5.

Klaudine trat einstweilen wieder an das Fenster zurück. Ihre Wangen brannten und die feinen Brauen zogen sich in finsterem Brüten zusammen. Was alles mochten Bosheit und Leichtfertigkeit im Herzogsschloß ersinnen, um ihr, die mutig einen ihr besseres Selbst rettenden Schritt getan, Steine nachzuwerfen! Und womit hatte sie den Mann, der eben hinausging, je so beleidigt und gereizt, daß er ihr mit anscheinend scherzhaft hingeworfenen, aber in Wahrheit verletzenden Bemerkungen das kaum beschwichtigte Herz aufregen durfte?

Da draußen, dem Fenster ziemlich nahe, stand der Wagen mit seinem Kinde. War er verbittert und ließ es andere entgelten, weil sie von ihm gegangen war, die fürstliche Frau, die seinem Dasein einen unerhörten Glanz gegeben hatte? Er mochte freilich schwer tragen an seinem Geschick. Sie war ihm für immer entrissen, und was ihm von ihr geblieben, da lag es, gebrechlich und hilflos, und der glänzende Reichtum, den die Prinzessin hinterlassen, vermochte nicht, ihrem Kinde so viel Kraft zu geben, daß es auf seinen Füßen treten konnte! Wieviel war schon um dieses winzige Geschöpfchen gekämpft und gestritten worden! Die Großmutter, die Prinzessin Thekla, die sich über den Tod ihrer Lieblingstochter nicht beruhigen konnte, war selbst in Italien gewesen, um sich das Kind zu erbitten, aber Baron Lothar hatte sie entschieden zurückgewiesen. Nun flüsterte man bei Hofe, die alte Dame verfolge den Plan, dem verwitweten Schwiegersohn die ihr gebliebene Tochter, Prinzessin Helene, als zweite Frau zu geben, damit das geliebte Enkelkind nicht in die Hände einer fremden Stiefmutter falle, und einige Kluge, die das Gras wachsen hörten, wollten wissen, daß die junge Prinzessin nicht »nein« sagen würde, da sie ja schon zur Zeit der Brautschaft ihrer Schwester eine stille Neigung für den schönen Schwager gehegt habe. Prinzessin Helene war hübscher als die Verstorbene, aber sie hatte auch die großen, unheimlichen Funkelaugen, mit denen das Kind da draußen unverwandt hinauf in das Lindengeäst starrte, während eine alte Kinderfrau strickend neben dem Wagen saß.

Ein starkes Räderrollen erschütterte den Boden unter den Füßen der jungen Dame, und gleich darauf trat Beate, zum Ausgehen umgekleidet, wieder in das Zimmer. Sie nahm das Weidenkörbchen mit den Erdbeeren vom Tische und hing es an den Arm. »Für deine kleine Elisabeth«, sagte sie zu Klaudine, und ein roter Schimmer lief über ihr Gesicht.

Zuckerdose und Kuchenreste wurden noch eiligst im Wandschrank verschlossen, dann ging es fürbaß.

Draußen vor der offenen Haustür hielt ein Wagen mit zurückgeschlagenem Verdeck. Baron Lothar saß auf dem Bock und hielt die Zügel.

»Vorwärts, Schatz!« trieb Beate, als Klaudine wie erschreckt auf den Türstufen sichtlich zögerte eine solche Aufmerksamkeit in Neuhaus anzunehmen. »Die schmucken Kerlchen da vorn« – sie zeigte nach den Pferden, herrlichen, jungen Tieren, die sich ungestüm gebärdeten – »schnauben wie die Sonnenrosse, sie möchten uns am liebsten durchbrennen.«

Gleich darauf brauste der Wagen unter den Linden hin und die Fahrstraße hinab. Baron Lothar lenkte das feurige Gespann leicht, mit spielender Sicherheit. Und dabei musterte er von Zeit zu Zeit die Roggen- und Rübenfelder, die mit grünen Früchtebüscheln besetzten Zweige der Obstbäume zu beiden Seiten des Fahrweges. Aber nicht einmal wandte er sich nach den Insassen des Wagens zurück. Er hatte vorhin Klaudines Zögern gesehen und den Widerspruch in ihren Zügen gelesen, sie wußte es, denn ihr Blick war dem seinen begegnet, einem Spottblick, der ihr das Blut in die Wangen getrieben hatte, aber wohl oder übel mußten sie nun doch zusammen fahren, »Montecchi und Capuletti« in einem Wagen, der mit seiner hellen Atlaspolsterung, seiner ganzen blitzenden und schimmernden, vornehmen Ausrüstung wie ein verkörpertes Stück Hofglanz durch das Paulinental flog.

In würzigen Feld- und Walddüften und in dem tiefen Goldglanz der Spätnachmittagssonne förmlich schwimmend, breitete sich das schöne, weite Tal hin, das der kleine, weit droben aus dem Berg quellende Fluß in fröhlichem Lauf durchschnitt. Wellenglitzernd, bald verdunkelt unter Weidengebüsch hinkriechend, bald im freien Sonnenlicht übermütig an den Uferblumen reißend, kam er daher, der Schuldige, der im Verein mit Gewitterregengüssen wiederholt zum wilden Raubtier geworden war. Wer sah es ihm an, daß er einen Teil des Geroldschen Wohlstandes verschlungen hatte?

Ringsum, wohin der Blick fiel, wurde noch rüstig vor Feierabend gearbeitet. Die Sense des Mähers fuhr mit blendendem Blitz durch das niederrauschende Wiesengras, in den Furchen der Kartoffeläcker arbeiteten ganze Reihen gebückter Frauen mit der Hacke, und auf dem Anger am Flußufer und zwischen den wilden Schlehenbüschen der rasigen Raine trieben barfüßige, im Gehen strickende Mädchen ihre Gänse und Ziegen vor sich her. Hoch vom Walde herunter aber erscholl das taktmäßige Anschlagen der Holzaxt. Treuherzig grüßende Zurufe der fleißigen Menschen flogen den Vorüberfahrenden von allen Seiten zu und wurden freundlich erwidert, und Klaudine kam zum erstenmal der Gedanke, daß sich die Insassen des stolzen Wagens nicht vor dem schweißtriefenden Arbeiterfleiß zu schämen brauchten; sie arbeiteten und schafften auch, die eine im angeborenen Tätigkeitstrieb, und die andere um die Genugtuung willen, sich die Selbstachtung zu retten, sich nützlich zu machen und damit das Wohl geliebter Menschen zu fördern.

Für einen kurzen Augenblick wurde weit drüben hinter den Baumwipfeln der Gärten das mächtige Schieferdach des Altensteiner Gutshauses sichtbar. Die Fahnenstange ragte noch kahl in die Lüfte – das schmerzlich beweinte verlorene Vaterhaus beherbergte den neuen Besitzer mithin noch nicht. Aber auf der Straße kam langsam ein schwerbeladener Möbelwagen daher, dem ein niederes Gefährt mit der Holzkiste eines Konzertflügels folgte.

»Der neue Nachbar zieht ein, wie es scheint«, sagte Beate mehr wie für sich und musterte mit scharfem Blick die vorüberfahrenden Wagen.

In diesem Augenblick wandte sich Baron Lothar rasch nach Klaudine zurück.

»Sie wissen, wer das Gut gekauft hat?« unterbrach er sein bisheriges Schweigen so urplötzlich, wie ein Richter, der seinen Angeklagten in einem unbedachten Augenblick zu überrumpeln sucht.

»Wie kann ich das wissen?« gab sie, durch seinen Ton befremdet, etwas scharf zurück. »Wir suchen zu vergessen, daß wir jenseits des Waldes zu Hause waren, und forschen grundsätzlich nicht, wer dort nach uns kommt.«

»Das weiß hier im Tal noch niemand, Lothar«, bestätigte Beate. »Unsere besten Klatschweiber im Dorfe zerbeißen sich die Zähne an der harten Nuß. Mich beschleicht manchmal die geheime Furcht, daß ein reicher Industrieller der Käufer ist, und das, was ich eben durch die Vorhanglücken des Möbelwagens gesehen habe, bestärkt mich in dem Glauben – diese Leute können es ja nie stilvoll und glänzend genug haben! Schrecklich! Qualmende Fabrikschlote in unserem schönen, luftreinen Tal!«

Baron Lothar hatte sich längst wieder umgewendet; er antwortete nicht und ließ die Peitsche auf dem Rücken der Pferde spielen. Und weiter brauste der Wagen.

»Sieh, sieh, wie hübsch sich doch dein Eulenhaus herausgemausert hat!« rief Beate überrascht, als die kleine Besitzung in Sicht kam. »Seit meinem letzten Besuch bei dir und deiner Großmama bin ich nicht wieder hierhergekommen. Es hat sich ja förmlich mit einem grünen Mantel behangen!«

Sie hatte recht. Erst in ihren letzten Lebensjahren hatte die verstorbene Besitzerin Anpflanzungen von wildem Wein am Turm gemacht. Noch vor vierzehn Tagen hatten die mit schwach entwickelten Blättchen besetzten Ranken nur wie ein dünnes, wenig sichtbares Fadennetz die Mauern umstrickt, heute aber ließ das üppige Blattgewebe nur noch ein paar Fensterbogen frei. Bis über die untere Turmstube kroch es hinauf; es umrahmte die auf die Plattform führende Glastür und hing seitwärts wieder über dem Geländer herab.

Heinemann hatte der kleinen Elisabeth eben ein Vogelnest hoch im Gebüsch gezeigt, er trug das Kind noch auf dem Arme und ging so dem herankommenden Wagen entgegen. In ängstlicher Spannung zog er die dicken, gelben Brauen in die Höhe – kamen die dort vielleicht gleich mit, um ihren Anteil zu fordern?

Der Wagen hielt. Der alte Gärtner öffnete mit einem höflichen Gruß den Schlag, aber nur seine junge Herrin stieg aus. Beate blieb sitzen und reichte dem Kinde, das er auf dem Arme behalten hatte, die Erdbeeren hin. Mit Überraschung sah Klaudine dabei ein schönes, zärtliches Lächein über das ernste Gesicht der Pensionsschwester hinfliegen, und auch das Kinderherz mochte fühlen, daß dieser Sonnenstrahl ein seltener sei, denn die Kleine reckte sich plötzlich hinüber und schlang die Arme um Beates Hals. Dann nahm sie, glückselig das Körbchen aus den »großen Händen«, die sie neulich ganz empört von ihrem Puppenliebling abgewehrt hatte, und strebte, schleunigst von Heinemanns Arm zu kommen, um nach dem Hause zu laufen.

Beate stellte »der Herrin vom Eulenhaus« ihren Besuch für die allernächste Zeit in Aussicht, »auch solch eine Ankunft auf eigenen Füßen, einen Marsch, der den Haushaltungsärger wieder einmal aus dem Blute jagt«. Gleich darauf wandte sich der Wagen und fuhr heimwärts.

Baron Lothar hatte kein Wort mehr gesprochen, aber er hatte sich mit einer tiefen Verbeugung von Klaudine verabschiedet und dem alten Gärtner ein freundliches Wort zugerufen.

»Sapperlot, alles was wahr ist! Ich bin kein Freund von den Neuhausschen – ganz und gar nicht, im Gegenteil! Sie haben mehr Glück als Verdienst, und die Altensteiner müssen vor ihnen die Segel streichen – leider Gottes!« sagte Heinemann, während er die Hand beschattend über die Augen hielt und dem fortbrausenden Wagen mit langem Halse nachsah. »Aber das muß ihm der Neid lassen, ein bildschöner Soldat ist und bleibt er, auch in dem müllergrauen Rock, dem simplen. Bin ja auch Soldat gewesen, Fräulein, und weiß die Herren Offiziere zu taxieren. Ich glaube, wenn der vor seiner Schwadron reitet, da halten sich die Kerls noch einmal so stramm und stolz auf ihren Pferden. Wie's freilich inwendig aussieht, das weiß man ja – viel Übermut und ein krasser Dünkel auf die vornehme Heirat; und wie es mit dem da steht –« er machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste des Geldzählens und streifte mit einem ängstlich fragenden Seitenblick das Gesicht seiner jungen Herrin – »hm, da nimmt man wohl auch, wo es zu haben ist?«

Klaudine lächelte. »Sie können ruhig sein, Heinemann, der Fund bleibt in Ihren Händen, Sie können damit tun, was Ihnen beliebt.«

»Was? Wirklich? Sie nehmen nichts, die da drüben?« Er war nahe daran, einen Freudensprung zu machen. »Ein Stein ist mir vom Herzen, ein Zentnerstein! Mir war zuletzt himmelangst, bis Sie kamen! Na, das wäre überstanden, Gott sei Dank! Nun sollen Sie aber einmal sehen, was der alte Heinemann kann, gnädiges Fräulein! Dem Kerl da in der Stadt, dem reichen Bolz, dem die Bienenväter hierzulande nie Wachs genug schaffen können, dem will ich seine Sparpfennige aus dem Leibe pressen, daß er ach und wehe schreien soll! Wir können's brauchen, gnädiges Fräulein, können's gerade jetzt gut brauchen, wo wir gewiß manchmal vornehmen Besuch kriegen. Und da darf es doch nicht zu armselig im Hause sein, sind wir schon unserer guten gnädigen Frau in der Erde schuldig! Ich nehme morgen das gute Zinn gleich mit in die Stadt zum Zinngießer, es muß wieder einmal ein bißchen aufgefrischt werden. Einen neuen Sahnegießer zum Kaffeegeschirr brauchen wir auch, und wie wär's denn, wenn wir in die gute Stube neue Vorhänge kauften? Fräulein Lindenmeyer hat nach der letzten Wäsche um all ihr Leben gestopft und geflickt, und wenn sie das auch pikfein macht, da und dort sieht man's doch.«

»Aber, mein Gott, wozu denn das alles?« fragte Klaudine erstaunt. »Fräulein Beate –«

»Ach, wer spricht denn von der? Die flickt und stichelt ja selbst alle alten Lappen und Läppchen zusammen und hängt sie wieder an die Fenster, die ist gar häuslich und sparsam und spottet nicht über einen zugestopften Riß!« Ei zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach Fräulein Lindenmeyers Eckstube. »Da drin sitzt sie, die Dorfklatsche, die Försterin aus Oberlauter, die alle neuen Nachrichten brühwarm aus der Residenz kriegt und sie nachher im Stricksack von Haus zu Haus trägt, bis es altbackene Semmeln sind. Wenn wir näher ans Haus kommen, da werden Sie's riechen, gnädiges Fräulein – eitel Zimt und Vanille! Fräulein Lindenmeyer hat nämlich vor Freude über den raren Besuch Schokolade gekocht, eine steife Schokolade – der Löffel bleibt drin stecken! Und morgen wird unser altes Mamsellchen wieder einmal auf der Nase liegen und ihre allerschönsten Magenschmerzen davon haben. Na meinetwegen! Die Nachricht, die uns der brave Postillon im Weiberrock zugetrager, hat, ist am Ende so ein bißchen Schmerzen wert. Unser Herzog hat nämlich unseren lieben, schönen Altensteiner Geroldshof gekauft.«

Klaudine stand noch neben dem Eibenbaum am Eingang des Gartens. Mit einer jähen Bewegung griff sie in die Zweige des Bäumchens, als taste sie nach einem Halt. Das Blut stürmte ihr nach dem Kopf und gleich darauf überzog eine tiefe Blässe ihr Gesicht.

»Du lieber Gott, wie Sie das angreift!« rief Heinemann erschrocken. »Ich alter Tapps, daß ich auch so mit der Tür ins Haus fallen muß! Aber an der Sache ist ja doch nichts mehr zu ändern«, – er schüttelte trübe den Kopf – »kein Tüttelchen! Und ist's denn nicht doch tausendmal besser, der Geroldshof kommt in solche Hände, als daß vielleicht ein reicher Fabrikant in den Stuben und Sälen spulen und spinnen läßt? Und Ihre schöne Jugend, gnädiges Fräulein! Fragen Sie doch die da unten«, – er zeigte auf den Boden unter seinen Füßen, den ehemaligen Kirchhof der Nonnen – »ob nicht eine jede mit tausend Freuden wieder aus dem einsamen Walde entwischt wäre, wenn sich nur ein Schlupfloch in den himmelhohen Mauern gefunden hätte! Sehen Sie, das ist ja das Schöne bei der Sache, Sie kommen wieder in Ihre Gesellschaft, in Ihr richtiges Element! Eine jede Blume will ja auch ihren besonderen Boden. Der ganze Hof zieht für den Sommer auf das Altensteiner Gut. Der Herzog will eine Milchmeierei eigens für seine junge Frau einrichten, sie soll ja an der Schwindsucht leiden, das arme Frauchen, und da soll nun die Luft im Kuhstall helfen.« Er kratzte sich hinter dem Ohr.

Die junge Dame ging langsam und schweigend tiefer in den Garten hinein. Ihre erblaßten Lippen waren wie im Krampfe geschlossen. Heinemann sah sie scheu von der Seite an. In diesem sanften, schönen Gesicht, das er kannte, seit es zum erstenmal die blauen, wundertiefen Augen aufgeschlagen hatte spiegelte sich ein Kampf ab, für welchen ihm das Verständnis fehlte.

Er sagte deshalb auch kein Wort mehr und machte sich am nächsten Gemüsebeet zu schaffen, und erst, als sie im Begriff stand, in das Haus zu gehen, kam er ihr nach und bat um Urlaub für den nächsten Tag, »von wegen des Wachshandels«. Sie nickte ihm mit einem matten Lächeln gewährend zu und ging die Treppe hinauf.

Droben, in ihrem stillen Zimmer, sank sie auf einen Stuhl und schlug die Hände mutlos vor das Gesicht. War alles umsonst gewesen? Durfte ihr wirklich die Versuchung nachschleichen, wohin sie auch flüchten mochte? Nein, nein, ihre Lage war nicht mehr so schutz- und hilflos, wie noch vor wenigen Wochen! Stand nicht ihr Bruder neben ihr? Und durfte sie jetzt nicht auch sagen: »Mein Haus ist meine Burg – ich kann und will es vor jedem verschließen, der meine Schwelle nicht betreten soll?«

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