Der dicke Faber saß gemütlich und umweht von starkem Kaf-feedunst an seinem Tisch und frühstückte drei gekochte Eier.
»Ja, wer kommt denn da?« rief er und schien ausgesprochen beglückt. »Unser Rippenbruchträger! Sagen Sie mal - weiß der Arzt, daß Sie herumspazieren?«
»Nein.«
»Dachte ich mir's doch! Was treibt Sie hinaus ins feindliche Leben und vor allem zu mir?«
»Eine dumme Sache. Als man mich aus dem Wagen zog, sind aus meiner Brieftasche zwei Blankoschecks verschwunden.«
»Diebstahldezernat Zimmer 376-379, Kommissar Ernst Lachner. Übrigens hat der Mann den falschen Namen, denn er hat wirklich nichts zu lachen.«
»Ich habe die Schecks schon sperren lassen. Ich möchte nur feststellen lassen, wie sie verschwinden konnten. Vielleicht hat einer der Polizisten, die damals Straßendienst hatten, die Schecks, als sie aus der Tasche fielen, an sich genommen und dann vergessen.«
»Möglich. Auch Uniformträger sind nur Menschen.« Der dicke Faber lachte über diesen faden Aphorismus. »Ich werde mal den Kollegen vom Außendienst fragen und nachforschen lassen, wer die Knaben an diesem Tage waren.«
»Danke, Herr Kommissar -«
Dahlmann wandte sich ab und ging. Aber an der Tür, wie bei Dr. Kutscher, wurde er wieder von einem Zuruf festgehalten. Der dicke Faber klopfte dabei ein Ei auf und sah Dahlmann gar nicht an.
»Es wird Sie vielleicht interessieren . wir werden morgen zu einer Neuauflage des Arbeitsdienstes - wir legen ein Moor trocken.«
Durch Dahlmann zog eine glühende Welle. Es war Angst, unerträgliche, das Hirn wegtrocknende Angst.
»Moor -«, sagte er heiser.
»Ja.« Der dicke Faber roch an dem aufgeklopften Ei. Eier mit einem Fischgeschmack mochte er nicht, und ab und zu war eins dabei; dann hatte man die Hühner mit Fischmehl gefüttert. »Da ist ein versoffenes Loch in dem Nest Hetzwege. Onno Lütje heißt er. Der hat in der Nacht zwei riesige Teufelsaugen im Moor gesehen.
Sagen Sie selbst ... gibt es Teufel?! Ich ahne, daß es Scheinwerfer waren, von einem Auto. Was aber macht ein Auto nachts mitten im Moor?« Faber seufzte laut. »Wir müssen es auf uns nehmen, das Moorstück mit Stangen abzusuchen oder gar trockenzulegen. Eine schöne Sauarbeit -«
Dahlmann nickte. Die Kehle war ihm zugeschnürt, der Gaumen brannte, als habe er Pfeffer gegessen. Angst ... flammende Angst.
Auf der Straße war es ihm, als starrten ihn alle Leute an. Er ging langsam, kerzengerade, mit einer unwahrscheinlichen inneren Kraft zum Taxi zurück, das er hatte warten lassen. Erst als die Tür hinter ihm zufiel, wich die Haltung, er lehnte sich erschlafft zurück und schloß die Augen.
Vorbei, dachte er. Nun ist es vorbei. Nun bleibt mir nicht einmal mehr ein Tag. Jetzt muß die Entscheidung fallen. Jetzt, in wenigen Minuten.
»Zur Mohren-Apotheke -«, sagte er müde, nachdem sich der Fahrer dreimal fragend geräuspert hatte. »In der -«
»Kenn' ich, die Apotheke -«
Dahlmann nickte. Der Wagen ruckte an, fädelte sich in den Verkehr ein. Dahlmann sah auf die Uhr.
Jetzt haben sie im Krankenhaus längst gemerkt, daß der Patient mit den Rippenbrüchen fehlt. Der Stationsarzt ist in heller Aufregung, der Chefarzt tobt. Sie werden zu Hause angerufen haben. Wäre alles wie nach Plan gegangen, säße er jetzt schon in dem Zug nach Zürich, und mit dem Vorbeifliegen der Landschaft wäre auch seine Vergangenheit verflogen. Mit jedem Meter hätte er sich aus der Gegenwart entfernt und wäre der Zukunft entgegengebraust.
Es bleibt mir jetzt keine Zeit, dachte er immer wieder. Ich muß jetzt um die Minuten rennen.
Es fehlt nur eine kleine Unterschrift.
»r.
Luise Dahlmann erwartete ihren Mann in der Blumenecke des Wohnzimmers. Sie hatte ein dickes Buch mit Blindenschrift vor sich liegen und tastete die Punkte ab. Als die Tür des Zimmers leise klappte, hob sie den Kopf und lauschte. »Ist da jemand?« fragte sie. Dahlmann lehnte sich an die Wand. Seine Rippen stachen; er mußte durch den Lauf über die Treppen und die innere Erregung schneller atmen, und jeder Atemzug war wie das Eintreiben eines Nagels in seinen Brustkorb. »Wer ist denn da?« fragte Luise noch einmal, obwohl sie wußte, wer im Zimmer stand. »Ich ... Luiserl.«, sagte Dahlmann heiser. »Ernst?« Luises Kopf hob sich wie in stolzer Abwehr. »Was willst du hier? Du mußt doch noch im Krankenhaus liegen, denke ich?!« »Freust du dich gar nicht, daß ich gekommen bin?« Dahlmann kam langsam näher. Er schwamm wieder auf der weichen Welle. Er beherrschte sie vorzüglich. Wenn er mit halber, zärtlicher und etwas sonorer Stimme sprach, gab es kein Mädchen- und Frauenherz, das nicht in diesem Wohlklang aufblühte. »Ich habe es im Krankenhaus einfach nicht ausgehalten, Luiserl. Du weißt, ich kann nicht im Bett liegen, solange ich noch herumkrabbeln kann.« Er stockte und gab seiner Stimme einen tieftraurigen Klang. »Und außerdem hast du mich nie besucht . ich konnte es einfach nicht mehr ertragen ohne dich -« Luise schwieg. Dahlmanns Heuchelei widerte sie an. Sie lauschte angestrengt ins Zimmer, ob er noch näher kommen würde. Sie spürte eine unbestimmbare Gefahr . ein Gefühl, das sie so stark noch nie gehabt hatte, wenn ihr Mann im Raum war. Nebenan ist das Hausmädchen, dachte sie. In einer halben Stunde kommt Fräulein Pleschke, in einer Stunde Dr. Kutscher . wenn ich schreie, hört es das Mädchen, und wenn ich aus dem Fenster schreie, hören sie es in der Apotheke und auf der Straße. Das beruhigte sie etwas, die durch den Puls jagende Angst ließ nach . sie legte beide Hände auf das dicke Buch mit der Blindenschrift und wandte das Gesicht voll Dahlmann zu. »Du warst bei Dr. Kutscher?« »Ja. Er hat dich angerufen?« »Natürlich.« »Du hast die Konten sperren lassen?« »Ja.« »Warum?« »Was wolltest du auf der Bank?« »Einen Scheck einlösen.« Sie neigte den Kopf erstaunt zur Seite. Er lügt nicht, dachte sie verblüfft. Er sagt es freiheraus. »Du hattest einen Scheck?« »Ja. Von dir vor längerer Zeit unterschrieben. Ich brauchte ihn damals nicht, ich nahm das Geld aus der Tageskasse. Und nun, aus dem Krankenhaus entlaufen, wollte ich dir ein Geschenk mitbringen. Ich gehe zur Bank und erlebe die große Erniedrigung, daß man mir, dem Ehemann, den Scheck nicht abnimmt. Ich stand da wie ein begossener Pudel -« Schwein! dachte Luise. Die Schecks liegen in einem kleinen Lederbeutel auf meiner Brust. Du lügst so elegant wie immer ... mein Gott, wie wäre mein Leben geworden, wenn ich blind geblieben wäre?! »Das tut mir leid.«, sagte sie abweisend. »Warum hast du die Konten sperren lassen?« »Auf den Rat von Dr. Kutscher.« »Dr. Kutscher sagt, daß du ihn gestern noch spät am Abend angerufen hast, um den Auftrag zu geben. Wer lügt nun? Mein Gott . warum belügt ihr mich denn?!« »Laß bitte Gott aus dem Spiel!« »Dann also in drei Teufels Namen: Warum?!« rief Dahlmann. »Du behandelst mich schlimmer als einen räudigen Hund . und ich habe dir immer nur Liebe entgegengebracht, ich habe dich umsorgt, dir jeden Wunsch erfüllt.« Er lehnte sich schwer atmend an das Büfett und preßte beide Hände gegen die bandagierte Brust. Er bekam keinen Atem mehr, es war, als steckten die Rippenstücke in seiner Lunge. Luise lauschte angestrengt. Er kommt nicht näher, dachte sie. Er steht am Büfett . was gäbe ich jetzt darum, die Brille und die Haftschalen abnehmen zu können und ihn anzusehen, diesen Menschen, dessen Namen ich trage und den ich so wie nichts auf der Welt hassen lernte. »Du brauchst einen Scheck?« fragte sie. Dahlmann wurde von dieser Frage völlig überrascht. »Ja.«, stammelte er. »Wofür?« »Wechsel sind fällig. Lieferantenrechnungen ... sechstausend Mark für die Handwerker im neuen Haus -« »In einer Stunde ist Dr. Kutscher hier. Er wird die Schecks ausstellen.« Dahlmann spürte ein Kribbeln in seinen Händen. Zum erstenmal spürte er wirklich den übermächtigen Drang, Luise zu töten, zu erwürgen . alle Hemmungen, die er bisher gekannt hatte, alle Feigheit, alles Zurückschrecken vor Taten der eigenen Hände fielen von ihm ab. »Du behandelst mich wie einen unmündigen Jungen.«, sagte er dumpf. Seine Stimme war dunkel geworden, ein Klang, den Luise noch nicht an ihr kannte und der sie erschreckte. Sie stand auf und trat an das Fenster, um hinausschreien zu können, wenn er näher kam oder sie seinen Griff an sich fühlte. »Luiserl . soll eine glückliche Ehe so enden? Willst du wirklich für einen Schauspieler mich eintauschen? Waren wir nicht immer glücklich? Erinnere dich doch an die Jahre, die hinter uns liegen.« Luise wandte sich ab. Wie ekelhaft das alles ist, dachte sie. Wie schleimig und kriecherisch. Sie hörte, wie Dahlmann leise die Schubladen des Büfetts aufzog und suchte, wie er zu Luises Schreibsekretär schlich und auch dort in den Fächern wühlte. Ein triumphierendes Lächeln überzog Luises Gesicht. »Du suchst vergeblich. Alle Scheckbücher sind bereits bei Dr. Kutscher -« Dahlmann blieb mit gesenktem Kopf am Schreibsekretär stehen. Die letzte Hoffnung war gestorben ... das Auffinden eines Scheckbuches, auf dem er versuchen konnte, die Unterschrift Luises zu fälschen. Eine gefälschte Vollmacht, diesen Scheck ausgezahlt zu bekommen, war schnell geschrieben auf den Geschäftsbogen der Apotheke. »Dr. Kutscher kommt gleich«, sagte Luise ruhig. »Er wird alle fälligen Rechnungen, die du ihm vorlegst, bezahlen -« Es ist vorbei, dachte Dahlmann. Es ist endgültig vorbei. Jetzt bleibt mir nur ein letzter Weg. Erbe zu sein über ein Vermögen, dessen einziger Berechtigter ich bin. Monika ist nicht mehr da, keine anderen Verwandten . und Luise - Er schluckte und ging zu der kleinen Hausbar. Er spürte, wie weich er in den Knien war, wie grauenhaft ihn der Schauder vor den nächsten Minuten packte. Sie hat ein Testament gemacht, dachte er, als er die Kognakflasche herausholte. Und wenn sie es heimlich widerrufen hat . wenn niemand mehr übrig ist, erbt der Ehemann. Und wenn der Verbleib von Monika nicht zu klären ist . ich habe die lebenslängliche Nutznießung der Apotheke! Monika! Übermorgen sucht man das Moor ab. Ein Teufelskreis ist es, in dem ich stehe, dachte er mit würgendem Grauen. Ich kann nicht darauf hoffen, daß sie vergeblich suchen. Ich habe keine Zeit mehr. Er trank. Ein Glas, zwei, drei, vier Gläser, schnell hintereinander. Mut, dachte er. Ich muß Mut haben! Ich kann jetzt kein Feigling sein. Er trank das fünfte Glas ... das sechste ... er spürte, wie der Alkohol im Gehirn sich verbreitete, wie alles um ihn herum leichter wurde, wie seine Angst ertrank, wie das Schlechte in ihm, das er zu Hilfe rief, überhandnahm und die Hemmungen zur Seite drückte. »Was tust du?« fragte Luise, ratlos vor der plötzlichen Stille. »Bist du noch im Zimmer?« »Ja. Ich saufe.«, sagte Dahlmann grob. »Ich rette mich dahin, wo die Heimat aller betrogenen Ehemänner ist: Ich betrinke mich!« Nach dem siebten Glas stellte er die Flasche zurück in den Barschrank. Er war ganz ruhig geworden, von einer seltsamen Kälte. Er spürte keine Schmerzen mehr in der Brust, er empfand keine Angst mehr, er wurde geleitet von einem so klaren, nüchternen Verstand, als sei sein Hirn eine Elektronenanlage, die ohne Rücksicht auf Gefühle oder Skrupel die Schaltungen ausführte, wie sie von ihm gewünscht wurden. »Wir fahren zu Dr. Kutscher«, hörte er sich mit völlig klarer Stimme sagen. Luise drehte sich zu ihm um. »Wohin willst du mit mir?« »Zu Dr. Kutscher.« »Er kommt gleich hierher.« »Das ist zu spät. Ich habe dir nicht gesagt, daß ein Wechsel bis heute mittag eingelöst werden muß. Willst du die Blamage auf dich nehmen, daß ein Dahlmann-Wechsel zu Protest geht?« »Nein -« Dahlmann rannte aus dem Zimmer. Er holte den Mantel Luises, zog ihn ihr über und ergriff ihre Hand. Ihre Finger waren so eisig wie die seinen, von einer völligen Gefühllosigkeit. Luise zögerte. Ich müßte sehen können . jetzt müßte ich sehen können, dachte sie. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob er mich wieder belügt oder ob es Wahrheit ist. Aber das wird sich herausstellen, wenn wir bei Dr. Kutscher sind. Dort helfen ihm keine Lügen, dort muß er beweisen können. Sie gingen die Treppen hinunter, nahmen ein Taxi und fuhren. Aber Dahlmann ließ sie nicht zum Büro Dr. Kutschers fahren, sondern auf seine Anweisung, die er gab, als Luise schon eingestiegen war, umkreisten sie einige Häuserblocks, kehrten fast zur MohrenApotheke zurück und hielten vor dem halbfertigen Neubau. Vorsichtig, liebevoll wie immer half Dahlmann Luise aus dem Taxi, bezahlte und faßte dann seine Frau unter. Dabei blickte er an der Fassade empor. Sieben Stockwerke . Fenster an Fenster, noch nicht verglast, Türen, die auf Balkons führten, die gegenwärtig nur aus der Plattform bestanden, ohne Geländer oder irgendeinen Schutz. Ein stolzer Bau aus Beton und Glas würde es sein. Dahlmanns Hand war ganz ruhig, als er Luise eine Locke von der Stirn strich, die der Wind heruntergeweht hatte. Es war fast zärtlich, und ein paar Passanten, die an ihnen vorbeigingen, lächelten verständig. »Komm -«, sagte Dahlmann ganz ruhig. Er führte Luise in das Treppenhaus, blieb stehen und klopfte gegen eine angelehnte Tür. Luise neigte verwundert den Kopf. »Was ist denn?« »So ein Mist!« sagte Dahlmann. »Der Aufzug ist kaputt! Jetzt müssen wir die Treppen hinaufsteigen. Ich kann es dir nicht ersparen, Luiserl ... fünf Stockwerke, du weißt.« Er faßte sie wieder unter und stieg mit ihr die Betontreppen hinauf. Ihre Schritte hallten in dem leeren Bau, durch die offenen Fenster und Türen zog der Wind. Luise hob fröstelnd die Schultern. »Woher zieht es so?« »Jemand lüftet das Treppenhaus. Ist dir kalt, Liebes?« Er nahm seinen Schal aus dem Mantel und legte ihn Luise um den Hals. Was soll das alles, dachte sie ratlos. Warum ist er so fürsorglich. Warum plötzlich so anders als vorhin? Sie stiegen langsam die Treppen hinauf bis zum sechsten Stockwerk. Luise zählte die Stufen nicht ... ab und zu blieben sie stehen, verschnauften und stiegen dann weiter hinauf. Ihr Atem wurde kurz, Schweiß trat auf ihre Stirn. »Das ist ja endlos -«, sagte sie keuchend. »Wir sind gleich da ... noch ein paar Stufen. So ... da wären wir.« Dahlmann führte Luise in die leere Wohnung des sechsten Stockwerkes. Die Wände waren noch unverputzt, die Elektrokabel lagen schon in der Wand, Gipssäcke standen herum und zusammengefegte Schmutzhaufen. Ohne Zögern, als gingen sie über den Flur zu Dr. Kutschers Büro, führte Dahlmann seine Frau durch die Wohnung zu der offenen Balkontür. Dahinter lag die Plattform, und unter ihr die Tiefe, ungeschützt, zweiundzwanzig Meter Luft. Die Baumaschinen und Baubaracken sahen aus wie Spielzeugmodelle. »Es zieht -«, sagte Luise und blieb abrupt stehen. Dahlmann atmete tief auf. »Im Haus sind die Maler, Luiserl. Die haben die Fenster zum Teil ausgehängt. Noch fünf Schritte ... dann sind wir am Ziel -« Luise ging weiter ... den Kopf lauschend erhoben ... geradeaus ... auf das Türloch zu, auf die Plattform ohne Geländer, auf zweiundzwanzig Meter Tiefe. Zwei Schritte vor dem Abgrund blieb sie stehen. Dahlmann hatte sich von ihr gelöst, den Arm weggezogen, aber er war noch neben ihr, sie hörte seinen Atem und das Knirschen seiner Schritte. Da wehte sie eine Windbö an, als sie auf den Balkon trat. Ein pfeifender Luftstoß, der gegen ihr Gesicht prallte. »Wo bin ich denn?!« schrie sie plötzlich. Urmächtig überfiel sie die Erkenntnis, daß etwas Furchtbares mit ihr geschah. Es war wie eine Explosion in ihr, die sie mit frierendem Grauen überschüttete. Es gab kein Zurück mehr, kein Fragen, kein Zögern ... mit beiden Händen riß sie die schwarze Brille vom Gesicht und die Haftschalen von den Augen. Das grelle Licht war wie eine neue Explosion, wie damals, als der Kolben im Labor zerplatzte ... sie taumelte zurück, warf den Arm vor das Gesicht und versuchte, durch einen Spalt der Lider ihre Umgebung zu erkennen. Sie sah, überhell, vor sich die Weite des Nichts, eine Plattform aus rohem Beton und Dahlmanns Hand, die nach ihr griff und sie nach vorwärts drückte. »Mörder!« schrie sie grell. »Mörder! Hilfe!« Sie warf sich herum, schlug auf Dahlmann ein und umkrallte seine Hände, die erneut nach ihr griffen, mit einer stummen, schrecklichen Gewalt. Dahlmanns Gesicht war leer und bewegungslos. Er handelte wie eine Maschine, die die Aufgabe hat, zu stoßen und hinabzuwerfen. Ihr Aufschrei störte ihn nicht, es schien, als habe er ihn gar nicht gehört. Er faßte wieder zu, ergriff Luise an den Schultern und drängte sie hinaus auf die Plattform. »Mörder! Mörder!« schrie Luise und trat gegen seinen Leib. »Ich kann sehen ... ja, ich kann sehen! Ich kann seit Monaten sehen! Ich habe gesehen, was zwischen Monika und dir war, ich habe alle deine Gemeinheiten gesehen, ich habe dir die Blinde vorgespielt. Sieh mich an! Sieh mich an! Ich habe Augen wie du ... ich kann sehen!« Dahlmann lockerte den Griff. Er starrte in Luises klare Augen. Monika, dachte er, aber es war ein kaltes Denken. Sie hatte recht. Sie konnte immer schon sehen. Und alles, was ich Zufall nannte, war von ihr geplant. Und Monika starb sinnlos, völlig sinnlos... sie wußte ja schon alles. Dahlmann griff wieder zu. Seine stumme, dumpfe Mordlust war nicht mehr menschlich. Mit ungeheurer Kraft umschlang er den Körper Luises und hob ihn vom Boden weg. Zwei Schritte bis zum Abgrund . ich werde sie tragen, zum letztenmal. Auf den Händen werde ich dich tragen, habe ich gesagt, als wir heirateten. Sieh, nun tue ich es wirklich. »Du wirst das Gefühl eines Engels haben.«, sagte er plötzlich mit völlig ruhiger Stimme. Er biß sich auf die Lippen und hielt den Atem an. Ich bin wahnsinnig, dachte er. Wirklich, ich bin wahnsinnig. Ich bin verrückt geworden in diesen Minuten. Wie merkwürdig das ist . ich weiß, daß ich wahnsinnig bin. Er ließ Luise fallen, weil sie mit beiden Fäusten auf seine Nase schlug. Einen Augenblick war es dunkel um ihn, er fühlte, wie es feucht über seine Augen und über den Mund rann. Er leckte daran ... süßlich, warmes Blut. Kraft hat sie, Kraft... sie hat mich auf die Augen geschlagen, nun schwellen sie zu . aber erst wird sie fliegen . engelhaft. Er lachte und machte einen Schritt vorwärts. Es war ein Schritt ins Leere. Als er es merkte und sich zurückwerfen wollte, war es zu spät, der Körper kippte nach vorn, lag einen Augenblick waagerecht in der Luft, drehte sich dann im Fallen um sich selbst und bettete sich ein in einen tierischen, grellen Schrei. Luise schwankte zurück in die Wohnung. Sie hörte den Aufschlag nicht mehr, sie sah nicht, wie sich unten vor dem Neubau die Bauarbeiter um den zerschmetterten Körper drängten, wie eine Frau, vor der Dahlmann auf das Pflaster geprallt war, in Ohnmacht fiel ... sie wankte die Treppen hinunter, verließ das Haus durch die hinteren Gänge und angebauten Garagen und ging nach Hause. Sie saß unbeweglich, wie versteinert, in der Blumenecke, bis Dr. Kutscher kam. Sein Gesicht war noch blaß von den entsetzlichen Erlebnissen. »Ihr Mann -«, sagte er heiser. Luise hob die Hand. »Ich weiß. Ich . ich kann ja sehen. Doktor.« Erst da wurde sie bewußtlos, bevor Dr. Kutscher sie auffangen konnte. Der dicke Faber tat sehr erstaunt, als Dr. Kutscher ihn in seinem Amtszimmer besuchte, obwohl er längst auf den Besuch gewartet hatte. Er seufzte, als Dr. Kutscher mit der Höflichkeitsfloskel: »Na, wie geht's denn?« eintrat und hob den Blick an die Decke. »Wir Kriminalisten sind arme Schweine, Doktor«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee. Wie immer standen auf Fabers Schreibtisch eine große Thermosflasche und ein wahrer Topf von Tasse. »Gehetzt, geplagt, beschimpft . warum muß es so viele schlechte Menschen geben?!« Dr. Kutscher setzte sich und lächelte schwach. Er weiß genau, warum ich hier bin, dachte er. Und er klagt die Menschheit an. Er ist schon ein raffinierter Bursche, der dicke Faber. »Was sagen Sie zu dem Unfall?« fragte er. »Gräßlich, nicht wahr?« Kommissar Faber nickte und schraubte die Thermosflasche auf. »Fast zwei Promille Alkohol im Blut -« »Wer?« Dr. Kutscher hatte Mühe, nicht aufzuspringen. »Ernst Dahlmann. Den meinen Sie doch?! Die Obduktion hat ergeben, daß er volltrunken war. Soll man das nun als einen ungeheuren Glücksfall betrachten?« Dr. Kutscher legte die Hände gegeneinander. Er erkannte sofort die Möglichkeiten, die sich aus diesem Obduktionsbefund ergaben. Luise würde nie eine Schuld treffen ... selbst die Wahrheit, daß es Notwehr gewesen war, wurde uninteressant. Das offizielle Ergebnis war weit harmloser geworden. Kommissar Faber schüttete sich die Riesentasse erneut voll Kaffee. »Ihre Luise hat da einen dollen Dusel gehabt«, sagte er dabei. »Nicht wegen des Absturzes . auch so.« »Was soll das heißen: Auch so -« »Es wird keinen Skandal geben.« »Mit so etwas haben wir nie gerechnet -« Der dicke Faber lächelte gemein. Auch Dr. Kutscher lächelte zurück. Man kannte sich, man brauchte sich nichts vorzumachen. »Wenn es Sie interessiert.« Faber kramte in den Papieren auf dem Schreibtisch. »Im Konzept habe ich den Abschlußbericht schon fertig: Unfall durch Volltrunkenheit. Dahlmann wollte seinen Neubau besichtigen, trat auf den ungeschützten Balkon hinaus, verlor das Gleichgewicht oder wurde schwindelig und stürzte ab. Ein klarer Tatbestand, untermauert vom gerichtsmedizinischen Institut.« Der dicke Faber legte das Papier zur Seite. »Damit können wir auch die andere Sache einstellen.« »Was einstellen?« »Das Ermittlungsverfahren gegen Ernst Dahlmann wegen Mordes -« »Mord -« Dr. Kutscher sprang nun doch auf. Es riß ihn einfach vom Stuhl. Faber sah ihn plötzlich ernst an. Dann nickte er mehrmals und legte seine großen Hände um die heiße Tasse. »Sosehr es mich freut, auch Sie einmal sprachlos zu sehen, Doktor ... so bitterernst ist die Tatsache, daß Dahlmann ein Mörder war. Seit gestern wissen wir es. Wir haben die Leiche von Monika Horten gefunden.« »Wo? -« Die Stimme Dr. Kutschers war kaum hörbar. »Im Moor! Wir haben aufgrund einer Beobachtung eines besoffenen Moorbauern den Platz abgesucht, mit langen Stangen und Sonden. War eine Sauarbeit. Aber dann stießen wir auf den Körper. Er war in eine Decke eingewickelt.« »Und . und wie . hat Dahlmann sie.« Dr. Kutscher verschluckte das Wort getötet. Er war zu sehr erschüttert. »Durch eine Morphininjektion. Auch das ist ganz klar.« Der dicke Faber trank einen tiefen Schluck. »Durch den >Unfalltod< Dahlmanns können wir nun die Akten schließen. Es bleibt alles unter uns . das meinte ich damit, daß Luise Dahlmann in keinen Skandal verwickelt wird. Zu überdenken ist nur noch, wer ihr den Tod Monikas sagt.« »Das werde ich übernehmen«, sagte Dr. Kutscher leise. »Sie nehmen mir damit eine große Last ab, Doktor. Ich danke Ihnen.« Der dicke Faber lächelte wieder. Der Fall war für ihn damit abgeschlossen. Man konnte sich wieder dem angenehmeren Teil des Lebens zuwenden. »Sagen Sie mal, Doktor, wo kaufen Sie Ihre herrlich duftenden Zigarren ein?« Dr. Kutscher hatte in diesen Minuten keinen Sinn für Fabers Liebhabereien. Er war innerlich zu sehr mit dem Hause Dahlmann verbunden, als daß die Tragödie Luises für ihn nicht mehr bedeuten konnte als nur ein >Fall< unter anderen Fällen. »Hatten Sie Dahlmann schon immer unter Verdacht?« fragte er heiser. »Ja.« »Und warum unternahmen Sie nichts?« »Ich wollte ihn in Freiheit beobachten. Sie sehen, daß es besser so war . nun hat sich alles aufgelöst ohne großen Wirbel. Ich nehme an, daß Monika Horten in aller Stille beerdigt wird, wenn die Leiche freigegeben wird.« »Natürlich -« Dr. Kutscher schluckte. Ein Kloß saß ihm in der Kehle. »Ich begreife nur nicht, wie Dahlmann so etwas. Ich kenne ihn ja seit Jahren. Er war in Wirklichkeit ein Feigling.« »Vielleicht war das ein wirklicher Unfall.« Der dicke Faber sah wieder an die Decke. »Hat ein zu großes Quantum gespritzt, oder Monika reagierte auf das Morphin übersensibel. Für uns ist das nun gleichgültig . der Mörder ist selbst tot, die Akten werden geschlossen. Überhaupt, wie ist das nun: Ist Luise Dahlmann blind oder nicht?« »Sie kann sehen, muß aber blind sein.« Kommissar Faber starrte Dr. Kutscher mit gesenktem Kopf an. »Doktor, machen Sie mit mir keine faulen Witze.« »Luise Dahlmann war blind, wurde geheilt, spielte die Blinde, über-anstrengte damit ihre Augen und muß nun für eine bestimmte Zeit freiwillig wieder blind sein, damit sich die Sehnerven beruhigen -« »Und das soll ich Ihnen glauben?« »Es ist die Wahrheit.« »Wenn das in einem Roman stünde, würde man sagen: Der Autor hat seine Phantasie nicht im Zügel. Sie wollen mir also einreden, daß Luise Dahlmann die ganze Zeit über gesehen hat, während wir alle, einschließlich ihr Mann, glaubten, sie sei blind?« »Genauso ist es.« »Diese Frau muß Nerven wie Stahlseile haben!« rief der dicke Faber. »Leider nicht. Jetzt, wo alles überstanden ist, ist auch sie am Ende. Und wenn Sie fragen, wie sie das überhaupt durchgehalten hat ... es gibt darauf nur eine einzige Antwort: Die Kräfte einer Frau, aus deren Liebe Haß wurde, sind unbegreifbar. Gerade Sie im Morddezernat müssen es doch immer wieder sehen -« »Das stimmt.« Der dicke Faber seufzte. »Was aus so einer Rippe, die man uns klaute, alles werden kann -« Er stand auf und reckte sich. »So, und nun muß ich noch einen entlassen.« »Entlassen?« »Den jungen Dichterling Julius Salzer.« Dr. Kutscher wischte sich über die Augen. »Verzeihen Sie«, sagte er schwach. »Natürlich, der sitzt ja noch immer. Ich habe gestern einen Haftprüfungstermin beantragt . ich habe ihn ganz vergessen, diesen Salzer.« Der dicke Faber winkte ab. »Das nimmt er Ihnen gar nicht übel. Er fühlt sich wohl im Knast. Zum erstenmal seit zwei Jahren bekommt er drei Mahlzeiten am Tag, hat ein eigenes Zimmer, kann ungehindert dichten, niemand stört ihn, alle sind freundlich zu ihm .er wird enttäuscht sein, wieder hinaus ins feindliche Leben zu müssen. Der Junge ist tatsächlich zweihundert Jahre zu spät geboren worden. Er ist der letzte Frühromantiker.« Faber stellte seine Thermosflasche und die Riesentasse in das linke Schreibtischfach und schloß es ab, als verwahre er dort einen Schatz. »Kommen Sie mit, Doktor? Es wird nötig sein, den Jungen zu trösten . auch wegen Monika.« Dr. Kutscher nickte. Wie kann ich Luise das alles sagen, dachte er, als er hinter der wuchtigen Gestalt Fabers über den langen Flur des Präsidiums ging. Sie hat nicht mehr die Nerven und die Kraft, auch diesen letzten Schlag noch hinzunehmen - Das Begräbnis Dahlmanns fand einen Tag vor der Beerdigung Monikas statt. Nur Dr. Kutscher und Kommissar Faber begleiteten den Sarg. Unbemerkt von den anderen Friedhofsbesuchern wurde er in die Grube hinabgelassen und zugeschüttet. Der Pfarrer, der am Grab stand, sprach ein paar Worte von Schuld und Sühne und von der Gnade Gottes, die auch dem Sünder zuteil wird, weil wir allesamt Sünder seien, der eine mehr, der andere weniger. Dann betete er um die Gnade des Herrn. Es war eine düstere Szene . drei schwarzgekleidete Männer umstanden die Grube, in die zwei stämmige Friedhofswärter den Sarg an breiten Gurten hinunterließen. Es regnete leicht, Dunst zog über die Gräber, die verwelkenden Blumen rochen stark und süßlich. Noch einsamer war das Begräbnis Monikas. Hier stand nur Julius Salzer am Grab, gestützt auf dem Arm des Pastors. Luise Dahlmann lag zu Hause in einem Nervenfieber. Dr. Kutscher, Dr. Ron-nefeld und Robert Sanden saßen an ihrem Bett und bewachten sie, lösten sich alle zwei Stunden ab und verhinderten, daß Luise in ihren Fieberphantasien eine neue Tragödie auslöste. Sie hatte die Nachricht vom Tode Monikas mit der gleichen seltsamen Starrheit aufgenommen, die über sie gekommen war, als Ernst Dahlmann abstürzte. Es war, als lähme sie der erneute Schlag des Schicksals. Dann, ganz plötzlich, ohne Übergang, ohne äußere Anzeichen, aus der Starrheit heraus, schrie sie auf, begann wie im Schüttelfrost zu zittern und ließ sich willenlos ins Bett tragen. Dort lag sie in einem Zustand von Apathie, der ab und zu von neuen Schüttelfrösten unterbrochen wurde, aber jeder, der an ihrem Bett wachte, wußte, daß es eine trügerische Stille war und daß die Nerven-krise alle normalen Gedanken verdrängt hatte. Ein paarmal starrte sie an die Decke, mit hohlen Augen, und sagte schwach: »Warum lebe ich . warum lebe ich.« Immer nur diesen einen Satz, als laufe in ihr eine Walze ab, die nur diesen einen monotonen Satz enthielt. Die Binde hatte Dr. Ronnefeld von ihren Augen genommen. »Sie wird vollends irrsinnig, wenn sie jetzt auch noch blind sein müßte«, sagte er leise. »Sobald die Krisis vorbei ist, verbinden wir die Augen wieder.« »Aber werden die Augennerven nicht noch mehr darunter leiden?« fragte Robert Sanden leise. Dr. Ronnefeld sah den Schauspieler ernst an. »Als ob es jetzt noch darauf ankäme.« Seine Stimme klang merkwürdig hoffnungslos. »Wir wollen glücklich sein, wenn Luise uns überhaupt erhalten bleibt -« Nach einer Woche hatte sich Luise Dahlmann so weit erholt, daß nur noch Dr. Ronnefeld und Robert Sanden bei ihr saßen und nachts Fräulein Pleschke neben ihr im zweiten Bett wachte. Dr. Kutscher war damit beschäftigt, die Nachlaßsachen zu regeln und sich um Julius Salzer zu kümmern. Der junge Dichter hockte in der Heidekate herum, aß kaum noch etwas, starrte nur vor sich hin oder ging stundenlang in der Einsamkeit spazieren. »Er tut sich was an!« sagte die Bäuerin am Telefon zu Dr. Kutscher. »Er ist so komisch geworden. Neulich überraschte ich ihn, wie er vor einem Bild dieser Monika saß und mit ihr sprach. Ich habe Angst, daß er verrückt wird.« Dr. Kutscher fuhr in die Heide und holte Julius Salzer nach Hannover. Er beschäftigte ihn in seiner Anwaltskanzlei, ließ ihn Schriftsätze abschreiben, Akten zu den Klienten bringen, abgelegte Prozesse ins Archiv eingliedern. Julius Salzer erfüllte alle Aufgaben gewissenhaft und still, wie ein Hypnotisierter, dem man sagt, daß er dieses oder jenes tun müsse und der es willenlos ausführt. »Auch er wird einmal alles überwunden haben«, sagte Dr. Kutscher zu Dr. Ronnefeld. »Für ihn ist es der erste große Schock seines Lebens. Er wird daran reifen . so frivol es ist, ein solches Unglück auch noch positiv zu sehen.« Nach vierzehn Tagen durfte Luise Dahlmann wieder aufstehen. Sie trug wieder die Haftschalen Professor Siris vor den Augen und ließ sich von Robert Sanden führen. Es war, als müsse sie wieder gehen lernen ... sie schwankte am ersten Tag unsicher auf den Beinen, knickte ein paarmal ein, als sei ihr zarter Körper zu schwer für die Knie. Am zweiten Tag ging es schon besser ... am dritten Tag nach dem Aufstehen ließ sie sich trotz des Verbotes Dr. Ronnefelds hinaus zum Friedhof fahren. Lange stand sie am Grab Monikas, beugte sich herunter und tastete mit den Fingern die Blumen und Kränze ab, die auf dem Hügel lagen. Sie sprach kein Wort, und sie sagte auch nichts, als Robert Sanden sie wieder wegführte und sie die breite Allee, den Mittelgang des Friedhofes, hinabschritten. Plötzlich blieb sie stehen und ergriff die Hand Sandens. »Wo ... wo liegt Ernst.«, fragte sie kaum hörbar. Robert Sanden atmete tief auf. »Etwa hundert Meter links von uns... hinter einer Taxushecke.« »Komm -« »Du willst zu seinem Grab -« »Ich will mit ihm sprechen . zum letztenmal.« Robert Sanden schwieg. Es war sinnlos, zu sagen, sie möge sich nicht aufregen ... er kannte Luise nun gut genug, um zu wissen, daß dieser Gang an das Grab Dahlmanns der endgültige Abschluß sein sollte. Es war ein Drang des Gewissens, gegen den alle Argumente lächerlich waren. »Gehen wir -«, sagte er rauh. Er führte Luise durch ein paar Seitenwege und blieb dann vor einem anderen, frischen Grabhügel stehen. Auf ihm lagen keine Blumen . die Friedhofswärter hatten die Erde bloß mit Tannengrün abgedeckt, damit der Erdhaufen nicht so kahl aussah. »Sind wir da?« fragte Luise stockend. »Ja.« »Laß mich bitte allein, Robert.« »Luise -« »Bitte -« Da ging er und stellte sich jenseits der Taxushecke auf den Weg. Fast eine halbe Stunde blieb Luise am Grabe Dahlmanns . was sie in diesen Minuten sprach oder dachte, erfuhr niemand. Robert San-den zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte. »Robert bitte -« Er lief zu ihr, faßte sie unter und sah sie an. Ihr Gesicht war weder verzerrt noch bleich. Sie sah wie immer aus, ja, es schien fast, als sei es befreiter, gelockerter, entkrampfter als bisher. »Komm ... laß uns gehen.«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Jetzt können wir beide auf die Sonne hoffen -« Als sie den Friedhof verließen, war ihr Gang aufrecht und stark. Die letzte Schwäche war von ihr abgefallen. Sie blieb stehen, hob den Kopf lauschend und streckte den Arm aus. »Hör, den Vogel.«, sagte sie mit dem Glücksgefühl der Blinden, sich über jedes schöne Geräusch freuen zu können. »Wie sieht er aus?« Robert Sanden schluckte. Er war noch zu sehr ergriffen von der Stunde, um sich aus ihr so befreien zu können, wie Luise. Er spielte den Fröhlichen . er hatte es ja gelernt und auf der Bühne Hunderte Male dargestellt. »Er ist rot und hat eine gelbe Brust.« »Lügner . so einen Vogel gibt es gar nicht!« »Dann ist es ein Zaubervogel -« »So wunderschön singt er auch.« Sie ergriff Sandens Hand und drückte sie an ihre Brust. »Ist es nicht herrlich, so zu leben.« »Ja.«, sagte Sanden dumpf. »Herrlich.« Er starrte gegen die Bäume. Auf einem Friedhof muß sie es sagen, dachte er. Ausgerechnet auf einem Friedhof. Luise erriet seine Gedanken . sie legte den Arm um seinen Hals und drückte ihren Kopf an seine Schulter. »Das Leben geht weiter.«, sagte sie leise. »Es muß ja weitergehen, denn was sollten wir sonst mit unserem Leben anfangen.?« Sanden nickte stumm. Welch eine Frau, dachte er dabei. Woher nimmt sie bloß die Kraft?! Und er schämte sich wirklich, daß er kein Wort sagen konnte aus Angst, seine Stimme könne schwanken. »r. Dr. Kutscher sah nach dieser >Wiederkehr< Luises - wie er es nannte - den Zeitpunkt für gekommen, um die nötigen Nachlaßformalitäten und den weiteren Geschäftsgang zu regeln. »Ihr Mann hat hunderttausend Mark hinterlassen«, sagte er zu Luise Dahlmann. »Er war im Todesfalle mit fünfzigtausend Mark und bei Tod durch Unglück mit der doppelten Summe versichert. Aufgrund der Polizeiprotokolle zahlt die Versicherung die Summe aus. Ich habe alles vorbereitet -« »Ich will sie nicht haben.« Luise saß wieder vor ihrem Tonbandgerät, die Augen mit den Haftschalen bedeckt und verbunden. »Noch einen Monat Blindheit«, hatte Dr. Saviano aus Bologna auf Anfrage Robert Sandens geschrieben. »Hoffentlich hat der Nervenschock keine Nachwirkungen an den Augen hinterlassen . das wäre dann unrettbar.« »Hunderttausend Mark!« sagte Dr. Kutscher eindringlich. »Gründen Sie in meinem Namen eine Stiftung für blinde Kinder.« Luise wandte den Kopf zur Seite. »Ich will dieses Geld nicht sehen. Können Sie das nicht verstehen?« Dr. Kutscher pflichtete bei, obgleich er auf dem Standpunkt stand, daß man hunderttausend Mark nicht ansieht, woher sie gekommen sind. Aber hier war eine Grenze zwischen der Gefühlswelt einer Frau und dem nüchternen Verstand eines Mannes. Darüber gab es keine Brücke. »Wie soll die Stiftung heißen?« fragte er. Es schlüpfte ihm so heraus ... kaum, daß er es gesagt hatte, schalt er sich einen Narren. Luise wandte ihm den Kopf zu. Ihre Stimme war ganz klar. »Dahlmann-Stiftung. Wie sonst?« »Natürlich ... wie sonst.« Dr. Kutscher verabschiedete sich schnell und ging. Das soll man begreifen, dachte er auf der Treppe und schüttelte den Kopf. Es ist leichter, die vierte Dimension zu erklären, als die Seele einer Frau. Wir Männer kommen nie dahinter. Es lag schon Schnee, als Professor Bohne in Münster die Binde von Luises Augen nahm und sie an das Fenster führte. Ein langes Telefongespräch mit Professor Siri in Bologna war dieser entscheidenden Stunde vorausgegangen. Die Sonne lag golden über den Bäumen des Parks, unter dem Dach eines Futterhauses drängten sich die Vögel. Ein wolkenloser Him-mel überwölbte die Kälte. »Wie ist der Schnee?« fragte Professor Bohne. »In der Sonne bläulichweiß«, antwortete Luise laut. »Spüren Sie einen Druck, wenn Sie in den grellen Himmel sehen? Einen Druck innen im Kopf..?« »Nein.« Luise schüttelte langsam den Kopf. »Keine Dumpfheit hinter den Augen, so, als drücke jemand auf die Augäpfel?« »Nein . nichts. Es ist alles so schön . so bunt, selbst der Schnee ... und ... alles so selbstverständlich -« Am Arm Robert Sandens verließ Luise wenig später die Klinik. Ich werde weiter sehen, dachte sie unendlich glücklich. Ich werde immer, immer sehen können ... die Knospen im Frühling, die Blüten im Sommer, die Früchte im Herbst und die Eisblumen im Winter. Ich kann sehen! Professor Bohne stand am Fenster seines Zimmers und wartete, daß Luise Dahlmann und Robert Sanden zum Wagen gingen und abfuhren. Er wartete ungewöhnlich lange, sah dann verwundert auf die Uhr und wandte sich zu Dr. Neuhaus, seinem Assistenten, um. »Sie sind noch nicht aus dem Bau, Neuhaus«, sagte er etwas unruhig. »Ich freue mich immer, wenn ich glücklichen Menschen nachsehen kann, wie sie meine Klinik verlassen. Sie geben einem den Genuß innerer Ruhe und Zufriedenheit. Wo bleiben denn unsere beiden bloß?!« »Die?!« Dr. Neuhaus lächelte fröhlich. »Die toben hinten durch den Garten ... sie machen eine Schneeballschlacht... wie Kinder sind sie -« »Wundert Sie das?« Professor Bohne trat vom Fenster zurück. Auch er lächelte mit der Weisheit des Alters. »Sie laufen ja jetzt in ein neues, unbekanntes Leben -«