Am Nachmittag des anderen Tages schritt Klaudine durch den Wald nach dem Neuhäuser Geroldshofe. Sie wollte selbst mit Beate sprechen. Sie hatte den schmalen Fußweg gewählt, der nach verschiedenen Krümmungen auf die breite, in der Nähe des Altensteiner Geroldshofes von der Chaussee abzweigende Fahrstraße mündete.
Es war ein beträchtliches Stück Weges, das sie zurücklegen mußte, aber sie ging auf weichem Moos und Gräsern wie auf Samt, und über ihr dunkelte das festverwachsene, von kräftigem Grün strotzende Geäst der Baumriesen. Sie selbst, der schöne Schwan der Geralds, wie ihr Bruder sie zärtlich nannte, wandelte in ihrem hellen Sommerkleid, mit dem weißen Strohhut über der Stirn, wie ein Lichtschein durch das köstlich kühle, grüne Dämmern, das sie umfing, bis sie die Fahrstraße betrat. Von da ging es ganz allmählich bergauf in lichter werdendem Gehölz, dann an Kleeäckern und Kornbreiten vorüber durch das ganze, weithingebreitete, segentriefende Mustergelände.
Unwillkürlich bückte sie sich, um eine Handvoll Butterblumen zu pflücken, die wie Goldaugen auf dem fetten Wiesengrase leuchteten. Nicht lange, da blinkten auch die Fensterreihen des Gutshauses auf. Es lag auf einer sanften Bodenerhebung. Kurz gehalten, samtartig legte sich der Rasen über die Abhänge.
Klaudine stieg einen der schmalen Wege hinauf, die den Rasen durchschnitten. Sie ging mit gesenkter Stirn und sah erst auf, als sie den Kies unter den Linden an der Westseite des Hauses betrat, und da schrak sie zusammen und hielt einen Moment unangenehm betroffen und unschlüssig den Schritt an. Neuhaus hatte Gäste.
Eine Dame, die offenbar promenierend im Lindenschatten auf und ab gegangen war, trat ihr entgegen, eine stattliche Erscheinung mit sehr weißem Gesicht und südlich flammenden, dunklen Augen. Ihre elegante, grauseidene Schleppe fegte den Kies, und in dem Kamme, der ihre vollen Haarsträhnen hoch auf dem Scheitel zusammenhielt, blitzten bei jeder Wendung farbige Steine auf. Sie trug ein Kind auf dem Arme, ein hageres, gelbes Geschöpfchen in weißem Tragkleid, dessen Spitzenkanten nahezu den Boden streiften.
Klaudines Blick hing wie festgebannt an dem Kindergesichtchen. Sie kannte diese großen, funkelnden Beerenaugen, das gebogene Näschen über den starkgeschwellten Lippen, die niedere Stirn, auf welcher sich die dicken, schwarzen, feuchtglänzenden Haare so eigenwillig aufsträubten – das war der Gesichtstypus der Seitenlinie des herzoglichen Hauses.
»Will haben!« stammelte die Kleine und reichte verlangend nach den Butterblumen in Klaudines Hand.
Die junge Dame wollte ihr freundlich lächelnd den Strauß in das ausgestreckte Händchen drücken, aber die Trägerin des Kindes wich so rasch zurück, als sei die beabsichtigte Berührung ansteckend. »O bitte – nicht! Ich kann das nicht erlauben!« protestierte sie, und ihr Blick streifte hochmütig den einfachen Anzug der jungen Dame. Bei dieser Weigerung erhob das Kind ein ohrzerreißendes Geschrei.
Im gleichen Augenblick bog ein Herr um die Hausecke. »Weshalb schreit denn die Kleine so häßlich?« rief er, rasch näherkommend, mit hörbarem Unwillen.
Klaudine nahm unwillkürlich die kühl ablehnende Haltung an, die ihr am Hofe Schild und Panzer gewesen war.
– Baron Lothar war nach Deutschland zurückgekehrt, und das kleine, eigensinnige Mädchen da war sein Kind.
»Will haben!« wiederholte die Kleine und zeigte nach den Blumen.
Baron Lothar drohte ihr ernst mit dem Finger, worauf sie scheu verstummte. Eine jähe Glut war in sein bärtiges Gesicht geschossen, und aus seinen Augen fuhr ein Blitz über die ernst-ruhige Erscheinung der ehemaligen Hofdame. Nichtsdestoweniger verbeugte er sich tief und ritterlich vor ihr.
»Kind«, sagte er spöttisch lächelnd zu der Kleinen, während er ihr mit seinem Taschentuch die Tränen von dem hageren Gesichtchen wischte, »wer wird Blumen begehren, die andere pflücken! Und weißt du nicht, daß Frauenhand da am liebsten verweigert, wo gewünscht wird?«
Klaudine sah ihm, diesem verzogenen, vergötterten Liebling aller Damen, mit ungläubigem Erstaunen in das Gesicht, aber sie blieb seiner Bemerkung gegenüber vollkommen unbefangen. »Durch mich soll das Kindchen da diese erste schlimme Erfahrung gewiß nicht machen«, entgegnete sie gelassen. »Auch habe ich kaum ein Recht an diese Blumen – sie sind auf Ihrer Wiese gewachsen. Erlauben Sie jetzt –?« wandte sie sich an die Trägerin des kleinen Mädchens.
Baron Lothar drehte sich rasch um und fixierte die stattliche Dame mit einem zornig erstaunten Blicke. »Jetzt?« wiederholte er. »Wieso?«
»Ich fürchtete, Leonie möchte die Blumen in den Mund stecken«, antwortete die Dame stockend. Verlegenheit und Ärger stritten in ihrer Stimme.
»Und die Wiesenblumen, die unbarmherzig zerzupft dort massenhaft neben dem Kinderwagen und auf seinen Decken liegen, wer hat ihr die gegeben, Frau von Berg?«
Die Dame schwieg und wandte den Kopf.
Klaudine beeilte sich, dem Kind den Strauß hinzureichen, denn die Szene wurde peinlich. In demselben Augenblick waren aber auch die zwei kleinen Fäuste dabei, die armen, gelben Dinger in Atome zu zerzupfen. Klaudine mußte unwillkürlich an die Mutter des Kindes, die Prinzessin Katharina, denken, von der man sich erzählte, daß sie in der ersten Zeit ihrer verschwiegenen Liebe alle vielblättrigen Blumen bei dem gemurmelten »Er liebt mich und so weiter« zerzupft habe.
Baron Lothar sah mit gerunzelten Brauen auf die kleinen Vandalenhände und zuckte die Achseln. »Ich möchte Sie übrigens bitten, die Kleine wieder in gestreckte Lage zu bringen«, sagte er zu Frau von Berg. »Sie sitzt jedenfalls schon zu lange und ist ermüdet. Man sieht es an der Krümmung des Rückens.«
Die Dame rauschte mit zurückgeworfenem Kopfe nach dem Kinderwagen, während sich Klaudine verabschiedend vor dem Herrn des Hauses neigte. Allein er blieb an ihrer Seite.
Beim Umbiegen um die Hausecke kam ihnen ein leichter Zugwind entgegen. Er erregte ein leises Blätterrauschen in den Lindenkronen über ihnen.
»Wie es geheimnisvoll raunt da oben!« sagte Baron Lothar. »Wissen Sie auch, von was die alten Bäume flüstern? Von den Montecchi und Capuletti des Paulinentales.«
Die junge Dame lächelte kühl. »Im Mädcheninstitut besinnt man sich selten auf den Familienzwist daheim«, entgegnete sie gelassen. »Man hat sich gern und fragt nicht, ob man auch darf, und wenn ich heute den von den Meinen gemiedenen Boden betrete, so gilt es eben auch nur der Pensionsschwester. Ich war schon einmal während meiner letzten Institutsferien in Neuhaus. Die alten, schönen Bäume kennen mich.«
Er verbeugte sich schweigend und ging weiter, und sie betrat den Hausflur. Sie brauchte nicht nach Beate zu fragen, denn hinter der nächsten Tür, die zu einem nach der Hofseite liegenden Gelaß führen mochte, klang in energischer Weise die gebieterische Stimme der »Pensionsschwester«.
»Geh, sperre dich nicht, kindisches Ding!« schalt sie drin. »Ich habe keine Zeit zu vertrödeln – die Hand her!« Eine momentane Pause. »Sieh, sieh, wie schön die Schnittwunde heilt! Nun können wir auch den Nähfaden wieder herausziehen!« Der leise Aufschrei einer jugendlichen Stimme erfolgte, dann war es still.
Klaudine öffnete geräuschlos die Tür. Dicker Plättdunst quoll ihr entgegen. An einer langen Tafel standen drei weibliche Personen und bügelten im Schweiß ihres Angesichts, während Beate am Fenster einer jungen Magd die Binde wieder um die verletzte Hand wickelte.
Sie sah die Eintretende nicht, wohl aber fuhr ihr scharfer Blick sofort von der geknüpften Verbandschleife über den Plättisch hin. »Luise, Naseweis, was machst du denn da?« rief sie. »Herrgott, meine allerbeste Kragengarnitur unter den unglücklichen Fäusten! Hör mal, das ist mehr als dreist von solch einem Kiekindiewelt, wie du bist!« Sie nahm dem Mädchen die Stickerei weg, besprengte sie mit Wasser und rollte sie zusammen. »Ich werde das Unheil später selbst gutmachen.« sagte sie zu den anderen, auf das kleine Bündel deutend. Dabei ging sie nach der Tür und stand überrascht vor Klaudine; und das war wirkliche, herzliche Freude, die sich plötzlich verklärend über ihre strengen Züge verbreitete. »Heißes Wasser in die Kaffeemaschine!« befahl sie kurz und bündig in die Plättstube zurück, legte ihren Arm um die Schultern der jungen Dame und führte sie in die Wohnstube, in das schöne, weite Eckzimmer mit seinen tiefgebräunten, altmodischen Mahagonimöbeln, seinen weißen, tannenen Dielen und den zierlich gefältelten Vorhangbogen.
Vor den drei Fenstern an der Südseite waren die Rollvorhänge niedergelassen, die zwei nach Osten sehenden dagegen brauchten keinen Schutz gegen das grelle Nachmittagslicht. Da dunkelten die Linden, und unter ihrem herrlichen, undurchdringlichen Schirmdach hinweg sah man ungeblendet hinaus in das blühende, sonnenglänzende Land.
»Nun mache dir's bequem, alter, lieber Pensionskamerad!« sagte Beate und führte die Angekommene zum Niedersitzen an eines dieser Fenster. Sie nahm ihr den Hut ab und strich leicht mit der Hand über die köstliche Haarfülle. »Da ist's ja noch, was wir alle so gern hatten, das wellige Gelock über der Stirn und im Nacken! Falsche Wülste trägst du auch nicht, und dem ›Goldschnitt‹ hat der Hoffriseur mit seinem Brenneisen auch nichts anhaben können – na, du kommst ja ziemlich heil aus – dem Babel!«
Klaudine lächelte leise und setzte sich an Beates Nähtisch. Da lag neben feiner Flickwäsche, sauber eingebunden, Scheffels »Ekkehard«.
»Ja, siehst du, Schatz«, sagte Beate, die verschiedenes zusammentrug, um den Kaffeetisch herzurichten, mit einem Blick auf das Buch gleichsam entschuldigend, »ein Menschenwesen wie ich, das täglich wie ein Gendarm hinter Trägheit und Indolenz her und dabei selbst meist ein richtiger Arbeitsbär sein muß, hält dann auch um so zäher auf seine seltene, schöne Erholungstunde, und für den Zweck trage ich mir nach und nach das Beste, was die deutsche Literatur hat, in meinem Lesewinkel zusammen.«
Dabei räumte sie das Buch und die Flickwäsche in den Nähkorb und legte eine Serviette auf den Tisch. Dann brachte sie die Zuckerdose, ein altmodisches, lackiertes Blechkästchen mit festem Verschluß. Sie schloß es auf und machte ein ärgerliches Gesicht. »Nun ja, da hat man's! Ein Wunder ist's freilich nicht bei dem Drunter und Drüber! Wirtschaftszucker in der guten Dose! Das ist mir auch noch nicht passiert! Aber Lothar hat mir auch einen Streich gespielt, einen Streich! Da schreibt mir der Mann als Antwort auf meinen Brief, worin ich ihm den Ankauf eures Silbers anzeige, er käme nun auch selbst zurück. Ich denke mir, frühestens im Juli, und lasse mir Zeit, und da schneit er mir vorgestern mit Sack und Pack direkt in unsere große Wäsche hinein! Es war schrecklich! Ich hatte meine ganze Fassung nötig, denn die Mamsell verlor vollständig den Kopf und machte eine Dummheit über die andere.«
Sie brannte den Spiritus unter der Kaffeemaschine an und zerschnitt ein Stück Kuchen. Klaudine mußte dabei denken, wie vorteilhaft sich doch diese hohe, kräftige Gestalt in der weiten, weißen Schürze und dem sauberen Leinenstreifen um Hals und Handgelenk in ihrer Rolle als Hausfrau präsentierte. Ihre Sicherheit war geradezu imponierend und himmelweit verschieden von dem linkischen, verletzenden Tun und Wesen, das sich neulich auf dem Altensteiner Geroldshofe so unliebsam geltend gemacht hatte an »dem barbarischen Frauenzimmer«.
»Lothar allein hätte uns nicht in Verlegenheit gebracht«, fuhr sie fort, nachdem sie auch ein Körbchen voll Früherdbeeren aus dem Wandschrank genommen hatte, »wenn er auch sehr verwöhnt ist, aber dieser Menschentroß, den er mit sich schleppen muß! Da ist die Frau von Berg, ihre Jungfer, eine Kinderfrau und verschiedenes männliches Dienstpersonal – sie alle wollten untergebracht sein. Und das Kind, das Kind! Solch ein armseliges Würmchen hat auch noch nie die Neuhäuser Wände angeschrien. Nein, noch nie! Himmel, das sollte der selige Ulrich Gerold, mein strammer Großpapa, sehen! Der würde Augen machen! ›Piepsige‹ Brut war ihm solch kleines Volk ohne Blut und Knochen. Das Kind tritt ja absolut nicht auf seine dünnen Beinchen und ist doch nahezu zwei Jahre alt. Bäder von wildem Thymian und unverfälschte Milch würden dem armen Wurm gut tun, aber an das komplizierte Ernährungsprogramm der Frau von Berg darf ja unsereins nicht rühren. Lothars Schwiegermutter, die alte Prinzessin Thekla, hat sie als Pflegerin für das Enkelchen angestellt und tut förmlich verliebt in die dicke, verdrehte Person.«
Sie zuckte die Achseln, goß den fertigen Kaffee in die Tassen und setzte sich an den Tisch. Und nun konnte Klaudine ihren Vortrag beginnen.
Beate verrührte den Zucker in ihrer Tasse und hörte schweigend zu. Bei der Hauptsache aber, dem Fund, sah sie empor und lachte überrascht auf. »Was – Wachs? Und ich sah schon im Geiste, wie dein alter Heinemann eine ganze Truhe voll Monstranzen und Gott weiß was für andere Kostbarkeiten ausräumte! Wachs! Sieh, sieh, Ben Akiba hat doch nicht recht – das ist neu! – Und diese Klosterfrauen! Nach den Lyrikern sind sie meistens weiße Rosen, die blaß und verhärmt durch das Fenstergitter in das verpönte schöne Weltleben hinausschmachten.« Sie lachte. »Dazu haben die Walpurgisnonnen sicher keine Zeit gefunden, das müssen ja die reinen Wirtschafts- und Sparteufelchen gewesen sein. Nach unserem alten Hausbuch sind ja auch zwei Gerolds unter den verjagten Nonnen gewesen. Wer weiß, ob nicht gerade sie mit Schurzfell und Mauerkelle in den Keller hinuntergestiegen sind, um den Rebellen die Beute vor der Nase wegzuschließen! Wer weiß, ich hätt's auch so gemacht.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Eine wunderliche Geschichte! Und fast ebenso verwunderlich ist's, daß jetzt die grundehrliche Haut da vor mir sitzt und in ernsthaftester Weise den Fund, Scheibe um Scheibe, wohlgezählt, mit uns teilen will!« Ein hübscher Zug von Humor ging durch ihr geradliniges, ernstes Gesicht. »Ei nun ja, Wachs kann man immer brauchen, und sei es auch nur, um ein Bettinlett zu wichsen oder einen Nähfaden glatt und haltbarer zu machen. Aber darin bin ich nicht die höchste Instanz, lieber Schatz, das mußt du mit Lothar besprechen.«
Damit stand sie auf und ging hinaus.
Klaudine machte keine Bewegung, sie zurückzuhalten. War ihr auch eine weitere Begegnung mit dem Baron auf Neuhaus nicht erwünscht, so mußte sie sich doch sagen, daß damit die Sache sofort erledigt würde, und deshalb erhob sie sich ruhig, als sie nach längerem Warten seine Schritte in der Hausflur hörte.
Er trat mit seiner Schwester ein. Klaudine hatte ihn am Hofe nur in seiner Rittmeisteruniform gesehen – heute war er im schlichten, grauen Zivilanzug, und sie mußte sich, wie schon vorhin unter den Linden, gestehen, daß es nicht »zumeist« der bestechende Glanz der Soldatenerscheinung gewesen war, der ihn, selbst neben dem ritterlich schönen, imposanten Herzog, zu der auffallendsten Männergestalt am Hofe gemacht hatte.
Sie verließ das Fenster und wollte sprechen, aber er hob lächelnd die Hand. »Es bedarf keines Wortes weiter«, beeilte er sich zu sagen. »Beate teilte mir bereits mit, daß Ihr romantisches Eulenhaus seine Schätze herausgegeben habe – die uralte Habe eines Klosters! Wie interessant! Jedenfalls sind es die Geisterhände der Nonnen selbst gewesen, die das Mauerwerk gelockert haben, wohl weil endlich ›die Rechte‹ gekommen ist.«
Klaudine sah unwillkürlich nach den dunkelbärtigen Lippen, die so liebenswürdig zu sprechen wußten. Das war nicht mehr dei Mann, der an der Seite der Prinzessin nie ein freundliches Wort verwandtschaftlicher Annäherung für sie gehabt, dessen verfinsterter Blick die neue Hofdame immer nur verstohlen gestreift hatte.
Beate schob sie ohne weiteres an den Kaffeetisch zurück. »Geh, tue nicht gar so feierlich, Klaudine! Wir sind nicht bei Hofe!« sagte sie. »Setze dich! Deine ›Aschenbrödelfüßchen‹ werden sich wohl gewundert haben, daß ihnen ein solcher Marsch zugemutet worden ist.«
Die junge Dame suchte errötend schleunigst ihren Platz wieder auf, und Beate setzte sich zu ihr, während Baron Lothar, die Hände auf die nächste Stuhllehne gestützt, ihnen gegenüber stehen blieb.
»Allerdings ein langer Weg durch den tiefen Wald«, pflichtete er seiner Schwester bei, »ein Weg, den eine Dame allein doch nicht wagen sollte! Fürchten Sie nicht, daß Ihnen die – Roheit begegnen könnte?«
»Ich habe keine Furcht. Im Walde bin ich früher stets zu Hause gewesen wie in unserer Kinderstube. Ich habe weit eher die Zuversicht, daß er mich beschützt wie ein alter Freund.«
»Ja, solch ein Waldläufer durch dick und dünn und Nacht und Nebel bin ich auch!« lachte Beate. »Wir sind eben Thüringer Waldkinder. Aber für deine feinen Söhlchen, Klaudine, ist der Weg jetzt doch entschieden zu anstrengend –«
»Und ein völlig zweckloses Opfer, das Sie Ihrem überstrengen Rechtsgefühl gebracht haben«, fiel ihr Bruder ein. »Denn es bedarf wohl keiner salomonischen Weisheit unserseits, um sofort zu entscheiden, daß wir auch nicht einen Schein von Recht an dem Fund haben. Das Eulenhaus ist seit langen Jahren im Besitz der Altensteiner Linie, wie kämen wir dazu, so weit in die Vergangenheit zurückzugreifen mit Ansprüchen, die uns um so weniger zustehen, als wir eigentlich ein Unrecht gutmachen müßten? Ich habe nämlich nie begriffen, wie mein Großvater auf den Tausch hat eingehen mögen, nach welchem ihm für den wertlosen Trümmerhaufen ein ausgezeichnetes Ackergrundstück zugefallen ist.«
»Der Meinung bin ich auch«, stimmte Beate mit einem energischen Kopfnicken zu. »Nun mag dein alter Heinemann beweisen, daß seine Abschätzung des Fundes richtig ist. Ein jährlicher Zuschuß zu deinem Wirtschaftsgeld wird dir nicht unwillkommen sein.«
»Praktisch wie immer, liebe Beate!« sagte Baron Lothar. »Aber ich möchte fast gegen dieses Los der Nonnenerbschaft protestieren. Wäre es nicht poetischer, wenn sich der Blütenstaub, den die Bienen vor uralten Zeiten zusammengetragen haben, in edle Steine verwandelte? Vielleicht in einen Brillantschmuck, den die Erbin bei ihrem ersten Wiedererscheinen am Hofe tragen würde?« warf er leicht hin, indem er halb abgewendet die ehemalige Hofdame über die Schulter ansah.
Sie hob die Wimpern, ihr verdunkelter Blick begegnete dem seinen. »Steine für Brot?« fragte sie. »Mir ist das Glücksgefühl, die Sorge aus meinem Heim verscheuchen zu können, mehr wert, und deshalb denke ich ›praktisch‹ wie Beate. Und was soll ich bei Hofe? Sie scheinen nicht zu wissen, daß ich meine Entlassung genommen habe.«
»Wohl, das pfeifen die Spatzen von den Dächern der Residenz. Aber geben Ihnen nicht Ihr Name und Ihre vielbeneidete Eigenschaft als Liebling der Herzoginmutter jederzeit das Recht, zu Hofe zu gehen?«
»Vom armen Eulenhaus aus?« unterbrach sie ihn mit zuckenden Lippen.
»Allerdings, die Entfernung ist groß –« gab er zu, aber seine Stimme klang dabei so hart, als habe er ein ihm verfallenes Opfer unter den Händen, das er um jeden Preis festhalten wolle. »Acht gutgemessene Fahrstunden! Nun, vielleicht findet der Hof selbst ein Auskunftsmittel – er braucht Ihnen ja nur näher zu rücken.«
»Wie wäre das möglich?« rief sie jäh emporschreckend. »Außer dem alten Birschhaus ›Waldlust‹ hat das herzogliche Haus kein bewohnbares Besitztum in unserer Nähe.«
»Und in dieser famosen ›Waldlust‹ mit ihren drei engen Stuben läuft das Wasser von den Wänden«, warf Beate lachend ein. »Der Sturm wird das verwahrloste Gerümpel nächstens über den Haufen blasen.«
Baron Lothar schwieg. Er begann, im Zimmer auf und ab zu schreiten. »Ich hielt mich vorgestern auf meiner Reise nach hier einige Stunden in der Residenz auf, um der Prinzessin Thekla die kleine Enkelin zu bringen«, hob er nach einem augenblicklichen Schweigen wieder an, indem er stehen blieb. »Und da hörte ich flüchtig von einem derartigen Projekt des Herzogs.«
Er richtete plötzlich bei Nennung dieses Namens seinen Blick fest, durchdringend, auf das schöne Gesicht der ehemaligen Hofdame, über welches eine flammende Röte hinschlug. »Man zischelte da so viel durcheinander«, fuhr er fort, wobei er mit einem bitterhöhnischen Lächeln den Blick von dem erröteten Gesicht wegwandte. »Sie kennen ja das Hofgeflüster. Es kommt gehuscht wie die Motte aus dem Winkel und läßt sich schwer einfangen und festhalten, aber seine Spur bleibt an irgendeinem angenagten Heiligenschein oder dergleichen.«
Bei diesen Worten hob Klaudine das gesenkte Antlitz. »Ich kenne das Hofgeflüster«, bestätigte sie, »aber ich habe mich nie so weit herabgelassen, ihm einen Einfluß auf mein Urteil zu gestatten.«
»Bravo, alter Pensionskamerad!« rief Beate. »Du bist ja wirklich mit heiler Haut davongekommen!« Ihre klaren Augen hatten scharf prüfend die erregten Gesichter der beiden Sprechenden gestreift. »Aber nun laßt diese Hoferinnerungen ruhen!« setzte sie mit gerunzelter Stirn hinzu. »Der Klatsch ist mir in tiefster Seele verhaßt, einerlei, ob der am Brunnen und Waschtrog oder am Hofe, er hat immer und überall seine gemeine Seite. Sage mir lieber, wie du dich in deine neue Aufgabe findest, Klaudine!«
»Nun, der Anfang war schwer«, antwortete die junge Dame mit ihrem schönen, sanften Lächeln. »Hände und Schürzen tragen die Spuren der Ungeschicklichkeit beim Kochfeuer. Aber dieses erste Stadium ist glücklich überwunden, und ich finde nun auch Zeit, mich an unserem Stilleben und Joachims heiterem, zufriedenem Gesichte zu erquicken.«
»In der Tat: Er sieht Sie mit heiterem Gesicht Magddienste verrichten?« Lothars Augen sahen sie spottblitzend an.
»Glauben Sie, ich wüßte nicht zu verhüten, daß er mich beim häuslichen Schaffen sieht?« gab sie heiter lächelnd zurück. »Und dazu bedarf es wahrlich keiner besonderen Schlauheit. Joachim schreibt von früh bis spät an seinem Reisewerke über Spanien, in welches er seine schönsten Gedichte einwebt. Und bei diesem beglückenden Schaffen steht er außerhalb des wirklichen Lebens mit seinen kleinlichen Sorgen und Bedrängnissen. Er ist ein Mensch, der auf harten Dielen so gut schläft wie im weichen Bette, der ausschließlich bei Milch und Schwarzbrot zufrieden leben kann. Aber Liebe braucht sein zärtliches Gemüt, liebevolles Verstehen, und das findet er stets, wenn er aus seiner stillen Glockenstube zu den Seinen herabkommt. O ja, ich darf mir sagen, daß ich meine neue Lebensaufgabe begriffen habe – Joachim ist eine echte Dichternatur, die mir keine geringere als Frau Poesie in Pflege und Obhut gegeben hat!« Sie erhob sich und griff nach Hut und Handschuhen. »Und nun will ich heimgehen und für den Abendtisch noch Eierkuchen backen. Lache nicht, Beate«, – sie stimmte aber selbst für einen Augenblick herzlich in das Lachen der Pensionsschwester ein – »meine gute Lindenmeyer ist ganz stolz auf 'die flinke Art und Weise, wie ihre Schülerin den Kuchen auf die andere Seite zu schwenken versteht.«
»Das müßte deine alte Hoheit sehen!«
»Es würde ihr gefallen, das weiß ich. Sie ist eine deutsche Frau, und das hausmütterliche Element steckt ihr im Blute, wenn sie auch fürstlich geboren ist.«
»Ob es ihr aber gefiele, wenn das bittere Muß sie plötzlich aus ihrem Audienzzimmer an den Küchenherd versetzen würde? Der Wechsel zwischen Licht und Schatten, wie du ihn auf dich genommen hast, ist zu grell.«
»Beruhige dich, Beate!« unterbrach sie ihr Bruder mit hörbarer Ironie. »Diese Prüfung währt nicht lange. Sie ist ja nur ein Übergangsstadium, so eine Art Märchenepisode wie König Drosselbart. Ehe du dich dessen versiehst, wird ein Sonnenglanz die vermeintliche Schattenblume bescheinen, ein Sonnenglanz, um welchen sie alle Rosen von Schiras beneiden müssen.«
Die beiden Geschwister hatten bereits unbemerkt einen Blick des Einverständnisses gewechselt, und jetzt bei seinen letzten Worten verbeugte sich Baron Lothar und verließ rasch das Zimmer.
»Er phantasiert, wie es scheint!« meinte Beate achselzuckend und sichtlich verständnislos, indem sie nach der Tür schritt, die in das Nebenzimmer führte. »Einen Augenblick Geduld, Klaudine, ich will mich nur ein wenig umkleiden, denn ich möchte dich begleiten!«