28

Sie war das berühmteste Schiff auf der Atlantikroute; die Mauretania, immer noch Königin der Meere mit ihren luxuriösen Salons und den glitzernden Läden. Filmstars reisten mit ihr und arabische Prinzen und Industriemagnaten. Gerade jetzt kam eine Frau in einem phantastischen Pelzmantel die Gangway herauf, von Fotografen verfolgt, nach denen sie sich mit einem strahlenden Lächeln umdrehte. Auch Heini war fotografiert worden, als er mit dem Zug aus London abgereist war; sein Leben hatte sich seit dem Wettbewerb völlig verändert. Selbst mit der Hälfte des Preisgeldes hatte er es sich leisten können, von Belsize Park in ein kleines Hotel umzuziehen. Er hätte erster Klasse reisen können, aber Fleury wollte, daß Ruth mitkam, und das hieß Touristenklasse reisen. Heini fühlte sich sehr edel, daß er dieses Opfer gebracht hatte, aber selbst in der Touristenklasse ging es auf diesem Schiff luxuriös zu. An die Reling gelehnt, hielt Heini nach Ruth Ausschau, die eigentlich inzwischen hätte dasein müssen.

Nun begann es, sein neues Leben, das Leben, das er sich seit seiner Kindheit ausgemalt hatte. Amerika und der Ruhm! Und er würde dies alles mit Ruth teilen. Viele Frauen würden ihn begehren – Heini wußte das und bildete sich nichts darauf ein –, aber ein Musiker brauchte Wurzeln und eine Frau. Horowitz' Spiel hatte an Tiefe gewonnen, als er Toscaninis Tochter heiratete; Rubinsteins Frau schirmte ihren Mann von allen Störungen ab. Ruth würde das gleiche für ihn tun, das wußte er.

Nur, wo blieb Ruth? Er sah auf seine Uhr, zum erstenmal ein wenig besorgt. Er hatte ihren Wunsch, allein zum Pier zu kommen, respektiert, ja, er war in dem Monat seit ihrem Schlußexamen überhaupt sehr geduldig und nachsichtig mit Ruth gewesen. Die Prüfungsergebnisse waren noch nicht bekanntgegeben worden, aber er hatte volles Verständnis für ihre Enttäuschung. Ausgerechnet während der Abschlußprüfungen an einer Magen- und Darmgrippe zu leiden, war wirklich Pech, und für eine Frau, die so ehrgeizig war wie Ruth, mußte es ein schlimmer Schlag gewesen sein, die letzte Prüfung praktisch verpaßt zu haben. Doch im Grunde war das alles halb so schlimm, da ja ihr Leben jetzt fest mit dem seinen verbunden war.

Noch eine Stunde jetzt bis zur Abfahrt. Einige der Freunde und Verwandten, die mit Reisenden an Bord gekommen waren, verabschiedeten sich. Vielleicht hatte er Ruth zuviel Freiheit gelassen? Sie hatte darauf bestanden, sich ihr Visum selbst zu besorgen, und er hatte auch da nachgegeben; er konnte nur hoffen, daß sie in Zukunft nicht störrisch sein würde.

Eine ärmliche Familie, offensichtlich Einwanderer aus dem Osten – die Männer mit breitkrempigen schwarzen Hüten, die Frauen in Tücher gehüllt, mit Kindern an den Händen – kam jetzt auf dem Weg zum Zwischendeck die Gangway herauf. Zwei alte Frauen, die zu ihnen gehörten, blieben winkend und klagend unten am Kai zurück; Zwischendeckpassagiere durften keine Freunde oder Verwandten mit an Bord bringen. Ruths Abschied in Belsize Park war gewiß geräuschvoll und tränenreich gewesen. Er war froh, daß er das alles verpaßt hatte. Ruths Entschlossenheit, ihre Familie nachzuholen, machte ihm etwas Sorge. Er hatte ihr versprochen, es zu tun, und er würde es auch tun, aber zunächst einmal gab es andere Prioritäten: eine anständige Wohnung, einen Steinway-Flügel, die Versicherung für seine Hände ...

Ah, Gott sei Dank, da kam sie. Sie trug ihr Lodencape, selbst an diesem warmen Tag zugeknöpft bis oben hin, und am Arm hatte sie ihren Korb, so daß sie noch mehr wie eine Gänsemagd auf der Alm aussah, und einen Moment lang fragte er sich, ob er vielleicht einen Fehler gemacht hatte, ob sie in dieses weltmännische Leben, das er von nun an führen würde, überhaupt hineinpaßte. Aber Mantella war hingerissen von ihr, und Fleury hätte sie jederzeit um den Finger wickeln können. Er hatte noch keinen Mann kennengelernt, der Ruth nicht mochte, und als sie jetzt die Gangway heraufkam, drehte sich ein Matrose, der gerade hinunterging, interessiert nach ihr um.

«Ruth!»

«Heini!»

Sie lagen einander in den Armen. Er fühlte ihr Haar an seiner Wange, die Wärme, die Vertrautheit.

«Du hast ja geweint, Liebling.» Er war fürsorglich, wischte ihr die Tränen mit den Fingern ab.

«Ja, aber das macht nichts. Es ist schon wieder gut. Ich hab uns auch was mitgebracht. Eine herrliche Überraschung. Es war der reine Zufall, daß ich sie mitten im Sommer gefunden hab, aber schau mal!»

Sie beugte sich zu ihrem Korb hinunter und nahm eine braune Tüte heraus, die sie ihm in die Hände legte. Heini spürte die Wärme, noch ehe er die Tüte aufmachte, und lächelte. «Maroni! Ach Ruth, das erinnert mich an so vieles.»

Er nahm eine Kastanie heraus, beinahe war sie zu heiß, um in der Hand gehalten zu werden, betrachtete die aufgesprungene Schale, das runzlige, geröstete Fruchtfleisch, atmete den köstlichen Duft. Beide waren sie jetzt wieder in der Stadt, in der sie aufgewachsen waren, im Winter in der Kärntner Straße, die warme Tüte in der Hand ... Ruth hatte sie oft in ihren Muff gesteckt, um sie warm zu halten, wenn sie ihn vom Konservatorium abholte. Einmal hatten sie drei Tüten vertilgt, während sie in einem Schlitten durch den verschneiten Prater gefahren waren.

«Ich schäl dir eine», sagte Ruth. Geschickt löste sie die Kastanie aus ihrer Schale und hielt sie ihm hin, wie sie ihm früher am Grundlsee die Walderdbeeren hingehalten hatte oder ein aus der Speisekammer ihrer Mutter stibitztes Stück Marzipan.

«Wollen wir sie mit hinunternehmen?» meinte er.

«Nein, essen wir sie hier, Heini. Bleiben wir oben am Wasser.» Und so blieben sie nebeneinander an der Reling stehen und leerten die Tüte.

«Ist dein Gepäck schon an Bord?» fragte Heini. «Wir fahren in weniger als einer Stunde ab.»

«Es ist alles erledigt», sagte Ruth. Sie schloß ihn in die Arme, und wieder fühlte er ihre Tränen. «Aber ich muß dir noch etwas sagen, Liebster.»


Keiner vergaß jemals, wo er sich am Morgen des dritten September aufgehalten hatte.

Pilly, die ohne auf die Prüfungsergebnisse zu warten zum Frauencorps der Royal Navy gegangen war, hörte Chamberlains quäkende Stimme in der Marinekaserne in Portsmouth. Janet hörte sie im Pfarrhaus ihres Vaters an dem Tag, an dem sie sich zum Erstaunen aller mit seinem Hilfspfarrer verlobt hatte.

Die Bewohner von Nummer 27 hörten die Nachricht, daß Großbritannien sich mit Deutschland im Krieg befand, am Radio in Zillers Zimmer, und ihre Gesichter drückten alle das gleiche aus: Erleichterung, daß die faulen Kompromisse endlich ein Ende hatten und sogleich das Begreifen, daß sie nun endgültig von den Verwandten und Freunden abgeschnitten waren, die sie auf dem Kontinent zurückgelassen hatten.

Auch von Ruth. Von Ruth, die seit fünf Wochen in Amerika war und sich noch nicht gemeldet hatte. Aber wahrscheinlich hatte sie geschrieben, und der Brief war infolge der unsicheren Zeiten nur noch nicht angekommen. Und nun würde jedes Postschiff von den U-Booten bedroht werden, die Telefonleitungen würden vom Militär requiriert werden.

«Ach, Kurt», sagte Leonie leise zu ihrem Mann.

«Denk daran, daß sie in Sicherheit ist. Das ist das Wichtigste. Daß sie in Sicherheit ist.»

Beinahe noch ehe Chamberlain zum Ende gekommen war, gab es den ersten Fliegeralarm, und sie bekamen einen Vorgeschmack auf das, was kommen würde, als Fräulein Lutzenholler mit einem Sprung unter den Tisch tauchte und Mishak in den Garten hinausrannte, um im Freien zu sterben. Es war falscher Alarm, aber er machte es Leonie leichter, sich die Worte ihres Mannes zu Herzen zu nehmen. Ruth war in Sicherheit – die Mauretania war wohlbehalten in New York eingelaufen; sie hatten sich bei der Schiffahrtsgesellschaft erkundigt. Sie selbst hatte gesagt, es könne eine Weile dauern, ehe sie einen Brief bekämen, aber nun betete sie darum, daß Ruth bald von sich hören lassen würde. Sie wußte, wie enttäuscht Kurt über Ruths Prüfungsergebnisse gewesen war und über die Art, wie sie vor ihrer Abreise ihnen beiden gegenüber auf Distanz gegangen war. Deswegen litt er jedoch kaum weniger als sie über diese Trennung von der Tochter, die er so sehr liebte.


Quin hörte die Nachricht erst drei Tage später unter geradezu abenteuerlichen Umständen. Ein Reiter, der in einer Staubwolke über die Ebene gefegt kam, zügelte vor ihm sein Pferd und reichte ihm einen Brief.

«Es ist also passiert», sagte Quin, und der Afrikaner nickte. Die Männer, die in den Felsen gearbeitet hatten, legten einer nach dem anderen ihre Werkzeuge nieder. Sie brauchten nicht zu fragen, was geschehen war. Der Commissioner in Lindi hatte versprochen, sie unverzüglich zu informieren, und er hatte Wort gehalten.

«Wir fahren also wieder nach Hause?» fragte Sam und trank sich noch einmal an der blauen Unermeßlichkeit des Himmels und der braunen Weite der Ebenen satt.

Quin legte ihm einen Arm um die Schultern. «Ja», antwortete er. «Unverzüglich.»


In den ersten Kriegswochen gab es diverse Krisen in Belsize Park, keine jedoch war feindlichen Angriffen zuzuschreiben. Die alte Dame von nebenan stieß bei der Verdunkelung mit einem Laternenpfahl zusammen und wurde zu Dr. Levy gebracht, der jetzt wieder praktizieren durfte. Ein wichtigtuerischer Luftschutzwart trieb Miss Violet in einen hysterischen Anfall, indem er sie beschuldigte, eine deutsche Spionin zu sein, weil zwischen den Vorhängen ihres Schlafzimmers Licht hindurchschimmerte. Leonie, die jetzt in einer Militärkantine arbeitete, bekam einen Rüffel, weil sie die Margarine auf den Broten der Soldaten nicht dünn genug strich.

Als endlich ein Brief aus Amerika kam, war er nicht von Ruth, sondern von Heini, und als Leonie ihn gelesen hatte, war sie nur noch ein zitterndes Nervenbündel. Heini bedankte sich bei ihnen für ihre Gastfreundschaft in den vergangenen Jahren und schloß eine Nachricht für Ruth ein.

«Ich möchte ihr keine Vorwürfe machen», schrieb er, «denn es war im Grunde nur anständig von ihr, mir zu sagen, daß sie mich nicht liebt und nicht mit mir zusammenleben möchte. Aber Ihr könnt Euch sicher vorstellen, wie mir zumute war, ganz allein auf der Überfahrt in ein unbekanntes Land. Zum Glück wurde ich hier sehr herzlich aufgenommen. Die Amerikaner sind so warmherzig, wie man das immer hört, und mein Debüt in der Carnegie Hall war ein Triumph. Bitte sagt das Ruth, und sagt ihr auch, daß nun eine andere Frau in mein Leben getreten ist, eine sehr musikalische Frau, die etwas älter ist als ich und ihren Einfluß geltend macht, um mich zu fördern. Ich lebe mittlerweile mit ihr zusammen in einer herrlichen Wohnung direkt am Central Park. Ruth braucht sich also keine Vorwürfe zu machen – sie darf aber auch nicht glauben, daß sie zu mir zurückkehren kann. Ich werde mich ihrer immer mit Wärme erinnern, aber das alles gehört nun der Vergangenheit an.»

Leonie kauerte zitternd in einem Sessel. «Mein Gott, Kurt, was ist da geschehen? Wo ist sie? Warum hat sie uns nichts gesagt?»

«Beruhige dich, Leonie. Es gibt bestimmt eine Erklärung.» Aber während Kurt Berger seiner Frau über den Rücken strich, hatte er selbst größte Mühe, ruhig zu bleiben.

«Wir müssen zur Polizei gehen. Sie müssen sie finden», sagte Leonie.

«Erst sehen wir mal, was wir auf eigene Faust herausfinden.»

Aber sie fanden nichts heraus. Pilly, der sie telegrafierten, hatte nicht von Ruth gehört; ebensowenig Janet. Alle in Thameside glaubten, Ruth sei in Amerika. Schluchzend flehte Leonie Gott um Hilfe an und versprach ihm wieder einmal, immer ein guter Mensch zu sein, und tatsächlich kam eines Nachmittags ein Brief, mit dem Hilda sofort ins Willow eilte.

«Er ist eben gekommen – das ist doch Ruths Schrift, das weiß ich genau!»

Es wurde still im Café, als der Umschlag geöffnet wurde. Es blieb still, während Leonie und ihr Mann lasen, was Ruth geschrieben hatte.

«Sie ist in Sicherheit», sagte Leonie endlich. «Und sie ist in England. Auf dem Land. Sie arbeitet dort.»

«Warum dann das lange Gesicht?» fragte von Hofmann, der seit Kriegsausbruch ein vielbeschäftigter Mann war. Die Filmgesellschaften drehten ganze Serien von Antinazifilmen, und er hatte sich die Rolle eines SS-Offiziers gesichert, der nicht nur «Schweinehund!», sondern auch «Gott im Himmel!» rief, bevor er eines sehr unerquicklichen Todes starb.

«Sie möchte allein sein.» Leonies Lippen bebten.

«Wie Greta Garbo?» erkundigte sich die Dame mit dem Pudel.

Leonie schüttelte verwirrt den Kopf. «Ich versteh das nicht. Sie schreibt, sie müsse auf eigenen Füßen stehen, sie müsse lernen, sich allein zu entwickeln. Sie werde später zurückkommen, aber jetzt müßte sie erst einmal herausfinden, wer sie eigentlich ist.»

«So etwas macht jeder einmal durch», bemerkte Ziller. «Das ist ganz natürlich.»

Mrs. Weiss war anderer Meinung. «Und was hat sie davon, wenn sie weiß, wer sie ist?» fragte sie und spießte mit der Kuchengabel ein Stück Gugelhupf auf.

«Sie kommt sicher bald zurück», sagte Miss Maud tröstend. «Sie braucht einfach ein bißchen Zeit, um über die Enttäuschung bei den Prüfungen und den Bruch mit Heini hinwegzukommen.»

«Sie hat uns nicht einmal eine Adresse angegeben», sagte Leonie unglücklich. «Und den Stempel kann ich nicht lesen. Aber auf der Post können sie es mir bestimmt sagen. Wir müssen sie finden, Kurt.»

Kurt Berger legte den Brief aus der Hand, in dem seine Tochter um Verständnis bat. «Nein», sagte er kurz. «Wir werden ihre Wünsche respektieren.»

«Aber ich will ihre Wünsche nicht respektieren, ich will sie hierhaben!» rief Leonie schluchzend.

«Jetzt ist genug geredet», sagte Kurt Berger, und die Erkenntnis, daß er so tief litt wie sie, brachte Leonie zum Schweigen.


«Noch nicht heim», bettelte Thisbe, als Ruth den Sportwagen den von tiefen Wagenspuren durchzogenen Weg hinunterschob.

«Wir müssen aber nach Hause, Thisbe. Es gibt gleich Abendbrot.»

Das kleine Mädchen verzog das Gesicht, als wollte es weinen. Ruth beugte sich zu ihr hinunter. Der Wind hatte aufgefrischt, die Berggipfel waren in Nebel gehüllt. So gern sie und die dreijährige Thisbe im Freien waren, es gab Grenzen. Der Lake District im Spätherbst war wunderschön, aber abends wurde es empfindlich kühl.

Ruth wohnte jetzt seit zwei Monaten bei der Weberin, deren Kinder sie schon in Hampstead Heath versorgt hatte. Penelope Hartley war auf eine etwas vage Art und Weise durchaus eine nette Person, und daß sie Ruth als Gegenleistung für ihre Dienste als Kindermädchen Kost und Logis bot, war unter den Umständen sehr großzügig. Als sich zeigte, daß es zum Krieg kommen würde, war sie mit ihren Kindern und ihrem Webstuhl nach Cumberland umgezogen, und Ruth war mitgekommen. Penelope mochte eine gute Weberin sein, eine gute Hausfrau war sie nicht, und seit Mr. Hartley sich vor einigen Jahren von ihr getrennt hatte, hatte Penelope alles ein bißchen herunterkommen lassen.

Als Ruth jetzt mit dem kleinen Mädchen in das Häuschen trat, stieg ihr sogleich der Geruch der Gemüsesuppe, die auf dem Herd stand, in die Nase.

«Keine Suppe!» schrie Thisbe sofort und warf sich zu Boden. «Nein, nein, ich mach dir ein Butterbrot», tröstete Ruth.

Hier auf dem Land gab es noch Lebensmittel in Hülle und Fülle, oder es hätte sie zumindest gegeben, wenn genug Geld dagewesen wäre, um sie zu bezahlen, und nicht die meisten Dorfbewohner Ruth die kalte Schulter gezeigt hätten.

Als jetzt die beiden Jungen aus der Schule nach Hause kamen, Peter und Tristram, rümpften auch sie sofort die Nasen. «Schon wieder Mamas Spülwasser», sagte Tristram. «Ich eß das nicht, das braucht sie sich gar nicht einzubilden.»

Ruth beruhigte ihn, indem sie Erdnußbutter und Äpfel aus der Speisekammer holte. Wenn es nur nicht schon so früh dunkel geworden wäre. Vor ein paar Wochen hatte sie nach dem Abendessen noch mit den Jungen hinausgehen und Ball spielen können; jetzt aber mußten sie sehen, wie sie sich die endlosen Abende im Qualm der Öllampen vertrieben. Meistens spielten sie Domino oder ein Brettspiel – wenn nicht gerade wieder irgendwelche Steine fehlten. Ruth war nicht mehr so beweglich wie früher, und es machte ihr ziemliche Mühe, auf dem Boden herumzukriechen und nach verlorenen Spielsachen zu suchen, wenn die Kinder im Bett waren.

Obwohl vereinbart worden war, daß sie nur bis sieben Uhr abends arbeiten sollte, hatte es sich eingebürgert, daß sie Thisbe zu Bett brachte und dann bei ihr blieb, bis sie eingeschlafen war. Erst danach, wenn sie in ihr Mansardenzimmer hinaufstieg, das wenigstens ihr allein gehörte, war sie für sich. Oft stellte sie sich dann ans Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus und sehnte sich nach ihrer Mutter und der Geborgenheit ihrer eigenen Kindheit und nach der bemalten Wiege, die jetzt in Stücke geschlagen war und in der eigentlich ihr Kind hätte liegen sollen.

Aber sie würde nicht nachgeben. Es war ja jetzt nicht mehr lang–nicht einmal mehr zwei Monate. Sie würde es allein durchstehen. «Nicht wessen ich bin, sondern wer ich bin, davon handelt meine Suche ...» Immer wieder ging ihr diese Zeile aus einem vergessenen Gedicht durch den Kopf. Nur, wer war sie denn? Jemand, der geliebt hatte und zurückgewiesen worden war; eine Tochter, die ihren Eltern Schmerz und Enttäuschung bereitet hatte; und nun, bald, eine Mutter, die nichts wußte.

Und doch bedauerte sie nichts. Sie war niemandem böse, nicht einmal Verena, die ihr draußen in der Toilette flüsternd ihr Ultimatum gestellt und gedroht hatte, zu verraten, was mit ihr los war, wenn sie Thameside nicht auf der Stelle und für immer verließ. In gewisser Weise hatte Verena ihr einen Dienst erwiesen, indem sie ihr die Verachtung vor Augen geführt hatte, mit der die Welt auf ihren Zustand reagieren würde. Wenn ihr Vater, dieser strenge, aufrechte Mensch ihr als einer gefallenen Sünderin den Rücken gekehrt hätte, so hätte Ruth das nicht ertragen können; sie hätte das Geheimnis ihrer Ehe preisgegeben, und dann wäre ihr gar nichts anderes übriggeblieben, als Quin zu suchen, ihn wissen zu lassen, wie es um sie stand, ihn anzuflehen, ihr einen Platz in seinem Leben zu geben ... Und Verena hatte ihr Versprechen gehalten; niemand auf der Universität wußte, was geschehen war oder wo sie sich aufhielt.

Und auch Quin konnte sie nicht böse sein, denn er hatte keine Schuld. Er hatte gesagt: «Warte, wir müssen vorsichtig sein.» Er hatte es sehr sanft, sehr liebevoll gesagt und dabei ihr Gesicht mit seinen Händen umschlossen; er hatte aufstehen wollen, aber sie, sie hatte ihn festgehalten und gesagt: «Nein, nein, du darfst jetzt nicht gehen!» Weil sie es schon da nicht hatte ertragen können, von ihm getrennt zu sein. «Es ist völlig ungefährlich», hatte sie versichert. «Es sind meine sicheren Tage. Ich weiß es. Mrs. Felton hat es mir erklärt. Es ist absolut ungefährlich.»

Sie hatte nicht gelogen; sie hatte es geglaubt, und er hatte ihr geglaubt. Aber sie hatte sich getäuscht. Sie hatte sich um eine ganze Woche vertan. Wieder ein Punkt für Fräulein Lutzenholler und Professor Freud! Sie nahm es sonst immer sehr genau mit den Daten – schuld war nur dieses verflixte sogenannte Unbewußte jenseits aller Vernunft, das von Anfang an nichts anderes gewollt hatte, als diesem einen Mann zu gehören.

Selbst jetzt, da die Dorfbewohner sie als «ledige Mutter» ächteten, da Quin sie zurückgewiesen hatte, brannte tief unter aller Angst vor der Zukunft eine unauslöschbare Freude darüber, daß sie sein Kind trug. Das Kind selbst allerdings machte ihr in letzter Zeit ziemlich zu schaffen. Es schien, obwohl es ohne sie noch nicht einmal atmen konnte, bereits einen eigenen Willen entwickelt zu haben, einen Eigensinn, der beachtlich war. Es schien mit den Plänen seiner Mutter überhaupt nicht einverstanden, für ihr Abenteuer der Selbstfindung nicht das geringste Verständnis zu haben.

Bowmont ist nur sechzig Meilen weit, sagte es, vergnügt in ihrem Bauch herumstrampelnd. Du magst ja nicht standesgemäß sein, aber ich bin zur Hälfte ein Somerville.

Ich erhebe Anspruch, sagte es, auf mein Zuhause.


Ende November bekam Leonie Besuch von Mrs. Burtt, die aus dem Willow weggegangen war, um in einer Munitionsfabrik zu arbeiten. Sie brachte ein kleines Päckchen in Silberpapier mit und wirkte etwas scheu und zaghaft, was sonst eigentlich nicht ihre Art war. «Ich hoffe wirklich, ich störe Sie nicht», sagte sie, «aber ich – na ja, ich hab mir gedacht, Sie würden es schon nicht in die falsche Kehle kriegen.»

«Wie sollte ich?» fragte Leonie. «Ich freue mich, Sie zu sehen.» Sie führte Mrs. Burtt ins Wohnzimmer, in dem man jetzt, nachdem das Klavier hinaustransportiert war, wieder Gäste empfangen konnte, und bot Mrs. Burtt Kaffee an, den diese dankend ablehnte.

«Ich möchte wirklich nicht neugierig sein», sagte sie, nachdem sie sich seltsamerweise erkundigt hatte, ob sie ungestört seien, «aber wissen Sie, sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen, und die Leute sind ja manchmal so gehässig. Dabei weiß ich, was für ein gutes Kind Ruth ist. Daß sie weggegangen ist, um es allein zu bekommen – genau das ist so typisch für sie. Nur ja niemandem lästig fallen, nur ja niemandem wehtun. Aber ich möchte, daß sie weiß, wie gern ich sie habe und daß ich sie nie für schlecht gehalten habe, und darum wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihr das hier von mir geben würden. Hinterher. Nicht vorher, das bringt Unglück. Erst wenn es vorbei ist. Ich hab es selbst gestrickt.»

Sie legte das Päckchen auf den Tisch, und Leonie, die plötzlich kaum noch atmen konnte, fragte: «Darf ich es mir ansehen?»

Mrs. Burtt packte ihr Geschenk aus. «Ist es nicht hübsch geworden?» fragte sie stolz. «Ich hab Stunden dafür gebraucht. Das Muster ist verflixt schwierig. Ich hab sicherheitshalber weiße Wolle genommen. Sie kann ja dann ein hellblaues oder ein rosa Band durchziehen – je nachdem.»

Leonie litt immer noch an Atemnot. «Vielen Dank, da wird sie sich aber freuen. Es ist ein süßes Jäckchen. Ich werde sehen, daß sie es bekommt, und ihr ausrichten ... was Sie ... gesagt haben.»

Mrs. Burtt schüttelte den Kopf. «Gott bewahre. Sie war ja noch nie ein Plappermaul. Aber wir waren zu Hause vier Mädchen, und ich habe selbst drei Töchter. Ich hab's ziemlich bald gemerkt. Diese Übelkeit – das war keine Magen- und Darmgrippe. Und dann war sie ja auch immer so schnell müde. Ich hab's ihr auf den Kopf zugesagt, und ich glaube, es war eine Erleichterung für sie, mit jemand reden zu können.»

«Und ... hat sie Ihnen auch erzählt ... was sie vorhatte? Wohin sie gehen wollte?»

«Nein. Und ich hab auch nicht danach gefragt. Ich hab gewußt, daß nicht Heini der Vater war, aber das ging mich nichts an.» Leonie hob den Kopf. «Woher wußten Sie das?»

«Na ja, man hat doch gesehen, daß sie ihn nicht liebt, oder? Sie hat sich die ganze Zeit viel zu sehr bemüht ... Und wenn er's nicht war – wie gesagt, ich wollte nicht neugierig sein.»

«Ich ... habe nicht so klargesehen wie Sie», sagte Leonie in ihrer tiefen Verzweiflung.

Mrs. Burtt legte ihr flüchtig die schwielige Hand auf den Arm. «Sie beide sind sich so nah», sagte sie. «Sie lieben Ruth sehr, und die Liebe, die kann einen schon umbringen.»

Als Kurt Berger nach Hause kam, fand er seine Frau noch immer im Schock.»Was ist denn passiert, Leonie? Was hast du da in der Hand?»

«Das ist ein Babyjäckchen.» Sie strich mit den Fingern über die feine Wolle. «Mrs. Burtt hat es für Ruth vorbeigebracht.»

Sie sah, wie sich das Gesicht ihres Mannes veränderte. Sie sah die Ungläubigkeit, die Bestürzung – dann den Zorn. «Mein Gott, dieser Schuft, dieser Heini! Ich werde ihn zwingen, sie zu heiraten», rief er erregt.

«Nein, Kurt, es ist nicht Heinis Kind. Wenn es seins wäre, dann wäre sie mit ihm gegangen.»

Das war noch schlimmer. Seine geliebte, behütete Tochter eine Sünderin, Mutter eines unehelichen Kindes! Er tat Leonie leid, doch sie hatte nicht die Kraft, ihn aus seiner konventionellen Hölle moralischer Entrüstung zu befreien. Was habe ich da nur nicht verstanden? dachte sie unablässig. Was fehlt hier? Und wenn ich von Anfang an recht hatte, wie konnte es dann hierzu kommen?

Draußen läutete es, schrill und fordernd. Leonie und Kurt rührten sich nicht.

«Was willst du tun?» fragte er, und seine Hilflosigkeit rührte sie. «Ich sage dir, was ich tun werde», begann sie.

Wieder läutete es, und nun hörten sie, wie Fräulein Lutzenholler ihre Tür öffnete und empörten Schrittes die Treppe hinuntermarschierte.

Wenig später kam sie zurück, so verdrossen, wie Leonie es erwartet hatte, in Begleitung eines rotgesichtigen Mannes, der eine Art Uniform trug.

«Das ist der Mann von der Desinfektionsanstalt», sagte Fräulein Lutzenholler. Als Leonie diesen Mann, den sie Wochen und Monate verzweifelt herbeigewünscht hatte, verständnislos ansah, fügte sie hinzu: «Er ist wegen der Mäuse gekommen.»

«Ach ja, vielen Dank.» Leonie stand auf, versuchte sich zu fassen. «Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Sie sind überall. Am schlimmsten ist es in der Küche – und im hinteren Zimmer.»

«In Ordnung, Madam. Ich fang gleich an. Scheint ja eine rechte Plage zu sein. Kann sein, daß ich ein paar Bodendielen rausreißen muß.»

Er ging aus dem Zimmer. Sie hörten ihn umhergehen, die Wände abklopfen, Schränke öffnen.

«Ich sage dir, was ich tun werde», wiederholte Leonie, sich wieder ihrem Mann zuwendend. «Ich gehe mit Ruths Brief zur Post und lasse mir sagen, woher er kommt, und dann fahre ich dorthin und suche sie. Und wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie hierher und kümmere mich um sie und mein Enkelkind. Es ist mir egal, wer der Vater ist. Wenn Ruth sich ihm hingegeben hat, dann weil sie ihn geliebt hat, und sie ist mein Blut und deines auch, und deshalb wirst du jetzt nicht ...»

Es klopfte, und der Kammerjäger trat wieder ein.

«Das hier habe ich unter den Dielen im hinteren Zimmer gefunden», sagte er und stellte eine große Keksdose auf den Tisch. Sie war mit Mäusekot gesprenkelt und einem Bild der Prinzessinnen Elizabeth und Margaret Rose dekoriert.


Sie war mit dem Bus bis Alnwick gekommen, aber bis Bowmont waren es immer noch acht Meilen. Normalerweise hätte sie das leicht zu Fuß gehen können, aber nicht in ihrem jetzigen Zustand. Darum leistete sie sich, obwohl sie kaum Geld hatte, ein Taxi bis zum Dorf. Es wäre vernünftiger gewesen, sich direkt vor dem Haus absetzen zu lassen, aber das schaffte sie nicht. Sie wollte dort nicht als jemand erscheinen, der Ansprüche erhob und auf seine Rechte pochte; sie suchte Trost und Zuflucht in Bowmont, sonst nichts.

«Ich hoffe, du bist zufrieden», sagte sie bitter zu ihrem ungeborenen Kind. Sie hatte einen langen Kampf ausgetragen, ihren Stolz und ihre Selbständigkeit gegen den Eigensinn und die Halsstarrigkeit dieses Geschöpfs ins Gefecht geführt, und sie hatte verloren. Als sie jetzt schwerfällig den Hügel hinaufging, versuchte sie, den Konsequenzen einer Zurückweisung ins Auge zu sehen. Wohin würde sie sich wenden, wenn sie abgewiesen wurde? Es begann schon dunkel zu werden; sie konnte kaum zu Penelope zurückkehren, deren Ratschläge sie in den Wind geschlagen – die sie in gewisser Weise im Stich gelassen hatte. Sie mußte verrückt gewesen sein, hierherzukommen, jetzt, in der elften Stunde.

Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie vor sich, scharf umrissen vor dem Hintergrund eines stürmischen violetten Himmels, den Turm von Bowmont auftauchen sah, das Rauschen der windgepeitschten Bäume hörte und das Tosen der Brandung an den Felsen. Erinnerungen überfielen sie: an den unglaublich klaren Sternenhimmel; an den blendenden Glanz des Meeres in der Morgensonne; an die warme Geborgenheit und den Duft des Gartens. Wenn man sie wiederum fortschicken sollte, dachte sie, würde sie es nicht ertragen.

Sie ging jetzt auf der gekiesten Auffahrt und war noch immer keiner Menschenseele begegnet. Als sie die Treppe erreichte und ihren Koffer niederstellte, wußte sie mit Gewißheit, daß ihr Bemühen scheitern würde. Frances Somerville hatte für Flüchtlinge und für Ausländer nichts übrig; sie gehörte einer längst vergangenen Zeit an. Es gab keine Zuflucht hier, keine Geborgenheit und keine Hoffnung.

Sie konnte das Bimmeln der Glocke im Inneren des Hauses hören. Würde Turton sie überhaupt melden, wenn er ihren Zustand sah? Sie gehörte an die Hintertür oder in eines dieser düsteren Gemälde, auf denen des Hauses verwiesene Frauen in die Nacht hinausstolperten.

Der Riegel wurde langsam zurückgezogen – so langsam, daß Ruth Zeit gehabt hätte, umzukehren und die Treppe hinunterzulaufen.

«Ja? Was gibt es?»

Es war nicht Turton, es war niemand vom Personal. Es war Frances Somerville selbst, die ihr den Weg versperrte und auch, als sie sah, wer vor ihr stand, keine Neigung zeigte, sie hereinzubitten.

«Wie um alles in der Welt kommen Sie denn hierher?» rief sie entrüstet. «Was wollen Sie? Sie gehören doch jetzt nicht hierher!»

Ruth holte tief Atem und hob den Kopf. Sie mußte kämpfen. Für ihr Kind. Aber als sie sprach, kamen ihr die Worte nur stockend über die Lippen; sie war plötzlich so erschöpft, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

«Bitte ... ich bitte Sie ... Darf ich bleiben?»

«Hierbleiben? Hier? In Ihrem Zustand? Wirklich, Ruth, ich weiß ja, daß ihr Ausländer alle verrückt seid, aber das geht wirklich zu weit. Selbstverständlich können Sie nicht bleiben.»

«Ich kann es Ihnen erklären ... Es hat seine Gründe.»

«Es geht hier nicht um Erklärungen. Sie können ganz einfach nicht hierbleiben, und fertig.»

Ruth sah in das entsetzte Gesicht der Frau, von der sie trotz allem gehofft hatte, sie sei ihre Freundin. Als sie von einer tödlichen Kälte erfaßt ihr Cape fest um sich zog, begannen die ersten Flocken zu fallen.

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