17

Quin hatte am Verhalten der Leute, die in Bowmont für ihn arbeiteten, nie etwas auszusetzen gefunden, aber als er jetzt durch das Dorf und dann den Hügel hinauf fuhr, hatte er den Eindruck, daß alle ihm mit außergewöhnlicher Liebenswürdigkeit entgegenkamen. Trotz des strömenden Regens, den der Wind vom Meer herantrieb, kamen Mrs. Carter, die das Postamt leitete, der Schmied und der alte Sutherland oben an der Pforte auf die Straße heraus, um ihm lächelnd zuzuwinken, und mehrmals wurde ihm, als er anhielt, die Hand mit einer Herzlichkeit geschüttelt, die anzudeuten schien, daß eine besondere Freude, an der sie alle teilhatten, auf ihn wartete.

»Aber Sie werden weiter wollen», sagte Mrs. Ridley, die Frau des Verwalters eines seiner Höfe, nachdem sie einige freundliche Worte gewechselt hatten. «Sie haben es heute sicher eilig, nach Hause zu kommen.»

Bei seiner Ankunft in Bowmont traf er Turton ähnlich wohlwollender Stimmung an. Der Butler begrüßte ihn als Master Quinton – so hatte man ihn seit seiner Kindheit nicht mehr genannt! – und teilte ihm strahlend vor Herzlichkeit mit, daß die Cocktails in einer halben Stunde im Salon serviert würden, ihm also zum Umkleiden hinreichend Zeit bliebe.

Das allein war Hinweis auf eine Art der Förmlichkeit, wie Quin sie im allgemeinen nicht gestattete. Wenn er mit seinen Studenten hier war, das hatte er von Anfang an klargestellt, dann nicht um zu feiern, sondern um zu arbeiten. Doch als er ins Haus ging, stieß er auf weitere Anzeichen dafür, daß Besonderes in der Luft lag. Der große Saal von Bowmont mit seiner recht eigenwilligen Sammlung von Breitschwertern, seltsamen Gobelins und einem Wiesel, das der Basher selbst ausgestopft hatte, allerdings nicht sehr erfolgreich, war kein Ort, an dem man sich gern aufhielt. Heute jedoch brannte der Überzeugung seiner Tante zum Trotz, daß Wärme im Haus Verweichlichung und Verfall förderten, ein loderndes Feuer im großen offenen Kamin, und obwohl kaum je Blumen geschnitten und ins Haus gebracht wurden, da Frances ihre Pflanzen lieber ungestört wachsen ließ, war die chinesische Vase auf der alten Eichentruhe mit Dahlien und Chrysanthemen gefüllt.

Das Kostüm seiner Tante schließlich, als diese herauskam, um ihn zu begrüßen, bestätigte Quins Befürchtungen. Frances zog sich stets zum Abendessen um; das hieß, daß sie ihren formlosen Tweedrock gegen einen etwas längeren Rock aus rostbrauner Seide vertauschte – es gab jedoch ein Ensemble, das seit Jahrzehnten den besonderen Anlaß signalisierte: ein schwarzes Chenillekleid, dessen nicht gerade unzüchtig tiefer Ausschnitt mit einem orientalischen Schal verhüllt zu werden pflegte. In dieser Aufmachung kam Frances ihrem Neffen jetzt entgegen, und seine letzte Hoffnung auf einen ruhigen Abend der Vorbereitung auf das Seminar erlosch.

«Du siehst großartig aus», sagte er lächelnd zu ihr. «Haben wir Besuch?»

«Aber das weißt du doch», antwortete Frances und neigte sich ihm zu, um ihm den gewohnten Kuß auf die Wange zu geben. «Ich habe es dir geschrieben. Sie werden jeden Moment herunterkommen – du hast gerade noch Zeit, dich umzuziehen.»

«Leider weiß ich gar nichts, Tante Frances. Ich komme direkt aus Yorkshire. Was hast du mir denn geschrieben?»

Frances runzelte die Stirn. Sie hatte gehofft, Quin würde wohlvorbereitet und guter Stimmung eintreffen. «Daß ich die Placketts eingeladen habe – Verena und ihre Mutter.» Als Quin nichts sagte, fügte sie hinzu: «Ich kannte Lady Plackett als junges Mädchen – das wird sie dir doch erzählt haben? Wir waren zusammen im Pensionat.»

Sie sah Quin an und fühlte sich zutiefst unbehaglich. Die Anzeichen des Mißvergnügens waren ihr nach zwanzig Jahren der Gemeinsamkeit nur allzu vertraut: Quins Nase war schmal geworden, auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet.

«Verena ist eine meiner Studentinnen, Tante Frances. Es wäre absolut nicht in Ordnung, wenn ich sie anders behandelte als die restlichen Studenten.»

Frances war erleichtert. Es war also nur die Furcht, den Anschein von Bevorzugung zu wecken, die ihn zurückhielt.

«Ja, natürlich, das ist mir klar, und ihr ebenfalls. Sie hat bereits ausdrücklich gesagt, daß sie keinerlei Sonderbehandlung bei der Arbeit draußen erwartet. Aber Lady Plackett ist eine alte Freundin von mir – es wäre äußerst merkwürdig, wenn ich mich weigerte, ihre Tochter bei mir im Haus aufzunehmen.»

Quin nickte, lächelte – das unwirsche Gesicht verwandelte sich wieder in das eines umgänglichen Menschen. Schon hatte er Gewissensbisse: Frances mußte sich einsamer fühlen, als ihm bewußt war, wenn sie sogar bereit war, die Placketts bei sich aufzunehmen. Vielleicht war alles nur Maske gewesen, ihre Ungeselligkeit, ihr ausgesprochener Wunsch, allein zu sein – und er fragte sich, was er seit langem nicht mehr getan hatte, wie tief eigentlich jene Zurückweisung des Verlobten sie damals getroffen hatte.

«Natürlich, Tante Frances, ist schon in Ordnung. Mach dir keine Gedanken. Ich gehe jetzt nach oben und ziehe mich um.»

Doch noch auf dem Weg zu seinem Turmzimmer hörte er irgendwo über sich ein Husten. Es war nicht etwa ein scheues, zaghaftes Hüsteln; es war gewissermaßen ein Fanfarenstoß von einem Husten – und Quin, der suchend aufwärts sah, gewahrte jetzt eine Gestalt, die auf dem oberen Treppenabsatz stand.

Verena, die so viel gelesen hatte, hatte auch gelesen, daß kein Mann dem Anblick einer schönen Frau widerstehen kann, die eine hochherrschaftliche Treppe herunterschwebt. Sie hatte Quins Ankunft von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtet und legte nun, schlicht, aber gefällig in flaschengrünen Voile gekleidet, die eine Hand auf das geschnitzte Geländer, raffte mit der anderen ihren Rock und begann, während ihre Mutter selbstlos in den Kulissen wartete, den anmutigen Abstieg.

Zunächst ging es glänzend. Nicht nur der lange Rücken und die langen Beine der Croft-Ellis' begünstigten sie, sondern auch der Drill, dem man sie vor ihrer Vorstellung bei Hof unterworfen hatte. Verena, die ihre glitzerdurchwirkte Schleppe mit sicherem Ziel nach rückwärts geworfen hatte, als sie vor Ihren Majestäten zurückgewichen war, stieg jetzt mit würdevoller Grazie die Stufen zu ihrem Gastgeber hinunter.

Sie war fast unten. Quin stand, wie sie erwartet hatte, mit nach hinten geneigtem Kopf und ließ sie nicht aus den Augen. Noch war sie nicht bereit, die Worte zu sagen, die sie sich überlegt hatte, aber gleich würde es soweit sein. «Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Freude es ist, nach allem, was wir über Bowmont gehört haben, hier sein zu dürfen.» So hatte sie ihre kurze, aber herzliche Rede geplant.

Doch sie kam nicht dazu, die wohlgesetzten Worte an den Mann zu bringen. Irgend jemand – Frances hatte das zweite Hausmädchen in Verdacht, deren Vater ein Sozialist war – hatte nämlich eine Tür geöffnet.

Das Hündchen interessierte sich eigentlich nicht für Verena, es wollte nur zu Frances, aber als es an der Treppe vorüberflitzte, konnte es seinem Drang nach Höherem nicht widerstehen. Mit einem entschlossenen Knurren nahm es Anlauf und sprang und schaffte es, im selben Moment die unterste Stufe zu erklimmen, als Verena ihren hoheitsvollen Abstieg vollendete.

Verena trat nicht auf das Hündchen, und sie schlug auch nicht platt hin. Das wäre jeder anderen so ergangen, nicht aber Verena. Immerhin stolperte sie arg, warf einen Arm nach vorn, taumelte – und fiel recht ungraziös auf die Knie.

Quin war selbstverständlich augenblicklich zur Stelle, um ihr aufzuhelfen und sie zu einem Sessel zu führen, wo sie das ihr geschehene Mißgeschick sogleich herunterspielte.

«Es ist nichts», beteuerte sie, wie tapfere englische Mädchen das in Schulbüchern seit Generationen tun, auch wenn der Schmerz des verstauchten Knöchels kaum auszuhalten ist.

Dem Hündchen gegenüber Nachsicht walten zu lassen war schwieriger, zumal sie sich bei dem Sturz das Innenfutter ihres Kleides zerrissen hatte, und Lady Plackett, die ihrer Tochter eiligst zu Hilfe kam, machte gar nicht erst den Versuch.

«Was ist denn das für eine mißratene Kreatur!» rief sie. «Gehört sie einem der Angestellten?»

Frances, die sich zu Tode schämte, erklärte, das Hündchen werde am folgenden Tag an den Zimmermann im Dorf abgegeben werden, und versuchte es einzufangen. Aber Quin erhaschte den kleinen Hund vor ihr, hielt ihn an den Hinterbeinen in die Höhe und musterte ihn mit der Aufmerksamkeit, die Zoologen im allgemeinen einer bisher unbeschriebenen Spezies zu zollen pflegen.

«Erstaunlich!» sagte er und sah seine Tante grinsend an. «Dieser Bart am Unterbauch ist bestimmt einmalig, nicht? Weiß Barker schon von seinem Glück?»

Frances, die seine Unbekümmertheit gar nicht erheiternd fand, antwortete, Barker sei mit den Reparaturen der Kirchenstühle im Verzug und würde schon wissen, was seine Pflicht sei. Dann trug sie den Hund hinaus.

Trotz dieses wenig verheißungsvollen Beginns nahm das Abendessen einen erfreulichen Verlauf, und Frances Somerville, die in der Stille ihres Schlafzimmers den Abend einer kritischen Betrachtung unterzog, hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Vielleicht hatte Verenas verunglückter Auftritt Quins ritterliche Instinkte geweckt, auf jeden Fall war er den ganzen Abend über aufmerksam und charmant, und Verena verhielt sich ganz so, wie es sich gehörte. Sie bewunderte die Porträts der Somervilles, behauptete sogar, der Basher habe einen ausgesprochenen Charakterkopf gehabt; sie konnte sich intelligent über die Landwirtschaft unterhalten, da ihr Onkel in Rutland nicht nur Schafe züchtete, sondern auch hochklassige Rinderherden besaß. Und als Frances auf bemüht scherzhafte Art erwähnte, daß Quin die Absicht habe, Bowmont dem National Trust zu vermachen, hatten die Damen Plackett genau mit der Ungläubigkeit und dem Entsetzen reagiert, die sie sich erhofft hatte.

«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Professor!» hatte Lady Plackett gerufen. Und Verena hatte die recht unverblümte Bemerkung riskiert: «Seien Sie mir nicht böse, aber da käme ich mir vor, als beginge ich Verrat an meinen ungeborenen Kindern.»

Tatsächlich sprach Verena an diesem Abend all das aus, was Frances dachte. Verena hatte gesunde Ansichten zum Thema Flüchtlinge und hatte, als Quin aus dem Zimmer gegangen war, ihrer Befriedigung darüber Ausdruck gegeben, daß eine Österreicherin ihres Jahrgangs nicht an dieser Exkursion teilnehmen würde. Sie konnte eine Verbindung zwischen den Croft-Ellis' und den Somervilles herstellen, eine sehr entfernte zwar nur, die aber dennoch beruhigend war, und was sie über das Hündchen zu sagen wußte, entsprach genau dem, was Frances selbst gedacht hatte daß es in solchen Fällen wirklich barmherziger sei, die kleinen Dinger gleich nach der Geburt zu ertränken.

«Ein sehr angenehmes junges Mädchen», urteilte Frances, als Martha mit der allabendlichen heißen Schokolade in ihr Zimmer trat.

Ein mittelalterlicher Mönch mit dem Ziel, ein Leben in Armut und Askese zu führen, hätte sich in Frances Somervilles Schlafzimmer wie zu Hause gefühlt. Die Fenster waren geöffnet und ließen die feuchte Nachtluft herein, die Teppiche auf den nackten Dielenbrettern waren abgetreten, die Matratze in dem Himmelbett war schon voller Knubbel gewesen, als Frances nach Bowmont gekommen war, und war es immer noch.

Martha stimmte ihrer Herrin zu. «Ja, auf uns unten hat sie auch einen guten Eindruck gemacht», sagte sie und hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, daß die Dienerschaft auch ein Kalb mit zwei Köpfen akzeptiert hätte, wenn dadurch gewährleistet gewesen wäre, daß Bowmont in Privatbesitz blieb und man seine Arbeit nicht verlor. «Soll ich Ihnen nicht eine Wärmflasche bringen?» meinte sie jetzt, da sie ihre Herrin trotz des gelungenen Abends müde und abgespannt aussehend fand und wußte, daß die Kälte für ihre Arthritis nicht gut war.

«Kommt nicht in Frage!» fuhr Frances sie an. «Am ersten Dezember kannst du mir eine bringen, aber keinen Tag früher – das weißt du doch!» Doch sie ließ es zu, daß Martha die silberne Haarbürste zur Hand nahm und ihr das spärliche graue Haar ausbürstete. «Es war wohl Elsie, die das Hündchen hinausgelassen hat?» bemerkte sie nach einer kleinen Pause.

Martha nickte. «Sie hat so ein weiches Herz, die Kleine. Comely will ja mit dem Tierchen nichts zu tun haben. Und Elsie hört es immer winseln.»

«Sieh zu, daß es gleich morgen früh zu Barker gebracht wird. Seinetwegen hätte es beinahe einen bösen Unfall gegeben.»

«Das wird bis übermorgen warten müssen. Morgen ist Barker in Amble, um Holz abzuholen, das er dort bestellt hat.»

Als Frances später, die eiskalten Füße hochgezogen, in ihrem Bett lag, dachte sie noch einmal darüber nach, wie gut der Abend doch verlaufen war. Sie wollte jedenfalls ins Dorf ziehen, wenn Quin heiraten sollte. Quin hatte zwar kein auffallendes Interesse an Verena gezeigt, aber das würde schon noch kommen.


Von den Hoffnungen seiner Tante nichts ahnend und am Schicksal Verena Placketts nicht im geringsten interessiert, stand Quin am Fenster seines Turmzimmers und sah zum Meer hinaus und zum Mond, der ständig hinter wirbelnden schwarzen Wolken verschwand. Es regnete immer noch, aber das Barometer stieg. Es war ein Risiko gewesen, so spät im Jahr mit den Studenten hier heraufzukommen, aber wenn es in Northumberland einen Altweibersommer gab, dann war er um so schöner. Der Herbst konnte hier von einer herzzerreißenden Schönheit sein.

Quin bewohnte das Zimmer ganz oben im Turm, seit der Großvater den Achtjährigen das erstemal dort hinaufgeführt hatte, ein verwirrtes, elternloses Kind, fremdländisch gekleidet, mit einer großen Brille auf der Nase, die zur Kräftigung seiner Augen nach einer Masernerkrankung beitragen sollte. Durch drei Stockwerke von seiner Erzieherin getrennt, für die Nacht unter das Fell eines Eisbären gebettet, den der Basher in Alaska geschossen hatte, war Quin Abend für Abend zitternd vor Angst zu Bett gegangen – und doch hätte er selbst damals sein Krähennest um nichts in der Welt eingetauscht.

Die Studenten mußten jetzt jeden Moment eintreffen; der Bus, der gemietet worden war, sie in Newcastle abzuholen, würde direkt den holprigen Weg zur Bucht hinunterschaukeln. Quin war etwas früher am Abend unten gewesen, um sich zu vergewissern, daß alles bereit war: daß der Ofen in dem kleinen Aufenthaltsraum brannte, die Bunsenbrenner an die Gasleitung angeschlossen, die Schlafräume über dem Labor gelüftet und die Decken frisch und sauber waren. Er fand alles in Ordnung, und dennoch war er innerlich rastlos, und beinahe ohne recht wahrzunehmen, was er tat, griff er zu der Gitarre in der Ecke des Zimmers und begann sie zu stimmen.

Quins Gitarrestudien waren nie sehr weit gediehen, und seine Freunde in Cambridge hatten immer wenig schmeichelhaft reagiert, wenn er gespielt hatte; entweder hatten sie sich die Ohren zugehalten, oder sie waren aus dem Zimmer geflohen. Obwohl er nur wenige Stücke spielen konnte, hatte er doch für jede Gefühlslage das Richtige parat: Tiptoe Through the Tulips war heiter; die Evening Elegy war, wie der Titel sagte, elegisch; und Mississippi Moan war – nun, eine Klage eben.

Gerade bei diesem letzten Stück hatte sich, wenn er es im College spielte, das Zimmer stets besonders schnell geleert, aber Quin liebte es nun einmal. Als jetzt die Töne des schwermütigen Lieds aus dem amerikanischen Süden durch den Raum klangen, wurde er sich bewußt, daß er das Stück nicht ganz zufällig gewählt hatte. Er fühlte sich tatsächlich innerlich unruhig – bedrückt – und einige Akkorde später wurde ihm auch klar, warum.

Es war nicht zu leugnen, daß er sich Felton gegenüber, der so sehr bemüht gewesen war, Ruth die Exkursion nach Bowmont zu ermöglichen, nicht anständig benommen hatte. Roger arbeitete unermüdlich für die Studenten und sprang jederzeit bereitwillig für ihn ein, ertrug geduldig die endlose Langeweile der Ausschußsitzungen. Wenn er nun sein Herz daran gehängt hatte, Ruth den Aufenthalt in Northumberland zu ermöglichen, so hätte er – Quin – ihm bei seinen Bemühungen helfen sollen. Es wäre ein leichtes gewesen, eine Möglichkeit zu finden, und die Mißbilligung der Placketts hatte ihn ja nie im geringsten gekümmert. Tatsache war, daß er sich äußerst selbstsüchtig verhalten hatte, weil er die Emotionalität dieses Mädchens scheute.

Nun, jetzt war daran nichts mehr zu ändern, und der Mississippi Moan hatte, wie so oft, die Atmosphäre gereinigt. Alles Bedauern hinter sich lassend, ging Quin zu seinem Schreibtisch und nahm sich Hackenstreichers letzten Brief an die Zeitschrift Nature vor. Zeit, diesem Idioten ein für allemal den Marsch zu blasen. Er zog die Schreibmaschine zu sich heran und spannte ein leeres Blatt ein.

«Sehr geehrte Herren», schrieb er, «im Zusammenhang mit Professor Hackenstreichers Beitrag (Nature vom 6. August 1938) darf vielleicht darauf hingewiesen werden, daß seine Untersuchung eines einzigen Schädelabgusses des Styracosaurus Coratopsius doch wohl kaum eine Ablehnung von Brooms Rekonstruktion der Evolution aus einem gemeinsamen Stamm rechtfertigt. Nicht nur war der Abguß unvollständig, auch seine Herkunft ist in Zweifel zu ziehen, da ...»


Er saß noch immer an der Maschine, als der Bus das Tor hinter dem Haus passierte und schwankend zum Strand hinunterzuckelte.


Ruth erwachte früh. Alle anderen im Schlafsaal über dem Bootshaus schliefen noch. Pilly, die neben ihr lag, war so fest zusammengerollt, als wollte sie sich gegen die Katastrophen des kommenden Tages schützen; nur ein paar Haarbüschel lugten über den Rand der grauen Decke.

Vom vorhergehenden Abend hatte Ruth nur noch den peitschenden Regen in Erinnerung, die plötzliche Kälte, als sie aus dem stickigen Bus gestiegen und ins Haus gelaufen waren – und das monotone Klatschen der Wellen an den Strand. Doch jetzt hatte sich etwas verändert, und auf den ersten Blick schien ihr, daß diese Veränderung einfach durch die Beleuchtung hervorgerufen worden war.

Sie kleidete sich eilig an, huschte an ihren schlafenden Freundinnen und an Dr. Sonderstrom vorbei, kletterte die Leiter hinunter und öffnete die Tür.

«Oh!» sagte sie und trat hinaus – ungläubig, verwirrt, geblendet. Wie hatte dies über Nacht geschehen können, dieses Wunder? Woher kam plötzlich dieses viele Licht? Woher diese unendliche Bewegung?

Die Sonne erhob sich aus einem silbern glänzenden Meer, dessen flirrendes Wasser seine Farben beinahe von Augenblick zu Augenblick veränderte. Und auch der Himmel wechselte die Farben, während sie zu ihm hinaufsah; zuerst war er rosig und amethystfarben, dann türkis ... und schon wartete ungeduldig eine Handvoll frischer Schäfchenwolken ...

Auch die Luft bewegte sich. Man brauchte sie nicht zu atmen, sie atmete sich selbst. Es war kein Wind, nein, noch nicht, nur diese neu geschaffene, frisch gewaschene Luft, die nach Salz und Seetang roch und dem Beginn der Schöpfung.

Es war zuviel. Zuviel Schönheit, zuviel Luft, zuviel Himmel, zuviel Meer. Sie hatte sie sich so oft vorgestellt: die glatte, graue, ziemlich traurige Weite der Nordsee, aber dies ...

Ein blendender Lichtstrahl fiel aus dem Himmel herab und brach sich glitzernd an einem Leuchtturm auf einer fernen Insel ... Es gab Felder auf diesem Meer: Flecken leuchtender Helligkeit, andere wie mattes Blei und stille Oasen wie Lagunen. Und es befand sich in ständiger Bewegung und Veränderung. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen.

Es war Ebbe. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und rannte wie trunken mit bloßen Füßen über den kühlen, welligen Sand zum Wasserrand. Allmählich beruhigte sie sich und nahm nun auch die Bewohner dieser lichtgesprenkelten Welt wahr: drei schwere Vögel, die im Flug von den Felsen wie drei schwarze Kreuze aussahen – Kormorane, dachte sie. Aber die Schar schmalgeschwingter Vögel, deren Weiß so intensiv war, daß sie wie von innen erleuchtet wirkten, konnte sie nicht benennen.

Dann kam sie zum ersten Felstümpel, und hier warteten einfachere, leichter zu fassende Freuden. Dr. Felton hatte sie gut unterrichtet; sie kannte die lateinischen Namen der Anemonen und Seesterne, der kleinen Garnelen, doch dies war eine Märchenwelt. Hier gab es Unterwasserwälder, winzige Sandbuchten, Kiesel wie Edelsteine ...

Am Meeresrand blieb sie stehen und streckte einen Fuß ins Wasser. Sie schnappte erschrocken nach Luft. Die Kälte traf sie wie ein elektrischer Schlag. Selbst der Gischt schien geladen ... aber dann, beinahe sofort, gewöhnte sie sich daran. Nein, das stimmte nicht; man konnte sich an diesen Schock eisiger Kälte und Reinheit nicht gewöhnen; man konnte nur immer mehr davon wollen.

Das habe ich nicht gewußt, dachte sie. Ich hätte nie geglaubt, daß etwas so sein könnte – daß es einem ein solches Gefühl der Reinheit geben könnte ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit und doch des Einsseins mit allem. Einen Moment lang wünschte sie all die Menschen, die sie liebte, herbei – ihre Eltern und Mishak und Mishaks geliebte Marianne, von den Toten auferstanden. Dann aber vollführte der Himmel eines seiner Zauberkunststücke, sandte eine Flotte purpurfarbener Wolken aus, die vor der neuen Sonne vorüberzogen, so daß einen Augenblick lang sich alles wieder veränderte – unruhig, dunkel und turbulent wurde. Und dann kam die Sonne wieder hervor, erstarkt, höher am Himmel, und sie dachte, nein, hier kann ich allein sein, weil es kein Allein oder Nichtallein gibt; es gibt nur Licht und Luft und Wasser, und ich bin ein Teil von allem, und alle, die ich liebe, sind Teil davon, doch es ist außerhalb der Zeit, jenseits von Wollen und Müssen.

An diesem Punkt ekstatischer Wonne bemerkte sie ein kleines weißes Segel und darunter ein Boot, das um das Kap herumkam und auf die Bucht zuhielt.


Auch Quin war schon bei Tagesanbruch erwacht und zu der geschützten Bucht von Bowmont Mill hinuntergegangen, wo er sein Boot liegen hatte. Er war froh gewesen, diesen Vorwand zu haben, um das Haus zu verlassen und das Boot für die Studenten um das Kap herumzusegeln; und er freute sich, daß das Wetter aufgeklart hatte; der goldene Tag war ein unerwartetes Geschenk. Sonst dachte er nichts, achtete nur auf den Wind, kümmerte sich um sein Segel ...

Er sah die einsame Gestalt, sobald er das Kap umrundete, und selbst aus der Ferne erkannte er, daß die Frau, wer immer sie sein mochte, sich in einem Zustand der Glückseligkeit befand. Der Wind peitschte ihr Haar, mit einer Hand hielt sie ihren Rock gerafft, während sie im Spiel mit den Wellen vorwärts und rückwärts sprang.

Die Bilder, die sich aufdrängten, wurden bald aufgegeben. Das war nicht Botticellis Venus, die Schaumgeborene; nicht Undine, die die Morgendämmerung willkommen hieß; es war etwas viel Einfacheres und unter den gegebenen Umständen Überraschenderes. Es war Ruth.

Sie stand still da und sah zu, wie er das Segel einholte und das Boot auf Sand laufen ließ. Erst als sie hinauswatete, um ihm beim Hinaufziehen des Boots zu helfen, sprach er.

«Ein unerwartetes Vergnügen», sagte er wie ein Idiot, doch Ruth sah die reine Erhabenheit dieser überwältigenden Welt einen Moment lang von dem vertrauten zerknitterten Lächeln bedroht. «Ich dachte, Sie kämen nicht mit.»

«Meine Mutter und Onkel Mishak haben mich praktisch gezwungen. Ach, aber stellen Sie sich vor, sie hätten es nicht getan! Denken Sie nur, dann hätte ich das alles hier nie erlebt.»

«Es gefällt Ihnen?» fragte Quin, der es für ratsam hielt, sich auf Banalitäten zu beschränken, da sie ihn so beunruhigend an den Traum aller heimkehrenden Seefahrer erinnert hatte: die Frau mit den langen Haaren, die am Gestade wartet.

Sie schüttelte voll staunender Verwunderung den Kopf. «Ich hätte nicht gedacht, daß es so etwas gibt. In der Musik kann man sich verlieren, aber letztendlich ist sie von Menschen gemacht. Das hier dagegen ... vielleicht kann man auch hier kleinliche Gedanken haben, aber ich kann es mir nicht vorstellen.»

Das Boot lag jetzt sicher auf dem Trockenen. Quin vertäute es an einem zackigen Felsbrocken, dann schlugen sie gemeinsam den Weg zum Bootshaus ein. Ruth, die zuvor in ihrer Verzückung nicht einen Blick landwärts geworfen hatte, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und rief: «Oh, was ist denn das dort? Was ist das für ein Haus?»

«Was meinen Sie?» Quin verstand ihre Frage nicht gleich.

«Da oben. Auf dem Felsen. Das Haus.»

«Das? Wie, das wissen Sie nicht? Das ist Bowmont.»

Ruth hätte es im strömenden Regen sehen können, oder im Winter, wenn es so heftig stürmte, daß niemand Zeit hatte, aufwärts zu blicken. Sie hätte es, wie viele vor ihr, zu einer Zeit sehen können, da ein Schiffsunglück weinende Frauen an den Strand zog, oder an einem Tag, wenn es nur wie ein bedrohlicher dunkler Schatten hinter grauen Nebelschleiern stand. Aber sie sah es an einem lichten, klaren Morgen, und sie sah es praktisch vom Wasser aus, halb Wohnhaus, halb Festung. Der blasse Kalkstein seiner Mauern war wie in Gold getaucht, und am Fuß der Felsen, die es bewachten, spielte sanft der weiße Gischt. Möwen segelten über den Turm hinweg, und in den hohen Fenstern spiegelte sich das blendende Licht der Sonne.

«Sie haben gesagt, es sei ein kaltes Haus auf einem Kliff», sagte Ruth, als sie wieder sprechen konnte.

«Das ist es auch. Sie werden es sehen, wenn Sie am Sonntag zum Mittagessen kommen.»

Ruth schüttelte den Kopf. «Nein», entgegnete sie leise. «Ich komme am Sonntag nicht zum Mittagessen. Und auch an keinem .anderen Tag.»


Kenneth Easton hatte den Studenten schließlich erzählt, daß Verena nicht mit ihnen im Bootshaus wohnen würde.

«Sie wohnt oben in Bowmont», sagte er, als der Zug aus dem King's-Cross-Bahnhof hinausstampfte. «Die Somervilles haben sie eingeladen.» Als die anderen ihn verblüfft anstarrten, setzte er hinzu: «Es ist ganz natürlich – ihre Familie und die des Professors gehören derselben Welt an. Was anderes war doch gar nicht zu erwarten.»

«Finde ich schon», widersprach Sam energisch. «Es ist doch eigentlich überhaupt nicht Professor Somervilles Art, jemandem eine Extrawurst zu braten.»

«Lady Plackett ist auch eingeladen. Sie und die Tante vom Professor sind seit Ewigkeiten befreundet. Und an Verenas Geburtstag geben sie ein Fest. Das wollten sich die Somervilles einfach nicht nehmen lassen», berichtete Kenneth, getreulich Verenas Worte wiederholend.

Pilly und Janet fanden es nur angenehm, nicht mit Verena unter einem Dach schlafen zu müssen, Ruth jedoch hüllte sich in Schweigen und starrte ins flache, regenüberströmte Land hinaus. Ihre Geschichte mit Quin war vorbei – dennoch tat es ein bißchen weh, hören zu müssen, daß ihm Verena im Gegensatz zu dem, was er über sie gesagt hatte, doch am Herzen lag.

Sie hatte nicht lange gebraucht, um sich an die Kandare zu nehmen und sich vorzuhalten, wie wenig sie das anging, aber es war ihr ernst, als sie sagte, daß sie zum Mittagessen nicht kommen würde. Der Gedanke, Verena Plackett in einem Haus die Gastgeberin spielen zu sehen, das ihr Heim hätte sein können, wäre dies eine richtige Ehe gewesen, war einfach bitter. Auch die überwältigende Schönheit des Meeres konnte einen darüber nicht hinausheben.


Pillys Vermutungen über Verenas Schlafanzug waren der Wahrheit am nächsten gekommen. Er war blau und von maskulinem Schnitt, aber mit Gummibund an den Fußgelenken, denn sie trug ihn auch bei ihren Gymnastikübungen.

Verena trieb immer mit großer Energie Gymnastik, aber an diesem Morgen besaßen ihre Liegestütze besonderen Schwung, und ihre Beine kreuzten die Luft mit wilder Entschlossenheit. Wenn nämlich alles glattgehen und sie Mrs. Somerville werden sollte, so würde sie, hatte sie beschlossen, Quin auf seine Expeditionen begleiten, und dazu mußte man topfit sein.

Von ihrem Fenster aus konnte sie auf die Bucht und das Bootshaus blicken, in dem die anderen Studenten noch in Schlaf lagen. Gegen das Labor hatte Verena nichts einzuwenden; als Quins Helferin und als Forscherin wie er fand sie eine wissenschaftliche Außenstelle so dicht am Haus durchaus in Ordnung; aber diese Beschäftigung mit Studenten würde aufhören müssen. Quin, so meinte sie, war zu ganz anderem geschaffen, zum Präsidenten der Royal Society etwa oder zum Leiter eines wissenschaftlichen Instituts – aber die Lehrtätigkeit war doch für einen solchen Mann die reine Zeitverschwendung.

Im Zimmer nebenan hörte Lady Plackett mit Befriedigung das vertraute Holterdipolter. Ihre Tochter hatte am Abend zuvor einen hervorragenden Eindruck gemacht, und sie selbst hatte, von der Herzlichkeit des Empfangs ermutigt, beschlossen, während der ganzen Dauer des Seminars zu bleiben und bei den Vorbereitungen zu Verenas Fest mitzuhelfen. Was Miss Somerville anging – von der sie gehört hatte, sie sei die Ungeselligkeit in Person –, so war ihre Freundlichkeit jetzt erklärt. Wenn ihr Neffe ernsthaft erwog, seinen Landsitz aufzugeben, dann konnte es nur in ihrem Interesse liegen, ihn verheiratet zu sehen, natürlich mit einer Frau, die eine derartige Torheit nicht zulassen würde.

Punkt Viertel vor acht gingen Verena und Lady Plackett nach unten und wurden von ihrer Gastgeberin mit Erleichterung begrüßt. Weder trugen sie Pelzmäntel noch erkundigten sie sich nach der Zentralheizung, und obwohl Frances Somerville pflichtschuldig fragte, ob sie eine gute Nacht verbracht hätten, sah sie gleich, daß das überflüssig war.

«Verena schläft immer gut», versicherte Lady Plackett, und Verena nickte mit gelassenem Lächeln.

Jetzt kamen Comely und die alte Labradorhündin mit der weißen Schnauze und durften bestimmt ein halbes Dutzend Mal freundlich mit dem Schwanz wedeln, ehe Verena ihnen befahl, sich zu setzen, was sie augenblicklich taten. Nachdem Verena sich so als Hundeliebhaberin ausgewiesen hatte, trat sie zur Kredenz, um sich Schinken, Rührei und Würstchen zu nehmen.

«Verena nimmt niemals zu», bemerkte Lady Plackett mit warmer Bewunderung. «Wir Croft-Ellis' können alle soviel essen, wie wir wollen, ohne um unser Gewicht fürchten zu müssen.»

Als man nach einer Weile zu Toast und Orangenmarmelade überging, mußte man natürlich nach dem Professor fragen, der sich immer noch nicht hatte blicken lassen. «Hat er schon gefrühstückt?» erkundigte sich Verena.

«Quin nimmt immer nur einen Kaffee in seinem Zimmer. Er ist schon zur Bowmont-Bucht hinuntergegangen, um das Boot zu holen.»

Die Placketts tauschten einen Blick. Wenn Quin sich in seinen Turm zu verkriechen pflegte und bei Tagesanbruch aus dem Haus schlich, würde Verena wohl ihre Strategie ändern müssen.

Da der Unterricht an diesem ersten Tag erst um halb zehn Uhr beginnen sollte, nahmen die Placketts dankend die Einladung an, sich das Haus anzusehen, wozu sie am Vortag, da sie erst gegen Abend eingetroffen waren, keine Gelegenheit gehabt hatten. Höflich bewunderten sie alles, was ihnen gezeigt wurde, und stellten mit Genugtuung Vergleiche an. In der Bibliothek konnte Verena darauf hinweisen, daß ihr Onkel Croft-Ellis ebenfalls eine Serie Holzschnitte von Bewick besaß, nur vielleicht ein wenig umfassender, und im Frühstückszimmer fühlte sich Lady Plackett an die Gobelinbezüge der Stühle erinnert, die ihre Großmutter gestickt hatte, als sie als junge Braut nach Rutland gekommen war.

«Sicherlich nicht besser als diese hier, meine liebe Miss Somerville, obwohl die Herzogin fragte, ob sie sie kopieren dürfte.»

Danach folgte ein Rundgang durch die Außenanlagen. Als sie den Rasen und die Brücke über den Graben überquerten, kamen sie an der Pforte zum ummauerten Garten vorbei, und Frances Somerville fragte, ob sie ihn zu sehen wünschten.

«Gern», antwortete Lady Plackett. «Er ist ja sehr bekannt, nicht wahr? Nun, wir haben in Rutland natürlich auch einen sehr berühmten Garten, wie Sie wahrscheinlich wissen.»

Frances widerstand dem Impuls zu sagen, einen Garten wie den ihren gäbe es nirgends, und sperrte die Pforte auf. Immer hätte sie am liebsten einen Finger auf die Lippen gelegt, wenn sie das tat, doch Verena und Lady Plackett hatten bereits mit lauten, schneidenden Stimmen begonnen, die Anlage des Gartens zu bewundern, wobei es Verena gelang, am Stamm eines Schneeballstrauchs ein Fleckchen Baumkrebs zu entdecken, das, wie sie meinte, Dr. Elke Sonderstrom interessieren könnte.

Dennoch konnte sie eine zunehmende Ungeduld nicht verbergen. «Ich darf nicht zu spät zum Unterricht kommen», sagte sie lachend. Die Vorstellung, daß Quin Somerville bereits mit den anderen zusammensein könnte, verdroß sie. Sie hatte fest vorgehabt, in seiner Begleitung aufzutreten, um ihren Sonderstatus als Gast des Hauses zu unterstreichen. «Ich muß gehen und meine Sachen holen.»

«Schön, aber dann gehen wir vorn herum», meinte Frances, die einer kleinen Morgenschau durch ihren Feldstecher nie widerstehen konnte.

Lady Placketts Begeisterung über den Blick von der Terrasse aufs Meer war höchst befriedigend; Verena jedoch, die gebeten hatte, Frances' Feldstecher einen Moment ausleihen zu dürfen, schien aus irgendeinem Grund verstimmt.

«Wie sonderbar», sagte sie, während sie ihren Blick auf zwei Gestalten richtete, die nebeneinander am Meeresrand standen. Die eine war Quin Somerville, der in einem marineblauen Pullover und Gummistiefeln ganz fremd wirkte. Die andere war eine junge Frau, barfuß, mit flatterndem Haar. «Wenn mich nicht alles täuscht», sagte sie zu ihrer Mutter, «hat es Miss Berger doch noch geschafft, sich an die Exkursion anzuhängen. Es würde mich sehr interessieren, wie sie das bewerkstelligt hat.»

Lady Plackett nahm ihr den Feldstecher aus der Hand. Sie hatte nicht so scharfe Augen wie ihre Tochter, aber auch sie erkannte Ruth. Sie wandte sich Frances zu. «Das ist wirklich unerfreulich», sagte sie. «Und ganz irregulär. Das Mädchen ist ein jüdischer Flüchtling. Sie scheint zu glauben, daß ihr alle möglichen Privilegien zustehen.»

«Ich möchte sie natürlich keinesfalls schlechtmachen», bemerkte Verena, um Gerechtigkeit bemüht. «Sie arbeitet sehr hart. Sie bedient in einem Café in Nord-London.»

«Und es heißt, sie lockt die Gäste in Scharen an», warf Lady Plackest vielsagend ein.

Frances seufzte. Sie nahm ihren Feldstecher wieder an sich, aber sie setzte ihn nicht an die Augen. Wenn es etwas gab, das sie so früh am Morgen nicht betrachten wollte, so war es eine jüdische Kellnerin am Strand von Bowmont.

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