucht vergaßen sich aber in diesem Augenblick so weit, daß sie die alte Bäuerin höchst eigenhändig an die Seite zu schieben versuchten. Allein so ein derbes Weib steht fest an seinem Platz.
»Das mag Gott mir verzeihen«, hatte die Alte gesprochen, indem sie den fürstlichen Händen energisch wehrte, »daß ich so den Respekt vergesse gegen eine, die zu unserem durchlauchtigen Herzogshause gehört! Aber er wird mir verzeihen, ich tue meine Pflicht, ich lasse meinem Herrn nichts stehlen.«
»Einfältige Person«, hatte Frau von Berg gescholten, »wer will denn stehlen? Ihre Durchlaucht ist die Großmutter des Kindes.«
»Mein Herr mag's mir selbst sagen!« war die Gegenrede gewesen.
»Ihr Herr ist ja nicht zu Hause, nehmen Sie Vernunft an!«
Aber auch das half nichts, Dörte hatte den Ellenbogen in die Seite gestemmt und war auf ihrem Posten geblieben. Plötzlich war es ihr gelungen, den altmodischen Glockenzug zu erwischen – manch ungeduldiges Läuten mochte von dort schon erklungen sein, aber so wie heute wohl noch nie.
Die Kinderstubenklingel war im ganzen Hause bekannt. In diesem Zimmer hatten der alte Herr und die Frau krank gelegen und waren hier gestorben – kein Wunder, daß alle Welt dachte, es sei ein Unglück geschehen, und daß Lothar, der eben von seinem morgendlichen Ritt in die Felder zurückgekommen war, allen voran den Flur entlang gejagt war, Beate hinter ihm drein, und daß von allen Seiten die Dienerschaft hinzustürzte.
»Was geht hier vor?« war seine erste Frage gewesen. Er schien seinen Augen nicht zu trauen, als er Ihre Durchlaucht erblickte, die sich beim Frühstück wegen ihrer Kopfschmerzen hatte entschuldigen lassen und die nun dort stand mit hochrotem Gesicht und mit gebieterischer Stimme sprach: »Ich wünsche meine Enkelin mit mir zu nehmen, und diese Person –«
»Ah! Durchlaucht glaubten, ich sei so versunken in mein Bräutigamsglück, daß ich die Stunde der Abreise vergessen würde? Oder vielmehr, Durchlaucht wollten mein Nachhausekommen nicht abwarten und mit einem früheren Zug abreisen? Deshalb die Wagen vor der Auffahrt? Und Durchlaucht wünschen die Enkelin mitzunehmen« – seine Stimme hatte geklungen wie fernes Wettergrollen – »ohne meine Erlaubnis vorher einzuholen? Mit welchem Rechte, wenn ich fragen darf?«
»Sie ist das Kind meiner Tochter!«
»Und das meine! Das Recht des Vaters dürfte doch wohl etwas über dem Recht der Großmutter stehen, Durchlaucht.«
»Nur auf wenige Monate, Gerald«, hatte die Prinzessin eingelenkt, die jetzt wohl zu der Einsicht kam, daß sie in ihrem Groll eine Torheit begangen hatte.
»Nicht auf eine Stunde!« rief er, und eine auffallende Blässe hatte sich auf sein Gesicht gelegt. »Dies Kind will ich bewahren vor dem Gifthauch, der da draußen weht und die reinsten Blüten aussucht, um sie zu verderben. Meine Tochter soll erzogen werden, wie es einst Sitte war im Hause meiner Vorfahren, einfach, natürlich und vornehm denkend. Und hier wird es geschehen, hier in Neuhaus, Durchlaucht, unter meiner und meiner künftigen Gattin eigener Aufsicht!« Und er hatte rasch die Vorhänge des Bettchens zurückgeschlagen, in dem die Kleine mit erschrockenen Augen lag. »Wenn Durchlaucht Abschied nehmen wollen?« – hatte er kühl hinzugesetzt.
Die Prinzessin war einen Augenblick zu der Wiege getreten, die Stirn des Kindes mit ihren Lippen berührend, und dann ohne ein weiteres Wort durch den Flur nach der Halle hinausgerauscht, wo Prinzeß Helene, mit der Hofdame und dem Kammerlierrn, der Mutter harrte. Die alte Durchlaucht war eingestiegen, mit dem verbindlichsten Lächeln auf den Lippen, Beate, die sich tief verbeugte, hatte aber doch kaum ein herablassendes Kopfneigen für ihre wochenlange Gastlichkeit bekommen. Lothar saß den Durchlauchten gegenüber, wie damals, als er sie holte. Als die Pferde anzogen, war aus zwei dunklen Mädchenaugen ein langer Blick über das alte Haus geglitten, so voll bitterer Enttäuschung, so voll schmerzlicher Reue, daß Beate trotz aller Erleichterung vor Mitleid das Herz geschwollen war. Arme, kleine, trotzige Prinzessin!
Beate ertappte sich darüber, daß sie da noch immer vor dem Spiegel stand und an den Hutbändern knüpfte. Sie seufzte tief auf. Gottlob, es war Friede im Hause! Dort oben wehte die kräftige Waldluft den letzten Hauch von dem durchdringenden Parfümgeruch aus dem Zimmer der Frau von Berg, und die Hausmädchen hatten längst die Scherben eines kostbaren Kristallglases fortgeräumt, das die alte Prinzessin in ihrem Jähzorn gegen den Kachelofen geschleudert hatte. Auf dem Rasenplatz wurden die Betten gelüftet. Morgen würde alles sein wie früher – gottlob!
»Verzeiht mir«, sprach sie mit heller Summe, als sie ein paar Minuten später in das Wohnzimmer trat, wo Klaudine durch das Fenster blickte, während Lothar gedankenvoll vor dem Bilde seines Vaters stand, um die ganze Zimmerlänge entfernt von seiner Braut. »Verzeiht, ich komme etwas spät. Man hat euch doch den Kaffee gebracht? Nun, ich wäre bereit zur Fahrt!«
Lothar ging erst jetzt gemessen auf seine Braut zu und bot ihr den Arm wie auf einem Hofball: »Eine Fahrt in der freien Luft wird Ihnen gut tun, Klaudine.«
Wie? Sie nannten sich nicht einmal »du!« Beate fing an, sich wirklich zu ärgern über diese förmlichen Menschen.
»Bitte, Lothar«, erwiderte Klaudine, »geben Sie Befehl, nach der Fahrt am Eulenhause zu halten. Ich sehne mich nach Ruhe – ich fühle mich noch matt.«
»Ja, natürlich! Wir müssen doch noch Joachim einen Brautbesuch machen«, war die Antwort.
Es war eine recht stille Fahrt. Als der Wagen den Abhang hinunterrollte dem Tale zu, aus dem die roten Dächer dss kleinen Badeortes schimmerten, lehnte sich Klaudine seufzend zurück. Auch das noch! Sie hatte es geahnt, er wollte sie zeigen – als seine Braut.
Von dem Kurhause schallten die Klänge eines Walzers herüber, als sie in die Allee einbogen. Auf dem freien Platze, in dessen Mitte der Musiktempel sich erhob, standen zahlreiche Tischchen, mit rot und weißen Decken belegt. Die ganze vornehme Kurgesellschaft saß dort plaudernd an einer riesigen Tafel, die der Oberkellner mit Argusaugen hütete, damit ja kein Unwürdiger sich an ihr niederlasse.
Heute war keiner der Sitze leer, und die Unterhaltung, so lebhaft wie lange nicht, betraf die gestrigen Ereignisse in Altenstein. Die Mär von der Ungnade der Herzoginmutter gegen ihren früheren Liebling war auf aller Lippen, natürlich entstellt, nicht zum Wiedererkennen vergrößert und verschlimmert. Nach der einen Lesart sollte die alte Herzogin Klaudine geboten haben, sofort das Schloß zu verlassen, die andere wußte von zurückgezogener Pension, ein dritter behauptete, die schöne Gerold habe es zu erzwingen gewußt, daß sie noch bei Tafel erscheinen durfte, und betont, daß der Herzog der Regierende und der allein Befehlende sei.
Oh, unglaublich! Und dazu der Blutsturz der Herzogin! Die arme Frau, die arme Frau! Vor Kummer und Aufregung natürlich!
Dem Herzog konnte man ja schließlich das Abenteuer nicht einmal übelnehmen, wenn Klaudine so leichtsinnig war. Man zuckte die Achseln und lächelte über die arme, betrogene Frau, die geglaubt hatte, eine Freundin an ihr zu besitzen.
»Oh, schauderhaft!« klagte eine ältere Baronin. »Wie es wohl herausgekommen ist?«
»Wie nur Baron Gerold diese Sache auffaßt? Er sah aus wie eine Leiche, als die alte Herzogin die Gerold so abfallen ließ.«
Ein Gewirr von Stimmen erhob sich auf diese Worte. Aber auf einmal ward es still, irgendwer hatte gesagt: »Das ist ja der Neuhäuser Wagen!«
Man gab sich den Anschein, als ob man über irgend etwas anderes angelegentlich spräche. Die Damen wandten sich zu einander und bewegten die Fächer, aber aller Augen waren dorthin gerichtet, wo das Gefährt sich näherte. Die schönen Rappen vor dem Wagen tänzelten unter den Klängen des Walzers daher, Kutscher und Diener auf dem Bock leuchteten in tadellosen blaugelben Livreen, und da im Rücksitz?
An der langen Tafel flogen plötzlich sämtliche Hüte von den Köpfen, die Herren waren aufgesprungen, die Damen grüßten und nickten liebenswürdig.
Was, um Gottes willen, Klaudine von Gerold – den Arm in der Binde, neben Fräulein Beate? Und ihr gegenüber der Baron? Langsam, sehr langsam fuhr jetzt der Wagen vorbei und hielt vor der Tür des Kurhauses.
Zwei Herren der Gesellschaft stürzten herbei, ein junger Husarenoffizier und der schwermütige Gesandtschaftsattaché. Der Leutnant wollte sich nach dem Befinden der Herzogin erkundigen, seiner hohen Tischnachbarin von dem Neuhäuser Feste, und da er wohl annehmen dürfe, Fräulein von Gerold sei am besten unterrichtet, so – und so weiter. Der Gesandtschaftsattache hatte andere Absichten, er kam auf den geflüsterten Wunsch Ihrer Exzellenz: »Man müsse doch wissen, was das zu bedeuten habe –«
»Die Herzogin befindet sich besser«, erwiderte Klaudine freundlich.
»Aber, gnädiges Fräulein scheinen verletzt?« fragte der Attache und drehte den Schnurrbart.
»Eine kleine, unbedeutende Verletzung, Herr von Sanders«, nahm Lothar das Wort. »Ich denke, meine Braut wird den Arm bald wieder – O Verzeihung! Ich vergaß zu sagen, daß Sie hier ein nagelneues Brautpaar vor sich sehen. Wir verlobten uns gestern abend. Eine Überraschung, nicht wahr, meine Herren?«
Er drückte sich mit den Herren die Hände, und Glückwünsche und Dankesworte flogen hin und her. Klaudine trank indes und gab das Glas zurück.
»Weiterfahren!« befahl jetzt Lothar, zog den Hut vom Kopf und, verbeugte sich gemessen gegen die Herrschaften um den Tisch. In den nächsten Minuten hatte der jetzt rasch dahinrollende Wagen den einsamen Waldweg erreicht.
Dort an dem Tische vor dem Kurhause schwiegen plötzlich sämtliche Zungen. Erst ganz allmählich faßte man sich. Oh, wie das jetzt anders klang!
»Nun«, erklärte die alte Exzellenz würdevoll, »ich habe es ja gleich gesagt, an all dem Gerede war nichts!«
»Ach Gott, es wird so viel gesprochen«, seufzte die gefühlvolle Baronin. »Wer hat es denn eigentlich aufgebracht?«
»Antonie von Bohlen hat es mir heute geschrieben«, sagte eine der hübschen Komtessen Pausewitz, »doch ich sollte nicht darüber sprechen.«
»Aber so erzähle doch!« rief die Gräfinmutter, ärgerlich über diese Diskretion.
»Klaudine Gerold hat sich die Pulsader aufschneiden lassen, weil die Herzogin dem Verbluten nahe war, und da ist ihr Blut in die Adern der Herzogin geleitet worden«, berichtete die Komtesse. »Antonie schreibt, ohne das wäre die Herzogin gestorben. O Gott, o Gott, es ist schauderhaft, ich hätte es nicht gekonnt.«
»Himmel, wie schrecklich!« riefen sämtliche Damen.
»Wie mutvoll! Das ist Rasse!« sagte der kleine Offizier mit funkelnden Augen.
»Tausend Wetter, das ist zum Verlieben!« rief Seine Exzellenz und bekam dafür einen verweisenden Blick von seiner Frau Gemahlin.
»Sie sah wunderbar schön aus«, flüsterte der Schwermütige noch melancholischer als gewöhnlich. »Dieser beneidenswerte Gerold!«
»Er hat übrigens seinen Abschied eingereicht«, erzählte der Husarenoffizier, »er will seine Güter selbst bewirtschaften.«
»Was hast du noch, Lolo?« ermunterte die Gräfin ihre Tochter.
»Oh, sie hat so viele Brillanten bekommen«, erzählte eifrig die Komtesse, »und die alte Hoheit hat sie gepflegt wie eine Tochter und sie geherzt und geküßt.«
»Ah, reizend!«
»Wann sie wohl heiraten werden?«
»Sie leben jedenfalls im Winter in der Residenz.«
So ging es weiter. Im innersten Herzen gönnte keines dieser Klaudine das Glück, aber keines wagte, mit einem Wörtchen den Ruf von Baron Gerolds Braut anzutasten. Es rauschte so ganz anders jetzt in den Bäumen der Waldfrische, und die Damen beschlossen einmütig, der jungen Braut einen prachtvollen Blumenkorb zu spenden als ein Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Rettung der geliebten Herzogin.
Indessen war das Brautpaar vor dem Eulenhause angelangt. Gärtchen und Gebäude lagen friedlich im Abendsonnenschein und die durchbrochenen Rosetten der Klosterruine schimmerten rosig angehaucht. Klaudines schönes Gesicht ward plötzlich von einer peinvollen Angst belebt. Dort war ja die alte, rundbogige Haustür bekränzt mit Girlanden aus Spargelkraut und Rosen!
»Lothar«, flüsterte sie und berührte leicht seinen Arm beim Aussteigen, »ich bitte, nein, ich verlange von Ihnen – kehren Sie heim mit Beate, ich will Joachim erst vorbereiten. Ich kann hier nicht Komödie spielen, es geht über meine Kräfte.«
Er kämpfte sichtlich mit einem Entschluß, aber ein Blick in die verzweifelten blauen Augen hieß ihn nachgeben. Er erwiderte kein Wort, er wandte sich nur und bat Beate, sitzen zu bleiben. Bis zur Haustür, wo die kleine Elisabeth ihr jubelnd entgegenlief, begleitete er sie und küßte ihr die widerstrebende Hand.
»Wann wünschen Sie den Wagen nach Altenstein, heute abend?« sagte er. »Sie gestatten selbstredend, daß ich Sie hinüberbegleite?«
Sie drehte sich eben in der Haustür um und nickte Beate abschiednehmend zu.
»Ich danke Ihnen, Lothar«, klang es nun leise, aber bestimmt, »ich kehre nicht nach Altenstein zurück, ich bleibe hier. Ich werde die Herzogin hiervon benachrichtigen. Sie glauben es nicht?« fuhr sie müde lächelnd fort, »ich versichere Sie, ich habe tatsächlich nicht die Kräfte zu diesem Spiel. Ich versuchte ja heute tapfer meine Pflicht zu tun, nicht wahr? Haben Sie Mitleid mit mir!«
Sie neigte ernst den Kopf und ging ins Haus.
Fräulein Lindenmeyer kam ihr entgegen. Die Alte fiel in freundlicher Hast beinahe über ihre Stubenschwelle. Sie hatte die rotbebänderte Haube auf und breitete beide Arme aus.
»Ach, gnädiges Fräulein, welch ein Glück!« rief sie weinend vor Freude. »O, wir wissen es schon, wir wissen es! Des alten Heinemann Enkelin war da, sie hat es brühwarm hergebracht. Warum kommt der Herr Bräutigam nicht mit?«
Klaudine mußte sich umarmen und küssen lassen, dem herbeigeeilten Heinemann die Hände schütteln und Idas Glückwünsche entgegennehmen. Ganz betäubt stieg sie endlich die Treppe empor. Wie schwer war doch dies alles!
Joachim sah von seinem Hefte auf, als sie eintrat. Er brauchte erst ein paar Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Dann sprang er auf, trat rasch zu ihr und hob ihren Kopf in die Höhe. »Meine tapfere kleine Schwester – und als Braut? Sieh mich an, mein Liebling«, bat er.
Aber sie hob die Wimpern nicht, von denen jetzt große Tropfen fielen. »Ach Joachim, Joachim!« schluchzte sie.
Er streichelte ihr über das weiche seidige Haar.
»Weine nicht«, sagte er, »sprich lieber, was haben sie dir getan da draußen?«
Und da brach er los, der Sturm der Verzweiflung, schrankenlos, unaufhaltsam. Sie schonte sich nicht, sie verhehlte, bemäntelte nichts von der Demütigung, die erbarmungslos über sie gekommen war, gegen die ihr Stolz sich ohnmächtig auflehnte. »Und Joachim«, schluchzte sie wild auf, »das schrecklichste ist, daß ich ihn liebe, liebe, wie nur ein Mädchen lieben kann, seit Jahren schon! An dem Tage, da er neben Prinzeß Katharine am Altar stand, habe ich gemeint, ich könne nicht weiterleben, und jetzt wirft mir das Schicksal hohnlachend das ersehnte Glück in den Schoß und sagt: »Da – aber behutsam! Es ist nur Goldschaum, der darauf klebt, es ist nicht echt. Da hast du, um was du gebetet und geweint hast, jahrelang!« – Glaube mir, er hat mich an sich genommen, so etwa wie er das Silbergeschirr auf der Versteigerung erstand, um jeden Preis, weil er lieber sterben würde, ehe er duldete, daß an dem Namen Gerold ein Makel haftet. Er hat mich an sich gezogen – der Familienehre halber, um weiter nichts, nichts!«
Sie schwieg erschöpft, aber das bittere leidenschaftliche Schluchzen dauerte fort.
Joachim antwortete nicht. Noch immer lag seine Hand auf ihrem blonden Haar. Endlich sagte er mild: »Und wenn er dich doch liebte?«
Sie stand plötzlich auf den Füßen.
»O mein Gott!« sprach sie, und auf ihrem verweinten Gesicht drückte sich etwas wie Mitleid aus. »Nein, du argloser guter Mensch, er liebt mich nicht!«
»Aber wenn er es doch täte! Er ist niemals einer von denen gewesen, die Gefühle zu heucheln verstanden. Du weißt, er hätte sich von je lieber die Zunge abgebissen, ehe er ein unwahres Wort redete. Immer war er so, Klaudine.«
»Ja, gottlob!« rief sie flammend und richtete sich hoch auf, »das hat er auch nicht gewagt! Du denkst, Lothar hätte um mich geworben mit Liebesheucheln? O nein, unwahr ist er nicht. Und als ich ihm die Komödie vorschlug, da fiel es ihm nicht ein, zu beteuern, daß er etwa sehr betrübt sein werde, wenn wir uns später trennen. Nein, ehrlich ist er – bis zum Verletzen ehrlich!« Sie schien sich plötzlich zu fassen. »Du Armer«, sagte sie weich, indem sie des Bruders Hand ergriff, »so störe ich deine Arbeit mit meinen bösen Nachrichten. Ertrage mich, Joachim, ich werde ruhiger werden, ich will nun wieder dein Hausmütterchen sein, dein guter Kamerad. Daß ich doch nie hinausgegangen wäre! Und allmählich werde ich alles, alles überwinden, Joachim!«
Sie küßte ihn auf die Stirn und ging in ihr Stübchen, dessen Tür sie hinter sich verriegelte.
Wie frisches kühles Quellwasser wirkte die Ruhe dieses eigenen kleinen Heims auf ihre Seele. Sie ging von Möbel zu Möbel, als müsse sie jedes einzelne begrüßen, und stand endlich still vor dem Bilde der Großmutter.
»Du warst eine so kluge alte Frau«, flüsterte sie, »und welch törichte Enkelin hast du erzogen! Sie bezahlt die zu spät erworbene Klugheit mit ihrem Lebensglück!«
Dann legte sie mühsam das Spitzenkleid ab, hüllte sich in ein einfaches graues Hauskleid, setzte sich still ans Fenster in den alten Lehnstuhl und schaute in den dämmerigen Abend hinaus.
Unten in der Wohnstube schlich inzwischen die kleine Elisabeth betrübt um den freundlich gedeckten Tisch, er sah doch schön aus mit der rosengefüllten Porzellanschale in der Mitte, den kunstvoll gebrochenen Servietten und den rosenumkränzten Stühlen für das Brautpaar. Und gar der schöne Kuchen, von Ida selbst gebacken! Der dicken Wachspuppe hatte die Kleine ein neues blaues Kleid angezogen. Wo blieben sie denn nur alle so lange?
Sie lief hinunter in Fräulein Lindenmeyers Stube. »Wann ist denn endlich Hochzeit?« fragte sie ungeduldig. Sie hatte gemeint, die festliche Vorbereitung bedeute schon die Hochzeit.
»Ach, mein Liebling«, seufzte das alte Fräulein und sah kopfschüttelnd zu Ida hinüber.
War das auch ein Brautpaar, das am ersten Verlobungstage nicht einmal zusammenblieb? Oder sollte das eine neue Mode sein? Zu ihrer Zeit war das anders gewesen, da mochte man sich gar nicht trennen und saß beieinander und sah sich in die Augen. Sie seufzte.
»Räume ab, Ida«, flüsterte sie, »die Wespen kommen in die Stube nach dem Kuchen, er wird nur trocken. Ach, unsere duftigen Kränze! Das ist das Los des Schönen auf der Erde! Ida, Ida, mir ist ganz unheimlich zumute!«
»Elisabeth möchte Kuchen haben«, sagte die Kleine und trippelte hinter dem Mädchen hinaus.