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An dem Tag, als Hitler in Wien einmarschierte, befand Professor Somerville sich in Nordindien und führte die Mitglieder seiner Expedition, denen von Dankbarkeit nichts anzumerken war, bergabwärts durch eine Schlucht, die so eng war, daß überhängende Felsen alles bis auf einen schmalen Streifen des klaren blauen Himmels verdeckten.

«Niemals bekommen wir die Tiere da hinunter», hatte der belgische Geologe, den er hatte mitnehmen müssen, geunkt.

Doch Quin hatte nur vage erwidert, er glaube, es werde schon irgendwie gehen, womit er meinte, wenn alle sich mächtig anstrengten und genau taten, was er ihnen sagte, bestünde eine Chance – und jetzt weitete sich die Schlucht tatsächlich, sie kamen an den ersten Bäumen vorüber und marschierten wenig später durch Föhren- und Zedernwald, bis sie die Talsohle erreicht hatten.

«Hier schlagen wir unser Lager auf», sagte Quin und wies auf einen Platz, wo der ruhige Fluß, der gemächlich vorüberströmte, an überhängenden Weiden zerrte, und Orchideen und Lilien das Grasland sprenkelten.

Später, als die Maultiere weideten und der Rauch des Feuers in die stille Luft aufstieg, setzte er sich an einen Baumstamm und nahm seine alte Pfeife heraus. Er war dreißig Jahre alt. Furchen krausten seine Stirn und zogen sich von den Winkeln seines Mundes abwärts, die dunklen Augen konnten hart blicken, aber in diesem Moment war er glücklich. Den düsteren Prognosen des Belgiers zum Trotz, dessen Brille von einem Yak zertreten worden war; den Beteuerungen der Träger zum Trotz, daß es im Frühjahr unmöglich sei, die ferneren Täler des Siwalik-Gebirges zu erreichen, hatte er einen so reichen Fund an Miozän-Fossilien gemacht, wie man ihn sich nur wünschen konnte. In Holzwolle und Leinwand eingebettet, kostbarer als jeder Goldschatz aus fürstlichen Grabkammern, befanden sich in ihrem Gepäck die unverwechselbaren Überreste des Ramapithecus, eines der frühesten Vorfahren des Menschen.

Drei Wochen Marsch am Fluß entlang lagen noch vor ihnen, ehe sie ihre Funde auf Lastwagen laden und nach Simla hinunterbefördern konnten, aber die Probleme, die sie jetzt erwarteten, würden mehr sozialer Natur sein: Teezeremonien mit den Dorfbewohnern, Wanzen, Gastgeschenke ...

Ein Lämmergeier hing reglos am Himmel. Das Glockengeläut des weidenden Viehs schallte von einer fernen Wiese herüber und die klagenden Töne einer Flöte.

Quin schloß die Augen.

Nachricht von der Außenwelt wurde ihnen erst von einem Offizier der indischen Armee in dem Rasthaus oberhalb von Simla überbracht, die Meldungen nach ihrer Wichtigkeit geordnet: Oxford hatte die jährliche Ruderregatta gewonnen; ein Außenseiter namens Battleship hatte beim Derby in Aintree das gesamte Feld geschlagen.

«Ach, und Hitler hat Österreich annektiert. Er ist in Wien einmarschiert, und es wurde nicht ein einziger Schuß abgegeben.»

«Wollen Sie trotzdem noch hin?» fragte Milner, sein Forschungsassistent und vertrauter Freund.

«Ich weiß nicht.»

«Es ist ja doch eine große Ehre, denke ich. Umsonst bekommt man die Ehrendoktorwürde an so einer Universität sicher nicht.»

Quin zuckte die Achseln. Ihm war schon eine Reihe ähnlicher Auszeichnungen verliehen worden. Obwohl er sich drei Jahre zuvor hatte überreden lassen, einen Lehrstuhl in London zu übernehmen, war es ihm bisher gelungen, weiterhin seiner Forschungsarbeit in entlegenen Winkeln der Erde nachzugehen, und er hatte mit seinen Funden Glück gehabt.

«Berger hat es arrangiert. Er ist jetzt Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät. Wenn ich fahre, dann nur seinetwegen; mit den Nazis möchte ich nichts zu tun haben. Aber ich verdanke

Berger eine Menge, und seine Familie hat mich vor einigen Jahren sehr gastfreundlich aufgenommen. Ich habe einen Sommer bei ihnen verbracht.»

Er lächelte bei der Erinnerung an die lebhafte, liebenswürdige Familie Berger, an die opulenten Mahlzeiten in der Wiener Wohnung, das hübsche Holzhaus am Grundlsee. Er erinnerte sich einer zu Mißgeschicken neigenden Anthropologin, deren Monographie über die Mi-Mi aus dem Ruderboot in den See gefallen war, und eines kleinen Mädchens mit Zöpfen und einem biblischen Namen, den er nicht mehr wußte. Rahel? Hanna?

«Ich fahre», entschied er. «Wenn ich in Izmir von Bord gehe, habe ich Anschluß an den Orient-Expreß. Der Umweg wird mich höchstens zwei Tage kosten. Ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, daß Sie beim Zoll alles gut erledigen werden. Sollte es doch Schwierigkeiten geben, so kläre ich sie, wenn ich komme.»


Die Tauben gab es noch, die wie von Musik getragen in den Lüften dieser musikbegeisterten Stadt kreisten; es gab noch das alte Kopfsteinpflaster, die engen Straßen, an deren Ende man immer die Türme des Stephansdoms sah; und auch den Geruch nach Vanille, der ihm in die Nase wehte, als er das Fenster des Taxis öffnete, und den Flieder und den Goldregen im Park.

Aber vor den Fenstern wehten jetzt Hakenkreuzfahnen, Erinnerung an den großen Empfang, den die Stadt dem Führer bereitet hatte, und an den Straßenecken standen kleine Trupps von SA- und SS-Männern. Als das Taxi in eine schmale Gasse einbog, sah er die häßlichen Schmierereien an den Türen jüdischer Geschäfte und die eingeschlagenen Fenster.

Im Hotel Sacher wartete das Zimmer, das er bestellt hatte. Man empfing ihn freundlich; im Foyer hing das vertraute Porträt des Kaisers, noch nicht verdrängt vom banalen Konterfei des Führers. Doch in der Bar unterhielten sich drei deutsche Offiziere in lautem Berlinerisch mit ihren wasserstoffblonden Freundinnen. Selbst wenn er Zeit für einen Drink gehabt hätte, würde sich Quin nicht zu ihnen gesellt haben. Tatsächlich jedoch blieb ihm überhaupt keine Zeit, denn der legendäre Orient-Expreß war wegen eines Maschinenschadens mit großer Verspätung angekommen. Nachdem er sich in aller Eile umgezogen hatte, fuhr er direkt zur Universität. Bergers Sekretärin hatte ihm vor seiner Abreise aus England geschrieben, daß man einen Talar für ihn mieten würde, und der Ablauf war bei solchen Verleihungszeremonien immer so ziemlich der gleiche. Man brauchte nur nach Art eines Pinguins seinem Vorgänger hinterherzutippeln.

Dennoch – es war später, als er gedacht hatte. Männer in Scharlachrot und Gold, in Schwarz und Purpurrot, in hermelinbesetzten Umhängen und mit Quasten geschmückten Kopfbedekkungen standen in Gruppen auf der Treppe; Heerscharen stolzer Verwandter im Sonntagsstaat schoben sich durch das gewaltige Portal.

«Ah, Professor Somerville, wir hatten schon auf Sie gewartet. Es ist alles vorbereitet.» Die Dekanatssekretärin begrüßte ihn mit Erleichterung. «Ich zeige Ihnen gleich den Umkleideraum. Der Dekan hatte eigentlich gehofft, Sie vor der Feier zu begrüßen, aber er ist bereits im Saal. Er erwartet Sie dann beim Empfang.»

«Ich freue mich darauf, ihn zu sehen.»

Quins Talar aus scharlachroter Seide lag auf einem Tisch neben einer Karte mit seinem Namen bereit. Das Samtbarett war zu groß, er schob es einfach etwas nach hinten und trat dann hinaus zu den übrigen Kandidaten, die im Vorzimmer auf den Beginn der Feier warteten.

Der Organist stimmte eine Passacaglia von Bach an, und zwischen einer dicken Professorin aus Argentinien und dem, wie ihm schien, ältesten Entomologen der Welt marschierte Quin feierlichen Schritts durch den Gang der großen Aula zum Podium.

Ganz wie erwartet, verlief die Feier in dieser Stadt, in der man selbst die Fiakerpferde herausputzte, mit höchstem Pomp. Männer standen von ihren Plätzen auf, verneigten sich voreinander und setzten sich wieder. Die Orgel brauste. Von den Wänden blickten längst verstorbene Geistesgrößen aus goldenen Rahmen herab.

Quin, der rechts vom Podium saß, versuchte in der gegenüberliegenden Reihe der Professoren Kurt Berger zu finden, doch der Hut der Professorin aus Argentinien versperrte ihm die Sicht.

Einer nach dem anderen wurden die Ehrenkandidaten aufgerufen. Auf Lateinisch verlas man die Liste ihrer Verdienste um die Wissenschaft, dann erhielten sie mit einer silbernen Wurst, die die Gründungsurkunde der Universität enthielt, einen Schlag auf die Schulter, und schließlich wurde ihnen eine Pergamentrolle überreicht. Als Quin dem Entomologen von seinem Stuhl aufhalf, fragte er sich, ob der alte Herr den Ritterschlag mit der silbernen Wurst überhaupt überleben würde. Aber er überlebte ihn. Dann wurde die dicke Wissenschaftlerin aus Argentinien aufgerufen, und nun hatte Quin freie Sicht. Er suchte unter den prunkvoll gekleideten Professoren nach Kurt Berger, konnte ihn jedoch nicht entdekken. Acht Jahre waren vergangen, seit sie einander das letztemal gesehen hatten, aber er würde das kluge, dunkle Gesicht doch gewiß auf Anhieb erkennen?!

Jetzt war er an der Reihe.

«Hiermit wird Quinton Alexander St. John Somerville die Ehrendoktorwürde dieser Universität verliehen. Der Sprecher wird Ihnen jetzt Professor Somerville vorstellen.»

Quin stand auf und richtete den Blick auf den Rektor, dessen eines wäßrig blaues Auge teilweise von der goldenen Troddel verdeckt war, die von seinem Barett herabhing. Während die vollmundigen Platitüden über seine Verdienste durch den Saal dröhnten, wurde Quin immer unbehaglicher zumute – das, was ihm als archaisches, aber nicht würdeloses Bemühen erschienen war, die Traditionen der Vergangenheit hochzuhalten, wurde plötzlich zur Travestie, zu einer absurden, von Marionetten vorgeführten Charade.

Die Lobrede auf den «jüngsten Professor der Universität Thameside, Preisträger der Geographischen Gesellschaft und Sherlock Holmes der Urgeschichte», dessen inspirierte Forschungsarbeit dazu beigetragen habe, die Rätsel der Vergangenheit zu entschlüsseln, kam zu ihrem Ende. Stirnrunzelnd stieg Quin auf das Podium hinauf. Der Rektor hob die Wurst – und schreckte zurück. «Der Mann machte ein Gesicht, als wollte er mich umbringen», beschwerte er sich hinterher. Quin beherrschte sich, nahm die Urkunde entgegen, kehrte an seinen Platz zurück.

Nun war es endlich vorbei, und er konnte die Frage stellen, die ihn während der ganzen langweiligen Zeremonie beschäftigt hatte. «Wo ist Professor Berger?»

Der Prodekan, den er angesprochen hatte, wich seinem Blick aus. «Professor Berger ist nicht mehr bei uns. Aber der neue Dekan, Professor Schäfer, wartet schon darauf, Sie zu begrüßen.»

«Das ist sehr freundlich von ihm, aber mich interessiert im Augenblick nur, wo Professor Berger ist. Bitte beantworten Sie meine Frage.»

Der Mann trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Er ist seines Postens enthoben worden.»

«Warum?»

«Unmittelbar nach dem Anschluß wurden auch hier die Nürnberger Gesetze rechtskräftig. Nichtarier sind von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen.» Er trat einen Schritt zurück. «Ich kann nichts dafür, das ist ...»

«Wo ist Professor Berger? Ist er noch in Wien?»

Der Mann schüttelte den Kopf. «Das weiß ich nicht. Viele Juden versuchen auszuwandern.»

«Beschaffen Sie mir seine letzte Adresse.»

«Natürlich, Professor Somerville. Gleich nach dem Empfang.»

«Nein, nicht nach dem Empfang», entgegnete Quin. «Jetzt!»


An die Straße erinnerte er sich, an das Haus zunächst nicht. Dann wiesen ihm zwei ausgesprochen wohlgenährte Karyatiden den Torbogen zum Hof. Die Hausmeisterin war nicht in ihrer Loge; niemand hielt ihn auf, als er die breite Marmortreppe in die erste Etage hinaufstieg.

Das Messingschild mit dem Namen Berger war noch an der Tür; die Tür selbst war überraschenderweise nur angelehnt. Er stieß sie auf. Hier war man früher von einem Mädchen im weißen Schürzchen in Empfang genommen worden, aber jetzt war niemand da. Der Regenschirm und die Spazierstöcke Kurt Bergers steckten noch in ihrem Ständer, sein Hut hing am Haken. Quin ging auf dem dicken türkischen Teppich durch den Flur, klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer und öffnete sie. Wie oft hatte er hier gesessen und an der Sammlung von wissenschaftlichen Aufsätzen gearbeitet, voll Hochachtung vor Bergers Wissen und der Großzügigkeit, mit der er seine Ideen teilte! Bergers Bücher standen unberührt in den Wandregalen, die Remington war unter ihrer schwarzen Haube auf dem Schreibtisch.

Doch die Stille hatte etwas Unheimliches. Er mußte an die Marie Celeste denken, das Schiff, das man verlassen dahintreibend auf dem Ozean gefunden hatte, die Tassen noch auf dem Tisch, die Speisen unberührt. Eine Flügeltür führte vom Arbeitszimmer ins Eßzimmer mit dem großen schweren Tisch und den hochlehnigen, mit Leder bezogenen Stühlen. Das Meißner Porzellan leuchtete noch in der Glasvitrine; ein Pokal, den Kurt Berger in einem Fechtturnier gewonnen hatte, stand auf der Kredenz. Mit wachsender Verwunderung ging Quin weiter in den Salon. Die Gemälde, die vornehmlich Berglandschaften zeigten, hingen unversehrt an den Wänden; die Kriegsorden Kurt Bergers lagen in ihre Kästchen gebettet unter Glas. Ein Palme in einem Messingtopf war offensichtlich frisch gegossen – dennoch hatte er kaum je solche Leere, solche Trostlosigkeit gespürt.

Nein, doch keine Leere. In einem fernen Raum spielte jemand Klavier. Aber Spiel konnte man das kaum nennen, es war die unablässige Wiederholung derselben Phrase, einer gänzlich unpassenden trällernden Figur, die wie das Zwitschern eines Vogels klang.

Er befand sich jetzt in den Räumen mit Blick zum Hof, ging weiter von Tür zu Tür. Und nun endlich eine letzte Tür, dahinter die Quelle der Musik: ein junges Mädchen, das den Kopf in die Ellenbogenbeuge des auf dem Klavier ruhenden Arms geschmiegt hielt, während die Finger ihrer freien Hand über die Tasten glitten. In dem Moment, ehe sie auf ihn aufmerksam wurde, sah er, wie müde sie war, und wie hoffnungslos. Dann hob sie den Kopf, und als sie ihn anblickte, fiel ihm plötzlich ihr Name wieder ein.

«Sie sind sicher Professor Bergers Tochter Ruth.»


Es war ein gewisser Triumph für ihn, dieses Wiedererkennen, denn das niedliche kleine Plappermaul mit den blonden Zöpfen hatte sich sehr verändert. Jetzt fiel ihr das schöne lange Haar offen bis zur Mitte des Rückens herab und war von Farben durchschossen, die schwer zu bestimmen waren – eine Art grünschimmerndes Gold, das beinahe khakifarben war. Eingerahmt von dieser Fülle war ein blasses, dreieckiges Gesicht mit dunkel umschatteten Augen. Sie glich der gefangenen Rapunzel, die auf den Prinzen wartete, der sie aus dem Turm befreien würde.

«Was haben Sie da gerade gespielt?» fragte er.

Sie sah zu den Tasten hinunter. «Das ist das Rondo aus dem letzten Satz des Klavierkonzerts in G-Dur von Mozart. Es wurde angeblich vom Gezwitscher eines Stars inspiriert, der ...» Ihre Stimme brach, und sie senkte den Kopf. Aber nun erinnerte auch sie sich. «Natürlich! Sie sind Professor Somerville! Ich weiß noch, als Sie damals zu uns kamen und wir so enttäuscht waren. Wir dachten, Sie hätten sonnenverbrannte Knie und eine Stimme wie Richard Löwenherz.»

«Was für eine Stimme hatte der denn?»

«Oh, laut vor allem. Bei seinem Ruf sind die Pferde in die Knie gegangen, wußten Sie das nicht?»

Quin schüttelte den Kopf. Er war verblüfft. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen und lächelte ihn an – und im Nu war die Gefangene im Turm verschwunden, und es war Sommer in den Bergen, auf sonnenbeschienener Alm. Jetzt waren es nicht die Augen, die einem auffielen, sondern die Stupsnase, der große Mund, die Sommersprossen. «Natürlich, heute war ja die Verleihungsfeier, nicht wahr? Mein Vater hat versucht, Sie zu erreichen, solange er noch telefonieren durfte. Ist alles gutgegangen?»

Quin zuckte die Achseln. «Wo ist Ihr Vater?»

«In England. In London. Meine Mutter auch, und meine Tante und Onkel Mishak. Sie sind vor einer Woche abgereist. Und Heini auch – er ist nach Budapest gefahren, um sein Visum abzuholen und sich von seinem Vater zu verabschieden. Dann geht er auch zu ihnen nach England.»

«Und Sie hat man hier zurückgelassen?»

Er konnte es nicht glauben. Er erinnerte sich ihrer als eines eher übermäßig behüteten, verwöhnten Kindes.

Sie schüttelte den Kopf. «Mich haben sie vorausgeschickt. Aber es ist alles schiefgegangen.» Der idyllische Moment auf der sonnenbeschienenen Alm war jetzt vorbei. Tränen traten ihr in die Augen, und sie ballte die eine Hand zur Faust und preßte sie an die Wange, als könnte sie so ihren Schmerz unterdrücken. «Alles ist schiefgegangen», wiederholte sie. «Und jetzt sitze ich hier in der Falle. Es ist niemand mehr da.»

«Erzählen Sie», sagte Quin. «Ich habe viel Zeit. Erzählen Sie mir genau, was passiert ist. Und kommen Sie vom Klavier weg. Machen wir es uns ein wenig bequem.» Er hatte begriffen, daß das Klavier für sie die Quelle eines besonderen Schmerzes war.

«Nein.» Sie war immer noch die brave Akademikertochter, die wußte, was sich gehörte. «Jetzt ist doch das Festbankett. Nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde findet immer ein großes Essen statt. Da werden Sie bestimmt erwartet.»

«Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich mich mit diesen Leuten an einen Tisch setzen würde», entgegnete er ruhig. «Also, fangen Sie an.»


Ihr Vater hatte schon vor dem Anschluß versucht, ein Studentenvisum für sie zu bekommen.

«Da hofften wir noch, die Österreicher würden sich Hitler entgegenstellen, aber er hatte mich immer schon zum Studium nach England schicken wollen. Deshalb hat er mich auch hier auf die englische Schule gegeben, nachdem meine Gouvernante gegangen war. Ich bin jetzt im vierten Semester meines Studiums. Ich wollte als Assistentin bei meinem Vater arbeiten, bis Heini und ich ...»

«Wer ist Heini?»

«Mein Vetter. Na ja, so ungefähr jedenfalls ... Er und ich ...»

Sätze über Heini waren offenbar schwer zu vollenden. Aber Quin sah jetzt auch das Wunderkind in der Holzhütte wieder vor sich. Er konnte Heini kein Gesicht geben, aber er erinnerte sich an die schier endlosen Klavierübungen und an das bezopfte kleine Mädchen, das den jungen Künstler mit frisch gepflückten Walderdbeeren versorgte. Ihre Liebe zu dem begabten Jungen hatte also überdauert. «Erzählen Sie weiter.»

«Es war nicht allzu schwierig. Wenn man nicht gerade bei ihnen einwandern will, sind die Engländer gar nicht so. Ich brauchte nicht einmal ein J auf meinem Paß, weil ich keine reine Jüdin bin. Die Quäker waren großartig. Sie haben mich bei einem Studententransport untergebracht, der von Graz aus reisen sollte.»

Sobald der Tag der Abreise feststand, schickten ihre Eltern sie nach Graz. Dort sollte sie warten, bis es losging.

«Sie wollten mich nämlich aus Wien weghaben, weil ich einem SA-Mann einen Tritt gegeben hatte ...»

«Guter Gott!»

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. «Kurz und gut, nachdem ich abgefahren war, wurde mein Vater plötzlich verhaftet. Die Gestapo hat ihn abgeholt und drei Tage festgehalten. Mich benachrichtigte keiner. Als er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, hieß es, er und die Familie müßten das Land innerhalb einer Woche verlassen, sonst kämen alle in ein Lager. Jeder durfte nur einen Koffer und zehn Reichsmark mitnehmen – davon kann man nicht mal einen Tag lang leben. Aber das spielte in diesem Fall natürlich alles keine Rolle. Sie wollten nur weg. Ich war zwei Tage vorher mit dem Studententransport abgereist.»

«Und wieso hat es dann nicht geklappt?»

«An der Grenze ist ein Haufen SS-Leute zugestiegen. Sie wollten unsere Unbedenklichkeitserklärungen sehen.»

«Eure was?»

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, und er meinte, niemals einen jungen Menschen gesehen zu haben, der so müde wirkte. «Das ist irgendein neuer Ausweis – sie erfinden dauernd welche – zum Nachweis, daß man politisch unauffällig ist. Sie wollen keine Leute ins Ausland lassen, die dort dann dem Regime Ärger machen.»

«Und Sie hatten keine solche Erklärung?»

«Richtig. An der Uni hatte ich einen Freund, der war mal in Rußland und ist Kommunist geworden. Ich hatte natürlich Dostojewski gelesen, und ich fand, man müßte auf der Seite des Proletariats kämpfen und mit den Verbannten nach Sibirien gehen und so. Ich hab mich nie wohlgefühlt, wenn ich sah, wieviel wir – und wie wenig andere hatten. Ich meine, es kann doch nicht recht sein, daß manche Menschen alles haben und andere gar nichts.»

«Das stimmt. Aber etwas dagegen zu tun, ist nicht so einfach.»

«Jedenfalls bin ich nicht in die kommunistische Partei eingetreten wie dieser Freund von mir. Die haben sich ja dauernd gestritten, obwohl sie sich gegenseitig nannten. Aber ich bin zu den Sozialdemokraten gegangen, und wir haben Protestmärsche veranstaltet und uns mit den Nazis angelegt. Bei den Behörden war ich natürlich als gefährliche Radikale verschrien.»

«Und als man Sie dann aus dem Studentenzug herausholte, waren Ihre Eltern schon abgereist?»

«Nein, sie waren noch hier. Ich habe bei Freunden von ihnen angerufen, weil unser Telefon gesperrt war, und die sagten mir, daß sie am nächsten Tag abreisen wollten. Ich wußte, daß sie nicht reisen würden, wenn sie hörten, daß ich noch in Österreich war, darum habe ich nichts gesagt und bin zu unserer alten Köchin in Grinzing gezogen, bis sie weg waren.»

«Das war tapfer», sagte Quin leise.

Sie zuckte die Achseln. «Es war sehr schwierig für mich, das muß ich zugeben. Es war vielleicht das Schwierigste, was bisher von mir verlangt worden ist.»

«Und wenn Sie Glück haben, wird es auch das Schwierigste bleiben.»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das glaube ich nicht.» Die Worte waren fast nicht zu hören. «Ich glaube, für mein Volk ist es Nacht geworden.»

«Unsinn.» Er sprach betont munter. «Wir werden schon Mittel und Wege finden, um Sie hier herauszubekommen. Ich gehe gleich morgen früh zum britischen Konsulat.»

Wieder dieses Kopfschütteln, bei dem das blonde Haar ihr um die Schultern tanzte. «Ich habe alles versucht. Hier sitzt ein Mann im Amt, der den Leuten bei der Ausreise helfen soll, aber in Wirklichkeit sorgt er nur dafür, daß ihnen alles abgenommen wird, was sie besitzen. Sie haben keine Ahnung, was hier los ist – die Leute weinen und schreien ...»

Er war aufgestanden und ging langsam durch das Zimmer, während er überlegte. «Die Wohnung ist wirklich sehr groß.»

«Ja.» Sie nickte. «Zwölf Zimmer. Zwei davon hat meine Großmutter bewohnt, aber sie ist letztes Jahr gestorben. Als ich klein war, bin ich hier mit meinem Dreirad in sämtlichen Korridoren herumgefahren.» Sie folgte ihm. «Das ist mein Vater in der Uniform des 14. Ulanenregiments. Er wurde zweimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet – er konnte nicht glauben, daß das alles nicht zählt.»

«Ist er Jude?»

«Ja, der Geburt nach. Ich glaube aber nicht, daß er sich je darüber Gedanken gemacht hat. Seine Religion ist die Menschlichkeit ... er glaubt, daß jeder sich bemühen sollte, das Beste aus sich herauszuholen. Er glaubt an einen Gott, der allen gehört – daß man den göttlichen Funken, der in einem ist, hüten und zur Flamme anfachen muß. Und meine Mutter ist katholisch erzogen worden, für sie ist es doppelt schlimm. Sie ist nur Halbjüdin – vielleicht auch Vierteljüdin, wir wissen es nicht genau. Sie hatte eine sehr arische Mutter – so eine Art Ziegenhirtin.»

«Dann sind Sie also – was? Drei Viertel? Fünf Achtel? Es ist schwer zu glauben.»

Sie lächelte. «Meine Stupsnase, meinen Sie – und mein helles Haar. Meine Großmutter kam vom Land – die Ziegenhirtin, meine ich. Mein Großvater entdeckte sie wirklich beim Ziegenhüten – oder jedenfalls beinahe. Sie stammte von einem Bauernhof. Wir haben sie manchmal ausgelacht und sie Heidi genannt; sie hat in ihrem ganzen Leben kein Buch gelesen, aber heute bin ich ihr dankbar, weil ich ihr ähnlich sehe und mich nie jemand belästigt.»

Sie hatten die Glasveranda mit Blick in den Hof erreicht. In der Ecke neben einem Oleander stand eine mit Rosen und Lilien bemalte Wiege. Auf dem Kopfbrett stand in verschnörkelter Schrift «Ruthchens Wiege».

Quirl stieß sie mit der Fußspitze an. Ruth schwieg. Unten im Hof breitete die blühende Kastanie ihre ausladenden Äste aus. An einem von ihnen hing eine Schaukel; an einer Wäscheleine, die zwischen zwei Pfosten gespannt war, flatterten eine Reihe rotweiß karierter Geschirrtücher und ein Babyhemdchen, das nicht größer war als ein Taschentuch.

«Da unten habe ich immer gespielt», sagte sie. «Als ich noch klein war. Ich fühlte mich dort so geborgen. Der Hof war für mich der sicherste Platz der Welt.»

Er hatte nichts gesagt, sich nicht gerührt, dennoch veranlaßte irgend etwas sie, sich umzudrehen. Sie hatte von ihm das Bild eines gütigen, kultivierten Menschen; aber jetzt wirkte das zerfurchte Gesicht wie eine Teufelsmaske: der Mund verzerrt, die Haut über den Knochen straff gespannt. Die Verwandlung hielt nur einen Moment an. Dann legte er leicht die Hand auf ihren Arm.

«Wir können bestimmt etwas tun. Warten Sie nur.»


Ruth hatte nicht übertrieben. Das Chaos und die Verzweiflung, die der Anschluß hervorgerufen hatte, waren unbeschreiblich. Er war früh ins britische Konsulat gekommen, aber in den Gängen hatten sich bereits Warteschlangen gebildet. Die Menschen bettelten um Papiere – Visa, Pässe, Genehmigungen – wie Verhungernde um Brot.

«Tut mir wirklich leid, Sir, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen», sagte der Beamte, nachdem er sich Ruths Unterlagen angesehen hatte. «Wir würden die Dame ja ins Land lassen, aber die Österreicher lassen sie hier nicht heraus. Sie müßte einen neuen Auswanderungsantrag stellen, und die Bearbeitung kann Monate oder Jahre dauern. Die Quote ist voll, wissen Sie.»

«Und wenn ich für sie bürgen würde – garantieren, daß sie dem Staat nicht zur Last fallen wird? Oder wenn ich ihr eine Arbeitsgenehmigung als Haushaltshilfe besorgen würde? Meine Familie könnte ihr eine Anstellung geben.»

«Das müßten Sie von England aus arrangieren, Sir. Hier geht alles drunter und drüber, seit Österreich kein unabhängiger Staat mehr ist. Die Botschaft soll geschlossen werden, und unser Personal wird schon laufend heimgeschickt.»

«Lieber Gott, das Mädchen ist zwanzig Jahre alt. Ihre ganze Familie ist in England – sie steht völlig allein da.»

«Es tut mir leid, Sir», wiederholte der junge Mann müde. «Glauben Sie mir, was ich hier in den letzten Wochen erlebt habe ... aber von hier aus läßt sich nichts tun. Jedenfalls nichts, was für Sie in Frage käme.»

«Und was ist das, was für mich nicht in Frage käme?»

Der junge Mann sagte es ihm.

Ach, zum Teufel mit dem Mädchen, dachte Quin. Er hatte im Nachtzug ein Schlafwagenabteil reserviert; die Examen begannen in weniger als einer Woche. Bei Antritt seines Forschungsurlaubs hatte er versprochen, zum Ende des Semesters zurückzusein. Er hatte nicht vor, die Benotung der Arbeiten seinem Stellvertreter zu überlassen.

Er trat in das Haus in der Rauhensteingasse und ging in den ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür stand weit offen. Im Flur war der Spiegel zerschlagen, der Schirmständer war umgekippt. Das Wort «Jude» war mit gelber Farbe quer über die Fotografie geschmiert, die Kurt Berger mit dem Kaiser zeigte. Im Salon hatte man die Bilder von den Wänden gerissen; die Palme lag entwurzelt auf dem Teppich. Im Eßzimmer waren die Türen der Vitrine gesprengt, das Meißner Porzellan war verschwunden.

Ruths Wiege auf der Veranda war in Stücke geschlagen.

Er hatte vergessen, was für eine heftige körperliche Wirkung der Zorn hatte. Er mußte mehrmals tief Atem holen, ehe das Schwindelgefühl sich legte und er die Treppe hinuntersteigen konnte.

Diesmal war die Hausmeisterin in ihrer Loge.

«Was ist in Professor Bergers Wohnung passiert?»

Sie warf einen nervösen Blick zur offenen Tür, hinter der er einen alten Mann sehen konnte, der mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel saß und Zeitung las.

«Sie sind plötzlich hier erschienen – so ein paar Braune – eine richtige Schlägerbande, anders kann man's nicht nennen. Das tun sie immer, wenn Wohnungen leerstehen. Offiziell ist es nicht erlaubt, aber keiner unternimmt was gegen sie.» Sie zog die Nase hoch. «Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Professor hat mich gebeten, mich um die Wohnung zu kümmern, aber wie soll ich das machen? Nächste Woche zieht da ein deutscher Diplomat ein.»

«Und Fräulein Berger? Was ist mit ihr?»

«Keine Ahnung.» Wieder ein ängstlicher Blick zur offenen Tür. «Ich kann Ihnen nichts sagen.»

Er war schon auf der Straße, als er ihre heisere alte Stimme hörte. Sie rief ihn, und als er sich umdrehte, rannte sie ihm nach, immer noch in ihrer Kittelschürze.

«Ich soll Ihnen das von ihr geben. Von Fräulein Berger. Aber Sie sagen bittschön nichts, Herr Doktor? Mein Mann ist schon seit Jahren bei den Nazis, er würde es mir nie verzeihen. Ich könnte die größten Scherereien kriegen.»

Sie reichte ihm einen weißen Umschlag, aus dem, als er ihn öffnete, zwei Schlüssel herausfielen.

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