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«Ich kann nicht», sagte Heini mit erstickter Stimme. «Ich kann das nicht.»

Das rote Gesicht des Aufsehers mit dem brutalen Kinn und den kleinen blauen Augen schob sich dicht vor das Heinis. «Oh doch, das können Sie. Sie werden gleich merken, daß Sie das können.»

Heini sah das Blitzen des Messers in der Hand des Mannes und begriff, daß er geschlagen war. Nicht einmal einen Kartoffelschäler gab es – man erwartete von ihm, daß er drei Eimer voll Kartoffeln unter fließendem kalten Wasser schälte. Er hatte ihnen erklärt, daß er Pianist war, daß er seine Hände brauchte, daß sie sein Lebensunterhalt waren; aber keiner hatte ihm zugehört, keinen interessierte das. Ein Abrutschen der Klinge, und er würde vielleicht wochenlang nicht üben können.

Meierwitz neben ihm hatte bereits angefangen. Säuberlich schnitt er die schwarzen Augen heraus und ließ die nackten Kartoffeln ins Wasser fallen. Aber bei Meierwitz war das auch etwas anderes; er kam aus einem Arbeiterviertel im Ruhrgebiet; Meierwitz war harte körperliche Arbeit gewöhnt; er pfiff bei der Arbeit vergnügt vor sich hin und machte Heini auf ein Rotkehlchen aufmerksam, das auf einem Zaunpfahl saß und sie beobachtete.

Für Heini waren die grauen Felder, der graue Himmel, das Murmeln des Meeres auf dem eine Meile entfernten Kiesstrand nur trostlos, alptraumhaft. Die lethargischen schwarz-weißen Kühe, die jenseits der Stacheldrahtumzäunung des Lagers weideten, hätten Kreaturen aus dem Hades sein können. Es war sein dritter Tag in der Gefangenschaft, und er wußte jetzt schon, daß er diese Strapazen nicht aushalten würde. Die Männer schliefen zu sechst in einer Baracke; sie standen um sieben Uhr auf und wuschen sich in eisiger Kälte; zum Frühstück gab es Porridge, von dem er gehört, den er aber nie gesehen hatte, und Tee, immer Tee, Tee, Tee – niemals auch nur eine einzige Tasse Kaffee. Dann folgten die fürchterlichen Arbeiten – Kartoffelschälen, Gemüseschnipseln, lauter Dinge, bei denen er sich die Hände verletzen konnte, und abends der nervtötende Krach von Mundharmonikas oder des Radios oder von Leuten, die um Streichhölzer pokerten. Und jetzt sollten auch noch Vorträge eingeführt werden, deren Besuch man zur Pflicht machen wollte, und am vergangenen Abend hatte man ihnen einen Film vorgeführt, in dem ein vertrottelter Komiker auf der Ukulele gespielt und dauernd seine Hose verloren hatte. Wenn das britische Kultur war, so würde er sich hier sehr unglücklich fühlen.

Meierwitz hatte ein Stück Kartoffel abgeschnitten und es dem Rotkehlchen hingeworfen, das es mit seitlich geneigtem Kopf betrachtete und dann zu dem Schluß kam, daß es weiterer Beachtung nicht wert sei. Der brutale Aufseher, ein Eisenwarenhändler aus Graz, der fest entschlossen war, diesen unordentlichen Haufen von Flüchtlingen zu einer ordentlichen Arbeitstruppe hinzutrimmen, trat zu Meierwitz und sagte: «Gib dir keine Mühe, der frißt nur Würmer.» Er war schon richtig stolz auf das wählerische Gebaren dieses britischsten aller Vögel und warf Heini Radek einen geringschätzigen Blick zu. Man sollte meinen, der Junge wäre froh, aus Deutschland rauszukommen; statt dessen winselte er ständig wegen seiner Hände.

Die Entdeckung, daß sein Visum eine Fälschung war, hatte Heini getroffen wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Die Stunden bei der Einwanderungsbehörde am Flughafen waren ein Alptraum gewesen, den er bis an sein Lebensende nicht vergessen würde. Zusammen mit den anderen, deren Papiere nicht in Ordnung waren, hatte man ihn in dieses Transitlager gebracht und – fand er – wie ein Tier behandelt; eingesperrt, in Baracken zusammengepfercht, herumgestoßen. Anfangs hatte er gefürchtet, man würde ihn zurückschicken; aber man hatte in England das schreckliche Dilemma der Flüchtlinge endlich begriffen, und nach dem ersten Tag hatten alle im Dovercamp erfahren, daß sie bleiben konnten. Diejenigen, die sich freiwillig zur Landarbeit meldeten oder bereit waren, sich dem Pionierkorps anzuschließen, konnten schnell entlassen werden; die anderen mußten erst geprüft werden und ein Verfahren durchlaufen; vor allem mußte ein Bürge gefunden werden, der garantierte, daß sie dem Steuerzahler nicht zur Last fallen würden.

Heini verspürte nicht ein Fünkchen der Euphorie, die diese Nachricht bei den anderen auslöste. Ausgeschlossen, daß er sich zur Landarbeit meldete oder zu den Pionieren ging. Kein Mensch schien zu begreifen, daß die Musik nicht einfach irgendein selbstsüchtiger Zeitvertreib war; sie war seine Mission. Aber dafür hatten auch die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen kein Verständnis, die mit nervtötender Langsamkeit seine persönlichen Daten aufnahmen. Es dauerte zwei Tage, ehe er Leonie Berger anrufen durfte, aber die Verbindung war so schlecht, daß er sie kaum hören konnte; auch neigte er dazu zu vergessen, daß diese Familie, der einst alle Türen in Wien offengestanden hatten, jetzt mittellos und staatenlos war wie er selbst. Die Bergers konnten nicht für ihn bürgen; ihr Name hatte bei der Bürokratie kein Gewicht. Sie konnten jedoch versuchen, jemanden zu finden, der die Bürgschaft für ihn übernehmen würde; sie wollten ihm helfen. Und Ruth würde kommen. All seine Hoffnung konzentrierte sich auf sie, als er die Hände in den Kübel mit dem kalten Wasser tauchte und die nächste Kartoffel herausholte.

Am späten Nachmittag, als sie aus Emailbechern ihren Tee tranken und dazu die trockenen Biskuits aßen, die ausgeteilt worden waren, erschien ein junger Mann von der Verwaltung an der Tür der Baracke.

«Mr. Radek?» rief er.

Heini stand mit klopfendem Herzen auf.

«Sie haben Besuch. Im Büro.»

«Wer ...?» stammelte Heini.

«Ein Mädchen», sagte der Bote. «Eine Klassefrau.» Er sah Heini mit neuem Respekt an.


Ruth stand ruhig da und wartete. Sie war seit der vergangenen Nacht unterwegs und hatte kaum etwas gegessen, aber sie brauchte auch nichts, so froh und glücklich war sie. Auf der ganzen Fahrt von Northumberland nach Süden hatte sie voller Angst und Verzweiflung gebetet, versprochen, alles hinzugeben, was ihr lieb und teuer war, wenn er nur in Sicherheit wäre. Und dann war das Wunder geschehen: Ihre Mutter hatte ihr erklärt, daß Heini hier war, daß sie falsch verstanden hatte, daß das Lager in England war und sie zu ihm fahren konnte.

Als Heini eintrat, raubte ihr sein Anblick die Stimme. Das war nicht das begnadete Wunderkind, das sie gekannt hatte; dies war ein verängstigter, verwahrlost aussehender junger Mann, unrasiert, die Hoffnungslosigkeit des Besiegten in den Augen. Von Liebe und Mitleid überwältigt, breitete sie die Arme aus, und er flüchtete sich zu ihr.

«Gott sei Dank, Ruth! Ich dachte schon, du würdest nie kommen.»

«Ach, mein Liebster. Du bist wirklich hier. Du bist es wirklich.» Ihre Stimme brach. «Ich dachte, du wärst in einem richtigen Lager, weißt du. Ich dachte, sie hätten dich geschnappt.»

«Das hier ist ein richtiges Lager. Es ist grauenvoll, Ruth.»

«Ja – ja – aber verstehst du nicht, ich dachte, du wärst in Dachau oder Oranienburg. Meine Mutter hat mich angerufen, und ich konnte sie nicht richtig hören. Als ich dann erfuhr, daß du in Sicherheit bist ... ich werde das mein Leben lang nicht vergessen.»

Und sie würde auch ihr Leben lang nicht vergessen, was sie gelobt hatte: Heini bis zum letzten Atemzug zu dienen und ewige Abbitte zu leisten für jene Zeit des Verrats, als sie nicht an ihn gedacht, sondern nur ihr Glück am Meer genossen hatte.

«Du nimmst mich doch mit nach Hause, nicht wahr, Ruth? Jetzt gleich?»

«Heini, jetzt gleich geht das nicht. Ich muß erst Dr. Friedlander erreichen – ich bin ganz sicher, er wird für dich bürgen, aber er ist übers Wochenende weggefahren. Gleich morgen in aller Frühe gehe ich zu ihm, und dann dauert es nur noch ein paar Tage.»

«Ein paar Tage!» Heini hob den Kopf. «Ruth, so lange kann ich hier nicht bleiben. Ich kann einfach nicht.»

«Ach, bitte, Heini, Liebster! Wir tun alles für dich – und die Leute sind doch nett hier, oder nicht? Ich hab mit der Sekretärin gesprochen.»

«Nett!» Aber allein ihre Anwesenheit war so tröstlich, daß er beschloß, tapfer zu sein, und es gelang ihm sogar, das Thema zu wechseln. «Hast du ein Klavier besorgen können?» fragte er.

«Ja. Einen Bösendorfer.»

«Einen Flügel?»

«Nein, wir haben ja nur so ein kleines Wohnzimmer, weißt du. Aber es ist sehr schön.»

Er war enttäuscht, aber er wollte ihr keine Vorwürfe machen. Sie war seine Retterin.

Sie hielten einander immer noch in den Armen, als die Sekretärin zurückkehrte. «Sie müssen jetzt zum Bus, Miss Berger», sagte sie. «Sie dürfen ihn nicht verpassen. Es ist der letzte.»

Als Ruth ihren Mantel nahm, sah sie einen Vogel, der draußen vor dem Fenster auf einem Zaunpfahl saß. «Ach, schau doch, Heini! Ein Star! Das ist ein Omen. Das bedeutet Glück.»

Sie zog ihn zum Fenster. Der Vogel neigte den Kopf zur Seite und sah mit glitzernden Augen zu ihnen herüber, aber sein Hinterteil sah etwas mitgenommen aus.

«Er hat ein paar Schwanzfedern verloren», bemerkte die Sekretärin. «Sieht aus, als wäre er abgestürzt.»

«Ja.» Ruth sah es auch, aber es war ohne Belang. Ein glückliches Omen war ein glückliches Omen.

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