Kapitel 7

Als es wärmer wurde und Luise sich wünschte, viel spazierenzugehen, stellte Dahlmann eine Krankenpflegerin ein.

»Sieh mal, Luiserl«, sagte er mit überzeugendem Ton, »ich muß ja in der Apotheke sein, damit alles gut läuft, Monika hat neue Aufträge für Modehäuser angenommen und zeichnet die Plakate für die Herbstmoden und einige Ausstellungen. Sie will nicht nur unser Gast sein, sie will sich ihr Geld allein verdienen. Sie wollte es dir nie selbst sagen, aber ich halte es für besser, wenn du es weißt. Und im Grunde genommen hat sie ja auch recht. Sie ist kein Mädchen, das jahrelang nur die Hand offenhält und sich damit zufriedengibt. Bisher hat sie bis tief in die Nacht hinein in ihrem Atelier gesessen. Sie wäre bereit, mit dir spazierenzugehen, aber das habe ich strikt abgelehnt. Was kommt dabei heraus, wenn Monika auch eines Tages krank wird?«

»Du bist wie immer der nüchterne Rechner.« Luise lächelte zustimmend. »Gut, Ernst. Nehmen wir eine Pflegerin. Aber eine junge, hörst du. Ich will sie lachen und nicht immer brummen hören -« So kam eines Tages Fräulein Erna Pleschke ins Haus Dahlmann. Sie war 24 Jahre alt, hatte ihr Examen als Krankenpflegerin gemacht und trat bei Luise ihre erste selbständige Stelle an. Dr. Ronnefeld hatte sie vermittelt auf Empfehlung von Professor Bohne, und was Dr. Ronnefeld empfahl, war von Beginn an gut.

Jeden Tag gingen sie nun spazieren . im Stadtpark, am Leinefluß, in den herrlichen Gärten des Schlosses Herrenhausen. Luise nahm alles in sich auf, was sie mit dem Gehör empfangen konnte, und setzte es im Inneren in Bilder um . sie wußte, wie die Allee aussah, die sie jetzt hinabgingen, sie sah die Wasserspiele, wenn sie das Plätschern und Zischen der Springbrunnen hörte, und sie weidete sich an dem Panorama von Schloßpark und Fasanerie, wenn Fräulein Pleschke sagte: »Wir sitzen jetzt auf der Bank am Rande des hinteren Parks, auf der linken Seite.«

Es blieb nicht aus, daß Erna Pleschke bei diesen Spaziergängen immer wieder einen jungen Mann traf, der sich eines Tages vorstellte und Student der pädagogischen Akademie war. Er wollte einmal Lehrer werden, war aber in Wahrheit ein verhinderter Mediziner. »Das Studium kostet zuviel«, sagte er, »und mein Vater als kleiner Justizbeamter ist froh, wenn ich bald in einem anständigen Beruf mein regelmäßiges, wenn auch mäßiges Auskommen habe -«

So ergab es sich von Spaziergang zu Spaziergang, daß Fräulein Pleschke zu genau verabredeten Zeiten in den Parks erschien, Luise Dahlmann zu einer sonnigen Bank führte und dann für einige Minuten abseits ging. Entweder wollte sie Blumen pflücken - was man dann auch gemeinsam tat -, oder sie holte Eis, was länger als gewöhnlich dauerte, weil Hin- und Rückweg zum Eiswagen zu einem Gespräch mit dem Lehreraspiranten ausgenutzt wurde.

An einem heißen Sommertag - Fräulein Pleschke war wieder zum Eiswagen unterwegs und Luise Dahlmann sonnte sich auf der Bank, weit zurückgelehnt, die Augen geschlossen, das Kleid von den Schultern abgestreift - setzte sich jemand neben sie auf die Bank. Sie hatte die Schritte knirschen hören, spürte das Zittern des Holzes, als sich der Spaziergänger setzte, vernahm das Knistern einer Zeitung und das leise Ritschen von Stoff, wenn man sich beim Niedersetzen die Hosen etwas höher zieht, damit sie an den Knien keine Beulen bekommen.

Also ein Mann, dachte Luise Dahlmann. Sie ließ den Kopf zur Sonne gewandt, die Augen geschlossen, nur das Kleid ließ sie mit einer leichten Schulterbewegung höher rutschen und den Brustansatz wieder verdecken.

»Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« sagte der Mann neben ihr. Luise nickte. Eine schöne Stimme hat er, dachte sie. Melodisch und dunkel. Und eine gute Sprache. Er verschluckt keinen Konsonanten, spricht wie auf einer Bühne.

»Wirklich. Ein wundervoll klarer Himmel -«, sagte sie und legte die Hand unter ihren Nacken. Der Mann neben ihr sah sie verwundert, ja verblüfft an. Zwar war der Himmel strahlend blau und von Sonne überglüht, aber nicht klar. Dicke, weiße Wolken, zusammengeballt wie riesige Schneebälle, trieben im trägen Sommerwind, schluckten die Sonne, gaben sie wieder frei und zerteilten die Strahlen.

Der Mann neben Luise beugte sich etwas vor und sah ihr ins Gesicht. Dann wich seine Verwunderung einem tiefen Ernst, und er lehnte sich zurück.

»Ja, ein herrlicher, klarer Himmel«, sagte er. »Ein unwahrscheinliches Blau. Nach dem langen Winter und dem nassen Frühling tut es gut, Frau Dahlmann -«

Luises Kopf fuhr herum. Unwillkürlich riß sie die Augen auf . der Mann auf der Bank sah in die trüben, toten Augen. Er erschrak, und er war in diesem Moment froh, daß sie dieses Erschrecken nicht wahrnehmen konnte.

»Sie kennen mich?«

»Aber ja. Ich habe oft in Ihrer Apotheke gekauft. Und ich las auch von dem entsetzlichen Unglück. Mein Name ist Sanden, Robert San-den. Ich bin Schauspieler am Stadttheater -«

»Robert Sanden.« Luise lächelte leicht. »Ich habe auch Sie oft gesehen ... und in der letzten Zeit leider nur gehört. Warten Sie mal ... zuletzt waren Sie der Heink in Bahrs >Das Konzert<. Stimmt's?«

»Ja.«

»Und vorher habe ich Sie gesehen, nein gehört, muß man ja sagen, als Bolingbroke in >Ein Glas Wasser<. Sie waren köstlich darin, von einem beißenden Sarkasmus -«

»Danke.«

Das Gespräch versandete. Was sollte man sagen? Die Situation war irgendwie peinlich; für einen sehenden Menschen gibt es tausend Dinge, über die man reden kann ... ein Blinder lauscht hinein in die ewige Nacht und schafft sich eine eigene Welt, in der er nur allein leben kann, weil niemand sie so sieht wie er.

»Warum sind Sie so still, Herr Sanden?« fragte Luise Dahlmann. Robert Sanden zuckte zusammen und wischte sich verlegen über den Mund.

»Ich habe an etwas denken müssen, Frau Dahlmann.«

»Erzählen Sie mir etwas aus Ihrer schönen Theaterwelt. Sehen Sie meine Pflegerin?«

»Dort hinten steht ein Mädchen zusammen mit einem jungen Mann . wenn sie das ist?«

»Ein junger Mann.« Luise lächelte schwach. »Darum Eisholen, Blumenpflücken.«

»Wie bitte?«

»Ach nichts, Herr Sanden.« Sie legte den Kopf wieder zurück auf die Banklehne und schloß die Augen. »Es muß schön sein, jeden Abend auf der Bühne zu stehen und die Menschen in eine andere Welt entführen zu können.«

»Es ist anstrengend. Man muß jeden Abend in eine andere Haut, in eine andere Seele kriechen.«

»Und woran haben Sie eben denken müssen? Ist es fatal, darauf zu antworten, so vergessen Sie die Frage.«

»Es ist nicht fatal, Frau Dahlmann.«

»Sie haben über mich nachgedacht, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie haben gedacht: Ich kenne sie, wie sie lustig in der Apotheke stand. Mein Gott, was ist aus ihr geworden! - Nicht wahr, das haben Sie gedacht.«

»Nein.«

»Ich weiß, daß Lügen barmherzig sein können -«

»Ich habe an etwas anderes denken müssen.«

»Und an was?«

»Ich habe gedacht: Warum versucht man nicht alles, wenigstens ein Auge zum Sehen zu bringen?!«

»Wir haben alles getan. Zuletzt in Münster. Immer mißlang es. Jetzt haben wir resigniert. Und ehrlich: Ich habe mich damit abgefunden. Man soll nicht auf Unmögliches hoffen. Es gibt keine Wunder mehr -«

»Mir ist, als ich Sie ansah, etwas eingefallen.« Robert Sanden sah auf die träge ziehenden, geballten Wolken. Sie verdeckten jetzt die Sonne, aber Lichtbündel stachen von allen Seiten aus ihnen hervor, goldene, gleißende Strahlenkränze. »Irgendwo habe ich einen Artikel gelesen über solche Hornhautoperationen. Es gibt da einen Chirurgen, der eine ganze Erfolgsserie vorweisen kann. In Italien war es, glaube ich. Es stand in einer Zeitung -«

»In der Zeitung!« Luise Dahlmann lächelte. »Lieber Herr Sanden . wie oft steht in den Zeitungen: Mittel gegen Krebs gefunden! Man weiß jetzt, wie Krebs entsteht! - Und was ist dahinter? Nichts! Es gibt noch kein Allheilmittel gegen den Krebs, und man weiß auch noch nicht, wie er entsteht. Nur falsche Hoffnungen werden erzeugt ... und das ist gefährlich! Mit Ihren Hornhautoperationen wird es nicht anders sein -«

»Es war ein Bericht, ein ernsthafter Bericht. Warten Sie mal . ich muß mich erinnern.« Robert Sanden schloß die Augen und dachte angestrengt nach. Der Artikel hatte vor gar nicht langer Zeit in der Zeitung gestanden, und er hatte ihn mit Interesse gelesen, weil es immer hieß, daß die viele Arbeit unter den starken Bühnenscheinwerfern den Augen auf die Dauer schadet. »Ein Professor in Italien war es.«, sagte Sanden langsam. »Ja, in Italien. Ich glaube, in Padua oder Bologna, aber irgendwo in dieser Ecke. Er hatte einen ganz kurzen Namen . ich komme nur nicht mehr darauf. Es stand sogar in dem Artikel, daß bei ihm die Erfolgschancen bei 95 Prozent liegen.«

»Ich gehöre zu den restlichen fünf Prozent.«

»Man sollte es versuchen. Ich werde sehen, ob ich den Artikel irgendwo bekomme. Ich werde nachher alle Zeitungen ablaufen und in den alten Ausgaben blättern. Ich werde den Artikel finden. Wo kann ich Sie morgen treffen, Frau Dahlmann?«

»Wenn es schön ist, wieder hier auf der Bank ... wenn es regnet, sitze ich meistens zu Hause. Meine Schwester oder Fräulein Plesch-ke werden Sie zu mir führen.«

»Ich werde sofort die Suche nach dem Artikel aufnehmen.« Robert Sanden sprang auf. Luise faßte seinen Rockärmel und hielt ihn fest. Sie krallte sich in den Stoff, und plötzlich war ihr Gesicht wie aufgelöst. Die erloschenen Augen starrten Sanden mit einer schrecklichen Leere an.

»Ist ... ist dieser Artikel wirklich nicht nur eine der üblichen Übertreibungen, um die Zeilen zu füllen -?«

»Diesen Eindruck hatte ich nicht.«

»Sie glauben, daß dieser Professor in Italien mir eine Chance gibt?«

»Bestimmt.«

»Sie wollen mich nicht nur trösten . weil . weil ich Ihnen leid tue?«

»Nein.« Robert Sanden schluckte. Er war versucht, die Hand auszustrecken und ihr über das schöne braune Haar zu streicheln. »Mitleid hilft Ihnen nicht mehr . es wäre dumm, sich damit abzufinden. Sagen wir: Morgen um die gleiche Zeit - hier oder bei Ihnen zu Hause?«

Sanden zögerte einen Augenblick, dann ergriff er Luise Dahlmanns Hand, führte sie zu den Lippen und küßte sie. Ihre nächsten Worte hörte er schon nicht mehr ... er lief davon, als habe er etwas Unrechtes getan.

»Jetzt habe ich wieder Hoffnung«, hatte Luise gesagt. Sie wußte nicht, ob es Sanden noch hörte, aber Fräulein Pleschke, die endlich mit dem Eis zurückkam, hörte, wie sie leise sagte: »Mein Gott ... wenn er mir helfen könnte.«

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