16

«Schau ihn dir an», sagte Frances Somerville bitter und reichte ihrem Mädchen den Feldstecher. «Wie er sich schon die Hände reibt vor lauter Genugtuung.»

Martha nahm das Fernglas und richtete es auf den Herrn mittleren Alters mit der hohen Stirn des Intellektuellen, der auf dem felsigen Küstenweg dem Kap entgegenschritt.

«Er schreibt was in sein Buch», bemerkte sie, als sei das ein weiterer Beweis für Mr. Fergusons Verachtenswürdigkeit.

«Also, er braucht jedenfalls nicht zu erwarten, daß ich ihn zum Mittagessen einlade», sagte Frances. «Meinetwegen kann er im Black B1411 essen.»

Mr. Ferguson, auf Quins Ersuchen hin vom National Trust gesandt, um zu sehen, ob Bowmont den Trust interessieren konnte, war kurz nach dem Frühstück eingetroffen. Obwohl er ein Mann mit tadellosen Formen war, taktvoll und zurückhaltend, hatte Frances ihn behandelt, als sei er soeben aus einer stinkenden Kloake emporgekrochen.

«Vielleicht wird ja gar nichts draus», sagte Martha und reichte das Fernglas zurück. Nach vierzig Jahren in Frances Somervilles Diensten durfte sie es sich erlauben, wie eine Freundin zu sprechen. «Vielleicht gefällt's ihm hier überhaupt nicht.»

«Ha!» sagte Frances nur.

Ihre Skepsis war berechtigt. Obwohl Mr. Ferguson eine offizielle Meinung erst Quin in London mitteilen würde, hatte er bereits durchblicken lassen, daß drei Meilen herrlicher Küste, ganz zu schweigen von dem berühmten Garten, den Trust höchstwahrscheinlich sehr interessieren würden.

Nun ist es also soweit, dachte Frances unglücklich; nun kommen die Männer mit den Schirmmützen, die Toilettenhäuschen, die kreischenden Ausflügler. Quin hatte gesagt, wenn es zu Verhandlungen käme, werde er darauf bestehen, daß ihr ein lebenslanges Wohnrecht im Haus eingeräumt würde; aber wenn er glaubte, sie würde ins stille Kämmerlein eingesperrt mitansehen, wie dieses Haus und dieses Land, die sie zwanzig Jahre lang wie ihren Augapfel gehütet hatte, zerstört wurden, dann täuschte er sich. An dem Tag, an dem der Trust hier einzog, würde sie ausziehen.

Wäre Lady Placketts Brief nicht ausgerechnet gekommen, nachdem Mr. Ferguson sich gerade empfohlen hatte, dann hätte Frances Somerville vielleicht ganz anders darauf reagiert. So aber erreichte er sie in einem Moment, in dem sie sich so alt und verzagt fühlte wie nie zuvor in ihrem Leben und bereit war, nach jedem Strohhalm zu greifen.

Lady Plackett begann ihr Schreiben mit einem kurzen Rückblick auf ihre gemeinsame Zeit im Mädchenpensionat in Paris.

«Sie werden sich vielleicht nicht mehr an das schüchterne kleine Ding erinnern, das soviel jünger war als Sie», schrieb Lady Plakkett, die sich noch nie durch besonderes Taktgefühl ausgezeichnet hatte, «aber ich werde nie vergessen, wie lieb und freundlich Sie sich meiner in meiner Verwirrung und meinem Heimweh angenommen haben.»

Frances erinnerte sich weder des heimwehkranken kleinen Mädchens noch ihrer eigenen Güte, aber als Lady Plackett ihr offenbarte, daß sie eine geborene Croft-Ellis war und im selben Jahr wie Miss Somervilles Cousine, Lydia Barchester, bei Hof vorgestellt worden war, las sie mit jener Aufmerksamkeit weiter, die man den Briefen derer zollt, die sich in den eigenen Gesellschaftskreisen bewegen.


«Ich war überaus erfreut festzustellen, daß Ihr lieber Neffe unserem Lehrkörper angehört, und er hat Ihnen vielleicht erzählt, daß Verena, unsere einzige Tochter, bei ihm studiert. Sie ist begeistert von seinem Wissen und seiner Art, dieses Wissen zu vermitteln, und bei einem kleinen Abendessen neulich führten die beiden ein angesagtes Gespräch miteinander, das, wie ich leider gestehen muß, weit über meinen Bildungsgrad hinausging. Sie werden sich fragen, woher ich die Kühnheit nehme, Ihnen nach so vielen Jahren der Abwesenheit in Indien zu schreiben, und ich will ganz offen sein. Sie wissen ja, daß Quinton in Bowmont für unsere Studenten ein praktisches Übungsseminar eingerichtet hat, das er selbst leitet. Verena muß als eine seiner Studentinnen, die dem Hochbegabtenprogramm angehören, selbstverständlich an diesem Seminar teilnehmen, und sie freut sich schon sehr darauf. Ihre Position hier in Thameside ist jedoch äußerst heikel, wie Sie gewiß verstehen werden. Sie selbst besteht darauf, in allem, sei es Prüfungen oder sonst etwas, genauso behandelt zu werden wie alle anderen Studenten, und in dieser Hinsicht gibt es keinerlei Schwierigkeiten, denn sie ist ein intelligentes junges Mädchen.

Aber gesellschaftlich gesehen, führt sie natürlich ein ganz anderes Leben, und wir achten sehr darauf, bei ihren Kommilitonen gar nicht erst die Erwartung zu wecken, daß sie an Universitätsveranstaltungen teilnehmen wird. Wenn es nicht eine gewisse Trennung zwischen dem Vizekanzler und seiner Familie und dem Rest der Universitätsgemeinde gäbe, würden Autorität und Stabilität leiden. Das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Sie werden verstehen, daß mich unter diesen Umständen bei der Vorstellung, daß Verena sich mit den anderen Studenten einen Schlafsaal teilen soll, eine gewisse Besorgnis ergreift. Es soll ja auf diesen Exkursionen recht zugehen, und auf Disziplin wird offenbar nicht viel Wert gelegt. Ich weiß natürlich, daß die Studenten das Salz der Erde sind, aber einige von ihnen kommen nun einmal aus Kreisen, in denen man den Umgang mit Angehörigen unserer Gesellschaftsschicht nicht gewöhnt ist, und ich fürchte, sie würden sich in einem so dichten Zusammenleben mit Verena unbehaglich fühlen. Wäre es angesichts dieser Tatsachen dreist von mir zu fragen, ob meine Tochter für die Dauer des Seminars bei Ihnen im Haus wohnen kann? Soviel ich weiß, hat Ihr Neffe seine eigenen Räume und überläßt die Führung des Hauses ganz Ihnen; er brauchte sich also um Verena nicht zu kümmern, es sei denn, er wünschte es. Ich werde selbst um diese Zeit nach Nordengland reisen, und da Verenas vierundzwanzigster Geburtstag auf den letzten Freitag des Seminars fällt, darf ich mich vielleicht für diesen Tag einladen, ehe ich weiterreise, um Lord Hartinton und die vielen anderen Freunde meiner Familie zu besuchen, die ich so lange nicht gesehen habe. Verzeihen Sie mir meine Unverblümtheit, aber Verenas Wohl ist mir, wie Sie sicher verstehen werden, sehr wichtig. Und was könnte es für mich Schöneres geben, als die Freundin und Beschützerin meiner Kindertage wiederzusehen?

Mit allen guten Wünschen,

Ihre Daphne Plackett.»


Frances las den Brief zweimal durch und blieb eine Weile nachdenklich in ihrem Sessel sitzen. Dann läutete sie Turton.

«Sagen Sie Harris, ich brauche den Wagen», befahl sie. «Ich fahre nach Rothley hinüber.»

Gerade wollte sie in den alten Buick einsteigen, den Quin auf ihr strenges Geheiß nicht durch ein neueres Modell ersetzen durfte, da veranlaßte schrilles Gekläff sie, sich umzudrehen, und im selben Moment sauste ein Hündchen, kaum größer als ihr Schuh, auf ihre Beine los, setzte zum Sprung auf das Trittbrett des Wagens an, verfehlte sein Ziel und fiel auf den Rücken – während die ganze Zeit sein dünnes Rattenschwänzchen wie wild kreiselte und seine ungleichen Augen vor Lebensfreude blitzten.

«Bringen Sie ihn weg!» befahl Frances grimmig. «Und sagen Sie denen, die ihn rausgelassen haben, daß ich, wenn sie in Zukunft nicht die Tür schließen, ihn ertränken lasse.»

Der Chauffeur unterdrückte ein Grinsen. Die leidenschaftliche Anhänglichkeit des kleinen Mischlings an die Herrin von Bowmont wurde von der ganzen Dienerschaft gutmütig belacht, doch Frances, die steif und aufrecht im Fond des Wagens saß, konnte nichts Erheiterndes an dem finden, was ihrer mit vielerlei Preisen ausgezeichneten Labrador-Hündin widerfahren war. Kaum waren alle Welpen aus Comelys letztem Wurf – lauter Hunde edelster Rasse – verkauft worden, da war die Hündin, früher als erwartet, erneut läufig geworden und für eine ganze Nacht verschwunden. Das Resultat dieses Ausflugs war ein Wurf, wie Frances Somerville ihn sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Unter Zuhilfenahme verbaler Gewalt gegen diverse Gutsangestellte war es ihr gelungen, Abnehmer für die Welpen zu finden – aber um jemand dazu zu bringen, den Zwerg des Wurfs zu nehmen, hätte Frances die Dörfler schon aufs Rad spannen müssen. Irgendwie schien ihr dieses Desaster von einem Hund zu all den anderen Unbilden zu passen, die ihre geordnete Welt bedrohten: Stallburschen, die Opernarien sangen, und Fremde, die mit Notizbüchern in der Hand über das Land von Bowmont trampelten.

Die Straße nach Rothley führte an der Festung Bamburgh vorbei, einstmals Bowmonts Rivalin im Norden, und weiter am Deich entlang bis Holy Island, ehe sie landeinwärts schwenkte, nach Rothley Hall – einem langen roten Sandsteinbau, der nur vom buschigen Gestrüpp immergrünen Efeus zusammengehalten schien. Das Gebell eines halben Dutzends Jack-Russell-Terrier empfing sie, und wenig später saß sie in Lady Rothleys kleinem Salon, während die Freundin den Brief durchlas.

«Nun, der Ton kann einem eigentlich nicht gefallen», sagte sie, als sie die Lektüre beendet hatte, «aber einmal ganz ehrlich, Frances, ich wüßte nicht, was du zu verlieren hast. Im schlimmsten Fall ist diese Verena ein lästiges Ding, mit dem du vierzehn Tage lang zurechtkommen mußt, und im besten ...»

«Ja, so sehe ich es auch. Und sie scheint ja wirklich intelligent zu sein. Vielleicht gelingt es ihr, sein Interesse zu fesseln.»

«Eines kann ich dir jedenfalls sagen», erklärte Lady Rothley. «Wenn sie wirklich Croft-Ellis-Blut in den Adern hat, wird sie diese Schnapsidee Quins, Bowmont dem National Trust zu vermachen, sofort abwürgen. Sollte Quin diese Verena Plackett heiraten, wird der Trust nicht einen Quadratzentimeter Boden bekommen. Nicht umsonst lautet ihr Motto: Wenn es in England eine Sippe gibt, die habgieriger ist, habe ich noch nicht von ihr gehört.» Als sie das Gesicht ihrer Freundin sah, fügte sie beschwichtigend hinzu: «Nein, nein, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich übertreibe. Sie verwalten ihre Ländereien gut, und die Familie reicht zurück bis zu Wilhelm dem Eroberer. Das Mädchen weiß sich sicher zu benehmen.»

«Du meinst also, ich sollte sie einladen?»

«Ja. Und nicht nur das. Ich finde, wir sollten uns ein bißchen anstrengen, damit das Mädchen sich hier wohlfühlt. Wenn ihr Geburtstag gerade in die Zeit ihres Aufenthalts hier fällt, warum veranstaltest du dann nicht ein kleines Fest ihr zu Ehren? Ich weiß, daß dir so etwas nicht liegt, aber wir können dir ja helfen. Rollo kommt nächste Woche mit einem Freund aus Sandhurst herauf, und Helens Töchter sind zu Hause. Nichts Förmliches natürlich, aber es ist doch Jahre her, seit Quin in seinem Haus ein Fest gegeben hat – und wenn die Studenten hier sind, kann er nicht einfach flüchten, wie er das manchmal tut.»

Frances, der bei der Vorstellung von soviel Geselligkeit ganz schwummerig wurde, kam ein erschreckender Gedanke. «Du glaubst doch nicht, daß er die Studenten einladen wollen wird? Die, die unten im Bootshaus kampieren, meine ich?»

«Nein, das glaube ich nicht. Quin mag ein Demokrat sein, aber er kennt doch die Formen.» Sie trat zu ihrer Freundin und legte ihr mit einer Herzlichkeit, die sie selten zeigte, den Arm um die Schultern. Vielleicht ist dies genau die Gelegenheit, auf die wir gewartet haben, Frances. Geben wir doch dem Mädchen eine Chance.»


Als Frau mit einer Mission kehrte Frances Somerville nach Bowmont zurück. Der Brief, den sie an Lady Plackett schrieb, war überaus herzlich, und die Instruktionen, die sie Turton gab, waren klar und entschieden.

«Wir bekommen nächste Woche Gäste – eine Miss Plackett, eine Studentin des Professors. Lassen Sie das Gobelinzimmer für sie richten und das Blaue Zimmer für ihre Mutter. Am 28., das ist Miss Placketts Geburtstag, geben wir hier ein kleines Fest.»

Turton war vielleicht diskret, die Mädchen, die das Gobelinzimmer herrichteten, und die Köchin, der gesagt wurde, man erwarte etwa zwanzig junge Leute zu der geplanten Feier, waren es nicht. Wie ein Lauffeuer verbreitete es sich unter den Dienstboten der besseren Familien Northumberlands, daß Quinton Somerville eine ganz besondere junge Dame erwartete und nun wohl endlich die Hochzeitsglocken läuten würden.

Und was der Dienerschaft recht war, das war der Herrschaft nur billig. Ann Rothley hielt Wort. Sie rief Helen Stanton-Derby an, die noch immer unter dem geigenden Chauffeur litt, den Quin ihr aufgehalst hatte, und Christine Packham drüben in Hexham und Bobo Bainbridge unten in Newcastle – und alle, selbst die, deren heiratsfähige Töchter sich als Herrinnen auf Bowmont gut gemacht hätten, versprachen, Verena Plackett freundlich aufzunehmen, deren Mutter eine Croft-Ellis war und die, wenn der gute liebe Quin sie heiraten sollte, diese unsinnige Idee, Bowmont wegzugeben, im Keim ersticken würde. Ohne zu zögern, boten sie ihre Sprößlinge für Verenas Geburtstagsfeier an, so erfreut waren sie alle darüber, daß Quin Somerville endlich sah, wo seine Pflicht lag.

Als Lady Plackett auf ihr Schreiben eine Antwort von so unerwarteter Herzlichkeit erhielt, beschloß sie, Verena selbst zu begleiten und einige Tage in Bowmont zu bleiben, um später zu Verenas Geburtstagsfeier noch einmal zurückzukehren.

«Aber ich halte es für das beste, liebes Kind», sagte sie zu ihrer hochbefriedigten Tochter, «wenn wir von der Einladung erst kurz vor der Abreise etwas sagen. Sonst kommt es unter den Studenten vielleicht zu Eifersucht und Mißgunst – und du weißt ja, wie stark der gute Quinton darauf bedacht ist, jeden Anschein von Bevorzugung zu vermeiden.»

Verena fand das vernünftig. «Überlassen wir es Miss Somerville, ihn von der Einladung in Kenntnis zu setzen», sagte sie und wandte sich wieder ihren Büchern zu.

Und natürlich schrieb Frances an Quin einen Brief, um ihn zu unterrichten, aber in der Woche vor der Abreise nach Northumberland grub in Yorkshire ein Kiesgrubenarbeiter einen Beinknochen aus, dessen Größe und Gewicht bei den örtlichen Altertumsforschern ungeheures Aufsehen erregte. Auf ihre Bitte hin, den Fund zu begutachten und dafür zu sorgen, daß die Arbeiten in der Kiesgrube eingestellt wurden, strich Quin seine Vorlesungen und fuhr nach Norden. Von der Bedeutung des Funds – der Knochen entpuppte sich als Oberschenkelknochen eines ungewöhnlich vollständigen Mammutskeletts – und einer erbitterten Auseinandersetzung mit einem habgierigen Bauunternehmer aufgehalten, beschloß Quin, gar nicht erst nach London zurückzukehren, sondern direkt nach Bowmont weiterzufahren.

Der Brief seiner Tante blieb daher ungeöffnet in seiner Wohnung in Chelsea liegen.


Genau an dem Tag, an dem Quin nach Yorkshire aufbrach, erhielt Ruth die so sehnsüchtig erwartete Nachricht, daß Heini sein Visum hatte. Er würde am 2. November in London eintreffen, und zwar mit dem Flugzeug!

«Da kann ihn keiner mehr herausholen», sagte Ruth mit leuchtenden Augen.

«Ich kann es gar nicht glauben, daß ich ihn wirklich sehen werde», meinte Pilly.

«Aber du wirst ihn sehen – und hören wirst du ihn auch.»

Denn jetzt war natürlich nichts wichtiger, als das Klavier herbeizuschaffen. Ruth fehlten nur noch fünf Shilling zu der erforderlichen Summe, und als hätten die Götter gewußt, daß es keine Zeit mehr zu verlieren gab, sandten sie noch an diesem selben Abend einen jungen Mann namens Martin Hoyle ins Willow.

Hoyle lebte mit seiner Mutter in einer Villa in Hampstead auf dem Hügel und war finanziell unabhängig, aber er hatte den Ehrgeiz, Journalist werden zu wollen, und bereits eine Reihe von Artikeln an Zeitungen und Zeitschriften geschickt, die nicht alle abgelehnt worden waren. Nun hatte er einen Einfall gehabt, von dem er sicher war, daß er seiner journalistischen Laufbahn förderlich sein werde. Er würde sich von den Flüchtlingen, die sich Tag für Tag im Willow einfanden, ihre Erinnerungen an Wien erzählen lassen; anrührende Episoden aus der Kaiserstadt mit all ihrem Glanz und Pomp, oder solche jüngeren Datums aus dem Wien Wittgensteins und Freuds. Was ihm vorschwebte, war, dem reichen Schatz an Erinnerungen, den sie in ihrem Kopf mit sich trugen, den mageren Inhalt der Koffer, die sie hatten mitnehmen dürfen, entgegenzusetzen. Er war überzeugt, so eine Serie würde sich an den News Chronicle oder vielleicht sogar an die Times verkaufen lassen.

Er war früh dran. Zwar saßen Ziller, Dr. Levy und von Hofmann alle in Wien geboren und aufgewachsen – am Fenster beieinander und unterhielten sich, aber es war Mrs. Weiss, einsam und allein an einem Tisch neben dem Garderobenständer, die ihn ansprach. «Darf ich Sie zu einem Stück Kuchen einladen?» fragte sie.

Zu ihrer Überraschung nickte der junge Mann.

«Das ist nett, danke», sagte er. «Aber vielleicht darf ich Sie einladen.»

Mrs. Weiss hatte dagegen nichts einzuwenden, Hauptsache, er setzte sich zu ihr und ließ sie reden. Zwei Stück Gugelhupf wurden gebracht, und Martin Hoyle stellte sich vor.

«Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns ein wenig über Ihr Leben unterhielten? Über Ihre Erinnerungen?» fragte Hoyle. «Wissen Sie, ich war früher einmal in Wien und war begeistert von der Stadt.»

Mrs. Weiss senkte die Lider. Sie selbst war nie in Wien gewesen, es war weit weg von Ostpreußen und ihrer Heimatstadt Prez, aber wenn sie das zugab, würde Mr. Hoyle gehen und mit den Männern drüben am Fenster sprechen; wenn sie jedoch ihre Karten richtig ausspielte, konnte sie ihn vielleicht an ihrem Tisch festhalten, und wenn dann ihre Schwiegertochter kam, um sie abzuholen, würde sie sie im Gespräch mit einem gutaussehenden jungen Mann sehen.

«Was für Erinnerungen interessieren Sie denn?» fragte sie.

«Nun, haben Sie zum Beispiel je den Kaiser gesehen? Wie er mit der Kutsche aus der Hofburg kam vielleicht?»

Es folgte eine etwas frustrierende Viertelstunde. Anstatt Berichte über den Kaiser bekam Hoyle Mrs. Weiss' Ansichten über Backenbärte aufgetischt; anstatt über große Premieren an der Oper hörte er von den Kehlkopfgeschichten, die ihren Neffen, Zolly Federmann, daran gehindert hatten, zur Bühne zu gehen.

«Aber was ist mit dem Prater?» fragte Hoyle schon ganz verzweifelt. «Sicherlich haben Sie doch in der berühmten Kastanienallee Ihren Reifen geschlagen?»

Das hatte Mrs. Weiss nicht getan, aber sie erzählte ihm ausführlich von einem Gummikrokodil an einer Schnur, das sie heiß geliebt hatte, bis ein paar Straßenjungen es durchlöchert hatten.

«Und das Riesenrad?» Hoyle wischte sich die Stirn. «Sie sind doch bestimmt einmal mit dem Riesenrad gefahren? Oder mit einem Boot auf der Donau?»

An dieser Stelle kam Ruth, um ihren Abenddienst aufzunehmen. Freundlich lächelnd begrüßte sie die alte Dame. Niemals hätte Mrs. Weiss den jungen Journalisten an die Männer abgetreten, aber mit Ruth war das etwas anderes. Ruth war ihre Freundin. Sie wurde plötzlich aufgeregt.

«Ich war nie auf dem Riesenrad im Prater. Ich bin nie auf der Donau Boot gefahren. Ich habe Franz Joseph nie aus der Hofburg kommen sehen, ich kann mich überhaupt nicht an Wien erinnern, weil ich nie in meinem Leben in Wien gewesen bin. Ich war nur in Prez und einmal in Berlin, das ist alles. Darum gehen Sie jetzt bitte. Ich bin nur eine arme alte Frau, und meine Schwiegertochter zwingt mich, in feuchter Luft zu schlafen, und es wäre bestimmt für alle am besten, wenn ich tot wäre.»

Dieser Gefühlsausbruch, der im ganzen Lokal zu hören war, stieß natürlich bei allen auf große Teilnahme. Während Ziller und Dr. Levy den erschütterten Hoyle beruhigten, tröstete Ruth die alte Dame – und Miss Maud und Miss Violet hatten unter diesen Umständen (und weil Mr. Hoyles Artikel, falls er veröffentlicht würde, sicher geschäftsfördernd wirkte) nichts dagegen, daß zwei Tische zusammengeschoben wurden.

Nun füllte sich Martin Hoyles Heft sehr rasch mit brauchbaren Geschichten und Anekdoten. Dr. Levy erzählte, wie er bei der Entfernung einer Fischgräte aus dem Hals des Erzherzogs Otto mitgewirkt hatte; Paul Ziller schilderte, wie ihn bei der Uraufführung von Schönbergs Verklärte Nacht eine Tomate ins Gesicht getroffen hatte, und von Hofmann gab die klassische Anekdote von Tosca zum besten, die nach ihrem Todessprung von der Burgmauer von einem zu stramm gespannten Trampolin wieder in die Höhe geschleudert wurde.

Doch am meisten interessierte Martin Hoyle die Kellnerin des Willow, die ihn ebenfalls an ihren Erinnerungen teilhaben ließ, denn ihm war plötzlich klargeworden, was seiner Story fehlte. Die Liebe fehlte ihr. Liebe und Jugend und ein zentrales Thema. Eine junge Frau, die auf den geliebten Mann wartete und für ihn arbeitete. Liebe, das war es doch, was die Leser wollten. Liebe im Tea-Room Willow ... Liebe in Wien und in Belsize Park. Wenn nur die junge Frau mit ihm sprechen würde, dann würde er seine Story verkaufen, dessen war er sicher.

Und Ruth sprach mit ihm; von Heini zu erzählen, war ihr Wonne und Vergnügen. Während sie zwischen den Tischen hin und her flitzte, erzählte sie ihm von Heinis triumphalen Erfolgen am Konservatorium, und wie er auf der Wiese oberhalb vom Grundlsee dazu inspiriert worden war, eine Alpenetüde zu schreiben. Er hörte von Heinis Leidenschaft für heiße Maroni, die man überall an den Straßenecken der Innenstadt bekam – und daß er im Alter von zwölf Jahren ein Mozart-Klavierkonzert gespielt hatte, für dessen Rondo im letzten Satz das Gezwitscher eines Stars als Vorlage gedient hatte, was Mr. Hoyle sehr erstaunte, da er Stare bisher nur als laute Beschmutzer von Bahnhofsdächern kannte.

«Er wird es sicher auch hier spielen», sagte Ruth. «Dann müssen Sie unbedingt kommen.»

Eine Stunde spáter klappte Hoyle sein Heft zu und verabschiedete sich, nicht ohne sich großzügig zu revanchieren, wie sich zeigte, als Ruth seinen Teller abräumte. Darunter lag säuberlich gefaltet eine knisternde Banknote, die sie selig in die Küche trug.

«Schaut her!» rief sie. «Schaut doch! Zehn Shilling! Ist das nicht fabelhaft?»

«Dann reicht es jetzt?» fragte Mrs. Burtt.

«Ja, jetzt reicht es.»


Das Klavier wurde gegen Mitte des Vormittags erwartet, doch Leonie war schon um sechs auf den Beinen, machte die Zimmer sauber, erneuerte die Pfropfen in den Mauselöchern, kehrte und wischte. Um sieben begann sie zu backen, aber da ging dann leider nicht mehr alles nach ihrem Plan.

Die Ankunft von Heinis Klavier war Leonie relativ gleichgültig, aber Ruth wollte ihre Freunde mit nach Hause bringen, um das Ereignis zu feiern, und das konnte einen nicht gleichgültig lassen. Verena Plackett, die in Ruths Berichten von ihrem Tageslauf kaum eine Rolle spielte, würde nicht mitkommen, dafür aber Priscilla Yarrowby, Sam Marsh, Janet und der Waliser, der das Klavier auf dem Heimweg vom Rugbytraining in einem obskuren Laden entdeckt hatte.

Wäre ihr Mann zu Hause gewesen, so wäre es Leonie schwergefallen, den jungen Leuten etwas Leckeres anzubieten, denn das Haushaltsgeld war denkbar knapp; während der Abwesenheit des Professors jedoch hatten sie höchst bescheiden von Kartoffeln und dem Apfelmus gelebt, das sie aus den Falläpfeln machte, die Mishak von seinen Streifzügen mitzubringen pflegte. Und so hatten sie gespart.

Mit dem Gesparten hatte Leonie nun zwei Kilo feines Mehl gekauft, frisch gemahlene Mandeln, Puderzucker, ungesalzene Butter und die feinsten Vanilleschoten, und um neun zog sie das erste Blech voll perfekt gebackener Vanillekipferl aus dem Rohr.

Das war der Moment, als ihre Planungen für diesen Morgen zunichte gemacht wurden. Sie hatte gewünscht, Mishak möge bleiben und Ruths Freunde kennenlernen – sie hatte Mishak immer gern da –, Hilda jedoch, hoffte sie, werde wie immer in das Britische Museum abdampfen und Fräulein Lutzenholler den Hügel hinaufmarschieren und Freuds Haus anstarren.

Sie hatte jedoch nicht mit der Macht der menschlichen Nase gerechnet, Emotionen und Erinnerungen wachzurufen. Hilda erschien zuerst. In ihrem Morgenrock kam sie schlaftrunken in die Küche getaumelt.

«Dann ist es also wirklich wahr!» rief sie. «Ich habe sie gerochen, .aber ich dachte, es sei ein Traum.» Und dann beschloß sie, da Samstag war, nicht ins Museum zu gehen, sondern zu Hause zu arbeiten.

Wenig später kam Fräulein Lutzenholler, nicht so finster wie sonst, sondern vielmehr ungläubig. «Ach so, ja, das Klavier», sagte sie und fügte die Worte hinzu, die Leonie gefürchtet hatte: «Da bleibe ich natürlich und helfe.»

Als später der Duft frisch gemahlenen Kaffees sich mit dem süßen, warmen Aroma der Kipferl vermischte, zeigte sich, daß an diesem Morgen nicht nur niemand freiwillig Nummer 27 verlassen, sondern viele andere dazukommen würden. Ziller war natürlich eingeladen worden, aber kurz nach ihm traf Mrs. Weiss in einem Taxi ein, und wenig später Mrs. Burtt, die ihren freien Tag hatte, und dann eine Dame aus dem Nachbarhaus, die irgend etwas Ekstatisches auf Polnisch murmelte.

So kam es, daß Ruth, als sie mit ihren Freunden eintraf, von heimatlichen Wohlgerüchen und aufgeregtem Stimmengewirr empfangen wurde. Einen Moment lang blieb sie von Erinnerungen überwältigt an der Tür stehen, dann rannte sie nach oben und fiel ihrer Mutter um den Hals.

«Ach, du hättest doch nicht backen sollen, aber es ist natürlich köstlich!» rief sie und rieb ihre Wange an der ihrer Mutter.

Jeder, den Ruth gern hatte, wäre von Leonie mit Herzlichkeit aufgenommen worden, aber in Pilly erkannte sie unter den teuren Kleidern sogleich eines jener armen Hascherin, deren sie sich in Wien stets angenommen hatte. Was Sam anging, so war der so überwältigt von diesem Zusammentreffen mit Paul Ziller, dessen Schallplatten er alle gesammelt hatte, daß er kaum einen Ton herausbringen konnte. Selbst ohne die Ankunft des Klaviers wäre es eine gelungene kleine Feier geworden.

Pünktlich um halb zwölf Uhr jedoch wurde das Instrument gebracht. «Immer schön vorsichtig», sagte der Möbelpacker, während er das Klavier die Rampe hinuntergleiten ließ, und «Langsam, langsam», sagten die Männer, während sie Seile und Gurte anlegten, um es in die oberste Etage hinaufzubefördern. «Immer ruhig Blut.»

Aber ruhig Blut zu behalten, war schwierig. Fräulein Lutzenholler war aus dem Wohnzimmer entwichen und gab den Möbelmännern gute Ratschläge; Hilda schwirrte aufgeregt um sie herum ... Doch endlich war es geschafft, und mit höflicher Verbeugung wurde Ruth der Schlüssel übergeben.

«Nein, sperr du es auf, Huw», sagte sie, und alle mußten anerkennen, wie richtig diese Geste war. Der schweigsame Waliser nämlich, der unermüdlich die Musikgeschäfte Londons durchgestöbert hatte, war schließlich in einer entlegenen Vorstadt in der Nähe des Rugbyfelds der Universität genau auf das Klavier gestoßen, das Heini haben wollte: ein Bösendorfer, eines der letzten, das aus den alten Werkstätten hervorgegangen war, berühmt für die Süße seines Klangs.

«Jetzt kann ich wirklich glauben, daß Heini kommt» sagte Ruth leise und ließ die Finger leicht über die Tasten gleiten.

«Komm, probier es doch aus», schlug Leonie vor, während sie den Möbelmännern, die geglaubt hatten, sie könnten jetzt gehen, Teller mit Kipferin anbot.

Obwohl sich einer der weltbesten Geiger im Zimmer befand, setzte sich Ruth ohne Verlegenheit an das Klavier und spielte einen Schubert-Walzer – und Ziller lächelte, denn diese leidenschaftliche Liebe zur Musik, die sie seit ihrer frühen Kindheit beseelte und die alle Begrenzungen reiner Technik überwand, rührte ihn immer wieder.

«Äh – Sir – könnten Sie nicht – ich meine, Sie würden uns wohl nicht etwas vorspielen?» fragte Sam nervös und aufgeregt.

«Aber natürlich.»

Ziller holte seine Geige und spielte ein Stück von Kreisler und eine Beethoven-Bagatelle – und danach alberten er und Ruth herum, karikierten die Gäste in dem ungarischen Restaurant, die sich bemühten, den Zigeunern, die an ihren Tisch kamen, ja kein Trinkgeld zu geben, und da hörte man unversehens ein ganz außergewöhnliches Geräusch, ein eingerostetes Keuchen, das vorher noch nie einer gehört hatte: Fräulein Lutzenhollers Lachen.

Und Pilly, die Arme, die immer ins Fettnäpfchen trat, verpatzte dann alles. «Ach, Mrs. Berger», rief sie impulsiv, «bitte, bitte überreden Sie doch Ruth, mit uns auf die Exkursion zu kommen. Wir möchten sie alle so gern dabeihaben.»

Leonie stellte ihre Kaffeetasse nieder. «Was ist das für eine Exkursion?»

Es war auf einmal mucksmäuschenstill, als Ruth der Freundin einen vorwurfsvollen Blick zuwarf und Pilly brennend rot wurde.

«Es ist ein praktisches Seminar in Northumberland, auf dem Landsitz von Professor Somerville», stammelte Pilly. «Wir fahren alle mit. In drei Tagen geht es los.»

«Davon habe ich keinen Ton gehört», sagte Leonie streng. «Das ist doch unwichtig, Mama», behauptete Ruth hastig. «Es ist nichts weiter als eine praktische Übung. Die brauche ich nicht.» Leonie ignorierte sie. «Und alle außer Ruth fahren mit?»

Pilly nickte. Tief betrübt darüber, ihre Freundin verärgert zu haben, rückte sie näher an Onkel Mishak heran, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Jetzt sprang Sam in die Bresche. «Wenn Ruth nichts davon gesagt hat, dann wegen der Kosten. Das Seminar ist ziemlich teuer, aber Pillys Vater hat angeboten, für Ruth zu bezahlen. Er ist ein reicher Mann, und wir wissen alle, wie sehr Ruth Pilly beim Studium hilft, aber Ruth will einfach nichts davon wissen. Sie ist so störrisch wie ein Esel.»

«Und das Seminar wird von Professor Somerville geleitet?» fragte Leonie.

«ja. Es ist das beste seiner Art in ganz England. Wir fahren nach Bowmont und ...»

«Mama», unterbrach Ruth,»ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich nehme kein Geld von Pilly. Ich fahre nicht, und basta.»

Leonie nickte. «Du hast ganz recht. Von Freunden Geld zu nehmen, ist nie gut.» Sie sah Pilly mit einem warmen Lächeln an. «Kommen Sie, Sie können mir helfen, frischen Kaffee zu machen.»

Erst als Ruths Freunde aufbrachen, nahm sie Sam auf die Seite. «Liegt die Organisation des Seminars in Dr. Feltons Händen?»

«Ja. Er ist ein sehr netter Mann, und er möchte unbedingt, daß Ruth mitkommt.»

«Und Professor Somerville? Möchte er auch unbedingt, daß Ruth mitkommt?»

Sam zog die Augenbrauen zusammen. «Bestimmt. Sie ist ja eine seiner besten Studentinnen. Aber er ist merkwürdig – sie sind beide merkwürdig. Ich glaube, sie haben kaum ein Wort miteinander gewechselt, seit Ruth da ist.»

Nun hatte Leonie die Informationen, die sie gebraucht hatte. In praktischer Hinsicht war alles klar – aber wie sollte sie mit ihrer eigensinnigen Tochter fertigwerden?

«Mishak, du mußt mir helfen», sagte sie an diesem Abend, als sie mit ihm allein im Wohnzimmer saß, das durch die Anwesenheit des Klaviers nicht gemütlicher geworden war.

Mishak nahm seine langstielige Pfeife aus dem Mund und inspizierte ihren Kopf, um zu sehen, ob sich da nicht noch ein paar frische Tabakfädchen finden ließen. Aber es waren keine da.

«Du willst deine Brosche verkaufen», konstatierte er.

«Ja. Aber wie kriege ich Ruth dazu, daß sie mitfährt?»

«Überlaß das mir», sagte Mishak. Und Leonie, die genau das vorgehabt hatte, gab ihm einen Kuß und ging zu Bett.

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