Kapitel 16

»Heute machen wir einen Ausflug!« war das erste, was Ernst Dahlmann rief, als er nach Hause kam. Luise saß wie immer am Blumenfenster und übte sich in der Blindenschrift. Dahlmann blieb neben ihr stehen und beobachtete sie. Verrückt, dachte er. Wie sie dasitzt, wie sie die Pünktchen abtastet, wie sie die Lippen dabei bewegt, wie ihr Blick starr geradeaus ist, als seien die Augen aus Glas . so kann sich kein Mensch verstellen, der sehen kann!

Er sah auf die Uhr. In zwei Stunden wußte man es. In zwei Stunden würde es sich entscheiden, wie das Leben des Apothekers Ernst Dahlmann weiterging.

»Ich denke, der Doktor kommt?« fragte Luise und unterbrach ihr Lesen.

»Ich habe ihn für morgen umbestellt. Draußen ist ein so herrlicher Tag ... das sollte man ausnutzen.«

»Und wohin fahren wir?«

»Ich schlage vor: ans Steinhuder Meer.«

»Das ist schön, Ernsti.«

»Ist das eine Idee?!«

»Eine blendende. Du bist so lieb.« Sie klappte das dicke Blindenschriftbuch zu und stand auf. »Wo ist Moni. Sie war den ganzen Vormittag noch nicht hier. Ist sie krank?«

»Moni? Ach so. Mein Gott, das habe ich ganz vergessen, Luiserl. Moni mußte heute früh, ganz früh schon, weg, zu einem Kunden. Nach Braunschweig. Sie bleibt dort drei Tage. Weil du so fest schliefst, wollte sie dich nicht wecken. Mein Gott, wie vergeßlich ich bin.«

Zweimal in einem Satz sagt er Gott, dachte Luise und strich sich über die Haare. Für die Verpackung einer Lüge braucht er Gott, für die Ummantelung einer Sünde.

Sie fuhren sofort los. Mittag aßen sie in einem Lokal an der Straße nach Wunstorf, dann ging die Fahrt weiter, dem Steinhuder Meer entgegen. Aber Dahlmann fuhr nicht zum See. Vor Wunstorf bog er ab und raste nach Norden.

Luise schwieg. Sie sah hinaus auf die Birkenwälder und Holundersträucher, auf die Weiden und violetten Heideflächen, auf die Ginsterbüsche und die schmalen Kanäle, die aus den Sümpfen in das trockene Land zogen. Es war wirklich ein herrlicher, warmer Tag, einer der letzten Herbsttage, wo es einem schwerfällt, an den vor der Tür stehenden Winter zu glauben.

Dahlmann bog von der Straße ab in einen Feldweg. Er führte zu einem Birkenwald, der abseits des Verkehrs in einer langen, sachten Mulde lag. Luise erkannte plötzlich diesen Platz. Angst schnürte ihr die Kehle zu, sie umklammerte den Griff der Autotür und hatte den Drang, um Hilfe zu schreien, sich aus dem Wagen fallen zu lassen, irgend etwas zu tun, was sie retten konnte vor dem Waldstück, das ihnen immer näher kam.

Sie wußte, was der Wald verbarg. Vor langer Zeit hatte hier ein großes Werk nach feinem Sand gegraben, nach jenem goldgelben, samtenen Sand, mit dem die gewaltigen Urstromtäler der Vorzeit ausgelegt waren. Die Sandgrube hatte man dann aufgegeben, als man auf Kies stieß. Grundwasser war nachgesickert, Regen und Schneeschmelze hatten Wasser in das große Baggerloch gefüllt, aus dem Loch in dem Erdleib war ein kleiner, kreisrunder, über vierzig Meter tiefer See entstanden, umgeben von Birken und Holunder und saftigem, aber hartem Gras.

In diesem kleinen, verträumten See hatten sie einmal gebadet . die Verliebten Luise und Ernst ... hier hatten sie sich geküßt, hier war die Einsamkeit der einzige Zeuge ihrer Liebe gewesen, hier hatten sie ein Paradies entdeckt, in dem es wirklich nur sie gab, die Wolken und den Wind und ein paar Hummeln, die um die Grashalme summten. Hier hatten sie sich zum erstenmal gefunden und erkannt, daß sie ein Leben lang zusammenbleiben mußten, weil sie sich liebten, wie sich noch nie zwei Menschen geliebt hatten . so glaubten sie in diesen glücklichen Stunden zwischen Birken und Holunder, liegend im hohen Gras, unendlich selig und in den Träumen mit den Wolken wandernd.

Wieviel Jahre war das her? War es nicht eine Ewigkeit? »Soviel Glück kann man nicht verstehen.«, hatte er damals gesagt. »Dazu braucht man ein ganzes Leben -«

»Wo sind wir?« fragte Luise und berührte den Arm Dahlmanns.

»Wir sind gleich da, Liebes.«

»Wo?«

»Am Steinhuder Meer, Dummes.« Er lachte fröhlich und schielte zu ihr hin. Sie starrte geradeaus. Natürlich, dachte er. Wenn sie blind ist, fährt sie ja durch die Dunkelheit.

»Es ist so still, Ernsti -«

»Ich habe extra nicht die Stellen angefahren, wo sich jetzt alles drängt. Wir wollen diesen schönen Tag möglichst allein genießen. Oder wolltest du Lärm und Trara um dich haben?«

»Nein, Ernst ... du weißt doch, ich bin am glücklichsten, wenn ich mit dir allein bin.«

Er antwortete nicht, sondern tätschelte nur ihre Hand. Er brauchte alle Konzentration, um mit dem Wagen über den holprigen Feldweg an den kleinen Baggersee heranzukommen. Nicht weit von der Stelle, an der sie als verliebtes Paar von der Zukunft geträumt hatten, hielt er und half Luise aus dem Wagen.

Er sah auf die Uhr, warum, das wußte er nicht. Kurz vor vier Uhr nachmittags, dachte er nur. Er senkte den Kopf, drückte das Kinn an den Kragen und starrte Luise an, die wie hilflos neben dem Auto stand und darauf wartete, was weiter geschah. Sie rührte sich nicht; wie alle Blinden, verließ sie sich auf die Hilfe anderer, geduldig dastehend, bis sie Zeit hatten, sich um sie zu kümmern.

Dahlmann zögerte. Er sah zurück zu dem runden See. Nach zwanzig Metern fiel das Ufer steil ab zur Wasserfläche. Regen und Sturm, Eis und Schnee hatten die Ränder zerklüftet und ausgewaschen. Fast sieben Meter fiel das Ufer steil ab . dann kam das Wasser, über vierzig Meter tief, kalt und klar.

Dahlmann ging die zwanzig Meter zum See und sah hinab in das Baggerloch. Jetzt wird sich zeigen, ob sie sehen kann, dachte er. Und mit diesem Gedanken kam ein anderer, schrecklicherer Gedanke auf: Was mache ich, wenn sie wirklich sehen kann?! Darauf wußte er keine Antwort mehr . ja, er war versucht, darum zu betteln, daß sie blind sei.

Luise beobachtete ihn mit eiskalten Schauern. Er will mich töten, dachte sie. Soweit ist es nun . er sucht die Stelle aus, von der er mich hinunter in den Baggersee stürzen kann . zehn Meter von der Stelle entfernt, an der wir die glücklichsten Stunden unserer Gemeinsamkeit erlebten.

Die Erkenntnis, daß es so weit gekommen war, machte sie plötzlich gleichgültig. Sie wunderte sich selbst über sich . ich bin so geduldig wie ein Schaf, das ins Schlachthaus geht, das Blut riecht, den Kopf hinhält und mit einem Mäh stirbt, dachte sie. Ich wehre mich nicht, ich werde gleich alles tun, was er sagt, ich werde alles erdulden ... mein Gott, wie leer ist es in mir geworden ... man kann in mich hineinrufen, und nur das Echo hallt wider. Ich habe keine Antwort mehr.

»Ernsti -«, rief sie, und ihre Stimme war klar. »Wo bist du? Wo sind wir denn?«

»Hier, Luiserl, hier!« Dahlmann steckte die Hände in die Hosentaschen, sie zitterten wie im Fieber. »Ich suche uns einen schönen Platz. Komm zu mir ... komm nur der Stimme nach ... es ist ein glatter Wiesenweg . komm nur.«

Luise zögerte nur eine Sekunde, dann ging sie, steif und aufgerichtet, mit dem merkwürdigen, staksigen Gang der Blinden, der Stimme Dahlmanns entgegen.

Fünf Meter vor ihm wußte sie, was er wollte. Plötzlich schoß in ihr die Erkenntnis hoch ... nicht töten will er mich, er will nur prüfen, ob ich sehen kann, ob ich zögere, wenn ich am Rande des Baggerloches den letzten Schritt mache, den Schritt ins Leere, in den See ... oder ob ich stehenbleibe, zurückweiche ... vor einem Abgrund, den ich nicht sehen kann, wenn ich blind bin.

»Komm, Luiserl, komm -«, sagte Dahlmann wieder. »Hier ist ein ganz entzückendes Platzerl. Windgeschützt und schattig. Komm ... komm.«

So lockt man einen Hund, dachte sie und ging weiter. Oder ein Huhn, bevor man es schlachtet.

Dahlmann trat zur Seite, einen kleinen Schritt aus der Gangrichtung Luises. Sie mußte auf Tuchfühlung an ihm vorbei in den See, wenn sie so unbeirrt weiterging.

»Wo bist du?« fragte sie und sah ihn dabei an. Aber ihr Blick ging durch ihn hindurch.

»Hier . komm nur.«

Sie ging langsam weiter, hochaufgerichtet, die Arme auf dem Rük-ken, den Kopf etwas erhoben . noch sechs Schritte . fünf. vier .

drei.

Jetzt muß sie zögern, jetzt muß sie langsamer werden, jetzt muß sie stehenbleiben. Dahlmann spreizte die Finger. Schweiß brach auf dem ganzen Körper aus und durchnäßte in Sekundenschnelle seine ganze Kleidung. Es war ihm, als schwämme er in seinem kalten, klebrigen Schweiß.

Zwei Schritte . noch einer.

Der Abgrund . das Steilufer . der See.

Luise war mit dem letzten Schritt an Dahlmann vorbei. Sie schloß die Augen, als sie den Abgrund vor sich sah, das Wasser, in dem sich die Birken spiegelten, und eine kleine, weiße Wolke, die aussah wie ein hockender Hase.

Gott hilf mir, dachte sie. Gott . Gott . Gott.

Das rechte Bein hob sich . das staksige Tasten der Blinden, schwebte über dem Wasser . da sprang Dahlmann zu ihr, riß sie an den Schultern zurück, und sein Griff war so hart, seine Kraft so groß, daß er Luise zurück auf die Wiese schleuderte, drei Meter vom Ufer entfernt. Dort fiel sie hin, drehte sich wie ein Wurm und blieb auf dem Rücken liegen.

»Luiserl!« schrie Dahlmann plötzlich. Etwas brach in ihm auf und zerschlug den Panzer seiner Sicherheit. War es das Grauen, dem er zugesehen hatte, war es die Feigheit, die jetzt überhandnahm . er fiel neben Luise ins Gras, umklammerte sie und küßte sie mit einer wilden Verzweiflung. »Ich liebe dich.«, stammelte er. »Luiserl, glaub mir . ich liebe dich . ich . ich.«

Er wußte nicht mehr, was er tat. Wie im Wahn eines Schocks handelte er . er fiel über sie her, er rang mit ihr, er zwang sie mit roher Gewalt. Er preßte die Hand auf ihren Mund, als sie schreien wollte. Er spürte nicht, daß sie ihn in die Hand biß, er sah nicht, daß ihr Gesicht mit Blut beschmiert wurde.

Dann saß er im Gras, drückte das Taschentuch gegen die zerbissene Hand und haßte sich selbst. Luise lag neben ihm, die Augen starr gegen den Himmel. Sie hatte sich erbrochen vor Ekel, und er hatte ihr den Kopf gehalten und zärtliche Worte dabei gestammelt.

Worte der Entschuldigung und der Rechtfertigung. Sie erreichten sie nicht mehr. In dieser Stunde war alles in ihr gestorben, zerstampft, zerrissen worden, der letzte Rest von Liebe, vom Gefühl, einmal mit diesem Mann glücklich gewesen zu sein.

Stumm brachen sie bald darauf auf und fuhren nach Hannover zurück. Ebenso schweigsam führte er Luise ins Haus, durch den Hintereingang, ins Bad. Es bedurfte keiner Worte mehr. Für Dahlmann war es sicher, daß sie nicht sehen konnte, für Luise war es von nun an klar, daß es um das nackte Überleben ging, um ein Ausweichen vor der Vernichtung.

Mit dem Betreten des Hauses hatte Dahlmann seine alte Sicherheit wiedergewonnen. Er wußte auch schon, was er sagen würde, wenn Luise von der Stunde am See berichten würde, ganz gleich, wem. Er würde es leugnen . er würde leugnen, jemals am Steinhuder Meer oder sonstwo gewesen zu sein, er würde jede Ausfahrt überhaupt abstreiten, er würde sagen: Ihre Nerven sind zerstört . sie ist wahnsinnig geworden. Fragen Sie Dr. Vierweg, sie hört ja Tag und Nacht Ticken und Klopfen.

Mit schnellen Schritten verließ er das Schlafzimmer, um Dr. Vierweg anzurufen. Vor der Tür zum Wohnzimmer blieb er wie vor den Kopf geschlagen stehen. Ganz deutlich hörte er es, durch die Tür hindurch, unverkennbar ... tack - tack - tack

Mit einem wilden Griff riß Dahlmann die Tür auf.

Sein künstlicher Specht stand nicht mehr auf dem Schrank ... er tackte auf dem Tisch. Hinter dem Tisch saß gemütlich rauchend Dr. Kutscher und betrachtete interessiert das Gerät. Er winkte mit der Zigarre, als er Dahlmann sah, und zeigte mit der Aschenspitze auf das Hämmerchen.

»Genial! Einfach genial!« sagte er. »So etwas sieht man im besten Krimi-Film nicht! Sie haben die ergreifende Begabung, ein Satan zu sein. Ich grüße Eure Pestilenz -«

Mit einem wütenden Schwung warf Dahlmann die Tür hinter sich zu.

»Wie kommen Sie hier herein?« Dahlmann ging schnell zum Tisch und stellte das Klopfen ab. »Was wollen Sie noch?«

Dr. Kutscher blies einen Rauchring gegen die Decke. Er sah aus wie ein Kartenspieler, der einen unstechbaren Trumpf in der Hand hält und nur darauf wartet, ihn auf den Tisch werfen zu können.

»Zu Frage eins«, sagte er gemütlich, »ist zu vermelden, daß Ihre Hausangestellte sich davon überzeugen ließ, daß ein Rechtsanwalt in eine Wohnung darf. Kein großes Licht, dieses Mädchen. Verwechselt Rechtsanwalt mit Staatsanwalt.«

»Infam!« sagte Dahlmann heiser.

»Zu Frage zwei: Ich bin als Anwalt hier.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Dieses Nichtverstehen schließt nicht aus, daß es solche Tatsachen gibt. Dr. Ronnefeld hat mich beauftragt, im Namen der gnädigen Frau ihre Mandantschaft zu übernehmen.«

Ernst Dahlmann stützte sich auf die Tischplatte und beugte sich vor. Sein Gesicht war gerötet. »Das ist doch wohl ein Witz! Meine Frau soll Sie gebeten haben -«

»Über Dr. Ronnefeld.«

»Was hat der senile Arzt damit zu tun?!«

»Anscheinend sehr viel. Er erzählte mir als Verdacht genau das, was ich schon weiß.«

Dahlmann atmete schwer. Er überlegte, was Dr. Ronnefeld wissen konnte. Es konnte nicht viel sein. Selbst das Verhältnis zu Moni entzog sich seiner Kenntnis. Man war in seiner Gegenwart immer besonders zurückhaltend gewesen. Es konnte also nur dummes Gerede sein, was der Arzt wußte, Nachbarngeschwätz, weiter nichts.

»Glaubt meine Frau diesen dummen Klatsch?« fragte Dahlmann laut. Dr. Kutscher hob die Augenbrauen.

»Sie kleiner Amateurteufel sollten sich angewöhnen, wenigstens unter Brüdern ehrlich zu sein! Was wollen Sie mir vormachen, bitte?! Was Ihre Frau glaubt oder weiß, kann ich nicht sagen, weil ich heute meine erste Unterredung mit ihr haben wollte. Es handelt sich übrigens um eine notarielle Beratung.«

»Sie sind doch gar kein Notar.« »Das schließt doch keine juristische Beratung aus.« Dr. Kutscher tippte gegen den künstlichen Specht; sofort begann er wieder zu kop-fen. Tack - tack - tack. Dahlmann stellte ihn sofort wieder ab.

»Es geht doch nicht, daß Sie als mein gewesener Anwalt jetzt meine Frau vertreten! Das macht kein Anwalt. Ich garantiere Ihnen, daß ich bei Verhandlungen einen Skandal auslösen würde, der Ihren Ruf anknackst!« Dahlmann trug das Klopfgerät zurück auf den Schrank und lauschte zur Tür hin. Ganz entfernt hörte man Wasser rauschen. Luise badete sich. Dr. Kutscher nickte und lächelte breit.

»Das weiß ich.«

»Und warum sitzen Sie noch hier?«

»Aus Neugier.«

»Bitte, verlassen Sie mein Haus!« sagte Dahlmann hart.

»Nein.«

»Sie wissen, daß Sie jetzt -«

Dr. Kutscher schüttelte abwehrend beide Hände.

»Reden Sie nicht von Hausfriedensbruch. Das weiß ich als Jurist besser.«

»Ich verweise Sie meines Hauses und Sie -«

»Da liegt der Irrtum, kleiner Satan! Das Haus gehört nicht Ihnen, sondern Ihrer Frau! Alles hier gehört Ihrer Frau - die Apotheke, das Haus, das Vermögen, die Grundstücke, der Neubau nebenan . die vollkommene Gütertrennung, die Ihr kluger Schwiegervater durchsetzte, bevor aus Horten eine Dahlmann wurde, macht Sie zum Mitbenutzer, mehr nicht.«

»Zu einem Harlekin macht sie mich!« schrie Dahlmann.

»Das ist Ansichtssache. Wie ich sehe, sind Sie dabei, mit Hilfe der Technik diese Situation zu verändern. Daß der Weg mehr als schmutzig ist, habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Ich habe Sie nie danach gefragt. Und nun gehen Sie.«

»Erst, wenn ich Ihre Frau gesprochen habe.«

»Das werde ich verhindern.«

»Dann müßten Sie schon nach Feuerland auswandern.« Dr. Kutscher schüttelte fast mitleidig den Kopf. »Lieber Beelzebub ... war-um diese Aufregung? Soll ich Ihnen einmal etwas sagen? Sie haben von Beginn an alles falsch gemacht! Sie haben sich benommen wie ein Säugling, dem man statt vorgesäuerter Milch Kognak ins Fläschchen getan hat. Es fing schon an, daß Sie Ihrer charmanten Schwägerin am Rockzipfel hingen und >Küß mich, bitte, bitte, küß mich< wimmerten. Man zieht sich vor der Öffentlichkeit nicht die Hosen herunter -«

»Reden Sie nur weiter«, sagte Dahlmann dumpf. »Bald ist es so weit, daß ich Sie ohrfeige -«

»Die Umgebung ist wachsam! Sie ist hellhöriger, als man als verliebter Gockel glaubt. Man denkt, man hat alles so heimlich wie möglich gemacht, keiner ahnt etwas, und dabei sitzt man wie in einem Schaufenster und macht den Zuschauern lebende Bilder vor. Das ist das eine. Das andere ist Ihre Weigerung, Ihre Frau noch einmal operieren zu lassen. Einem Arzt wie Dr. Ronnefeld muß das auffallen! Und den anderen auch. Dem kommt die Blindheit gut zu passen, heißt es. Frau blind, Schwägerin im Haus und im Bett, keine Geldkontrollen mehr ... und wenn Ihre Frau jetzt auch noch für irr erklärt wird, glauben Sie doch selbst, daß Ihnen das keiner abnimmt. Sie haben nicht die russische Begabung, warten zu können. Alle haben das nicht. Daran scheitern die besten Gaunereien! Man will es so schnell wie möglich machen. Merken Sie sich eins, Dahlmann: Eine hundertprozentige Gemeinheit ist wie ein Baum ... man pflanzt sie, muß sie begießen und hegen und pflegen und warten können, bis sie aus sich heraus gewachsen ist - wie ein Baum -trotzend allen Winden und Stürmen.« Dr. Kutscher sah auf seine goldene Armbanduhr. »Für diese Beratung - sechzehn Minuten waren es - sollte ich angesichts der Wichtigkeit mindestens dreihundert Mark liquidieren -«

Dahlmann wurde einer Antwort enthoben. Die Tür öffnete sich, Luise kam herein, mit nassem Haar, in einem roten Bademantel mit gelbem Blütenmuster, in Fellpantoffeln und einem gelben Frottierhandtuch um den Hals. Sie blieb an der Tür stehen und neigte den Kopf. Sie tat es immer, wenn sie angestrengt lauschte und ihre Umgebung an den Geräuschen erkennen wollte.

»Ist noch jemand da?« fragte sie und lächelte. Dr. Kutscher schnitt der Anblick ins Herz ... er sah Dahlmann an, plötzlich wütend und sogar mit einem Anflug von Ekel und Haß.

»Dr. Kutscher«, sagte er, und seine Stimme klang belegt. Er wunderte sich selbst über diesen fremden Ton. »Sie hatten mich durch Dr. Ronnefeld hergebeten, gnädige Frau.«

»Oh!« Luise raffte den Bademantel über der Brust zusammen, eine rührende Geste von Scham und Mädchenhaftigkeit. »Ich ... ich bin nicht in dem Aufzug, daß ich ... Ernsti.?«

»Ja, Luiserl?!« Dahlmann biß die Zähne zusammen. Er merkte selbst, daß seine Sprache in Gegenwart Dr. Kutschers mehr als dumm war.

»Warum hast du mich nicht benachrichtigt?«

»Dr. Kutscher ist eben erst gekommen. Ich hatte noch keine Zeit dazu, Liebes.«

»Was soll er jetzt von mir denken?«

»Nur das Beste, gnädige Frau.« Dr. Kutscher sah Dahlmann wütend an. »Ihr Anblick ist für einen Mann immer eine Freude. Leider bin ich nicht als Mann hier, sondern als Rechtsanwalt -«

Luise lachte. Sie bog sich dabei etwas zurück. Ein Teil des nackten Beines stach aus dem auseinanderklaffenden Bademantel hervor. Welch ein Schwein bist du doch, dachte Dr. Kutscher und sah Dahlmann wieder an. Er hatte in seiner Praxis oft Fälle gehabt, für die ihm jegliches Verständnis fehlte und die er doch als Anwalt zur Verteidigung übernommen hatte, weil er sich sagte, daß ein Mensch zu allen Unmöglichkeiten fähig ist, weil der Charakter des Menschen vom Edelsten zum Gemeinsten reicht, eine Skala, die mit dazu beiträgt, ihn zur Krone der Schöpfung werden zu lassen. Hier, bei einem an und für sich simplen Fall versagte ihm alles Verständnis. Er spürte das bei ihm seltene Gefühl der Ritterlichkeit, das ihn zwang, auf die Seite Luises zu treten und mit allem, was er besaß, gegen Dahlmann zu stehen.

Luise setzte sich und raffte den Bademantel um ihre Beine! Sie sah an Dr. Kutscher vorbei ins Leere und zögerte. Ich habe Angst, dachte sie. Es wäre einfach, aufzuspringen und zu sagen: Geh, du Lump.! Dr. Kutscher, ich kann sehen, reichen Sie die Scheidung ein. Aber das bedeutete, daß sie sofort das Haus verlassen mußte, daß Ernst Dahlmann die Möglichkeit hatte, in wenigen Stunden Deutschland zu verlassen, schneller, als man einen Haftbefehl erwirkt hatte. Sie strich sich mit bebenden Händen über das Haar. Haftbefehl? Wofür denn? Wo waren die Beweise? Man kann niemanden verhaften, weil er seine Frau mit deren Schwester betrügt. Man kann niemanden verhaften, bevor man ihm die Unterschlagungen nachgewiesen hat. Man kann keinen verhaften, weil er seine Frau irrsinnig machen will . auch das muß man erst beweisen.

Und die Angst kam wieder. Die Angst, daß er sie töten könnte. In den vergangenen Tagen hatte sie gesehen, wie sicher seine Hand war, als er den schweren Leuchter über ihren Kopf schwang, und das Erlebnis des heutigen Tages am Abgrund der Kiesgrube war ein Beweis, daß er nicht zurückschrecken würde, sie wirklich zu töten, wenn er erkannte, daß sie sehen konnte. Davor mußte sie sich schützen . sie mußte einen Wall aus Lockung und Hoffnung bauen, um Zeit zu gewinnen, Zeit, die für sie arbeitete, die ihr Material gab, Ernst Dahlmann zu vernichten. Den Mann, den sie einmal so heiß geliebt hatte, wie sie ihn jetzt mit der gleichen Glut haßte.

Sie sah auf Dr. Kutscher und dann auf ihren Mann. Sie trug wieder ihre Sonnenbrille, dunkle Gläser, die den klaren Blick, mit dem sie ihre Umgebung ansah, verdeckten. Auch verstärkten sie ihre Blindheit . ein Mensch mit dunkler Brille, der sich durch seine Welt tastet, ist des Mitleids seiner Umgebung sicher. Wir können beginnen, dachte Luise und legte die Hände in den Schoß.

Dahlmann stand bleich vor Erregung am Blumenfenster und zerrupfte einen Palmenzweig, der ins Zimmer ragte.

»Wir wollen es kurz machen, Dr. Kutscher -«, sagte Luise mit klarer Stimme. Sie sah dabei ihren Mann an und war erschrocken, wie gefühllos sie ihn betrachten konnte. »Ich habe dir, Ernsti, nicht erzählt, daß ich Dr. Ronnefeld gebeten habe, diese Zusammenkunft zu arrangieren. Sie sollte eine Überraschung sein -«

»Das ist sie wirklich, Luiserl -« Dahlmann bemühte sich um seinen alten, freundlichen und liebevollen Ton.

»Ich bin blind, und ich werde blind bleiben -«, sagte Luise und starrte Dahlmann an. »Ich fühle, daß meine Nerven immer mehr nachlassen. Ich höre Geräusche, die nicht vorhanden sind, ich muß mich zwingen, Dinge nicht zu tun, die Katastrophen auslösen könnten. Wer weiß, wie lange ich dazu noch die Kraft habe, wie lange es dauert, bis ich wirklich irr bin. Sie sehen, daß ich ganz ruhig darüber sprechen kann. Und ich möchte etwas regeln, solange ich noch im Vollbesitz der geistigen Kräfte bin, wie es im Juristendeutsch so treffend heißt. Ich möchte einen Irrtum revidieren.«

»Einen Irrtum?« fragte Dr. Kutscher verblüfft.

»Ja. Mein Vater konnte meinen Mann nie leiden, warum, das weiß ich nicht. Er setzte widersinnige Vermögensverhältnisse durch, bevor wir heiraten konnten. In den Jahren meiner Ehe aber und vor allem jetzt während meiner Krankheit habe ich erkannt, welch ein guter Mensch mein Mann ist, der beste Mann, den sich eine Frau wünschen kann. Ohne meinen Mann wäre mein Leben jetzt sinnlos. Er allein gibt mir Kraft und wirkliche Liebe -«

Dr. Kutscher schluckte mehrmals. Er vermied es, Dahlmann anzusehen, aber er ballte die Fäuste, als Dahlmann aus seiner Blumenecke mit bebender Stimme »Luiserl . mein Liebes.« sagte. Man sollte dazwischenschreien, dachte er. Man sollte die Wahrheit hinausbrüllen! Sie ist ja nicht nur äußerlich blind, sie ist auch innerlich ohne den Blick für die Wirklichkeit.

»Ich möchte Sie bitten, Dr. Kutscher«, sagte Luise weiter, »mit einem Notar zu besprechen, daß aufgrund meiner Krankheit die letzten Verfügungen meines Vaters gegenstandslos gemacht werden. Ich möchte meinen Mann zum Alleinerben einsetzen, nicht nach meinem Tode . schon zu Lebzeiten.«

Dr. Kutscher hielt den Atem an. Mein Gott, dachte er. O Himmel! Sie diktiert ihr eigenes Todesurteil! Wenn diese Absicht möglich gemacht wird, kann sie sich alle Umwege sparen und sich gleich vor den geöffneten Gashahn setzen. Er wandte sich zurück und sah zur Blumenecke. Ernst Dahlmann stand, eingerahmt von Blüten, im Rot der Abendsonne und lächelte zufrieden. Er schwieg, aber im Vorwölben der Unterlippe erkannte Dr. Kutscher, daß er angestrengt nachdachte und daß sein Lächeln der Ausdruck größter Gefahr war.

»Sie ... Sie handeln sehr impulsiv, gnädige Frau.«, sagte Dr. Kutscher stockend.

»O nein, ich habe das alles reiflich überlegt. Was meinst du dazu, Ernsti.?«

»Ich bin sprachlos vor Erschütterung.« Dahlmanns Stimme bebte wirklich. »So darfst du nie sprechen, Luiserl. Es klingt, als habest du alle Hoffnung auf eine Besserung aufgegeben. Das darfst du nicht. Du mußt immer daran glauben, daß es einmal anders wird . daß du wieder sehen kannst, daß deine Nerven sich beruhigen -«

Jetzt wäre es Zeit, ihm eine herunterzuhauen, dachte Dr. Kutscher. Man sollte ihn hochheben und durch das Blumenfenster auf die Straße werfen, wie eine eklige Spinne, die man mit dem Besen aus dem Fenster schüttelt.

Luise wandte den Kopf zu Dr. Kutscher.

»Hören Sie, wie lieb er zu mir ist?« Sie lächelte wie in höchstem Glück. »Soll man diese Liebe nicht belohnen?«

Dr. Kutscher schwieg verbissen.

»Wollen Sie mit einem Notar sprechen?«

»Vielleicht sollte man das alles noch einmal durchdenken -«

»Warum? Mein Mann hat bisher im Schatten gestanden. Ich weiß es. Er hat sich nie beschwert, aber ich habe es ihm angesehen. Ich konnte es nie ändern, denn die Bestimmungen meines Vaters sind zu präzisiert. Mein körperlicher und seelischer Zustand aber schafft andere Voraussetzungen, die im Testament nicht vorgesehen waren. Nur möchte auch ich eine Einschränkung machen -«

Ernst Dahlmann hob interessiert die Augenbrauen. Dr. Kutscher ahnte nichts Gutes und legte die Finger aneinander.

»Ja -«, sagte er, als Luise zögerte.

»Sollte ich ein Kind bekommen, so erhält dieses drei Viertel des gesamten Hortenbesitzes. Ein Viertel bleibt als Altersrente bei meinem Mann . es ist genug, seinen Lebensabend zu sichern, ohne einmal von seinem Kind und dessen Launen abhängig zu sein.«

Dr. Kutscher nickte schweigend. Gebe Gott, daß in den kommenden Wochen nicht diese Möglichkeit in Betracht kommt, dachte er. Wie unter einer Explosion schrak er zusammen, als Dahlmann plötzlich in die Stille hinein sprach. Wie ist es möglich, dachte Dr. Kutscher, daß ich, der Hartgesottene, auf einmal Nerven habe?!

»Ich kann das nicht annehmen. Luiserl. Ich war immer glücklich mit dir ... ich will nicht, daß du denkst, ich hätte mich jemals unwohl gefühlt -«

»Trotzdem.« Luise hob den Kopf und lauschte. »Ich weiß ... es bleibt mir nicht viel Zeit. Da ... da ist es wieder ... das klopfen ... Tack - tack - tack -«

Dr. Kutscher schnellte aus seinem Sessel hoch. Auch Ernst Dahlmanns Kopf zuckte nach vorn, wie bei einem Geier, der auf seine Beute stößt. Beide sahen gleichzeitig auf den Bücherschrank ... das Gerät stand still.

»Was ... was hören Sie, gnädige Frau?« fragte Dr. Kutscher heiser vor Erregung.

»Klopfen, Ticken, Knacken ... rhythmisch ... immer wieder ... eintönig ... alle zwei Sekunden. Wie Hammerschläge auf meinen Kopf ist es. Es dröhnt und dröhnt und dröhnt.«

»Aber es ist nichts, gar nichts zu hören!« rief Dr. Kutscher fast verzweifelt.

»Ich weiß es. Nur in meinem Kopf ist es.« Luise hielt sich die Ohren zu und neigte den Kopf nach vorn. »Bitte, sprechen Sie mit einem Notar . bitte schnell.«

Erschüttert verließ Dr. Kutscher das Zimmer. Dahlmann folgte ihm. Luise sah durch die vor die Augen gespreizten Finger, wie er beschwingt, fast fröhlich dem Anwalt folgte. Dann sprang sie auf und legte das Ohr an die Tür. Sie öffnete sie einen Spalt, um besser zu hören, was in der Diele gesprochen wurde. Woher nehme ich bloß die Kraft, diese Rolle zu spielen, dachte sie dabei. Und was wird er tun? Wird er in diese Falle hineingehen? Warum tue ich es bloß? Warum sage ich nicht: Ich kann sehen! Ich habe alles gesehen! Hinaus, du Lump!

Ist mein Haß so groß, daß ich mich selbst darin verzehre?!

Sie hielt den Atem an. Dahlmann sprach.

»Was wollen Sie tun, Doktor?«

Dr. Kutscher räusperte sich. »Nichts.«

»Das wird auffallen.«

»Genau das will ich! Meine Schweigepflicht hindert mich, Ihrer Frau die Wahrheit zu sagen, da ich sie von Ihnen weiß, als Sie noch mein Klient waren. Aber mich kann keiner hindern, nichts zu tun.«

»Es gibt noch mehr Anwälte in Hannover.«

»Gewiß. Im übrigen können Sie Ihre Apparatur abbauen ... wie es scheint, ist der Schock bereits erfolgt.«

»Das hat mich selbst verblüfft.«

»Man sollte Sie zusammenschlagen!«

»Ihre Tiraden sind lächerlich, Doktor. Leben Sie wohl.«

»Nicht ganz.« Dr. Kutscher sah Dahlmann mit einer Verachtung an, die einem Schlag gleichkam. »Wenn Ihrer Frau in der nächsten Zeit etwas passiert - sagen wir mal, ein Unglücksfall, wie er bei Blinden gern vorkommt - können Sie gewiß sein, daß ich eine Anzeige wegen Mordes einreiche.«

»Danke.« Dahlmann lachte hart. »Glauben Sie, ich bin solch ein Idiot, daß ich nach der Überschreibung des Vermögens noch etwas unternehme?«

»Denken Sie an den Zusatzparagraphen ... das Kind.«

»Das schreckt mich nicht.«

»Es wird auffallen, wenn Sie den liebenden Ehemann einstellen -«

»Ich bin Apotheker, Doktor.« Luise hörte Dahlmann wieder lachen. »Luise wird gegen ihre Nerven und die Geräusche Beruhigungsmedikamente nehmen müssen, Tabletten, Pillen, was weiß ich. Und jeden Tag wird sie mit diesen Tabletten auch eine Anti-BabyPille schlucken. Sie sehen, es ist völlig gefahrlos, den ehelichen Pflichten nachzukommen und doch nie daran denken zu müssen, ein-mal nur ein Viertel des Vermögens aufbrauchen zu können.«

»Ich habe Sie verkannt.« Die Stimme Dr. Kutschers war voller Abscheu. »Sie sind kein Amateursatan, Sie sind ein ausgewachsener Pechkocher -«

Die Tür klappte. Luise huschte zu ihrem Sessel zurück und legte den Kopf wieder in beide Hände. Sie zuckte zusammen, als Dahlmann von hinten sich über sie beugte und mit den Händen am Hals entlang in den Bademantel tastete. Mit einer ruckartigen Bewegung machte sie sich frei.

»Laß das!« sagte sie hart. »Rühr mich nicht mehr an! Du hast dich benommen wie ein Tier -«

»Und trotzdem hast du mich so reich beschenkt.«

»Ich will, daß das Erbe meines Vaters weitergeht . die Apotheke.«

»Liebst du mich nicht mehr, Luiserl?«

»Nein.«

»Aber -«

»Warum hast du das getan, heute nachmittag?«

»Ich hatte so einen Schreck bekommen. Plötzlich sah ich, daß du auf einen großen Stein losgingst, und ich hatte keine Zeit mehr, dich zu warnen. Da habe ich dich weggestoßen. Wenn du über den Stein gefallen wärst . du hättest dir etwas brechen oder aufschlagen können.«

Wie glatt er lügt, wie gemein, wie virtuos, dachte sie. Und wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, was er wohl tun würde, wenn sie jetzt sagte: Du Lügner . ich kann sehen!

Sie beobachtete Dahlmann. Er ging zum Barschrank und schüttete sich einen Kognak ein. Bevor er ihn trank, hob er das Glas hoch gegen die blutrote Sonne, die durch das Blumenfenster quoll und den Tag in sterbenden Purpur hüllte. Es war, als proste er sich, dem Sieg der Gemeinheit zu.

Ich werde es ihm nie sagen können, nicht so, dachte Luise. Sie empfand plötzlich Angst. Angst vor Dahlmann, dem sie jetzt zutraute, daß er im gleichen Augenblick, wo er die Wahrheit wußte, zufassen und sie töten würde. Den Triumph, ihm alles ins Gesicht schleudern zu können, mußte sie sich schenken. Aus sicherer Entfernung im Schutze eines ihm unbekannten Ortes, mußte sie die Maske fallen lassen. Das Ende ihres Spieles, das mit dem Ende Ernst Dahlmanns zusammenfallen würde. Sie war gewillt, es bald zu tun ... sie hatte nicht mehr die Kraft, weiter das Blindsein zu spielen.

»Und nachher?« fragte sie. »Warum hast du ... das ... nachher getan?«

»Ich war so glücklich, daß dir nichts geschehen war ... und ich liebte dich in diesem Augenblick so sehr.« Dahlmann sagte es zwischen zwei Kognakschlucken. Für eine Blinde klang es ehrlich, für die Sehende war es ein Schlag, denn Dahlmanns Gesicht war gleichgültig, als er es sagte, ja es schien, als wäre ihm die Erinnerung daran unangenehm und peinlich.

»Ich bin müde«, sagte Luise, »ich leg' mich hin.«

Tastend verließ sie das Zimmer. In der Diele hörte sie das Anschlagen des Telefonweckers. Dahlmann hatte den Hörer abgenommen und rief jemanden an. War es Monika? Wußte er schon, wo Monika sich versteckt hielt?

Sie schlich zurück zur Tür. Dahlmann sprach nach unten zur Apotheke und ließ sich von dem Provisor berichten. »Ja, ich komme gleich 'runter«, sagte er. »Bereiten Sie sich seelisch darauf vor, daß Sie drei Tage den Laden allein machen. Ich muß dringend verreisen -«

Verreisen? Luise schlich zurück ins Schlafzimmer. Wohin will er fahren.?

Der Gasthof >Grüner Krug< war eine der großen Heidekaten außerhalb Soltaus am Rande der Einsamkeit, die man zu einem Hotel umgebaut hatte, ohne dem Modernen andere Konzessionen zu machen als elek-trisches Licht, fließendes Wasser und die Einrichtung von Badezimmern. Allerdings gab es hier keine gekachelten Wände und eingebaute Porzellanwannen, sondern große, hölzerne Badezuber aus Urgroßvaters Tagen, in die man hineinstieg wie in ein Butterfaß und sich abschrubbte mit Wurzelbürste und harten Schwämmen.

Das Gasthaus >Grüner Krug< hatte deshalb auch keinen Stern in den Reiseführern oder wurde in Handbüchern des Fremdenverkehrs auch nur erwähnt ... wer hier wohnte, fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, in der man mit den Heidschnucken unter einem Dach hauste und beim Schein der Öllampe zwei oder drei Gläschen Schnaps trank, um die Nacht gut durchzuschlafen. Vor allem die Künstler besuchten den >Grünen Krug<; hier waren sie fast unter sich, lebten unbeschwert von Zivilisationsgeheuchel und hatten die nötige Ruhe, sich ihren Werken zu widmen. Von der Kunstakademie her kannte auch Monika Horten dieses Gasthaus bei Soltau, und so war es kein Zufall, daß sie bei ihrer Flucht aus dem Bannkreis Ernst Dahlmanns gerade hier ein Versteck suchte.

Schon am ersten Tag lernte sie einen großen, jungen, blonden Mann kennen, der in einem winzigen Zimmer unter dem Dach wohnte und nach dem Mittag- und Abendessen jeweils in der Küche half, das Geschirr zu spülen und abzutrocknen.

»Ich heiße Julius Salzer«, stellte er sich Monika vor, mit einer artigen Verbeugung und der Schlaksigkeit des Unbeholfenen. »Sie können auch Jules Salaire zu mir sagen ... das ist mein Schriftstellername ... nur kennt den noch keiner! Was nicht heißen soll, daß er nicht einmal in großen Lettern auf dicken Wälzern in den Schaufenstern der Buchhandlungen glänzen könnte. Nur hat sich leider noch kein Verleger gefunden, der a) einen jungen Unbekannten drucken will und b) den Mut hat, im Zeitalter der Abnormen ein Buch mit Romantik herauszugeben. Warten wir also ab ... ich habe Zeit! Es wird sich herausstellen, ob ich hundert Jahre zu spät oder hundert Jahre zu früh geboren wurde.«

Monika lachte, obwohl ihr die Kehle zugeschnürt war. Die Angst hatte sie besinnungslos gemacht, und als sie wieder klar denken konnte, gab es nur eins für sie: Weg aus dem Hause Dahlmann, weg aus Hannover, weg aus dem Leben zweier Menschen, zu denen sie nicht mehr gehören durfte. Die schreckliche Erkenntnis, daß Luise sehen konnte, hatte ihr Inneres in völlige Panik gebracht. Jetzt erst, in dem kleinen Zimmer der Heidekate, wurde ihr bewußt, daß sie keine Schwester mehr hatte, kein Elternhaus, keine Heimat. Es waren Konsequenzen, die sie sich nie überlegt hatte, als sie dem Werben und Drängen Dahlmanns nachgegeben hatte und sich seiner Liebe bedingungslos hingab, von der auch sie glaubte, daß sie nicht mehr zu übertreffen sei und in ihrem Elementarischen auch gegenüber Luise zu rechtfertigen war. Eine solche Liebe wie unsere, hatte sie einmal zu Dahlmann gesagt, kann man einfach nicht verstehen, ist nicht mit den üblichen Maßstäben zu messen, ist keine Sünde, denn in uns werden Urkräfte wach, die noch niemand zu bändigen vermochte. Wie kann man schuldig sein, wenn man selbst das Opfer ist?!

Das alles war in der Nacht zusammengebrochen, als sie erkannte, daß Luise sehen konnte. Ihr blieb nur die Flucht; sie war Frau genug, um zu wissen, was sie von ihrer Schwester erwarten würde, wenn sie in Hannover bliebe.

Dann kam der Anruf des Werbeleiters. Ernst Dahlmann wußte ihre Adresse. Und das neue Zittern begann, die neue Überlegung, weiterzuflüchten, aber auch die Hilflosigkeit: Wohin denn? Die Welt ist zwar groß, aber sie ist nicht groß genug, daß auch ein Dahlmann an jeden Ort kommen könnte.

In dieser Verzweiflung tat sie einen Schritt nach vorn ... sie schloß sich dem blonden Julius Salzer an, dem unerkannten Poeten, der sein Zimmerchen unter dem Dach und seine Verpflegung mit Küchendienst und Hausarbeiten im >Grünen Krug< abarbeitete.

Schon am ersten Abend ließ sie sich aus seinem Roman >Rauh-reif über Ursula< vorlesen, einem merkwürdigen Poem über ein Mädchen, das so verliebt ist, daß es in kalter Nacht so lange auf den nicht kommenden Geliebten wartet, bis es mit Rauhreif überzogen zu Eis erstarrt, Denkmal einer unsterblichen Liebe.

Monika Horten saß vor dem jungen Dichter, die Hände gefaltet, und dachte an nichts. Alles in ihr war leer. Sie hörte Worte und verstand sie nicht, es waren nur Klänge, hoch oder niedrig, laut oder leise, kurz oder lang, ein elektronisches Summen fast ... als es aufhörte, sah sie auf und lächelte Julius Salzer an.

»Schön«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln.

»Blödsinn ist das!« Julius Salzer klappte das Schulheft, in das er seinen Roman geschrieben hatte, zu.

»Aber warum denn?«

»Weil das keiner drucken und keiner lesen wird. Anders wär's, wenn meine Ursula fünfzehn wäre und einen Greis von neunzig liebte.«

»Pfui!«

»Sie lesen zu wenig moderne und mit Preisen ausgezeichnete Literatur, mein Fräulein!« Julius Salzer warf seinen Roman in die Ecke. »Sie haben heute als Autor nur noch eine Chance, international und vor allem national gefördert zu werden, wenn sie wenigstens einen Perversen in Ihrem Buch auftreten lassen. Kein Literaturpreis ohne Perversität ... das sollte das erste Gebot für junge Schriftsteller werden. Das erspart ihnen nachher viele Enttäuschungen. Leider bin ich dazu zu altmodisch.«

»Pfui! Wenn Sie so weiterreden, ist das unser erstes und letztes Gespräch, Herr Salzer.« Monika Horten sah wieder vor sich hin. Wie harmlos ist das alles gegen das, was hinter mir liegt, dachte sie. Jetzt sieht er mich an, der große, blonde Junge und denkt, ich sei ein schüchternes, sanftes, unberührtes, reines Mädchen. Wie abscheulich das alles ist, wie verlogen dieses verdammte Leben -

»Verzeihen Sie.« Julius Salzer schlang die Arme um die angezogenen Knie und sah hinaus auf die nachtschwarze Heide. Wie Soldaten mit Rucksäcken standen die Holunderbüsche gegen den fahlen Himmel. »Haben Sie auch manchmal die dumme Frage gestellt: Warum lebt man eigentlich?«

»Ja.«

»Und die Antwort?«

»Ich habe nie eine darauf gewußt.« »Waren Sie noch nie verliebt?«

»Warum?«

»Man sagt, wenn man liebt, weiß man, wozu man lebt.«

»Das ist ein Irrtum.«

»Wie können Sie das sagen, wo Sie nie richtig geliebt haben?«

»Und Sie? Haben Sie schon geliebt?«

»Nein. Aber ich möchte es erleben -«

»Was hindert Sie daran?«

»Der Partner!«

»Wieso?«

»Ich habe noch keinen gefunden. Vielleicht ist das eines der Geheimnisse, warum meine Romane so erbärmlich schlecht und lebensfern sind. Es fehlt der Motor, das Erlebnis, die Glut des Augenblicks, die Wärme eines Leibes, die Hingabe, die Himmel aufreißt ... weiß der Teufel, was alles in der Liebe verborgen ist.«

»Der fade Geschmack des Sinnlosen -«, sagte Monika leise. Julius Salzer schüttelte den Kopf. Er starrte noch immer hinaus in die nächtliche Heide und sah nicht die Leere in Monikas Augen.

»Das klingt zu sehr nach Sartre, mein Fräulein. Liebe muß etwas Vulkanisches sein, etwas, was den Urkern des Menschlichen nach oben schleudert, was Welten zerbersten läßt und neue Welten schafft. Liebe muß mit menschlichen Worten unbeschreiblich sein, denn selbst Gott kannte dafür nur ein einziges Wort: Liebe!«

»Sie sind wirklich ein heilloser Romantiker.«

»Vielleicht wäre ich ein Moderner, wenn ich wüßte, was Liebe ist. Nur könnte ich mir niemals vorstellen, daß Liebe nichts weiter ist als eine Ausschüttung überzähliger Hormone.«

»Oft ist es so.«

»Heihei, hier spricht die Erfahrung!« Julius Salzer lachte und wandte sich Monika zu. Er wollte weiter ironisieren, aber da sah er ihre Augen und die Qual, die aus ihnen schrie und keines Lautes bedurfte, um trotzdem deutlich und hörbar zu werden. Salzer beugte sich vor.

»Was haben Sie, mein Fräulein. Ist es so schrecklich, mir Spin-ner zuzuhören? Ich stehe sofort auf und gehe, wenn Sie ja sagen, und ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich weiß daß ich besser Teller spüle als Sätze schreibe. Man sagt heute nicht mehr: >Der Wind spielte in den Blättern wie auf den Saiten einer Harfe...<, sondern ganz klar und verständlich: >Der Wind furzte in den Zweigen...< Das ist Kunst, das ist plastisch gedacht, dafür bekommt man Preise und kann sich ein Haus im Tessin kaufen.« Er stand auf und reckte sich. »Gute Nacht, mein Fräulein. Vergessen Sie diese alberne Unterhaltung mit einem noch albernen Jüngchen. Ich setze mich jetzt unter meine Dachschräge, nehme ein Blatt Papier, einen Kugelschreiber und werde schreiben: >Die Wolken gleiten schienenlos dahin / und auf der Erde kriecht ein gelber Wurm; / woran erkennt man einen höh'ren Sinn, / wenn beide wegweht Regen, Schnee und Sturm?< Glauben Sie, daß das einer liest?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil es am Leben vorbeigeht.« Monika sah zu dem großen Jungen auf. Vergessen will ich, dachte sie. Vergessen, was gestern war und vorgestern und ein Jahr lang. Kann es ein Vergessen geben? »Sie sind so groß«, sagte sie. »Sie sollten etwas näher zur Erde kommen. Mit dem Kopf in den Wolken sieht man das Leben nicht.«

Sie winkte, Julius Salzer beugte sich nach vorn ... da ergriff sie seinen Kopf, zog ihn zu sich und küßte ihn. Sie spürte sein Zögern, sein Verwundern, seine innere Abwehr ... sie krallte die Hände in seinen Nacken, öffnete die Lippen und biß ihn. Es war kein Triumph in ihr, als sie spürte, wie sein Widerstand unter diesem Biß zusammenbrach; er umschlang sie und riß sie zu sich empor, und sein Kuß war hart und schmerzhaft, ungeübt und in der Forderung zu rauh.

Vergessen, dachte sie nur. Laß mich vergessen ... alles, alles. Loslösen von der Vergangenheit, Gemeinheit durch Gemeinheit verjagen, Lüge durch neue Lüge . o mein Gott, wohin sind wir gekommen.

Für Julius Salzer stürzte der Himmel auf die Erde. Es war ihm, als erwache er in einer anderen Welt -

Zwei Tage später kam Ernst Dahlmann nach Soltau.

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