Die Tage in Montreux waren ausgefüllt mit Spaziergängen oder Dampferfahrten über den Genfer See. Fräulein Pleschke erlebte zum erstenmal die große Welt, die Atmosphäre eines Luxushotels, das für den Neuling erregende Fluidum des Geldes. Für sie war diese Reise eine Fahrt durch Märchen und Wunder ... für Luise waren es Tage des Wartens und Hoffens, weiter nichts. Zwar spürte sie den Wind, wenn sie oben auf dem Sonnendeck der Schiffe saß und über den See glitt, sie hörte das Rauschen des Wassers am Schiffsrumpf, die Erklärungen des Fremdenführers in drei Sprachen, der über Lautsprecher die Sehenswürdigkeiten an den Ufern schilderte. Es war ihr nichts Neues, sie kannte Montreux von früher her, aus einer Zeit, als sie als junges Mädchen über die Uferpromenade schlenderte und die jungen Männer vor sich hinpfiffen und stehenblieben, um ihr nachzublicken.
Das alles lag weit zurück. Für Luise war Montreux jetzt nur noch eine große Wartehalle, ein Ort der stillen Hoffnung. Wird Professor Siri aus Bologna zusagen, wird er operieren, wird er überhaupt erst einmal untersuchen, ob es sich lohnt, das neue Wagnis einzugehen?
Um Ruhe zu haben, blieb Luise meistens auf ihrem Zimmer, saß auf dem großen Balkon unter einem Sonnenschirm und spielte sich auf dem mitgenommenen Tonbandgerät Opern und Sinfonien vor, ab und zu auch einmal Tanzmusik, wenn die ernste Musik ihr hoff-nungsbanges Herz zu sehr belastete.
Jeden dritten Tag kam ein Brief aus Hannover von Ernst Dahlmann. Er schickte jedesmal eine kleine Tonbandrolle, auf die er seine Grüße sprach. Luise brauchte zum Auflegen dieser Bänder keine Hilfe mehr, sie hatte jeden Handgriff im Gefühl.
»Uns geht es allen gut -«, sprach Ernst Dahlmann auf seinem letzten Tonband mit ruhiger Stimme. »Moni hat ihre Plakatentwürfe verkauft und ist glücklich, wie es ein Künstler sein kann, wenn seine Arbeit Erfolg zeigt. Die Apotheke läuft wie immer gut. Mach dir also um nichts Sorgen, erhole dich, genieße die Sonne und die reine Luft und denke immer daran, daß ich dich liebe -«
An einem Morgen - Luise stand an der offenen Fenstertür zum Balkon und ließ den warmen Wind vom See über ihre Stirn streichen, Fräulein Pleschke war unterwegs, die neuesten Zeitungen zu holen, um sie dann vorzulesen - klopfte es, und das Zimmermädchen trat ein. Auf einem silbernen Tablett brachte es einen dünnen Umschlag.
»Für Sie, Madame«, sagte das Mädchen und knickste, obwohl sie wußte, daß es Madame nicht sehen konnte.
»Was ist es?«
»Ein Telegramm, Madame.«
»Ein -« Durch den Körper Luises fuhr es wie ein elektrischer Schlag. »Bitte, geben Sie es mir ... bitte.«
Sie streckte die Hand aus, das Mädchen drückte ihr das Kuvert in die Finger, Luise riß es auf und entfaltete mit einem plötzlichen Zittern das Formular. Ein Telegramm, dachte sie. Ihre Fingerspitzen glitten über das Papier. Sie spürte die aufgeklebten Telegrammstreifen und tastete sie ab. Fünf Zeilen . ein langes Telegramm.
Es ist eine Absage, dachte sie und lehnte sich an den Türrahmen. Für eine Zusage braucht man keine fünf Zeilen. Es war, als zerbräche etwas in ihr. Eine lähmende Schwäche kroch in ihr hoch und legte sich auf das Herz. Das Atmen wurde schwer, die Kehle trocknete aus, sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Mit letzter Kraft hob sie den Arm und hielt das Papier dem Mädchen entgegen.
»Bitte, lesen Sie mir das Telegramm vor -«, sagte sie tonlos. »Es ist doch aus Bologna, nicht wahr ... von einem Professor Siri -?«
Das Zimmermädchen sah auf das Formular und nickte.
»Ja«, sagte es.
»Bitte lesen Sie.«
Das Zimmermädchen überflog den Text. Er war in deutscher Sprache, und das deutsche Sprechen fiel ihm leichter als das Lesen. Dann las es laut vor:
»Untersuchung am 23. möglich stop prof, siri erwartet sie gegen elf uhr stop es ist mit einem klinikaufenthalt von mindestens drei wochen zu rechnen stop erwarten nachricht ob termin angenehm stop
clinica st. anna, bologna«
Luise wandte den Kopf ab und trat einen Schritt hinaus auf den Balkon. Über ihr Gesicht zuckte es. Es kostete sie Mühe, aufrecht zu stehen und nicht mit einem Schrei die Arme hoch emporzuwerfen und vor Glück und Befreiung zu weinen.
»Wann ... wann ist der 23.?« fragte sie leise.
»In drei Tagen, Madame.«
»Danke.«
Das Zimmermädchen legte das Telegramm auf das silberne Tablett zurück.
»Kann ich gehen, Madame?«
»Ja. Und haben Sie herzlichen Dank.«
»O bitte, Madame.«
Als Fräulein Pleschke vom Zeitungskauf zurückkam und empört berichtete, daß ein junger Mann, sicherlich ein Italiener, sie auf der Promenade mit den Worten angesprochen habe: »Hallo, signorina ... amore gutt?«, hatte sich Luise schon so weit beruhigt, daß sie den Plan, den sie in all den Tagen immer wieder durchdacht hatte, Schritt für Schritt durchzuführen bereit war.
»Wir werden verreisen, Erna«, sagte Luise in den Wortschwall Fräulein Pleschkes hinein.
»Verreisen?«
»Nach Bologna.«
»Nach Italien? Ich habe im Augenblick gerade genug von den Italienern.«
»Lesen Sie bitte das Telegramm. Es muß dort auf dem Tisch liegen -«
Fräulein Pleschke las die Nachricht aus Bologna und sah Luise Dahlmann erschrocken an.
»Soll das heißen, daß Sie sich wieder operieren lassen?« fragte sie fast entsetzt.
»Ja.«
»Heimlich?«
»Ja. Darum haben wir jetzt viel zu besprechen, Erna. Ich muß Sie zu meiner Mitverschworenen machen. Sie wissen, daß mein Mann keine neue Operation mehr will, um mir die Belastung zwischen Hoffnung und Mißlingen zu ersparen. Darum will ich jetzt allein die letzte Möglichkeit versuchen, aber wirklich die letzte. Noch einmal, das weiß ich, halte ich es nicht aus. Professor Siri in Bologna ist meine letzte Station. Mißlingt die Operation auch, so soll mein Mann nie davon erfahren ... gelingt sie, so soll es die große Überraschung werden. Sie müssen ab sofort über alles schweigen, Sie müssen mitspielen, Erna -«
»Ja -«, sagte Fräulein Pleschke leise und erschüttert. »Aber Ihr Mann wird doch wissen wollen, wie es Ihnen hier in Montreux geht, und ich -«
»Sie werden mich nach Bologna bringen und dann zurückfahren nach Montreux. Jeden dritten Tag schicken Sie ein Tonband ab. Ich werde sie vorsprechen und Sie werden sie unauffällig numerieren, damit sie nicht durcheinanderkommen. Die Tonbänder meines Mannes schicken Sie mir weiter nach Bologna.«
»Und wenn er anruft?«
»Das hat er noch nie getan. In dieser Hinsicht ist er sparsam. Was er wissen will, hört er ja vom Band. Und wenn er wirklich anruft ... ich bin beim Friseur oder beim Arzt ... es wird Ihnen schon etwas einfallen.« Luise griff nach Erna Pleschkes Hand und hielt sie fest. »Wir sind jetzt zwei Verschwörer, Erna.«, sagte sie eindringlich. »Und ich bin auf Ihr Schweigen angewiesen, auf Ihr Mitspielen -«
Fräulein Pleschke legte die andere Hand beruhigend auf die bebenden Finger Luises. »Sie wissen -«, sagte sie mit zitternder Stimme, »daß ich alles für Sie tue. Ich - ich habe solche Angst, daß es wieder vergeblich sein könnte.«
»Daran wollen wir nicht denken, Erna. In drei Tagen müssen wir in Bologna sein . bis dahin haben wir noch viel zu tun . wir müssen mindestens vier Wochen vorarbeiten.«