Die Klinik Professor Siris lag außerhalb Bolognas in einem Pinienwald, umgeben von einer hohen Mauer, als sei sie ein Gefängnis oder eine geschlossene Anstalt. Aber dieser erste Eindruck verwischte sich, wenn man durch das breite, schmiedeeiserne Tor rollte und nach einer Biegung der Auffahrt plötzlich vor einem der wundersamen, weißen Paläste stand, wie sie nur die Italiener der Renaissance zu bauen verstanden.
Von diesem Palazzo erzählte man sich in der medizinischen Welt Wunderdinge. Hier, in der Abgeschiedenheit, umgeben von herrlichen Parkanlagen und Wasserspielen, in einem Operationssaal, dessen Boden aus kunstvollem, geschliffenem Marmor bestand und eine Dionysosszene darstellte, vollbrachte Professor Dr. Battista Siri Operationen, die man in Fachkreisen zunächst ungläubig und dann sprachlos aufnahm. »Siri ist entweder ein Verrückter, der bisher unverschämtes Glück gehabt hat . oder ein Genie, wie es alle hundert Jahre einmal geboren wird«, sagte einmal ein Kollege von ihm, als er einen Operationsbericht aus der Bologneser Klinik Santa Anna las. Und Siri, dem man diesen Ausruf zutrug, antwortete prompt: »Nehmen Sie an, ich sei bloß ein Verrückter!«
In seiner Klinik war er ein König, ein uneingeschränkter Souverän. Wenn er mit seiner weißen Haarmähne, mit hin und her pendelnden Armen, schnellen, kleinen Schritten und einem zu kurzen Arztkittel durch seinen Palazzo rannte, von Zimmer zu Zimmer, überall Aufregung verbreitend, weil er in jedem Zimmer immer etwas fand, was nach seiner Ansicht nicht richtig war, dann war es wirklich wie in der Renaissance, wo ein scharfer Blick des Fürsten gleichbedeutend mit einer Hinrichtung war.
Diese Chefvisiten, jeden Tag einmal gegen elf Uhr vormittags, gehörten zu den Alpträumen der Ärzte und Schwestern. Aber so sehr und so oft sie auch angebrüllt wurden und sich in den südländischen Schimpfworten einrollen konnten, bisher hatte keiner der Ärzte und Schwestern freiwillig die Clfnica St. Anna verlassen, es sei denn, Professor Siri hatte jemanden einfach hinausgeworfen. Wer bei Siri arbeitete, lebte mitten in einem Mekka der Medizin. Er schluckte alles, was man ihm an den Kopf warf, denn was man später am OP-Tisch erlebte, ließ alles vergessen. Bremsbock aller Meinungen und Wünsche war dabei Dr. Giulio Saviano, der Oberarzt Siris, ein kleiner, temperamentvoller, ungemein begabter Süditaliener, der vor Tatendrang sprühte und als einziger es wagte, zu Siri zu sagen: »Professore ... wenn ich eine Meinung haben dürfte.« Und ab und zu durfte er sogar.
Luise Dahlmann war eine Stunde vor der festgesetzten Zeit in der Clfnica St. Anna. Weder Dr. Saviano und erst recht nicht Professor Siri waren zu sprechen . ein junger Assistenzarzt lotste sie durch den Palazzo bis zur Augenstation II, wo eine hübsche, schwarzgelockte Schwester auf sie zukam, ein süßes Bild in Weiß.
»Das ist Schwester Angelina.«, sagte der junge Arzt in einem holprigen Deutsch. »Buon giorno, signora.«
»Kommen Sie, signora.« Schwester Angelina nickte Fräulein Plesch-ke zu und faßte Luise unter. »Wir haben Sie erwartet. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer. Der Herr Professor wird nach der Visite mit Ihnen sprechen.«
Luise blieb stehen. Der typische Geruch eines Krankenhauses fehlte völlig ... im Gegenteil, es roch nach Blumen, nach Mimosen, Kamelien, Rosen.
»Sie muß schön sein, diese Klinik«, sagte sie und drehte den Kopf, als könne sie alles sehen ... die breiten Flurfenster, den Park, die Wasserspiele, den wolkenlosen, blauen, vor Sonne kochenden Himmel.
»Sie werden bald alles sehen, signora«, sagte Schwester Angelina zuversichtlich.
»Sie sprechen gut deutsch, Schwester.«
»Ich habe zwei Jahre in Heidelberg studiert, signora.«
Während Fräulein Pleschke und Schwester Angelina die Koffer auspackten und alles in die eingebauten Schränke räumten, saß Luise am Fenster und lauschte auf das Plätschern der Wasserspiele. Aus dem Park klang Lachen zu ihr hinauf, fröhliche Stimmen, das Knirschen laufender Schritte. Von irgendwoher, aus einem Fenster oder weitab im Park, hörte sie Musik. Italienische Lieder von Liebe und Wein, zwei Dinge, ohne die ein Italiener trübsinnig würde.
Ich werde bald das alles sehen, dachte Luise und faltete die Hände im Schoß. Ich werde wieder sehen, wie schön das Leben ist. Alles war damals so selbstverständlich, man nahm es hin, man beachtete es gar nicht ... einen blühenden Baum, eine im Wind sich wiegende Knospe, das Grün eines Rasens, eine weiße Mauer mit Efeu, das Gefieder eines Vogels. Wie herrlich, wie ein erfülltes Wunder wird dies alles, wenn man wieder auftaucht aus einer Nacht, in der die Welt nichts war als eine schwarze Wand, gegen die die Geräusche prallten.
Um halb zwölf Uhr kam Professor Siri ins Zimmer.
Hineinkommen war eigentlich nicht der richtige Begriff. Jemand riß die Tür auf, stürmte ins Zimmer und brüllte mit heller Stimme: »Es zieht! Angelina . auch wenn Sie Engel heißen, verbiete ich Ihnen so viel Luftzug, daß wir alle fliegen lernen!« Dann war es einen Atemzug lang still, Professor Siri sah auf Luise, die den Kopf zu ihm gedreht hatte, wandte sich dann zu Dr. Saviano um und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Wer ist denn das?«
»Signora Luise Dahlmann aus Hannover. Sie wissen, Herr Professor, daß wir -«
»Ach so! Natürlich! Für heute bestellt?«
»Ja.«
»Säureverbrennung der Cornea beider Augen, nicht wahr?«
»Ja. Untersuchung, ob eine partielle Keratoplastik möglich ist.«
»In zehn Minuten bei mir.«
Professor Siri sah noch einmal auf das wartende, lauschende Gesicht Luise Dahlmanns. Er hatte in den vielen Jahren seiner Chirurgentätigkeit schon viele Blinde gesehen, und immer war ihm beim Anblick der toten Augen der Gedanke gekommen: Was denken sie jetzt? Wie ungeheuer groß muß ihr Glaube sein.
»Guten Tag, signora -«, sagte Professor Siri kurz in deutscher Sprache. Dann verließ er so schnell, wie er gekommen war, wieder das Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm zu, als sei ein Wirbelwind durch den Raum gefegt. Aufatmend rückte Schwester Angelina ihr weißes Häubchen zurecht.
»Wer war denn das?« fragte Luise, als niemand etwas Erklärendes sagte.
»Das war eine Visite, signora.« Die Stimme Schwester Angelinas bebte noch immer. »Jeden Morgen um elf Uhr bläst hier ein Sturm. Und das war der Chef selbst, Professor Siri.«
Luise atmete tief auf. »Er hat etwas gesagt ... ich kann nicht Italienisch. Was hat er gesagt?«
»In zehn Minuten untersucht er Sie, signora. Dr. Saviano wird Sie abholen. Aber wir haben Zeit . wenn es in zehn Minuten heißt, kann es auch eine halbe Stunde werden.«
»Typisch Italien!« sagte Fräulein Pleschke gehässig.
Schwester Angelina lächelte milde.
»Aber wir leben glücklich dabei«, sagte sie freundlich. »Ist das nicht die Hauptsache, signora.?«
Das Untersuchungszimmer Professor Siris hatte nichts gemein mit den üblichen Arztpraxen. Es glich mehr einem Laboratorium und einem Maschinensaal, als einem Raum, in dem man Diagnosen stellt. Große und kleine Apparate mit Skalen und Zeigern, Tabellen und Mattscheiben standen herum, Scheinwerfer, maschinenpistolenähnliche Geräte, aus denen aber keine Kugeln, sondern gebündelte Lichtstrahlen schossen, EKGs und Oszillographen, auf deren Mattscheiben die Pulswellengrößen als elektronische Punkte und Wellen tanzten. Inmitten dieses Gewirrs von medizinischer Technik saß Professor Siri auf einem einfachen, alten Holzstuhl.
Er sprang auf, als Dr. Saviano Luise Dahlmann hereinführte, küßte ihr die Hand und sagte durchaus nicht floskelhaft: »Sie sehen aus, signora, als hätten Sie im letzten Jahr nichts anderes getan, als nur in der Sonne gelegen. Es freut mich immer, wenn meine Patienten nicht niedergedrückt, sondern lebensfroh zu mir kommen. Und nun wollen wir einmal sehen, was mit Ihnen los ist. Ich habe Ihre Krankengeschichte genau studiert, auch den Bericht vom Kollegen Bohne in Münster -«
»Dann wissen Sie ja, Herr Professor, daß bisher alles fehlgeschlagen ist.« Die Stimme Luises war fest und klar. Siri hob die Schultern.
»Wenn ich Gott wäre, würde ich sagen: Du sollst sehen.! So aber müssen wir um dieses bißchen Licht kämpfen. Aber auch dieser Kampf hat etwas Schöpferisches an sich. Es gab eine Zeit, da nannte man die Hornhautübertragung die >heilige Operations Heute ist sie fast zu einer Routine geworden.«
Das klang stolz und selbstbewußt, aber es war zugleich tröstend und stärkend. Dr. Saviano führte Luise Dahlmann zu einem bequemen Sessel. Sie setzte sich und spürte, wie zwei Finger vorsichtig ihre Lider anhoben. Professor Siri betrachtete die verätzte Hornhaut des einen und die transplantierte und wieder getrübte Cornea des anderen Auges. Dabei sprach er unentwegt, mit einer ruhigen, gütigen Stimme.
»Man kennt viele Erfolge, signora. Der erste Arzt, der eine erfolgreiche Hornhauttransplantation vornahm, war übrigens ein Deutscher, der Dr. Eduard Zirm in Olmütz. Das war im Jahre 1905. Und dann kam die ganz große Stunde der Augenchirurgie. Wladimir Petrowitsch Filatow in Odessa machte über tausend Hornhautüberpflanzungen und entwickelte die Technik, die wir heute noch im Großen anwenden. Und doch mache ich es wieder anders, und immerhin . wir haben Erfolg, nicht wahr, Giulio?«
»Ja, Herr Professor«, sagte Dr. Saviano.
»So, und jetzt wollen wir einmal tief ins Auge sehen.«
Siri winkte. Dr. Saviano rollte eine komplizierte Apparatur heran. Vorsichtig drückte er das Kinn Luises auf einen gepolsterten Metallbügel und die Stirn gegen eine runde Kopfstütze. »Bitte nicht bewegen, signora«, sagte er dabei. Professor Siri schob seinen Stuhl heran.
»Ich will Ihnen erklären, was wir machen«, sagte er. »Nicht, um Sie zu unterhalten, sondern damit Sie wissen, daß wir alles tun, um Ihnen zu helfen. Sie sitzen jetzt vor einem Gerät, das ein kleines Wunder ist, obgleich es so einfach ist. Bisher war es dem Chirurgen unmöglich, einen Blick durch die getrübte Hornhaut in die inneren Sphären des Auges zu werfen. Aber nur bei einem klaren Blick hinter die Hornhaut kann man die notwendige chirurgische Taktik bestimmen, denn die Hornhaut kann mit der Iris verwachsen sein . das ist nur eine von vielen Komplikationen. Hier gibt es nun einen wunderbaren Apparat, der von dem Direktor des Helmholtz-Institutes in Moskau, A.W. Roslawzew, in Zusammenarbeit mit dem Leiter des Experimentallaboratoriums unter Leitung von L.S. Uhrmacher entwickelt wurde . die sogenannte infrarote Spaltlampe. Die unsichtbaren infraroten Strahlen geben uns jetzt über bestimmte Linsensysteme die Möglichkeit, durch die trübe Hornhaut hindurch ins Innere des Auges zu blicken, als sei es ein gläsernes Modell. So -und das mache ich jetzt bei Ihnen.«
Luise hörte das Knacken eines Schalters. Sie spürte nichts, sie sah nichts, sie hörte nichts mehr . nur das Atmen der Ärzte war ein leises, rhythmisches Geräusch.
»Aha!« sagte Professor Siri nach einer ganzen Weile. »Danke, Giu-lio.« Es knackte wieder, Luise schloß die Augen. Eine Schwäche überfiel sie. Es war gut, daß der Kopf in dem metallenen Bügel lag, so konnte er nicht nach vorn fallen.
»Na na.«, sagte Professor Siri gütig. »Wer wird denn jetzt, gerade jetzt schlapp werden! Was ich sehen wollte, habe ich gesehen.«
»Und . und.« Luises Stimme erstarb. Sie weinte und umklammerte die Hand Dr. Savianos, die auf ihrer Schulter lag. »Ich werde wieder sehen . Sagen Sie, ob ich wieder sehen werde -«
Professor Siri schob den alten Stuhl zurück und steckte die Hände in die ausgebeulten Taschen seines zu kurzen Arztkittels.
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, signora.«, sagte er betont langsam. »Niemand kann das, eben weil wir keine Götter sind. Aber uns bleibt die Hoffnung . und als ich eben tief in Ihr Auge sah, habe ich mir gedacht, man sollte diese Hoffnung nie aufgeben, nie verlieren, nie wegwerfen. Ja - ich operiere Sie -«
Luises Herzschlag setzte aus. Als er wieder kam, war es wie ein Hauch.
»Und . wann.?« fragte sie, kaum hörbar.
»Morgen früh um acht Uhr. Um acht Uhr dreißig müßten Sie das erste Licht sehen -«
Der Operationssaal war fast kreisrund, kahl und leer, schmucklos bis auf den Marmorboden mit der Dionysosszene. In der Mitte, unter einer riesigen Lampe, die aus vierundzwanzig Einzelscheinwerfern bestand, glänzte der OP-Tisch, daneben ein zweistufiges, kleines Podium, auf das sich Professor Siri stellte, wenn er sich weit über den Patienten beugen mußte. An der einen Wand stand ein In-strumentenschrank, daneben ein langer Tisch mit Sterilkochern und Tupfergläsern, einige Eimer mit Klappdeckel, ein Waschbecken, weiter nichts. Ein nüchterner, großer Raum, der Kälte ausatmete und nichts von der Faszination ausströmte, die man von einem Saal erwartet, in dem die Chirurgen um das Leben ringen, wie es in Romanen so romantisch heißt. Es war ein heller Arbeitsraum, eine weiße Werkstatt, in deren Mittelpunkt ein nach allen Seiten umklappbarer Tisch auf einer verchromten Säule stand.
Die OP-Schwester hatte alle Instrumente vorbereitet und saß wartend am Fenster, als Dr. Saviano kurz vor acht Uhr Luise Dahlmann in den OP führte. Sie hatte noch in ihrem Zimmer von dem Oberarzt eine Beruhigungsinjektion bekommen . es war ein merkwürdiges Medikament, es machte alles so gleichgültig, so uninteressant, so völlig wurschtig. Daß sie jetzt in den Operationssaal geführt wurde, nahm Luise zwar wahr, aber es löste keinerlei innere Spannungen bei ihr aus. Ob sie jetzt hier vor dem OP-Tisch stand oder im Park spazierenging . ihre Psyche reagierte völlig teilnahmslos. Eine unendliche Ruhe war in ihr, ja fast eine stille Fröhlichkeit. Sie hörte, wie die Schwester den Kopfteil des OP-Tisches hochstellte und in einem bestimmten Winkel festschraubte. Irgendwo klapperten jetzt Instrumente, sie hörte ein leises Räderrollen. Jetzt fahren sie den Instrumententisch heran, dachte sie, und es erschreckte sie überhaupt nicht, es weckte vielmehr Interesse und Neugier.
»Signora, bitte Platz zu nehmen«, sagte Dr. Saviano in seiner jungenhaften Art. »Wenn Sie hier wieder 'runtersteigen, haben Sie den dunklen Tunnel passiert und sehen wieder in die Sonne -« »Glauben Sie, Doktor?« Luises Stimme klang völlig ruhig.
»Ich weiß es, signora.« Dr. Saviano stützte Luise, als sie sich auf den OP-Tisch legte. Die Schwester deckte sie mit weißen Tüchern ab, schnallte die Arme fest und legte über die Beine ebenfalls einen Riemen. Dann spürte Luise plötzliche Wärme auf ihrem Gesicht . der große Scheinwerfer war eingeschaltet. Sie kannte das alles von Münster her ... jetzt machen sie die örtliche Betäubung, dachte sie, und dann beginnt die Operation. Ich werde sie mit dem Gehör miterleben ... jeden Griff, jedes Klappern der Instrumente, jedes leise Wort. Durch den Operationssaal tappten schnelle Schritte. Neben Luise knackten die beiden Stufen des Podiums, eine weiche Hand glitt über ihre Augen.
»Guten Morgen, signora -«
»Guten Morgen, Herr Professor.«
»Dann geht's jetzt also los. Angst?«
»Gar nicht -«
»Das ist gut.« Professor Siri sah zu Dr. Saviano. Der Oberarzt nickte. Die Beruhigungsinjektion wirkt probat, hieß dieses Zunicken. Die Lokalanästhesie ist auch gemacht, das Spenderauge liegt im Brutkasten, es ist keine zwölf Stunden alt, das Auge eines durch einen Unfall gestorbenen einundzwanzigjährigen Mechanikers aus Bologna. »Wir werden ein bißchen zusammen plaudern, während ich Ihnen die Sonne zurückhole«, sagte Professor Siri fast fröhlich. »Dann wird es nicht zu lange für Sie -«
Professor Siri streckte die Hand aus. Ein winziges, unvorstellbar feines Skalpell wurde ihm angereicht. Mit diesem löste er einen Streifen Bindehaut, die den Augapfel bedeckte, auf drei Seiten ab und schlug ihn hoch. So erhielt er eine Klappe, die er später als zusätzlichen Schutz über das eingepflanzte Stück legen konnte.
Während Siri diese vorbereitende Operation ausführte, begann Dr. Saviano mit dem Präparieren des Spenderauges. Er berieselte es mit Antibiotika und fixierte den Hornhautpfropf, der transplantiert werden sollte. Ein leises Summen neben ihrem Kopf ließ Luise die Stirn in Falten legen. Professor Siri klopfte auf ihre Wange, die ebenfalls abgedeckt war. Nur die Augenpartie war frei.
»Da staunen Sie, nicht wahr, signora? Klingt wie ein Rasierapparat ... und so etwas Ähnliches ist es auch. Es handelt sich da um ein ganz neues Instrument, das bei mir zum erstenmal in Europa angewandt wird. Ich habe von diesem Ding ganz durch Zufall gehört und habe nicht lockergelassen, bis man es mir zuschickte. Im Forschungsinstitut für chirurgische Apparatur in Moskau wurde es entwickelt und hat den Namen Keratotom bekommen. Wenn wir früher das Hornhautepithel, also den feinsten Überzug, mit einem dünnen Messer abschabten, so lösen wir jetzt diese Hornhautschichten mit Hilfe dieses Keratotom nach dem Prinzip eines elektrischen Rasierapparates hauchfein ab. Das ist sicherer, sauberer, exakter. Es gibt keine Rückstände und es wird vor allem völlig gleichmäßig.«
Siri betupfte das Auge Luises noch einmal mit in Antibiotika getränkten Wattetampons und sah hinüber zu Dr. Saviano. Die Feinarbeit konnte beginnen.
Noch einmal blickte Professor Siri auf das trübe Auge, dann nahm er den Trepan, den ihm die OP-Schwester wortlos anreichte. Mit diesem Stanzgerät stanzte er eine kreisrunde Scheibe aus der Hornhaut des Spenderauges und hob das Transplantat vorsichtig auf die sogenannte Lidplatte, ein augenärztliches Spezialinstrument in Form einer Metallplatte. Ohne die Hornhautscheibe zu berühren, drückte er sie mit einem im Trepan liegenden Schraubgewinde auf die Lidplatte und gab sie an Dr. Saviano zurück.
»Das Fenster zur Sonne haben wir schon«, sagte Siri und beugte sich tief über die Augen Luises. »Jetzt müssen wir nur noch bei Ihnen die Vorhänge wegziehen und aus Ihrem Fenster die blinden Scheiben entglasen.« Er streichelte ihr über die Stirn, weil er wußte, daß sie unter den Abdecktüchern lächelte. »Wenn Sie etwas spüren, sagen Sie es sofort ... wir steuern die Anästhesie immer individuell.«
Wieder summte das Keratotom und rasierte das Hornhautepithel von Luises Auge. Dann spürte sie einen leichten, kaum wahrnehmbaren Druck auf den Augapfel, kein bißchen schmerzhaft, etwa so, als wenn man sich leicht über die Augen wischt.
Es war der Augenblick, in dem Professor Siri den Trepan angesetzt hatte und aus Luises trüber Hornhaut ein gleich großes Stück wie aus dem Spenderauge herausstanzte. Dr. Saviano stand jetzt seitlich von Professor Siri und hielt das Auge mit einer Pinzette am sogenannten Limbus, einer seichten Rinne beim Übergang zwischen Hornhaut und Lederhaut der Skiera, fest. Es ist die feste Hülle des Auges.
Siri hatte den Trepan senkrecht auf das Auge aufgesetzt und drehte ihn unter mäßigem Druck. Als die Hornhaut an einer Stelle durchstoßen war, nahm er seine feinen Pinzetten und Scheren zu Hilfe und löste die trübe Scheibe vorsichtig aus.
Über dem OP-Tisch erlosch der Scheinwerfer. Draußen vor den großen Fenstern stand ein sonniger Tag. Es war hell genug, der Sehnerv sollte auf keinen Fall gereizt werden.
»Sie ... Sie sind so schweigsam, Herr Professor.«, sagte Luise in die Stille hinein. »Stimmt etwas nicht?«
»Aber signora . welche Gedanken!« Siri lachte leise. »Jetzt kommt der nächste Akt der Feinmechanik . jetzt setzen wir das neue Fen-sterchen ein.«
Dr. Saviano hielt die Lidplatte mit dem Transplantat hin. Professor Siri brachte sie an den Rand der herausgestanzten Öffnung und schob den Hornhautpfropf mit einem Irisspatel langsam und mit unwahrscheinlicher Sicherheit auf den richtigen Platz. Die Scheibe paßte genau.
»Was jetzt kommt, ist wieder etwas Neues«, sagte Professor Siri ruhig. »Bisher wurden die Wunden der Hornhaut und der Skiera mit Seidenfäden oder mit Perlon vernäht. Aber Seide ist wasser- und luftdurchlässig, es kam immer wieder zu postoperativen Komplikationen, zu Infektionen vor allem, die alle Hoffnungen zerstörten. Ich benutze jetzt Metallklammern. Klammern aus Tantal. Wenn Sie das Instrument sehen könnten . wie eine kleine Pistole sieht es aus. Mit ihr mache ich jetzt eine feine, dichte Naht, die zudem noch den Vorteil hat, in keiner Weise die Augenhaut zu reizen. Feuer frei -«
Die Naht mit der neuen Maschine ging schnell. Dann klappte Siri den als Transplantatschutz gedachten Bindehautstreifen über die Operationsstelle.
In diesem Augenblick lief ein heftiges Zucken durch den Körper Luises. Ihr Kopf hob sich, obgleich Dr. Saviano und die OP-Schwe-ster ihn umklammerten, die Beine und Arme zerrten in den Riemen. Dann brach es aus ihr heraus, ein heller Schrei, den auch die Abdecktücher nicht erstickten.
»Ich sehe Licht!« schrie sie. »Ich sehe Licht . Licht.«
Dann streckte sich der Körper mit einem lauten Seufzer. Luise Dahlmann sank in eine Ohnmacht.
Professor Siri deckte beide Augen ab und verband sie. Dr. Saviano injizierte bereits Cardiazol, um den Kreislaufschock aufzufangen.
Siri sah auf die Uhr über den Instrumentenschränken.
»Acht Uhr dreiundvierzig«, sagte er. »Sie sieht wieder Licht. Giu-lio, es scheint gelungen zu sein -«
»Gratuliere, professore -«, sagte Dr. Saviano jungenhaft. »Gratuliere!« Professor Siri stieg von seinem Zweistufenpodest hinab und öffnete den Kittel. Es war heiß im OP, draußen brannte die Sonne gegen die Scheiben. Die Operation war vorbei . aus dem feinnervigen Chirurgen wurde wieder der kleine Tyrann. »Als wenn das nicht selbstverständlich wäre! Die Visite fällt heute nicht aus! Und signora Dahlmann geben Sie ein Schlafmittel und kontrollieren ständig den Kreislauf. Gratuliere -« Siri schüttelte den weißmähnigen Kopf. »So was muß man sich sagen lassen -«
Mit schnellen Schritten rannte er aus dem OP. Dr. Saviano lächelte der OP-Schwester zu. Er war durchaus nicht betroffen.
»Der Chef ist selbst glücklich«, sagte er fröhlich. »Und in vierzehn Tagen wissen wir genau, ob die Hornhaut eingeheilt ist und sie für immer sehen kann -«
Mit einem weißen Laken zugedeckt, wurde Luise Dahlmann zurück in ihr Zimmer gerollt. Schwester Angelina wartete schon auf sie.