5

Es war eine stürmische Nacht gewesen, aber jetzt klarte der Himmel auf, und über Lindisfarne, der Heiligen Insel, zeigte sich ein schmaler silberner Lichtstreifen, wurde langsam breiter – und das Meer, das Minuten zuvor noch bedrohlich und schwarz gewesen war, leuchtete plötzlich unglaublich blau. Drei Kormorane segelten tief über das Wasser, und von den von Vögeln dicht bevölkerten Klippen war das unaufhörliche Kreischen der nistenden Dreizehenmöwen und Seeschwalben zu hören.

Aber die Frau, die in dicken Tweed gekleidet, das graue Haar unter einem Wollschal verborgen, auf der Terrasse von Bowmont stand, beachtete weder die Vögel noch die runden Köpfe der Seehunde, die vor der Landzunge auf dem Wasser schaukelten. Sie hielt ihren Feldstecher auf den langen, ockerfarbenen Strand der Bowmont-Bucht gerichtet, wo jetzt, bei Ebbe, die Felstümpel zu beiden Seiten klar zu sehen waren. Der Halbmond gelben Sands krümmte sich in einer Länge von einer halben Meile zur nächsten Landzunge, aber sein Frieden war besudelt – von Menschen. Drei waren es; nein, mehr ... eine ganze Familie, die da herumplanschte und zweifellos kreischte. Sie konnte einen Mann und eine Frau erkennen, und noch eine Frau – eine Großmutter. Und ein Kind. Das waren keine Fischer oder Einheimischen, die dort ihrer täglichen Arbeit nachgingen.

«Ausflügler!» stieß Frances Somerville hervor. Ihre Stimme war tief, ihre Empörung grenzenlos.

Diese Leute mußten sofort verschwinden. Man mußte sie wegjagen. Immer häufiger kamen sie angereist – Urlauber, Touristen, die die unbewohnten, stillen Orte heimsuchten, Krebse fingen, in unmöglichen Kleidern herumliefen ...

Bowmont stand auf einem Felskap: ein alter Wehrturm, dem vor Generationen ein Bau aus ockerfarbenem Stein angefügt worden war. Einsam, von den Seewinden gepeitscht, stand es dort über dem Meer, seine Geschichte untrennbar mit der des Landes Northumbria verbunden: vom Meer her von den Dänen bedroht, vom Land her von den Schotten, von Warwick, dem Königsmacher, belagert; in Schutt und Asche gelegt und wiederaufgebaut.

Turner hatte es vor dem Hintergrund eines wildbewegten Sonnenuntergangs gemalt, mit einem gefährlich geneigten Segler am Fuß seiner meerumspülten Klippen. St. Cuthbert hatte auf Lindisfarne den Eiderenten gepredigt, die heute noch auf der Landzunge nisteten, und von der weißen Nadel des Leuchtturms von Longstone aus hatte sich Grace Darling, Retterin der Schiffbrüchigen direkt in die Legende hineingerudert. Als Kind hatte Quin genau gewußt, wo Gott wohnte. Nicht im Heiligen Land wie in seiner bebilderten Bibel dargestellt, sondern im stürmischen, wetterwendischen, von Wolken bewegten Himmel über seinem Zuhause.

Frances Somerville war vierzig gewesen, eine alte Jungfer, die immer noch zu Hause lebte, als der alte Quinton Somerville, der legendäre und gefürchtete «Basher», Admiral im Ruhestand, nach ihr geschickt hatte.

«Mit mir geht es zu Ende», hatte der Basher gesagt. «Ich möchte, daß du nach Bowmont kommst und dich um den Jungen kümmerst, bis er erwachsen ist.»

Frances hatte abgelehnt. Sie mochte den Alten nicht, der nie ein Hehl daraus gemacht hatte, daß sie als reizlose, unverheiratete Frau für ihn gänzlich ohne Belang war. Aber dann wurde Quin geholt, der damals zehn war, und seiner Tante vorgestellt.

«Ich komme, wenn du tot bist», hatte Frances an jenem Abend gesagt – aber sie glaubte nicht daran, daß das Ende des alten Haudegens wirklich nahe war.

Sie täuschte sich. Keine drei Monate später fand man ihn tot auf einer Gartenbank, und auf seine eigene Weise hatte er fair gehandelt; er hatte ihr aus seinem riesigen Nachlaß eine komfortable jährliche Rente ausgesetzt. Seitdem war sie Hüterin und Verwalterin von Bowmont, und das hieß, da Quin so häufig abwesend war, daß sie es vor Eindringlingen schützen, vor der schleichenden Seuche des Tourismus und des sogenannten modernen Lebens bewahren mußte.

Sie war jetzt in ihrem sechzigsten Jahr, eine energische Frau mit einer großen Nase und schmalen Lippen, mit dünnem grauen Haar und stählernen blauen Augen, und sie hatte keine gute Meinung von den Menschen. Ein verlassenes Robbenbaby, ein Lund mit gebrochenem Flügel konnten auf Frances Somervilles Hilfe zählen; ein Mensch in ähnlicher Notsituation konnte sich glücklich preisen, wenn er im Gesindehaus eine Tasse Tee bekam. Früher einmal, hieß es, sei das anders gewesen. Ein schottischer Adliger hatte um sie geworben, und sie war in sein Haus gesandt worden, um begutachtet zu werden ... aber aus der Heirat war nichts geworden, und das scheue, reizlose Mädchen entwickelte sich mit der Zeit zu der imposanten alten Jungfer, die alle respektierten und niemand liebte.

Ein Gärtnerjunge mit einem Rechen lief über die Terrasse.

«Du da! George!» rief Frances Somerville, und der Junge rannte zu ihr und legte grüßend die Hand an die Mütze.

«Ja, Miss Somerville.»

«Sag Turton, daß unten in der Bucht Ausflügler sind. Sie müssen entfernt werden.»

«Ja, Miss.»

Der Junge lief davon, und Frances Somerville schwenkte ihren Feldstecher zur anderen Seite der Landzunge. Hier, im Schutz der ausgehöhlten Felsen war eine kleinere Bucht, Anchorage Bay hieß sie, und im letzten Jahrhundert hatten Boote an dem kleinen Steg angelegt, Fischer in den Hütten gelebt und flachgrundige Fischerboote am Strand gelegen.

Die Zeiten waren vorbei. Quin hatte das Bootshaus und zwei der Hütten in ein Labor und Schlafräume für seine Studenten umbauen lassen, die er zu Feldstudien hierher mitzubringen pflegte. Noch mehr Leute, die nicht hierher gehören, dachte sie müde und verdrossen; noch mehr Schmutz und Geschnatter. Im letzten Jahr war eines der Mädchen im zweiteiligen Badekostüm erschienen, und bei ihren frühmorgendlichen Betrachtungen von Land und Meer hatte Frances Somerville durch die Gläser ihres Feldstechers den nackten Bauch eines Mädchens aus Surbiton zu sehen bekommen.

Der Gärtnerjunge kam zurück. «Bitte, Miss Somerville, Mr. Turton hat gesagt, er kann sie jetzt nicht wegjagen, weil wir zwischen den Gezeiten sind. Und er hat mir aufgetragen, ich soll Ihnen sagen, daß Lady Rothley angerufen hat. Sie kommt heute um elf.»

Frances Somerville preßte die schmalen Lippen aufeinander. Die Gezeiten – dieses idiotische alte Gesetz, das besagte, daß die Küste in der Zeit zwischen Ebbe und Flut der Allgemeinheit gehörte. Der blanke Unsinn natürlich. Um zur Bucht hinunterzugelangen, mußten die Leute den Grund und Boden der Somervilles überqueren – die Felder und Wiesen hinter der Bucht gehörten alle Quin, und sie achtete stets gewissenhaft darauf, daß die Gatter geschlossen waren.

Einen Moment lang fühlte sie sich alt und mutlos. Dies war nicht mehr ihre Welt. Auf der anderen Seite der Landzunge stand die alte Festung Dunstaburgh. Am Fuß ihrer verfallenen Türme hatte sich jetzt ein Golfplatz breitgemacht. Die Ausflügler konnten jederzeit auch auf diesem Weg zur Bucht von Bowmont gelangen. Aussichtslos, der Kampf!

Und Quin half ihr im Grund überhaupt nicht. Quin hatte Vorstellungen, die zu verstehen sie sich bemühte, die ihr aber dennoch fremd blieben. Frances Somerville liebte niemanden; für sie war es Ehrensache, das destruktive Gefühl Liebe für immer aus ihrem Herzen verbannt zu haben; aber Quin war Quin, und für ihn wäre sie ohne Bedenken von der nächsten Klippe gesprungen. Dennoch hatte dieser junge Mann, den sie selbst großgezogen hatte, Vorstellungen und Ansichten, wie sie sie nicht einmal in den sozialistischen Revoluzzerblättern zu lesen erwartet hätte. Quin verscheuchte keinen Ausflügler von seinem Land, sondern bat höchstens darum, daß die Leute die Gatter wieder schlossen; er hatte ein Wegerecht über die Dünen nach Bowmont Mill eingeräumt, und jetzt war gar die Rede davon, daß er Bowmont eines Tages – vielleicht nicht, solange sie noch lebte –, aber doch irgendwann dem National Trust übergeben würde. Frances schauderte bei dem Gedanken.

Die Sonne war jetzt ganz aufgegangen. Wie weiße Pfeile schwirrten die Seeschwalben über dem tiefen Blau des Wassers; Glockenblumen, Schafgarbe und rosarote Grasnelken leuchteten im Gras, aber Frances, die sonst so aufmerksam war, sah nur das Gespenst einer düsteren Zukunft. Auf der unteren Wiese ein Parkplatz, Imbißbuden, Busse mit stinkenden Auspuffrohren, die die Ausflügler scharenweise ausspien. Der bedauernswerte Frampton hatte es getan, er hatte sein Haus weggegeben, und nun standen vulgäre kleine grüne Hütten an den Toren von Frampton Court, und Männer mit Schirmmützen wie Türsteher knipsten Eintrittskarten, und es gab eine Kantine und einen Andenkenstand. Aber Frampton hatte eine Entschuldigung; er war bankrott gewesen. Quin hatte eine solche Entschuldigung nicht. Das Gut machte Gewinn, die Mieten aus dem Dorf warfen genug ab für Reparaturen und Sanierung, und sein Großvater hatte ihn durch seinen Nachlaß zum reichen Mann gemacht. Wenn Quin sein Erbe verschenkte, so war das unverantwortlich und verrückt.

Sie wandte sich ab und ging durch die Tür neben dem Turm ins Haus, in einen Vorratsraum, den sie zum Zwinger für ihre Labradorhunde umfunktioniert hatte.

«Wie machen sie sich, Martha?»

«Großartig, Miss Frances. Ganz großartig.»

Eigentlich war Martha als Zofe zu ihr gekommen, aber nach der gelösten Verlobung heimgekehrt, hatte Frances Somerville jeglichem Verlangen, sich schön anzuziehen und zu schmücken abgeschworen, und seither kümmerte sich Martha um die Hunde.

Die Hündin, von ihren fünf gierig saugenden Welpen belagert, wedelte zur Begrüßung mit dem Schwanz und ließ den Kopf wieder auf das Stroh sinken.

Gute Rasse. Comely war in Wales gedeckt worden – Frances hatte sie selbst hingebracht, und es war mühsam gewesen, aber es zahlte sich immer aus, auf den Stammbaum Wert zu legen.

Warum um alles in der Welt heiratet Quin nicht endlich, dachte sie, während sie über den Hof ging. Natürlich nicht eine von diesen Frauen, die er manchmal hier anschleppte: Schauspielerinnen oder kapriziöse Pariserinnen, die fröstelnd im Pelzmantel zum Frühstück kamen und sich nach der Zentralheizung erkundigten. Nein, eine Frau seiner eigenen Klasse, eine Frau aus gutem Stall. Wenn er erst ein oder zwei kräftige kleine Söhne hatte, würde er diesen ganzen Unsinn mit dem National Trust bestimmt schnellstens vergessen.


Später im Salon kam das Thema von neuem zur Sprache. Lady Rothley, Frances Somervilles beste Freundin, soweit Frances Freundschaft überhaupt zuließ, verlangte keine besonderen Umstände, wenn sie kam. Man brauchte nicht erst ein Feuer zu machen, man brauchte die Hunde nicht von den Sesseln zu verjagen. Ann Rothley züchtete selbst Jack Russels, und in Rothley Hall waren sämtliche Gobelinsofas voll kurzer weißer Haare.

«Ich dachte, Quin wäre längst zurück», sagte sie, während sie die Tasse aus feinem Porzellan zum Mund führte und mit Genuß von ihrem Kaffee trank.

«Er ist in Wien aufgehalten worden», erklärte Frances. «Er bekam dort irgendeinen Ehrentitel und mußte danach noch bleiben, um irgendwelche Dinge zu erledigen.»

Lady Rothley, eine dunkle gutaussehende Frau in den Vierzigern, nickte. Sie hatte gegen Quins wissenschaftliche Tätigkeit nichts einzuwenden. Solche Auswüchse kamen in diesen guten alten Familien eben manchmal vor. Die Trevelyans, zum Beispiel, drüben in Wallington, schrieben dauernd an irgendwelchen geschichtlichen Schinken.

«Tja, Frances, tut mir leid, aber du wirst ihm irgendwie beibringen müssen, daß ich diesen deutschen Flüchtling, den er mir aufgehalst hat, entlassen mußte. Den Opernsänger aus Dresden. Es ging wirklich nicht anders. Ich habe ihn in die Molkerei geschickt, weil wir im Haus niemanden brauchten, aber es war ein Desaster. Eine der Mägde hat sich in ihn vergafft, und von Kühen hatte er keine Ahnung.»

«Ach, du meine Güte», sagte Frances nur.

«Ja. Ich habe ihn wirklich nicht gern entlassen, aber die Kühe sind nun mal nicht musikalisch. Du weißt, ich würde für Quin fast alles tun, aber es geht einfach nicht, daß er uns alle für seine Bemühungen um diese Flüchtlinge einspannt. Die arme Helen – er hat ihr einen Mann aus Berlin aufgedrängt, als Chauffeur und Faktotum, und sobald dieser Mensch mit seiner Arbeit fertig ist, holt er sich alle möglichen Leute in sein Zimmer, und sie machen Kammermusik. Grauenvoll, dieses Geschrubbe. Sie mußte ihm sagen, seine Musikabende in Zukunft im Stall abzuhalten. Was Quin nur mit diesen Leuten hat! Ich meine, es gibt doch genug bedürftige Engländer, um die man sich kümmern könnte. Die Arbeitslosen und die Kumpel aus dem Kohlebergbau und so weiter.»

Frances Somerville nickte. «Man kann natürlich die Art und Weise, wie dieser Hitler sich aufführt, nicht billigen – er ist wirklich ein vulgäres Subjekt. Aber die Juden können einem auch nicht gerade sympathisch sein. Wenn sie reich sind, betreiben sie Banken, wenn sie arm sind, gehen sie hausieren, und dazwischen spielen sie Geige. Nach Bowmont kommt mir keiner von diesen Leuten, solange es nach mir geht, das habe ich Quin klipp und klar gesagt.»

Einer der Hunde gähnte mit weitaufgerissenem Maul, sprang vom Sessel und machte es sich zu Frances Somervilles Füßen bequem.

«Sicher, aber wenn es zum Krieg kommen sollte, wird man uns natürlich Evakuierte aus London schicken», sagte Ann Rothley. Sie sprach ganz sachlich, und keiner hätte geahnt, was diese Sachlichkeit sie angesichts der Tatsache, daß ihr vergötterter ältester Sohn Rollo, der gerade achtzehn war, kostete.

«Also, lieber nehme ich hier Slumkinder auf als ausländische Flüchtlinge. Die könnte man ohne weiteres im Bootshaus unterbringen, auf Matratzen, und ihnen das Essen hinübertragen lassen. Aber diese Ausländer – die sind ja völlig distanzlos.»

Es blieb ein Weilchen still, während die beiden Damen von ihrem Kaffee tranken. Ein auffrischender Wind bauschte die Vorhänge.

Dann fragte Ann Rothley: «Hat er eigentlich noch einmal etwas von – du weiß schon – vom Trust gesagt?» Das Zögern der sonst so direkten Ann Rothley zeigte das Maß ihres Unbehagens.

«Ich habe ihn, wie du weißt, seit Monaten nicht gesehen – er war ja in Indien –, aber Turton sagte mir, es habe jemand vom Hauptbüro des Trust angerufen und gesagt, Quin hätte darum gebeten, daß sie später im Jahr einen ihrer Leute hierher schicken. Ich glaube, es ist ihm ernst, Ann.»

«O Gott!» Würde denn der Schändung niemals ein Ende sein? Ganze Güter wurden als Bauland verkauft, ganze Wälder wurden gerodet, das Volk aus der Stadt flanierte gaffend durch die Häuser von Freunden und Bekannten. «Gibt es denn gar keine Hoffnung, daß er sich endlich seiner Pflicht bewußt wird und heiratet?»

Frances zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht, Ann. Livy hat ihn vor seiner Abreise nach Indien im Theater zweimal mit einer jungen Frau gesehen, aber sie hatte nicht den Eindruck, daß es etwas Ernstes war.»

«Bei ihm ist es nie etwas Ernstes», stellte Ann Rothley erbittert fest. «Als heiratete man zum Vergnügen!» Sie schwieg, als sie sich des Horrors ihrer Hochzeitsnacht mit Rothley erinnerte. Aber sie hatte nicht geschrien, und sie war nicht davongelaufen; sie hatte es über sich ergehen lassen, wie sie später seine wöchentlichen Besuche in ihrem Schlafzimmer über sich ergehen ließ: Sie starrte zur Zimmerdecke hinauf und dachte an ihre Stickerei oder ihre Hunde. Dafür waren jetzt Kinder da, und es gab eine Zukunft. Niemand fällte die alten Eichen, der Park wurde regelmäßig gepflegt. Weil Frauen wie sie die Zähne zusammenbissen. «Man heiratet für England», sagte sie. «Für das Land.»

«Ja, ich weiß. Aber was können wir denn noch tun?» sagte Frances müde. «Du weißt, wer alles versucht hat ...»

Sie brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen. Junge Mädchen aus bester Familie und jeglichen Temperaments waren auf ihren Rassepferden durch die Tore von Bowmont galoppiert, mit ihren Tennisschlägern in der Hand munter über die Rasenplätze gesprungen, hatten in weißem Organdy und raschelndem Tüll Quin beim Tanz verführerisch zugelächelt ...

«Meinst du, er könnte sich für eine Frau interessieren, die etwas von seiner Arbeit versteht?»

«Etwa für eine Studentin?» rief Frances entsetzt.

«Nein – aber, ach, ich weiß nicht. Er geht ja ganz in seiner Arbeit auf, nicht wahr?» Ann Rothley bemühte sich, tolerant zu sein.»Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß ein anständig erzogenes junges Mädchen sich mit vermoderten alten Skeletten auskennt, darum wird wohl in dieser Richtung nichts zu erwarten sein.» Sie stand auf, knotete ihren Schal. «Wie dem auch sei, grüß den Jungen von mir – aber sag ihm, keine Flüchtlinge mehr!»

Nachdem Ann Rothley gegangen war, holte sich Frances Somerville ihre Gartenschere und den flachen Gartenkorb und ging zur Westterrasse hinüber, auf der windgeschützten, dem Meer abgewandten Seite des Hauses. Einen Moment lang blieb sie stehen und blickte auf die Wiesen und Felder hinaus, die sich bis zu den blauen Hügeln des Cheviot-Gebirges dehnten: Hafer und Gerste, saftig grün und hochstehend, auf der langen Wiese eine Herde frisch geschorener Leicester-Schafe. Der neue Verwalter, den Quin eingestellt hatte, machte seine Sache gut.

Dann ging sie über den Rasen, öffnete eine Pforte in der hohen Mauer und trat in eine andere Welt. Die Sonne war hell und warm, um den Lavendel summten die Bienen; der Duft nach Malven und Jasmin kam ihr entgegen – und eine große Stille. Das unaufhörliche Tosen der Brandung klang gedämpft, ein feines Wispern nur.

«Na also», sagte Frances energisch zu dem tibetanischen Mohn, der vor zwei Tagen noch unschlüssig ausgesehen hatte, jetzt aber seine himmelblauen Blütenblätter entfaltete.

Quins Großmutter, die schüchterne und stille Jane Somerville, hatte den Garten angelegt. Die Tochter eines wohlhabenden Kohlebarons hatte die Tröstungen ihres Quäkerglaubens in ihre Zwangsehe mit dem Basher mitgenommen, und sie hatte sie nötig gehabt.

Zwei Jahre hatte Jane schon in Bowmont gelebt, als sie zu ihrem eigenen fassungslosen Entsetzen eines Tages bei der regelmäßigen Versammlung ihrer Glaubensgenossen im Gemeindesaal in Berwick das Wort ergriff.

«Ich werde einen Garten anlegen», verkündete sie.

Danach sprach sie nie wieder bei der Versammlung, aber gleich am nächsten Tag gab sie Anweisung, die Wiese, die sich an den Westrasen anschloß, zu entwässern. Sie reiste auf die andere Seite Englands, um die rosenfarbenen Ziegel eines kürzlich abgerissenen alten Herrenhauses in ihren Besitz zu bringen. Sie pflanzte Hecken an, die den Wind abhalten sollten, baute Mauern und ließ Wagenladungen von Humus anfahren. Die Experten wollten ihr weismachen, sie verschwende ihre Zeit; für einen Garten, wie er ihr vorschwebte, sei das Land viel zu hoch im Norden, dem Meer viel zu nahe. Der Basher, der auf Urlaub von seinem Schiff nach Hause kam, war wütend. Er gebärdete sich wie ein Wilder; stellte jede Rechnung in Frage.

Jane, die sonst so Sanfte und Harmoniebedürftige, ließ sich nicht beirren. Sie überzog die Mauern mit Rosen, Glyzinien und Klematis; sie ließ Pflanzen aus Gegenden kommen, wo es weit kälter, das Klima weit rauher war als in Bowmont: Kamelien und Magnolien aus China, Mohn und Primeln aus dem Atlasgebirge – und mischte sie mit den Blumen, die die Dorfbewohner in ihren Bauerngärten zogen. Sie stellte eine Bank an die Südwand und pflanzte zu beiden Seiten Sommerflieder für die Schmetterlinge. Jahrzehnte später kam der Basher, der immer nur opponiert hatte, zum Sterben hierher.

Frances Somerville kniete an der langen Rabatte nieder und vermerkte das nun schon vertraute Zwicken der Arthritis in ihrem Knie. Das Rotkehlchen flog aus dem Mandelbäumchen herunter, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Aber sehr bald legte sie die Schaufel aus der Hand und ging zu der Bank neben der Sonnenuhr. Sie setzte sich und schloß die Augen.

Was würde aus diesem Garten werden, wenn Quin sein Haus tatsächlich in andere Hände geben sollte? Horden von Menschen würden durch ihn hindurchtrampeln, das Rotkehlchen verscheuchen, kreischend nach den Bienen und Hummeln schlagen. Überall würde es Wegweiser geben – die kleinen Leute schienen unfähig, ohne Schilder zurechtzukommen. Und an der hinteren Wand, wo jetzt die Pfirsiche in der Sonne reiften, würde man zwei Hütten aufstellen. Nein – eine Hütte, in zwei geteilt; sie hatte es in Frampton gesehen. An der einen Tür würde «Damen» stehen, an der anderen «Herren».

«Lieber Gott», betete Frances Somerville laut und richtete das Wort mit ungewohnter Demut an den Herrn, «bitte schicke sie hierher. Sie muß doch irgendwo sein – die Frau, die dieses Haus und diesen Garten retten kann.»

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