Kapitel 10

Ernst Dahlmann hielt sich nicht lange mit Warten auf. Nach zwei Tagen Apothekendienst und zwei Nächten ohne Schlaf in den Armen Monikas fuhr er zu Dr. Fritz Kutscher, seinem Rechtsanwalt. Er hatte sich telefonisch angemeldet und wurde sofort in das Privatbüro geführt. Dr. Kutscher hatte eine umfangreiche Praxis ... er galt als Experte in Steuersachen, hatte daher einige sehr wohlhabende und in Hannover bekannte Klienten, aber er war auch ein Fachmann in allen kniffeligen Situationen, die der Alltag nur allzuoft schafft und aus denen man nur mit viel Logik und noch mehr Raffinesse herauskommt. Hier wirkte ein Ratschlag Dr. Kutschers immer erlösend. Wenn andere die Nerven verloren, wurde er ruhig und von einer ausgedörrten Trockenheit, die mit juristischer Nüchternheit schon nichts mehr gemeinsam hatte. Um so mehr war es verwunderlich, was man sich unter der Hand von ihm erzählte. Mit seinen vierundvierzig Jahren und seiner mittelgroßen, etwas rundlichen Figur, seinem Alltagsgesicht und seinen gar nicht charmanten Manieren sollte er ein großer Lebemann sein ... eine andere Seite seines Lebens, die es ihm erlaubte, für alle menschlichen Schwächen aufgeschlossen und zu Ratschlägen bereit zu sein.

»Was gibt's, lieber Dahlmann?« sagte Dr. Kutscher merkwürdig jovial. »Ihre Frau ist in Montreux?«

»Woher wissen Sie das?«

»Von unserem lieben Dr. Ronnefeld. Ich hatte heute morgen einen Brummschädel und ließ mir etwas dagegen verschreiben. Auch wenn Sie den guten Onkel Doktor hinausgeekelt haben, nimmt er am Dahlmannschen Familienleben aus der Ferne teil -«

»Ein lästiger Kerl!« sagte Dahlmann aus tiefer Brust.

»Das ist relativ. Was Sie als lästig empfinden, nennen andere Sorge um die Patienten. Na, wie ist's, so als Strohwitwer?«

Dahlmann setzte sich und nahm aus der hingeschobenen Kiste eine Zigarre. Es war eine lange, dünne Virginia. Dr. Kutscher liebte sie, obwohl sie aus der Mode gekommen waren. Er rauchte sie seit seiner Studentenzeit in New York, gewissermaßen als Erinnerung an die zwei Semester in den USA, von denen er sagte, daß er in ihnen zwar keine Juristerei, aber die Erkenntnis gelernt habe, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Dr. Kutscher unterbrach nicht die Stille, die herrschte, während Dahlmann den Strohhalm aus der Virginiazigarre zog und sie anbrannte. In diesem Falle hatte Dr. Kutscher sich die alte Weisheit der Irrenärzte zu eigen gemacht: Nichts sagen ... die Kranken reden von allein. Und dann reden lassen, ohne zu unterbrechen ... wer einmal redet, sagt mehr, als hundert Fragen herauslocken können.

»Ich komme mit einem Problem zu Ihnen, Doktor«, sagte Dahlmann endlich. Dr. Kutscher nickte.

»Mir ist klar, daß Sie bei mir keine Erdbeeren kaufen wollen.«

»Es geht um die Apotheke.« Dahlmann sah auf, aber Dr. Kutscher verschanzte sich hinter sein Schweigen. Rede nur, dachte er. Ernst Dahlmann atmete tief und rauchte hastig ein paar Züge. Das macht er nicht lange, dachte Dr. Kutscher hämisch. Als Student habe ich das auch getan ... ich hatte Mühe, auf den Lokus zu kommen und die Unterhose zu retten.

»Es geht um die Blindheit meiner Frau. Sie verstehen?«

Dr. Kutscher antwortete nicht, er nickte nur stumm. Dahlmann sprach hastig weiter.

»Es liegen nun genug Expertisen vor, daß sie das Augenlicht nicht wiedererhalten wird. Das ist eine ungeheure Tragik, mit der wir uns abfinden müssen. Aber diese Endgültigkeit zieht Probleme nach sich. Da ist zunächst das Testament meines Schwiegervaters. Er hatte zwei Töchter, Luise, meine Frau, die ja, wie Sie wissen, Apothekerin ist, und Monika, meine Schwägerin, die in Hamburg wohnte und seit dem Unfall wieder bei uns im Hause ist. Monika Horten bekam eine Abfindung aus der Erbmasse und eine Lebensrente von monatlich 500 Mark, die aus den Einnahmen der Apotheke zu bezahlen ist. Luise, meine Frau, erbte die Apotheke und den Grundbesitz, allerdings mit der strengen Maßgabe einer Gütertrennung. Mit anderen Worten: Alles gehört Luise . und nun ist sie blind! Ich war bisher gewissermaßen der Angestellte meiner Frau mit dem vollen Familienanschluß, den das Gesetz einem Ehemann zubilligt.

Mehr nicht! Ich hatte die Nutznießung von Apotheke und Einkommen ... aber kein Handlungsrecht. Alle Schecks muß meine Frau unterschreiben, alle Maßnahmen, die die Apotheke betreffen, muß meine Frau entscheiden. Ich habe nur das sogenannte >kleine Zeichnungsrechts das Unterschreiben von Quittungen. Mit anderen Worten: Ich bin bis heute ein ehelicher Kommis, ein erbärmlicher Apothekenpikkolo, dank der Fürsorge meines Schwiegervaters. Was ist da zu machen?«

»Nichts«, sagte Dr. Kutscher trocken. Dahlmann zog hastig an der starken, gebogenen Virginia. Dr. Kutscher sah seinen Besucher kritisch an. Noch keine Wirkung, dachte er. Der Kerl muß einen Darm aus Leder haben.

»Nichts? Das sagt ein Anwalt? Von solchen Ratschlägen können Sie nicht leben!«

»Auch das Abhalten von Dummheiten wird hoch honoriert. Wenn einer zu mir kommt und sagt: >Mein Lieber, ich habe eine Witwe kennengelernt, die hat 500.000 Mark Vermögen, aber sie sieht aus wie eine Vogelscheuche, und ich habe mich entschlossen, sie deshalb nicht zu heiraten<... dann werde ich immer sagen: >Mein Freund, stecken Sie den Kopf unter kaltes Wasser, werden Sie nüchtern, heiraten Sie - 500.000 Mark sind genug, um auch zu einer Vogelscheuche morgens, mittags und abends sagen zu können: Mein Liebling - du siehst bezaubernd aus!< Und dann kassiere ich von dem Glücklichen zehn Prozent! Ihnen, mein lieber Dahlmann, kann ich nur sagen: Nein!«

»Sie erkennen meine Lage nicht, Doktor!«

»Doch. Sehr genau! Wie schmeckt Ihnen die Virginia?«

»Gut.« Dahlmann sah konsterniert auf die glimmende Zigarre. »Warum?«

»Ach, nur so.« Dr. Kutscher schüttelte den Kopf. »Sie sollten mal zu einem Darmspezialisten gehen -«

»Lassen Sie diese Blödeleien, Doktor!« Dahlmann war ernsthaft unruhig und böse. »Ich komme hier mit einem Problem über Sein oder Nichtsein zu Ihnen -« »Hamlet -«

»Wie bitte?«

»Sein oder Nichtsein ... ist aus Hamlet! Im Urtext habe ich auf der Penne dafür eine Fünf bekommen! Werde das nie vergessen -«

Dahlmann erhob sich schroff. »Guten Tag, Doktor. Ich sehe, daß Ihnen heute aller Ernst mangelt, den ein Anwalt haben sollte -«

»Sie sind ein schrecklich witzloser Mensch, Dahlmann. Und ich habe Sie bisher immer als einen charmanten Plauderer alter Wiener Schule angesehen. Wo ist das geblieben? In Ihrem Alter kann doch unmöglich ein Verkalkungsprozeß die charmante Seele eingemauert haben.« Dr. Kutscher hob beide Hände, als Dahlmann antworten wollte. »Nein! Schimpfen Sie nicht von neuem los! Ich erkenne Ihre Not zu genau! Sie wollen los aus der posthumen Fessel Ihres seligen Schwiegerpapas. Sie wollen Ich sein, der Ernst Dahlmann mit eigener Apotheke und einer Frau Luise, und nicht der Apotheker Dahlmann in der Apotheke seiner Frau Luise. Stimmt's?«

»Genau, Doktor. Jetzt fällt der Groschen.«

»Aber der Automat spuckt keine Lösung aus, mein Bester. Sie können dieses Testament nicht anfechten!«

»Das weiß ich. Aber die Blindheit meiner Frau macht sie doch weitgehend, wenn nicht überhaupt, geschäftsunfähig, nicht wahr?«

Nun war es heraus. Dahlmann atmete auf und sah Dr. Kutscher von der Seite fragend an. Der Anwalt zeigte keinerlei Regungen. Wer in solchen Fällen offensichtliche Teilnahme vorweist, verliert den Schein der völligen Objektivität. Aha, dachte Dr. Kutscher nur. So läuft das also. Du bist ein geriebener Bursche, mein Lieber. Aus der unheilbaren Krankheit deiner Frau willst du Kapital schlagen. Ein schönes Früchtchen bist du. Dazu bist du aber auch mein Klient, und meine Klienten haben immer recht, das ist nun mal so in unserem Beruf. Wir leben größtenteils davon, die Falschen zu verteidigen und schwarze Wäsche in Weiß umzufärben.

»Wie wollen Sie das anstellen?« fragte Dr. Kutscher fast gleichgültig.

»Darum komme ich ja zu Ihnen, Doktor!«

»Wie ich richtig vermute, soll das aber alles geschehen, ohne daß

Ihre Frau merkt, daß sie entmachtet wird.«

»Ja.«

»Sehen Sie, und da wird es utopisch. Man kann keinen in den Hintern treten, ohne daß er es merkt. Erklären wir Ihre Gattin aufgrund ihrer Blindheit, die zudem noch als endgültig bescheinigt werden muß, für nicht mehr geschäftsfähig, dann merkt sie, wie der Hase läuft. Noch schlimmer ist es, wenn Sie daran denken, sie entmündigen zu lassen ... denn dann müßten wir ihr nachweisen, daß sie neben der Blindheit noch bösartig oder wahnsinnig oder trübsinnig oder verschwenderisch ist, alles Dinge, die ausschalten und einen Riesenskandal entfesseln. Was bleibt, ist eine gütige Einigung zwischen Eheleuten.«

»Das ist unmöglich. Alle Versuche in dieser Richtung schlugen bisher fehl. Sosehr meine Frau und ich miteinander verbunden sind und wir uns lieben ... beim Letzten Willen ihres Vaters hört es auf. Ja, sie sagt sogar: >Wir sollten ein Kind haben ... dann würde ja alles ihm gehören, wie es Vater gewollt hat.<«

»Na und? Warum beweisen Sie nicht väterliche Qualitäten?!«

»Ich bin der Ansicht, daß wir über dieses Alter hinaus sind, noch ein Kind großzuziehen.«

»Dummheit, mein Lieber. Ich habe einen Klienten, der ist mit 78 Jahren noch unehelicher Vater geworden! Machen Sie doch aus sich keinen biologischen Zwerg!«

»Es ist schwer, Ihnen ohne Ausfälle zuzuhören«, seufzte Dahlmann. »Denken Sie doch mal real: Welche Möglichkeiten schließen sich auf, durch die Blindheit meiner Frau die Geschäftsführung an mich zu übertragen?!«

»Eine Einsicht Ihrer Gattin, weiter nichts. Ich werde mit ihr sprechen, wenn sie aus Montreux zurückkommt. Ich werde auf sie einsprechen wie der Verführer auf eine Jungfrau. Vielleicht sieht sie es ein.«

»Und wenn nicht?«

»Dann heißt es weitermachen wie bisher . oder es kommt zu unschönen Szenen, an denen die eheliche Gemeinschaft scheitern kann.«

»Was halten Sie von einer Einweisung in ein Sanatorium?«

Dr. Kutscher zog die Augenbrauen hoch, die einzige Regung auf diesen Vorschlag. Du bist mir ja ein glatter Lump, dachte er. Ein aalglatter Scheißkerl, der über Leichen geht. Das hätte ich nicht von dir gedacht ... aber so ist es: Hinter den schönen Fassaden stinkt es oft nach Kloake.

»Wenn Sie nachweisen', daß Ihre Gattin einen Nervenknack hat ... daß sie, sagen wir, manisch-depressiv ist oder unter schizophrenen Komplexen leidet, unter Halluzinationen, unter Psychosen ... aber das dürfte schwer sein, mein Bester. Soviel ich Ihre Gattin kenne, ist sie kerngesund ... bis auf das verlorene Augenlicht.« Dr. Kutscher hob die Schultern. »Wie gesagt... ich komme auf mein erstes Wort zurück, das Nein lautete. Ich weiß Ihnen da keinen Rat zu geben. Der Vorteil ist, daß ich deshalb auch kein Honorar verlange -«

»Und wenn ich nachweisen kann, daß meine Frau psychisch nicht mehr gesund ist?« fragte Dahlmann heiser. Dr. Kutscher sah ihn mit großen Augen, ehrlich verblüfft an.

»Ja ... dann - aber ich weiß nicht, wie Sie -«

»Warten Sie ab, Doktor.« Dahlmann legte die halbgerauchte Virginia in den großen Aschenbecher und erhob sich wie erlöst. »Machen Sie sich schon Gedanken darüber, was in einem solchen Falle zu tun ist. In zwei Monaten etwa kommt meine Frau zurück ... ich nehme an, daß Ende des Jahres die ersten Anträge gestellt werden können -«

Dr. Kutscher verzichtete darauf, seinen Klienten Dahlmann bis an die Tür seines Büros zu bringen, wie er es sonst mit allen seinen Klienten tat. Er blieb sitzen und kratzte sich das Kinn.

Welch eine Sauerei hat er da vor, dachte er. Verdammt, man sollte die Frau vor ihm warnen. Aber die Schweigepflicht verbietet das. Ich kann dieses Mandat nur ablehnen ... und, lieber Fritz Kutscher, du wirst dir das auch genau überlegen.

Um die Ecke der Straße, in der die Praxis Dr. Kutschers lag, kaufte Dahlmann in einem Blumenladen einen neuen Strauß.

Es waren diesmal blasse rosa Rosen. Langstielig und ohne Dornen.

»Es müssen zweiunddreißig Stück sein«, sagte er.

Sie kosteten 76,80 Mark, das Stück zu 2,40 Mark.

Es war eine Ausgabe, die sich Dahlmann zweimal wöchentlich leisten wollte.

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