Prolog

Wien war schon immer eine Stadt der Mythen gewesen. Da gab es vor dem Ersten Weltkrieg den alten Kaiser Franz Joseph, der in einer eisernen Bettstatt schlief, nie ein Buch las und jeden Gründonnerstag, einem kirchlichen Ritual folgend, zwölf alten Männern die Füße wusch.

Es bleibe ihm auch nichts erspart, hatte der Kaiser geseufzt – und so war es wahrhaftig. Seine unstet umherreisende neurotische Gattin wurde auf der Uferpromenade in Genf von einem wahnsinnigen Anarchisten niedergestochen und getötet; sein Sohn, Kronprinz Rudolf, erschoß sich und seine Geliebte im Jagdschloß von Mayerling. Lauter tragische Geschehnisse – aber eben der Stoff, aus dem Legenden entstehen, und dem Fremdenverkehr ungeheuer förderlich.

Dies war das Wien, von dem aus die Geschicke des Vielvölkerstaats gelenkt wurden; eine Stadt der Paraden und festlichen Umzüge, in der man jeden Abend im Parkett des Opernhauses die feschesten blau-weiß-silbernen Uniformen sehen konnte, da jeder Offizier im Dienst das Recht genoß, die Aufführungen unentgeltlich zu besuchen. Es war das Wien der Lipizzaner, der Lieblinge der Stadt, deren Stallungen sich in einem Palais mit einem herrlichen Arkadenhof befanden und die aus dem Totentanz des Krieges ein Pferdeballett machten, während ihnen Männer mit feierlichen Gesichtern und goldenen Schaufeln folgten, um ihre edlen Exkremente aus dem tadellos gerechten Sand zu entfernen.

Diese Ära versank im Blutvergießen und Elend des Ersten Weltkriegs. Doch die Stadt überlebte irgendwie den Tod Franz Josephs, die Abdankung seines Neffen Karl, Osterreichs vernichtende Niederlage, den Untergang des Kaiserreichs. Und für die Fremden wurden neue Mythen geboren. An schönen Tagen konnte man ihnen Professor Freud zeigen, der auf der Terrasse des Café Landtmann sein Bier trank. Arnold Schönberg, der Begründer der atonalen Musik, gab Konzerte, die vielleicht nicht verständlich waren, aber zweifellos von Bedeutung, und wenn auch keiner genau wußte, was logischer Positivismus war, so war doch klar, daß die Philosophen, die ihn vertraten, der Stadt Ruhm und Ansehen brachten.


Leonie Bergers Familie lebte seit hundert Jahren in Wien, und sie hatte ihre eigenen Mythen.

«Ich selber bin Professor Freud noch nie im Landtmann begegnet», sagte sie zu einem interessierten Besucher. «Ich begegne dort immer nur meiner Cousine Fritzi mit ihren verwöhnten Kindern, die zwischen den Tischen herumturnen.»

Leonies Vater, Nachkomme wohlhabender Wollhändler aus dem Mährischen, besaß in der Mariahilferstraße ein großes Warenhaus, seine Tochter hatte jedoch einen Akademiker geheiratet. Kurt Berger war schon in den Dreißigern, Dozent an der Universität, als er eines Tages beim Überqueren des Stephansplatzes unter einer Meute gefräßiger Tauben die Verzweiflungsschreie eines jungen Mädchens hörte. Er verscheuchte die gierigen Vögel und stieß auf eine zerkratzte und sehr hübsche Blondine, die sich ihm weinend in die Arme warf.

«Ich wollte es dem heiligen Franz von Assisi nachmachen», jammerte Leonie, die dem alten Mann, der das Taubenfutter verkaufte, gleich sechs Päckchen Körner abgenommen hatte.

Kurt Berger hatte eigentlich nicht vorgehabt zu heiraten, aber nun heiratete er doch und konnte keinem außer sich selbst einen Vorwurf machen, als er entdeckte, daß Leonie sich sozusagen niemals damit zufriedengeben würde, nur ein einziges Tütchen Körner anzubieten, wenn es auch sechs sein konnten.

Leonie vergötterte ihren Mann, der erst eine Professur für Wirbeltierkunde erhielt, dann Direktor des Naturhistorischen Museums und schließlich Hofrat wurde. Mit der Präzision eines Dirigenten sorgte sie für den reibungslosen Ablauf, seines Tages, reichte ihm, wenn er morgens um acht aus dem Haus ging, eigenhändig seine Aktentasche und den Schirm mit dem silbernen Griff, ließ ihm stets innerhalb von fünf Minuten nach seiner Rückkehr das Mittagessen servieren und ermahnte die Domestiken zur Ruhe, während er sein Mittagsschläfchen hielt. Sie wußte über die Menge an Stärke in seinen Hemdkrägen so genau Bescheid wie über seinen täglichen Stuhlgang; sie wimmelte aufdringliche Studenten ab und brachte ihm in einer silbernen Taschenflasche sein bevorzugtes Mineralwasser in ihre Opernloge. Und das alles hinderte sie nicht daran, auch noch an den Leiden, Geburtstagen und Liebesgeschichten unzähliger Verwandter Anteil zu nehmen, sie zu bewirten, zu besuchen, ihnen unter die Arme zu greifen.

Die Bergers wohnten in der Innenstadt, in der Beletage eines großen Mietshauses mit einem Hof, in dessen Mitte eine Kastanie stand. Die betagte Mutter des Professors lebte für sich in zwei der zwölf Zimmer; seine unverheiratete Schwester Hilda, eine Anthropologin, deren Spezialgebiet die Verwandtschaftssysteme der Mi-Mi in Betschuanaland waren, hatte ebenfalls ihre eigenen Räume. Leonies Onkel Mishak, ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einer romantischen Vergangenheit, wohnte im Mezzanin. Aber sie wären natürlich keine echten Wiener gewesen, wären sie nicht am letzten Tag des Universitätssemesters in die Berge gereist. Die Kronländer des alten Habsburgerreichs hatte man den Österreichern ja gelassen: Tirol, Kärnten, die Steiermark – und das regenreiche Salzkammergut, wo die Bergers an einem tiefen grünen See, dem Grundlsee, ein Holzhaus besaßen.

Die Vorbereitungen für das «einfache Leben», das man dort führte, kosteten Leonie wochenlange Planung. Schließkörbe wurden aus dem Keller heraufgeschleppt und mit Steingut und Porzellan, mit Federbetten und Wäsche gefüllt. Stadtkleidung wurde eingemottet; Dirndlkleider wurden gewaschen, Lodenmäntel und Tirolerhüte herausgeholt und die Dienstmädchen mit der Eisenbahn vorausgeschickt.

Dort, auf der Veranda am Wasser, schrieb der Professor an seinem Buch Die Evolution des fossilen Gehirns, Hilda verfaßte ihre Aufsätze für die Anthropologische Gesellschaft, und Onkel Mishak angelte. An den Nachmittagen jedoch kam das Vergnügen zu seinem Recht. Von Freunden, Verwandten und Studenten begleitet, die zu Besuch kamen, unternahm man in Ruderbooten Ausflüge zu unwirtlichen Inseln oder wanderte unter ekstatischen Ausrufen wie «Oh! Alpenrosen!» und «Ah! Enzian!» über blumenbunte Wiesen. Da am See auch jede Menge Ärzte, Juristen, Theologen und Streichquartette ihre Häuser hatten, ergaben sich von Blumengruppe zu Blumengruppe häufig hochgeistige Gespräche. Man wurde von Mücken gestochen, zog sich an den Badehütten Splitter in die bloßen Füße, bläute sich mit Heidelbeeren die Zähne, und jeden Abend versammelte man sich, um voller Wonne zuzusehen, wie die Sonne hinter den schneebedeckten Gipfeln versank.

Am letzten Augusttag wurden dann die Dirndlkleider weggehängt, die Deckelkörbe wurden wieder gepackt – und man kehrte pünktlich zur neuen Spielzeit des Burgtheaters und der Oper und zum Beginn des Wintersemesters nach Wien zurück.


In diese vom Glück gesegnete Familie wurde – als der Professor bereits auf die Vierzig zuging und seine Frau alle Hoffnung auf ein Kind aufgegeben hatte – eine Tochter geboren, die man Ruth taufte.

Das Kind, das von Wiens renommiertestem Geburtshelfer ans Licht der Welt geholt wurde, zog Scharen von Doktoren, Professoren, Universitätshonoratioren und Laureaten an, die ihm ihre Aufwartung machten, mit Gelehrtenfingern sein Köpfchen streichelten und recht häufig Goethe deklamierten.

Ungeachtet dieses Aufmarschs an Intelligenz holte Leonie aus Vorarlberg ihre alte Kinderfrau, die mit der hölzernen Wiege eintraf, die schon seit Generationen in der Familie war. Der Säugling lag nun im Hof unter dem Kastanienbaum, eingelullt vom Klang der süßen und törichten Liedchen von Rosen und Nelken und Schäfern, die die Kinder vom Land mit der Muttermilch einsaugen. Und anfangs schien es, als wollte sich Ruth zu genau so einer kleinen Gänseliesel entwickeln. Ihr Haar, als es endlich zu wachsen begann, hatte die Farbe des Sonnenlichts; ihre Stupsnase lockte Sommersprossen an; sie besaß ein strahlend süßes Lächeln. Aber keine Gänsemagd umklammerte je die Seiten ihres Bettchens mit solch energischer Entschlossenheit; keine Gänseliesel hatte so wißbegierige, lebenshungrige dunkelbraune Augen.

«Eine Bauerndirn mit den Augen Nofretetes», sagte ein angesehener Ägyptologe, der zum Abendessen kam.

Sie unterhielt sich für ihr Leben gern, sie mußte alles wissen; sie war ein kleiner Tausendsassa und überzeugt, sie könnte die ganze Welt in Ordnung bringen.

«Solche Wörter sollte sie aber noch nicht kennen!» sagten Leonies Freundinnen schockiert.

Doch die Wörter hatten es Ruth angetan. Und das Wissen.

Der Professor, ein großer, patriarchalisch wirkender Mann mit grauem Bart, an die Bewunderung seiner Studenten gewöhnt, führte sie selbst durch das Naturhistorische Museum, in dem er seine eigenen Räume hatte. Mit sechs war sie mit den Mühen und Komplikationen, die mit der Paarung einhergehen, bereits bestens vertraut.

«Ein bißchen traurig ist das schon, nicht?» sagte sie, während sie an der Hand ihres Vaters die eingeglasten Spinnen betrachtete, die ihren Männchen die Köpfe abbissen, um die Befruchtung zu beschleunigen.

Von der weltfremden Tante Hilda, die es fertigbrachte, morgens ihren Rock verkehrt herum anzuziehen und so in die Universität zu gehen, lernte Ruth den Wert der Toleranz.

«Man darf fremde Kulturen nicht an den Maßstäben der eigenen Kultur messen», sagte Tante Hilda, die an einer Monographie über ihre geliebten Mi-Mi schrieb – und Ruth akzeptierte schnell, daß es bei gewissen Stämmen eben zum Ritual gehörte, die Großmutter zu verspeisen.

Die Forschungsassistenten und Hilfskräfte der Universität kannten sie so gut wie die Präparatoren im Museum. Mit acht durfte sie ihrem Vater beim Sortieren der Zähne der fossilen Höhlenbären helfen, die er in der Drachenhöhle gefunden hatte, und es war klar, daß sie später seine Assistentin werden, seine Bücher tippen und ihn auf seinen wissenschaftlichen Exkursionen begleiten würde.

Ihr kleiner kahlköpfiger Onkel Mishak, der noch immer um seine verstorbene Frau trauerte, führte sie in eine ganz andere Welt ein. Mishak hatte zwanzig Jahre lang pflichtbewußt in der Personalabteilung des Warenhauses seines Bruders gearbeitet, aber im Grunde seines Herzens war er ein Landkind geblieben und pflegte durch die Stadt zu streifen, wie er früher durch die böhmischen Wälder gestreift war. Wenn Ruth mit Mishak zusammen war, gab es immer irgendein Tier zu füttern – eine Ente im Stadtpark, ein Eichhörnchen – oder etwas zu streicheln – einen müden Fiakergaul an den Toren zum Prater, die steinernen Zehen des Neptun auf dem Springbrunnen in Schönbrunn.

Und natürlich war da ihre Mutter, Leonie, die sie herzte und küßte, die sie tadelte und schalt; die zutiefst verletzt sein konnte von der bissigen Bemerkung einer Großtante und nichts mehr von dieser Tante wissen wollte, nur um sich bei nächster Gelegenheit mit einem riesigen Blumenstrauß unter Tränen mit ihr zu versöhnen; die Ruth in das Warenhaus ihres Großvaters schleppte, um sie mit Matrosenkleidern und Lackschuhen und seidenen Faltenröckchen auszustaffieren, und die sie anschrie, wenn sie von der Schule nach Hause kam.

«Wieso bist du in Englisch nicht die Beste? Du hast dich von dieser dummen Inge überflügeln lassen», rief sie dann wohl – und lud Ruth gleich darauf zum Trost zu Schokoladeneclairs bei Demel ein. «Na ja, sie hat ja auch eine Nase wie ein Ameisenbär, die Arme, da kann man es ihr gönnen, daß sie wenigstens in Englisch die Beste ist», sagte sie abschließend; aber im folgenden Jahr importierte sie eine schottische Gouvernante, um dafür zu sorgen, daß ihre Ruth in Englisch alle übertrumpfte.

Das Kind wuchs heran; kapriziös, leidenschaftlich, klug; empfahl Geburtenkontrolle für die Katze seiner Großmutter und weinte herzzerreißend, als es bei der Schulaufführung zu Weihnachten nicht die Schneekönigin spielen durfte, sondern nur einen Eiszapfen.

«Hört sie eigentlich nie zu reden auf?» pflegten Leonies Freundinnen zu fragen – dabei war sie ganz leicht zum Schweigen zu bringen. Eine Zurechtweisung, ein unfreundliches Wort ließen sie augenblicklich verstummen.

Und noch etwas: Musik.

Ruths Liebe zur Musik war so sehr Teil ihres Wiener Erbes, daß zunächst keinem auffiel, wie ausgeprägt sie war. Von frühester Kindheit an war sie wie gebannt und durch nichts abzulenken, wenn irgendwo Musik gemacht wurde, und es gab bestimmte Orte, Musikplätze nannte sie sie, zu denen es sie hinzog wie einen durstigen Büffel zum Wasserloch.

Da war einmal das Erdgeschoßfenster der schäbigen alten Hochschule für Musik, in der das Ziller-Quartett zu proben pflegte; dann der Konzertsaal – der Musikverein –, wo man die Philharmoniker spielen hören konnte, wenn der Hausmeister so nett gewesen war, die Tür offenzulassen. Ein blinder Geiger unter all den Straßenmusikanten fesselte sie so sehr, daß sie vor lauter Konzentration ganz bleich wurde. Ihre Eltern zeigten Verständnis; sie bekam Klavierstunden, die ihr Freude machten, sie bestand ihre Prüfungen, aber sie sehnte sich nach einer Brillanz, die ihr fehlte.

Kein Wunder, daß sie lange Zeit mit großen Augen den Geschichten von ihrem Vetter Heini in Budapest zuhörte.

Heini war knapp ein Jahr älter als Ruth, ein Märchenkind, wie ihr schien. Seine Mutter, Leonies Stiefschwester, hatte einen ungarischen Journalisten namens Radek geheiratet, und Heini wohnte an einem Ort, der Rosenhügel hieß, hoch über der Donau in einer gelben, von Apfelbäumen beschatteten Villa. Etwas weiter hangabwärts stand das Grabmal eines türkischen Paschas; vom Balkon der Radeks konnte man den mächtigen Fluß sehen, der den ungarischen Ebenen entgegenströmte, die anmutigen Brücken, die ihn überspannten, die Türmchen und Giebel des Parlaments, einem Traumschloß ähnlich. In Budapest nämlich fließt die Donau anders als in Wien mitten durch das Herz der Stadt.

Aber das war nicht alles. Im Alter von drei Jahren kletterte Heini eines Tages auf den Klavierhocker seines Vaters.

«Es war wie eine Heimkehr», sollte er später den Journalisten erzählen. Mit sechs Jahren gab er in dem Saal, in dem Franz Liszt gespielt hatte, sein erstes Konzert. Zwei Jahre später durfte er Béla Bartok vorspielen, und der große Mann nickte beifällig.

Aber im Märchen gibt es immer auch traurige Ereignisse. Als Heini elf war, starb seine Mutter, und das goldene Wunderkind wurde beinahe zur Waise, da sein Vater, Herausgeber einer deutschsprachigen Zeitung, Tag und Nacht arbeitete. Deshalb beschloß dieser, Heini sein Studium in Wien fortsetzen und sich dort auf den Eintritt in das Konservatorium vorbereiten zu lassen. Der Junge sollte bei seinem Lehrer wohnen, einem hochangesehenen Klavierpädagogen, doch seine Freizeit sollte er bei den Bergers verbringen.

Niemals würde Ruth die erste Begegnung mit ihm vergessen. Sie war gerade von der Schule nach Hause gekommen und hängte ihren Ranzen auf, als sie die Musik hörte. Ein langsames Stück, und traurig, aber in aller Traurigkeit so richtig, so – getröstet.

Ihr Vater und ihre Tante waren noch in der Universität; ihre Mutter war in der Küche und konferierte mit der Köchin. Von der Musik angezogen, eilte Ruth durch die Flucht von Räumen – das Speisezimmer, den Salon, die Bibliothek – und öffnete die Tür des Musikzimmers.

Zuerst sah sie nur den riesigen Deckel des Bechsteinflügels, der wie ein schwarzes Segel ins Zimmer ragte. Dann lugte sie um ihn herum und erblickte den Jungen.

Er hatte ein schmales Gesicht, schwarze Locken, die ihm wirr in die Stirn fielen, bis hinunter zu den großen grauen Augen. Als er sie bemerkte, lächelte er, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen, und sagte: «Guten Tag.»

Sie lächelte ebenfalls, gebannt von dem Entzücken, das ihr diese Musik bereitete, überwältigt von der Autorität, die er ausstrahlte, so jung er war.

«Das ist Mozart, nicht wahr?» sagte sie und seufzte, denn sie wußte schon, daß in Mozart alles war; wenn man sich an ihn hielt, konnte man nicht fehlgehen. Zwei Jahre zuvor hatte sie begonnen, sich in ihren Tagträumen seiner anzunehmen, und hatte ihn mit ihren Kochkünsten und ihrer Fürsorge weit über sein sechsunddreißigstes Jahr hinaus am Leben erhalten.

«Ja. Das Adagio in b-Moll.»

Er hörte zu spielen auf und sah sie an, und sie gefiel ihm. Ihr blondes Haar, das zu einem altmodischen dicken Zopf geflochten war, gefiel ihm, ihre Stupsnase gefiel ihm, die frische weiße Bluse und der Faltenrock gefielen ihm. Vor allem aber gefiel ihm die Bewunderung in ihren Augen.

«Ich sollte dich nicht stören», sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. «Es stört mich nicht, wenn du bleibst, solange du leise bist», sagte er.

Und dann erzählte er ihr von Mozarts Star.

«Mozart hatte einen Star», sagte Heini. «Er hat ihn in einem Käfig in dem Zimmer gehalten, in dem er arbeitete, und es störte ihn nie, wenn der Vogel sang. Im Gegenteil, er hatte es gern, wenn der Star da war, und hat seinen Gesang im Finale des Klavierkonzerts in G-Dur verwendet. Hast du das gewußt?»

«Nein.»

Ihr dicker Zopf flog, als sie den Kopf schüttelte.

«Du kannst mein Star sein», sagte Heini.

Sie nickte. Es war eine Ehre und ein Geschenk, das begriff sie sofort.

«Gern», sagte Ruth.

Und von da an setzte sie sich, wann immer es ging, in das Zimmer, in dem er übte, manchmal mit ihren Hausaufgaben oder einem Buch, meist nur, um seinem Spiel zuzuhören. Sie blätterte ihm um, wenn er mit Noten spielte, und ihre kleinen, eckigen Finger berührten die Seiten so leicht wie Schmetterlingsflügel. Sie wartete nach den Stunden auf ihn, sie brachte seine zerschlissenen Beethoven-Sonaten zur Buchbinderei, um sie neu binden zu lassen.

«Sie macht sich zu seinem Pagen», sagte Leonie nicht unbedingt erfreut.

Aber Ruth vernachlässigte weder ihre Schularbeiten noch ihre Freundinnen, irgendwie fand sie Zeit für alles.

«Ich möchte so leben, wie Musik klingt», sagte sie einmal, als sie aus einem Konzert im Musikverein kam.

Indem sie Heini diente und ihn liebte, kam sie dieser Vorstellung näher.

Heini blieb also in Wien und verbrachte den Sommer zusammen mit einem gemieteten Klavier bei den Bergers am Grundlsee.

In diesem Sommer, dem Sommer des Jahres 1930, kam auch ein junger Engländer namens Quinton Somerville nach Wien, um bei Professor Berger zu arbeiten.

Quin war gerade 23 Jahre alt, aber er hatte bereits anderthalb Jahre in Tübingen unter dem berühmten Paläontologen von Huene gearbeitet und brachte, als er in Wien eintraf, nicht nur ausgezeichnete Deutschkenntnisse mit, sondern auch einen für einen so jungen Wissenschaftler beeindruckenden Ruf. Noch während seines Studiums in Cambridge war es ihm gelungen, sich einer Expedition nach Tanganjika zu den Lagerstätten der Riesenechsen von Tendaguru anzuschließen. Im folgenden Jahr reiste er zum Kap, wo man in einem Kalkbruch den Schädel des Australopithecus africanus gefunden hatte, was eine hitzige Kontroverse über die Herkunft des Menschen ausgelöst hatte. Es war schwierig, in all den Auseinandersetzungen unter Wissenschaftlern wilde Spekulationen und Effekthascherei zu vermeiden, doch Quins Dissertation über die Funde von Säugetiergebeinen in der Olduvai-Schlucht war sowohl wissenschaftlich fundiert als auch nüchtern.

Kurt Berger lernte ihn auf einer Konferenz kennen und lud ihn als Gastredner zur Jahresversammlung der Paläontologischen Gesellschaft nach Wien ein. Vielleicht, meinte er, könnte er einige Wochen bleiben und ihm bei der Bearbeitung einer neuen Sammlung von Aufsätzen zur Wirbeltierkunde helfen.

Quin kam. Sein Vortrag wurde ein Erfolg. Er war eben aus Kenia zurückgekehrt und sprach voller Begeisterung über die aufregenden Ausgrabungsarbeiten und die Schönheit des Landes. Er hatte eigentlich vorgehabt, sich in einem Hotel einzumieten, aber davon wollte Kurt Berger nichts wissen.

«Sie werden selbstverständlich bei uns wohnen», sagte er und nahm ihn mit in die Rauhensteingasse, wo seine Familie sich höchst verwundert zeigte. Denn es war bekannt, daß Engländer, besonders solche, die auf Forschungsreisen gingen und tollkühne Kletterpartien unternahmen, stets groß und blond waren, stechende blaue Augen, ein wieherndes Organ und einen arroganten Ton hatten, mit dem sie über Eingeborene und Untergebene verfügten. Bestenfalls sahen sie, wenn sie aus sehr guter Familie kamen, ausgebleicht und wie gemeißelt aus, Kreuzrittern auf Grabmälern ähnlich, mit langen, aristokratischen Nasen und sehnigen Händen, die über ihren Schwertern gefaltet waren.

In all diesen Punkten war Quin eine Enttäuschung. Er hatte ein Gesicht, das aussah, als müßte es gebügelt werden; die hohe Stirn konnte sich von einem Moment auf den anderen in beunruhigend tiefe Falten legen; seine Nase wirkte irgendwie deformiert, wie gebrochen, und die häufig amüsiert, immer forschend blickenden Augen waren von einem tiefen, beinahe südländischen Braun. Nur die wohlgeformten Hände, mit denen er eine alte Pfeife zu stopfen und zu klopfen pflegte (aber nur selten anzündete), hätten auf einem Grabmal bestehen können.

«Aber seine Schuhe sind handgenäht», behauptete Miss Kenmore, Ruths schottische Gouvernante. «Er ist eindeutig upper dass.»

Leonie war geneigt, dies aufgrund der Fiaker zu glauben, die etwa nach dem Theater oder der Oper auch mitten auf der Ringstraße augenblicklich wendeten, wenn Quin nur mit den Fingern schnippte.

«Sonst könnte er wohl kaum so gut schießen», sagte Ruth. Der Engländer hatte im Prater an der Schießbude eine Kristallschale, einen Goldfisch und ein riesiges himmelblaues Kaninchen gewonnen und war daraufhin von dem erbosten Schießbudenbesitzer aufgefordert worden, anderswo die Regale abzuräumen. Was konnte dies anderes bedeuten als Jahre fröhlichen Halalis auf windigen Hochmooren, wo man Fasanen, Rebhühnern und Moorhühnern den Garaus machte?


Die Realität sah anders aus. Quins Mutter war bei seiner Geburt gestorben; sein Vater, der zum Stab der britischen Botschaft in der Schweiz gehörte, meldete sich 1916 freiwillig an die Front und fiel an der Somme. Quin wurde heimgeschickt auf den Stammsitz der Familie und fand sich in einem Haus mit lauter alten Leuten. Ein cholerischer, herrschsüchtiger Großvater – der gefürchtete «Basher» Somerville – war der Hüter Quins früher Jahre, und die unverheiratete Tante, die nach seinem Tod Quins Erziehung in die Hand nahm, schien kaum jünger. Aber wenn auch keiner da war, der dem verwaisten kleinen Jungen Wärme schenkte, so wurde ihm doch etwas gegeben, das er hoch zu schätzen wußte: Freiheit.

«Lassen Sie dem Jungen seine Freiheit», riet der Hausarzt vernünftigerweise, als Quin bald nach seiner Ankunft in Bowmont ein langwieriges Fieber bekam, für das es keine rechte Erklärung gab. «Für die Schule ist später noch Zeit. Er ist ja ein aufgeweckter kleiner Bursche.»

Quin bekam also eine Gnadenfrist, ehe er sich der Monotonie britischer Internate ergeben mußte, und richtete sich in seiner eigenen geheimen und durchaus beglückenden Welt ein. Viele Kinder, insbesondere Einzelkinder, schaffen sich einen unsichtbaren Spielgefährten, der sie durch den Tag begleitet. Quins Gefährte seit seinem achten Lebensjahr war nicht ein imaginärer Bruder oder verständnisvoller Junge seines eigenen Alters, sondern ein Dinosaurier. Das Tier – ein Brontosaurus, den er Harry nannte – war zwanzig Meter lang. Sein Kopf, wenn er ihn durchs Kinderzimmerfenster steckte, füllte das ganze Zimmer aus, und sein herzerwärmendes Lächeln hatte überhaupt nichts Bedrohliches; er fraß ja nur die Bambushölzer im Gebüsch und die Farne und Moose im Wäldchen, das an den Rasen angrenzte.

Ein Artikel in einer Jugendzeitschrift hatte Quin mit Harry bekanntgemacht; Conan Doyles The Lost World führte ihn tiefer in die Fabelwelt der Vorgeschichte. Er wurde der Anführer der Dinosaurier, ein Mowgli der jurassischen Sümpfe, der selbst den schrecklichen Tyrannosaurus rex zähmte, auf dessen Rücken er ritt.

«Ich muß sagen, man braucht sich wirklich nicht anzustrengen, um ihn zu unterhalten», erklärte sein Kindermädchen, das keine Ahnung hatte, daß kein Spiel und keine Geschichte es mit den Dramen aufnehmen konnten, die Quin in seinem Kopf in Szene setzte. Von den Dinosauriern aus marschierte er vorwärts und rückwärts durch die Erdgeschichte. Er las von den geologischen Schichten der Erde, von Leuchtfischen und den Säugetieren des Pleistozäns. Als er elf war, setzte er beinahe täglich sein Leben aufs Spiel, wenn er auf der Suche nach Fossilien in Klippen und Steinbrüchen herumkletterte. In den alten Stallungen hatte er begonnen, eine Sammlung anzulegen, der er den stolzen Namen «Somerville-Museum für Naturgeschichte» gab. Als er älter wurde und Harry allmählich verblaßte, wurde das Museum erweitert, nahm nun auch die Meeresfunde auf, die allenthalben zu machen waren. Denn Quins Zuhause stand ja an der Nordsee über dem sandgesäumten Halbmond der Bowmont-Bucht, deren Felstümpel sein Kinderzimmer waren; die Geschöpfe in ihnen interessanter als jedes Spielzeug.

Quin wäre verdutzt gewesen, hätte jemand ihm gesagt, daß er «Wissenschaft betrieb» oder «sich bildete», und später, in Cambridge, war er erheitert über den feierlichen Ernst, mit dem man dort Kenntnisse vermittelte, die er sich vor seinem elften Lebensjahr angeeignet hatte, und über die umständlichen Vorbereitungen für Exkursionen zu Orten, an denen er mit Turnschuhen herumgeklettert war.

Beim Abschlußexamen in Naturgeschichte schnitt er – es war beinahe peinlich, wie leicht es ihm fiel – als Bester ab. Dank seiner ungebundenen Kindheit jedoch verspürte er keine Neigung, eine feste Anstellung an einer Schule oder Universität anzunehmen. Da er seit seinem achtzehnten Geburtstag finanziell unabhängig war, konnte er es sich leisten, seine Zeit vor allem Expeditionen in schwer zugängliche Gebiete der Erde zu widmen; jetzt aber verliebte er sich in die Stadt Wien.

Nicht in das Wien der Operette und der Cremetörtchen, auch wenn er derlei Genüsse durchaus zu schätzen wußte, sondern in die strengen Arkadenhöfe der Universität im Schmuck der steinernen Büsten ehemaliger Lehrer. Da war Doppler neben Semmelweis zu sehen, dem «Retter der Mütter», der das Kindbettfieber gebannt hatte, und Billroth, der Chirurg, der mit Brahms befreundet gewesen war. In der Bibliothek der Hofburg drehte Quin den gewaltigen, auf goldenem Sockel stehenden Globus, vor dem Kaiser Ferdinand gestanden hatte, ehe er seine Forscher in die Welt hinaussandte. Und im Naturhistorischen Museum entdeckte er eine kleine, häßliche Figur mit dickem Bauch, die Venus von Willendorf, von Menschenhand geschaffen zu einer Zeit, als noch Mammut und Säbelzahntiger die Erde unsicher gemacht hatten.

Als das Semester zu Ende ging, luden die Bergers ihn in ihr Haus am Grundlsee ein.

«Es ist so schön dort», versicherte Ruth. «Der Regen und die Salamander – und wenn man sich auf dem Steg auf den Bauch legt, kann man durch die Ritzen massenhaft kleine Fischlein sehen, wie eingerahmt.»

Eigentlich wurde er in Cambridge zurückerwartet, aber er nahm die Einladung an und entpuppte sich als begabter Heidelbeerpflükker und kraftvoller Ruderer, der mit gleicher Begeisterung wie alle anderen «Wunderbar!» rief. Sie genossen seine Gesellschaft, und er seinerseits nahm herrliche Erinnerungen an das österreichische Landleben mit nach Hause: Tante Hilda, im knielangen gestreiften Badekostüm energisch schwimmend, ohne von der Stelle zu kommen; die betagte Mutter des Professors, im Rollstuhl einen unbefugt eingedrungenen Ziegenbock jagend; und Klaus Biberstein, zweiter Geiger des Ziller-Quartetts, der Leonie liebte, aber einen empfindlichen Magen hatte und gegen Mitternacht hinausschlich, um seinen heimlich unterschlagenen Knödel an die Fische zu verfüttern.

Ruth sah er relativ selten. In einer dieser Holzhütten, die österreichische Musiker so lieben, übte nämlich Vetter Heini sein Klavierspiel, und sie hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn mit Krügen voll Milch und Tellern voll Keksen bei Kräften zu halten. Einmal traf er sie mit einem recht erstaunlichen Sortiment von Büchern am Seeufer an: Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, Louisa May Alcotts Kleine Frauen und ein grell aufgemachtes Cowboybuch mit dem Titel Jakes letzter Kampf.

Als er kam, war sie gerade mit gefurchter Stirn in den KrafftEbing vertieft.

«Du meine Güte!» sagte er. «Darfst du das denn lesen?»

Sie nickte. «Ich darf alles lesen. Leider muß ich aber auch alles essen, sogar Grießbrei.»

Am Abend vor seiner Abfahrt ließ Miss Kenmore sich nicht länger zurückhalten und teilte Quin mit, daß Ruth ihm nach dem Essen Keats' Ode an eine Nachtigall aufsagen werde.

«Sie kann das ganze Gedicht auswendig, Dr. Somerville», er klärte Miss Kenmore – und Quin gesellte sich, einen Seufzer unterdrückend, zur Familie ins Wohnzimmer mit den hohen Fenstern, die zum See geöffnet waren.

Ruth trug das helle Haar offen, ein Samtband hineingeschlungen – es war offensichtlich ein bedeutender Anlaß; doch zuerst einmal mußte Quin den Blick senken und hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu beherrschen: sie trug die berühmten Worte mit unverkennbar schottischem Akzent vor.

Erst als sie zum vorletzten Vers kam, zu jenem Teil des Gedichts, der sie persönlich anzugehen schien, da er von ihrer Namensvetterin sprach, hob er, von einem Ton in ihrer Stimme aufmerksam gemacht, den Kopf.

«Vielleicht ist es das alte Lied, das Ruth ins Herz drang, als sie ohne Heimat war und Tränen ausgoß über fremdem Korn ...»


Abgedroschene Zeilen, Worte, die ihm die Schule verleidet hatte – und dennoch besaßen sie die Macht, ihn zu ergreifen.

Aber in keinem der Anwesenden, in keinem der Menschen, die Ruth liebten und sich von der Traurigkeit des Gedichts bewegen ließen, weder in Quin noch in Ruth selber erwachte auch nur der Schimmer einer Vorahnung. Niemand bekam eine Gänsehaut; kein Geist schwebte über das stille Wasser des Sees. Daß dieses behütete, geliebte Kind jemals gezwungen sein sollte, seine Heimat zu verlassen, war unvorstellbar.

Am nächsten Tag reiste Quin nach England ab. Die ganze Familie brachte ihn zur Bahn und lud ihn ein, bald wiederzukommen – aber acht Jahre vergingen, ehe er nach Wien zurückkehrte, und da kam er in eine andere Stadt, in eine andere Welt.

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